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Emmanuel L. Rehfeld: Sündlos solidarisch (Leseprobe)

Die Frage, wer Jesus ist, beantwortet das Markusevangelium nicht diskursiv, sondern narrativ: Während es mit den komplementären Bezeichnungen »Gottessohn« und »Menschensohn« auf Jesu wahren Ursprung und auf seinen Auftrag verweist, schildert es sein geschichtliches Auftreten als die verborgene Epiphanie des präexistenten Gottessohns. Indem der Evangelist das irdische Dasein Jesu in die göttliche »Metahistorie« einzeichnet, bezeugt er ein realistisches, nicht-doketisches Verständnis des Menschseins Jesu, das zugleich die ontische Differenz zwischen seinem Menschsein und dem Menschsein derer offenlegt, für die zu sterben er kam. Eine eingehende Untersuchung der markinischen Jesusdarstellung ergibt, dass diese soteriologisch fundamentale Differenz in der These von Jesu Sündlosigkeit gipfelt.

Die Frage, wer Jesus ist, beantwortet das Markusevangelium nicht diskursiv, sondern narrativ: Während es mit den komplementären Bezeichnungen »Gottessohn« und »Menschensohn« auf Jesu wahren Ursprung und auf seinen Auftrag verweist, schildert es sein geschichtliches Auftreten als die verborgene Epiphanie des präexistenten Gottessohns. Indem der Evangelist das irdische Dasein Jesu in die göttliche »Metahistorie« einzeichnet, bezeugt er ein realistisches, nicht-doketisches Verständnis des Menschseins Jesu, das zugleich die ontische Differenz zwischen seinem Menschsein und dem Menschsein derer offenlegt, für die zu sterben er kam. Eine eingehende Untersuchung der markinischen Jesusdarstellung ergibt, dass diese soteriologisch fundamentale Differenz in der These von Jesu Sündlosigkeit gipfelt.

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22<br />

Teil I: Thema und Fragestellung<br />

Dabei müsste gerade der evangelischen Theologie spätestens seit Luthers<br />

Disputation über Joh 1,14 von 1539 die prinzipielle Differenz zwischen anthropologisch-philosophischer<br />

und christologischer Herleitung des Begriffs »Mensch«<br />

geläufig sein: »Philosophisch bedeutet ›Mensch‹ ein Wesen des menschlichen<br />

Geschlechts außerhalb der Inkarnation; der physische Mensch […]. Theologisch<br />

bedeutet ›Mensch‹ in bezug auf Christus etwas anderes, nämlich: göttliche Person<br />

in menschlicher Natur; inkarnierte göttliche Person; Sohn Gottes.« 6<br />

Auch das altkirchliche Bekenntnis verweigert sich einer geradezu naiven Rezeption<br />

des »vere homo« und nötigt seinerseits zu einer präzisen Verhältnisbestimmung<br />

von »vere Deus« und »vere homo« einerseits sowie von »vere homo«<br />

und »purus homo« andererseits. Hinsichtlich des Menschseins unterscheidet das<br />

Chalcedonense zwischen Aussagen über die »Menschheit« (ἀνθρωπότης) im Sinne<br />

des φύσις/natura-Begriffs und Aussagen über »uns« (ἡµεῖς) als geschichtlich existierende<br />

Ausprägungen menschlicher Seinsweise. Während hinsichtlich der<br />

menschlichen Natur (ἀνθρωπότης) im Blick auf Jesus die volle Identität mit »uns«<br />

ausgesagt wird (ὁµοούσιος ἡµῖν κατὰ τὴν ἀνθρωπότητα), 7 wird hinsichtlich des jeweiligen<br />

geschichtlichen Daseins und Soseins nur eine relative »Gleichheit« zwischen<br />

ihm und »uns« behauptet: Er sei κατὰ πάντα ὅµοιος ἡµῖν χωρὶς ἁµαρτίας. 8<br />

»Unsere« Sünde und Errettungsbedürftigkeit 9 auf der einen und Jesu Sündlosigkeit<br />

auf der anderen Seite markieren den entscheidenden Gegensatz zwischen<br />

dem Inkarnierten und »uns«, die wir das Menschsein offenbar anders leben, als<br />

es der inkarnierte Gottessohn tat (vgl. 1Joh 2,6; 3,2b.3.5b). 10 Das alles verlangt<br />

nicht nur im Blick auf die Christologie 11 , sondern auch im Blick auf die theologi-<br />

---------------------------------------<br />

6<br />

Streiff, »Novis linguis loqui«, 64. Den scholastischen Theologen seiner Zeit wirft Luther<br />

vor, sie trügen wider besseres Wissen eine Äquivokation in die Unterscheidung ein, »um<br />

Theologie und Philosophie in Übereinstimmung zu bringen« (a. a. O., 65).<br />

7<br />

Anders Kühn, Christologie, 158f., der im Anschluss an die Übersetzung bei Grillmeier,<br />

Jesus I, 754, meint, »dass ›homousios‹, auf das Menschsein bezogen, tatsächlich nur eine<br />

›Wesensgleichheit‹ besagen kann, derzufolge Christus wie wir Mensch war, also derselben<br />

Gattung angehörte (was so für sein Gottsein nicht zutrifft, weil er sonst ein zweiter Gott<br />

wäre)« (Kühn, a. a. O., 159).<br />

8<br />

Eine derartige Einschränkung fehlt hinsichtlich der θεότης, weil »der Vater« im vollumfänglichen<br />

Sinne die θεότης ist und »der Sohn« in vollkommener und jederzeit ungebrochener<br />

Weise an der θεότης Anteil hat. Es gibt innerhalb der einen θεότης keine Differenz<br />

zwischen der göttlichen οὐσία und ihren drei Hypostasen.<br />

9<br />

Als ausdrückliches Ziel der Geburt Jesu in der Zeit (aus der Jungfrau und Gottesgebärerin<br />

Maria) gibt das Bekenntnis an: δι’ ἡµᾶς καὶ διὰ τὴν ἡµετέραν σωτηρίαν (Wohlmuth,<br />

Konzilien, 86,28f.).<br />

10<br />

Das ist nicht gleichbedeutend mit der Rede von Jesus als dem »Ideal« oder »Urbild« des<br />

Humanen, wie es gerade im 19. Jh. immer wieder postuliert wurde. Vgl. zur Sache Iwand,<br />

Christologie, bes. 442---452.<br />

11<br />

Dabei ist im exegetischen Kontext der Begriff »Christologie« zunächst rein etymologisch<br />

verstanden als jene »Wissenschaft […], die Christus zum Gegenstand hat« (mit Cullmann,<br />

Christologie, 1).

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