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2023-12_RegioBusiness

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06 Blickpunkt<br />

Dezember <strong>2023</strong> I Jahrgang 22 I Nr. 253<br />

Kommt die Wende am Arbeitsmarkt?<br />

Trotz der aktuellen Konjunkturflaute herrscht vielfach Personalnotstand. Ein Zustand, der anhalten dürfte. VON HERIBERT LOHR<br />

Der konjunkturelle Abschwung<br />

ist mittlerweile<br />

auch in der Region angekommen<br />

und hinterlässt auch am<br />

Arbeitsmarkt in Heilbronn-Franken<br />

seine Spuren. Im Spätsommer<br />

hatte in den Arbeitsagenturen<br />

die Zahl der Arbeitslosen saisonbereinigt<br />

leicht zugenommen –<br />

eine Tendenz, die sich nun weiter<br />

verfestigt hat und in dieser Form<br />

zuletzt vor zehn Jahren zu beobachten<br />

war.<br />

Noch bewegt sich die heimische<br />

Wirtschaft weitgehend auf stabilem<br />

Niveau. Eine Arbeitslosenquote<br />

in den Stadt- und Landkreisen<br />

Heilbronn, Hohenlohe, Main-<br />

Tauber und Schwäbisch Hall von<br />

durchschnittlich 3,4 Prozent erfüllt<br />

alle statistischen Vorgaben einer<br />

Vollbeschäftigung. Und doch<br />

sind erste Veränderungen spürbar.<br />

So ähneln etwa die Kommentierungen<br />

der regionalen Arbeitsagenturen<br />

den Aussagen der Vorstandsvorsitzenden<br />

der Bundesagentur<br />

für Arbeit, Andrea Nahles:<br />

„Die Beschäftigung wächst derzeit<br />

nur noch wenig und die gemeldete<br />

Arbeitskräftenachfrage ist rückläufig“.<br />

Die Arbeitsagenturen erwarten<br />

zwar „keinen Einbruch bei<br />

der Beschäftigung“ und doch sind<br />

solche Nachrichten gewöhnungsbedürftig,<br />

denn gute Nachrichten<br />

vom heimischen Arbeitsmarkt<br />

waren in den vergangenen Jahren<br />

ein Stück Normalität. Abgesehen<br />

von kurzen Unterbrechungen<br />

in 2008/2009 (große Rezession)<br />

und 20<strong>12</strong>/2013 (Staatsschuldenkrise)<br />

lag die Arbeitslosigkeit immer<br />

unter fünf Prozent. Das könnte<br />

sich nun ändern „Nach einem<br />

enttäuschenden Jahr <strong>2023</strong> trüben<br />

sich auch die Aussichten für<br />

2024 zunehmend ein“, sagt Stefan<br />

Küpper, Geschäftsführer für Bildung<br />

und Arbeitsmarkt des Unternehmerverbands<br />

Baden-Württemberg.<br />

Entwicklung sehr<br />

unterschiedlich<br />

Dass sich diese Veränderungen in<br />

der Region bislang eher verhalten<br />

bemerkbar machen, hat viel<br />

damit zu tun, dass die eher international<br />

ausgerichteten Paradedisziplinen<br />

wie etwa der Sondermaschinenbau<br />

oder die Befestigungstechnik<br />

auf den Auslandsmärkten<br />

durchaus erfolgreich<br />

unterwegs sind. Die Demografie<br />

tut ein Übriges. Trotz schwächerer<br />

Konjunktur fehlen fast überall<br />

Fachkräfte, weil aus der jüngeren<br />

Alterskohorte derzeit einfach<br />

zu wenig Köpfe nachrücken. Zudem<br />

hat die Erwerbstätigkeit trotz<br />

allem weiter zugelegt, auch wenn<br />

sich der Beschäftigungsaufbau<br />

„deutlich verlangsamt“ hat. Ein<br />

erster Indikator für einen Wechsel<br />

der Gegebenheiten sind die<br />

Personaldienstleister: Die Zahl<br />

der Beschäftigten in der Zeitarbeit<br />

nahm seit anderthalb Jahren kräftig<br />

ab, was aber auch der intensiven<br />

Suche nach Arbeitskräften<br />

geschuldet war. So ist die Vakanz<br />

von offenen Arbeitsstellen so lang<br />

wie seit mehr als 20 Jahren nicht<br />

und noch immer geben etwa 15<br />

Prozent der Firmen an, dass „Arbeitsengpässe<br />

ihre Entwicklung<br />

behindern“. Deshalb dürften viele<br />

Unternehmen nun auch im Abschwung<br />

versuchen, ihre Beschäftigten<br />

zu halten, denn Personal ist<br />

noch gefragt, und auf Wechselwillige<br />

wartet nicht selten ein Willkommens-<br />

oder Antrittsbonus. So<br />

wurden in den ersten zehn Monaten<br />

dieses Jahres noch immer fast<br />

242 000 Stellenanzeigen mit entsprechenden<br />

Inhalten gezählt.<br />

Der leidlich überhitzte Arbeitsmarkt<br />

könnte jetzt etwas abkühlen.<br />

Höhere Material- und Energiekosten<br />

haben die Stimmung in<br />

der regionalen Wirtschaft zuletzt<br />

„kräftig gedämpft“. Auch wenn<br />

57 Prozent der Betriebe derzeit<br />

von einer „insgesamt befriedigenden<br />

Geschäftslage“ sprechen,<br />

und ein Drittel „von gut laufenden<br />

Geschäften“ berichtet, sieht<br />

es bei den Geschäftserwartungen<br />

„vielfach düster“ aus. IHK-Hauptgeschäftsführerin<br />

Elke Döring:<br />

„Große Sorgen bereitet uns, dass<br />

Personalsuche: Auf Recruiting-Messen wie den „Fachkräftetagen“<br />

der SÜDWEST PRESSE Hohenlohe in der Arena Hohenlohe herrschte an<br />

den Ständen der Aussteller Hochbetrieb. Noch immer werden in vielen<br />

Branchen neue Mitarbeitende gesucht.<br />

Foto: Ufuk Arslan<br />

dies einhergeht mit der niedrigsten<br />

Einstellungsbereitschaft seit<br />

Jahresbeginn 2021.“ Fast ein Viertel<br />

der befragten Unternehmen<br />

plant einen Stellenabbau. Zudem:<br />

Die Industrie will vielfach ihre Investitionen<br />

im Inland zurückfahren.<br />

Auch das könnte Stellen kosten.<br />

Und weil der Wohnungsbau<br />

regelrecht am Boden liegt und<br />

angesichts gestiegener Zinsen<br />

und höherer Kosten viele Vorhaben<br />

storniert werden, findet sich<br />

in der Bauwirtschaft derzeit kaum<br />

ein Betrieb, der Personal aufbaut.<br />

Die sinkende Auftragslage macht<br />

sich auch im Handwerk bemerkbar<br />

und verringert die Auslastung<br />

der Betriebe. Erwartungsgemäß<br />

zeigt auch die Umsatzkurve<br />

nach unten und so dürften vom<br />

Handwerk zunächst kaum Impulse<br />

für den Arbeitsmarkt ausgehen.<br />

Im Gegenteil: Die Handwerkskammer<br />

rechnet sogar mit<br />

einem leichten Beschäftigungsrückgang.<br />

„Glücklicherweise hat<br />

sich der Abwärtstrend nicht fortgesetzt“,<br />

ist Kammerpräsident Ulrich<br />

Bopp erleichtert, trotzdem<br />

dürfte die Zahl der Beschäftigten<br />

bereits im dritten Quartal abgenommen<br />

haben.<br />

Anders sieht es aktuell im Einzelhandel<br />

aus: „Die Inflationsrate<br />

gibt nach, die Kauflaune steigt<br />

und die Stimmung bessert sich“,<br />

so das Ergebnis der jüngsten Konjunkturprognose.<br />

Und laut Handelsverband<br />

lief auch „das Weihnachtsgeschäft<br />

besser als erwartet“.<br />

Der Lebensmittelhandel,<br />

die Anbieter von Sport- und Geschenkartikeln,<br />

aber auch Baumärkte<br />

suchen deshalb häufig<br />

händeringend nach Personal, genauso<br />

wie das Hotel- und Gaststättengewerbe.<br />

In anderen Dienstleistungsbereichen,<br />

etwa bei Medizin<br />

und Gesundheit, herrscht<br />

sogar regelrechte Personalnot.<br />

Die Digitalisierung und technologische<br />

Entwicklungen wie die<br />

Künstliche Intelligenz wälzen dafür<br />

in anderen Branchen ganze<br />

Produktionsprozesse um und machen<br />

auf Sicht ganze Berufsstände<br />

überflüssig. Was wiederum manche<br />

Personaler auf die Bremse<br />

treten lässt. Vorschnell, meinen<br />

nicht wenige Experten. Ihre optimistische<br />

Annahme: Die Jobs gehen<br />

nicht verloren, sie verändern<br />

sich nur gravierend. Na, denn.<br />

„Längst veraltete Vorstellungen von den Betrieben“<br />

Im Handwerk fehlt Personal. Markus May, Vizepräsident der Handwerkskammer Heilbronn-Franken, erklärt im Interview, wie mehr junge Menschen für<br />

eine Ausbildung begeistert werden könnten. INTERVIEW VON ADINA BAUER<br />

Der Fachkräftemangel bleibt<br />

eines der drängendsten<br />

Themen im Handwerk.<br />

Laut einer Erhebung der Bundesagentur<br />

für Arbeit leidet hier inzwischen<br />

jeder dritte Berufszweig<br />

erheblich unter dem Fehlen von<br />

geeignetem Personal. Von 177<br />

Handwerksberufen werden 68<br />

als sogenannte Engpassberufe geführt.<br />

Der Ausbildung von Nachwuchskräften<br />

kommt vor diesem<br />

Hintergrund eine wichtige Bedeutung<br />

zu. Allerdings: Im Bezirk der<br />

Handwerkskammer Heilbronn-<br />

Franken (HWK) hat sich die Situation<br />

am Ausbildungsmarkt nach<br />

einem kurzen Hoffnungsschimmer<br />

wieder eingetrübt: Gab es von<br />

Mai bis Juli im Vergleich zum Vorjahr<br />

ein Plus bei den Ausbildungsverträgen,<br />

wurden in den Folgemonaten<br />

wieder weniger Verträge<br />

abgeschlossen. HWK-Vizepräsident<br />

Markus May erklärt, warum<br />

es aktuell nicht gelingt, junge<br />

Menschen für das Handwerk zu<br />

begeistern und an welchen Stellschrauben<br />

gedreht werden muss.<br />

REGIOBUSINESS Warum bleiben<br />

so viele Ausbildungsplätze<br />

trotz aller Bemühungen unbesetzt?<br />

MARKUS MAY Das Ausbildungsplatzangebot<br />

deckt sich<br />

bundesweit betrachtet nicht mit<br />

den Ausbildungswünschen. So<br />

entstehen in manchen Regionen<br />

Überangebote an freien Ausbildungsplätzen<br />

und in anderen Regionen<br />

gäbe es zumindest für einen<br />

Teil dieser Plätze Bewerber.<br />

Aber die Entfernung ist für viele<br />

einfach zu groß. Hinzu kommt,<br />

dass trotz zahlreicher guter Aktionen<br />

der Handwerkskammern, wie<br />

beispielsweise die bundesweite<br />

Imagekampagne, das Handwerk<br />

nicht als fähiger Ausbildungspartner<br />

wahrgenommen wird.<br />

Obwohl viele Jugendliche sich<br />

durchaus für eine Ausbildung und<br />

auch spätere Beschäftigung im<br />

Handwerk interessieren, lassen<br />

sie sich dann doch von ihren Eltern,<br />

Lehrern und anderen Vertrauenspersonen<br />

zu einer akademischen<br />

oder industriellen Ausbildung<br />

überreden.<br />

Obwohl sich das Handwerk in den<br />

letzten Jahren ebenso wie die Industrie<br />

modernisiert hat und mit<br />

modernster Technik die Zukunft<br />

gestaltet, haben die Berater der<br />

Jugend immer noch eine längst<br />

veraltete Vorstellung von den<br />

Handwerksbetrieben.<br />

REGIOBUSINESS Sie sind ja<br />

der Meinung, reines Klagen helfe<br />

nicht. Was hilft denn dann?<br />

MARKUS MAY Wir müssen jungen<br />

Menschen zeigen, was für ein<br />

toller und attraktiver Arbeitgeber<br />

das Handwerk ist. Das Handwerk<br />

ist der Ausbildungspartner von<br />

nebenan, da ein Abwandern, wie<br />

Bildung: Markus May fordert unter anderem, dass Zukunftsperspektiven<br />

mithilfe finanzieller Förderungen verbessert werden. Foto: HWK<br />

in der Industrie, nicht vorkommt.<br />

Die Handwerksbetriebe punkten<br />

mit familiären Strukturen, flachen<br />

Hierarchien und spannenden Aufgaben.<br />

In einem überschaubaren<br />

Team kann man sich schnell als<br />

Mitglied einbringen und ist keine<br />

anonyme Nummer. Wenn ich<br />

junge Handwerker frage, was ihnen<br />

an ihrem Beruf am besten gefällt,<br />

dann höre ich oft, dass sie<br />

am Ende des Tages sehen können,<br />

was sie geschaffen haben. Das erfüllt<br />

sie mit Stolz und Zufriedenheit.<br />

Die Akteure der Handwerkskammer<br />

geben daher tagtäglich<br />

ihr Bestes, um junge Menschen<br />

für das Handwerk zu gewinnen.<br />

Zum Beispiel: mit den Ausbildungsberatern,<br />

mit Bildungspartnerschaften,<br />

mit unseren Technik-<br />

und Werkstatt-Tagen im Bildungs-<br />

und Technologiezentrum,<br />

auf Bildungsmessen, mit dem<br />

Handwerkertag in Künzelsau, mit<br />

dem Lernspiel Meisterpower und<br />

mit unseren Aktivitäten in den sozialen<br />

Medien.<br />

REGIOBUSINESS Wie kann der<br />

Orientierungsprozess für Jugendliche<br />

und vor allem für Eltern<br />

noch verbessert werden?<br />

MARKUS MAY Da sind aus<br />

meiner Sicht vor allem die Lehrer<br />

aller Schulen gefordert. Die Berufsorientierung<br />

an Schulen darf<br />

nicht ausschließlich auf eine Karriere<br />

in der Industrie oder eine<br />

akademische Laufbahn ausgerichtet<br />

sein. Im Unterricht müssen<br />

die Schüler auf die vielen unterschiedlichen<br />

Berufe vorbereitet<br />

werden und begreifen, dass<br />

ohne Lebensmittelhandwerk und<br />

Maurer, ohne Anlagenmechaniker<br />

für Sanitär-, Heizungs- und<br />

Klimatechnik sowie ohne Friseure<br />

und alle weiteren Handwerksberufe<br />

ein so komfortables Leben,<br />

wie wir es kennen, undenkbar<br />

wäre. Hierfür muss bereits<br />

vor der Praktikumswoche genügend<br />

Zeit eingeplant werden. Das<br />

Handwerk ist mit seinen 5,7 Millionen<br />

Beschäftigten in Deutschland<br />

einer der bedeutendsten<br />

Wirtschaftszweige, der bei der Berufsorientierung<br />

nicht vernachlässigt<br />

werden darf. Eltern sollten<br />

meines Erachtens aufgeschlossener<br />

für eine Ausbildung ihrer Kinder<br />

im Handwerk sein und entsprechend<br />

mit Informationsmaterial<br />

durch Schulen und Handwerkskammern<br />

versorgt werden.<br />

Die Eltern müssen verstehen, dass<br />

das Handwerk heutzutage topmodern<br />

und bestens ausgestattet ist.<br />

Wir arbeiten digital und mit den<br />

neusten Werkzeugen und Technologien.<br />

Und im Handwerk lässt<br />

sich richtig gutes Geld verdienen.<br />

REGIOBUSINESS Welche konkreten<br />

Forderungen haben Sie an<br />

die Politik?<br />

MARKUS MAY Wie eingangs<br />

beschrieben, müssen wir Bewerber<br />

und Ausbildungsplätze zusammenbringen.<br />

Hierzu muss für<br />

eine optimale Mobilität der Auszubildenden<br />

gesorgt werden. Bezahlbarer<br />

Wohnraum und Azubi-Tickets,<br />

um weiter entfernte<br />

Ausbildungsstätten und immer<br />

stärker zentralisierte Berufsfachschulen<br />

besuchen zu können,<br />

müssen gefördert werden.<br />

Die Ausbildung der Lehrer im<br />

Hinblick auf die Berufsorientierung<br />

muss erheblich verbessert<br />

werden. Dies gilt besonders für<br />

die Gymnasiallehrer. Die Akzeptanz<br />

des Handwerks als unverzichtbarer<br />

Partner in Politik, Wirtschaft<br />

und Gesellschaft muss optimiert<br />

werden.<br />

Zukunftsperspektiven im Handwerk<br />

müssen durch eine finanzielle<br />

Förderung der beruflichen<br />

Bildung und beispielsweise der<br />

Verdopplung der Meisterprämie<br />

in Baden-Württemberg von derzeit<br />

1500 Euro auf 3000 Euro<br />

verbessert werden. Ebenso muss<br />

die Gleichwertigkeit von akademischer<br />

und beruflicher Bildung<br />

noch besser in den Köpfen ankommen.<br />

Noch immer ist viel zu<br />

wenigen Menschen bekannt, dass<br />

der Meister gemäß dem Europäischen<br />

Qualifikationsrahmen dem<br />

Abschluss eines Bachelors entspricht<br />

und der Betriebswirt des<br />

Handwerks dem des Masters.

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