29.02.2024 Aufrufe

Emmanuel L. Rehfeld: Sündlos solidarisch (Leseprobe)

Die Frage, wer Jesus ist, beantwortet das Markusevangelium nicht diskursiv, sondern narrativ: Während es mit den komplementären Bezeichnungen »Gottessohn« und »Menschensohn« auf Jesu wahren Ursprung und auf seinen Auftrag verweist, schildert es sein geschichtliches Auftreten als die verborgene Epiphanie des präexistenten Gottessohns. Indem der Evangelist das irdische Dasein Jesu in die göttliche »Metahistorie« einzeichnet, bezeugt er ein realistisches, nicht-doketisches Verständnis des Menschseins Jesu, das zugleich die ontische Differenz zwischen seinem Menschsein und dem Menschsein derer offenlegt, für die zu sterben er kam. Eine eingehende Untersuchung der markinischen Jesusdarstellung ergibt, dass diese soteriologisch fundamentale Differenz in der These von Jesu Sündlosigkeit gipfelt.

Die Frage, wer Jesus ist, beantwortet das Markusevangelium nicht diskursiv, sondern narrativ: Während es mit den komplementären Bezeichnungen »Gottessohn« und »Menschensohn« auf Jesu wahren Ursprung und auf seinen Auftrag verweist, schildert es sein geschichtliches Auftreten als die verborgene Epiphanie des präexistenten Gottessohns. Indem der Evangelist das irdische Dasein Jesu in die göttliche »Metahistorie« einzeichnet, bezeugt er ein realistisches, nicht-doketisches Verständnis des Menschseins Jesu, das zugleich die ontische Differenz zwischen seinem Menschsein und dem Menschsein derer offenlegt, für die zu sterben er kam. Eine eingehende Untersuchung der markinischen Jesusdarstellung ergibt, dass diese soteriologisch fundamentale Differenz in der These von Jesu Sündlosigkeit gipfelt.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

2 Der Begriff »Sünde« 225<br />

ße Vorkommen bestimmter Lexeme schon das Vorhandensein eines bestimmten<br />

Gedankens. 9 Das gilt umso mehr für narrative Texte, die geistige Sachgehalte ohnehin<br />

anders darstellen, als dies beispielsweise ein dogmatisches Lehrbuch tut. 10<br />

Für unseren Fall bedeutet das: Mit der Beobachtung, dass das (vermeintlich) einschlägige<br />

Wortfeld für »Sünde« im Markusevangelium nur spärlich vertreten ist,<br />

ist nicht zugleich schon abschließend darüber entschieden, ob das, was man unter<br />

den dogmatischen Begriff der »Sündlosigkeit Jesu« fasst, der Sache nach im<br />

Markusevangelium tatsächlich fehlt. Jedenfalls ist der Begriff der Sünde und der<br />

Sündlosigkeit nicht notwendig an das Lexem ἁµαρτία und seine Derivate oder<br />

Synonyme gebunden --- weder positiv noch negativ. 11<br />

Das lehrt schon ein Blick in jene Textkorpora, die explizit von Jesu Sündlosigkeit<br />

sprechen (s. o. Teil I, Kapitel 4.1). Der Sündenbegriff des Hebräerbriefs ist wesentlich<br />

durch den Terminus »Schwäche« (ἀσθένεια) und das Motiv der Verstocktheit und<br />

Glaubenslosigkeit charakterisiert. »Sünde« besteht hauptsächlich in dem Hang des<br />

menschlichen Herzens zum Zweifel an Gottes Zusagen und im tatsächlichen Abfall<br />

von Gott und seinem Wort (ἀφίστασθαι). Wird Jesus Sündlosigkeit attestiert, dann ist<br />

gemeint, dass er zwar »wie wir versucht«, d. h. von außen mit Schrecknissen bedroht<br />

wurde, die geeignet waren, ihn zum Zweifel an Gottes Treue und zum Abfall von Gott<br />

zu bewegen (Hebr 4,15), doch trotz aller dieser Widerfahrnisse an seinem Vater festhielt<br />

und sich so als ἀρχηγὸς καὶ τελειωτὴς τῆς πίστεως erwies (Hebr 12,2). Denn im<br />

Gegensatz zu »uns« war Jesus der Schwachheit und damit jener »anthropologischen<br />

Konstanten« entnommen, »welche in die Versuchung und zur Sünde führt.« 12<br />

Bei Paulus verweist der Sündenbegriff auf jenen »anthropologische[n] Unheilszusammenhang«<br />

13 , dem die gesamte von Adam herkommende Menschheit unentrinnbar<br />

ausgeliefert ist (Röm 5,12ff.). Was der Apostel u. a. mit dem Lexem ἁµαρτία<br />

bezeichnet, meint im Kern die objektiv gegebene menschliche »Feindschaft gegen<br />

Gott« (ἔχθρα εἰς θεόν, Röm 8,7; vgl. 5,10). Ihre vielfältigen praktischen Äußerungen (s.<br />

Röm 1,18ff.; Gal 5,19---21) entspringen dem tief im Herzen verwurzelten Unglauben<br />

(vgl. Röm 14,23b). Die menschliche Sündhaftigkeit besteht für Paulus in der persönlichen<br />

und insofern schuldhaften Verstrickung in un- oder widergöttliches Sein und<br />

Tun. Attestiert der Apostel dagegen dem Gekreuzigten Sündlosigkeit, dann ist ge-<br />

---------------------------------------<br />

9<br />

Für sich genommen lässt sich aus dem bloßen Vorkommen des Verbums ἁµαρτάνειν<br />

nichts schließen, zumal es neben theologischen und moralischen oder ethischen Konnotationen<br />

auch die eher neutrale Bedeutung annehmen kann: »einen Fehler machen«, »sich<br />

vertun« (z. B. Menander, Dysk. 75; vgl. 2Kor 11,7: ἁµαρτίαν ποιεῖν = ἁµαρτάνειν). Vgl. den<br />

Überblick bei Pape, Hwb I, 116f., s. v. ἁµαρτάνω κτλ. Das Wortfeld umschreibt das Vorliegen<br />

einer irgendwie gearteten Unzulänglichkeit bzw. Normverletzung.<br />

10<br />

S. o. S. 47f. m. Anm. 3.<br />

11<br />

Vgl. zu diesem Problem auch die Andeutungen bei Löhr, Umkehr, 69f.<br />

12<br />

Löhr, Umkehr, 134.<br />

13<br />

Formulierung bei Löhr, ebd., der den Sündenbegriff des Hebräerbriefs scharf davon abgrenzt.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!