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Emmanuel L. Rehfeld: Sündlos solidarisch (Leseprobe)

Die Frage, wer Jesus ist, beantwortet das Markusevangelium nicht diskursiv, sondern narrativ: Während es mit den komplementären Bezeichnungen »Gottessohn« und »Menschensohn« auf Jesu wahren Ursprung und auf seinen Auftrag verweist, schildert es sein geschichtliches Auftreten als die verborgene Epiphanie des präexistenten Gottessohns. Indem der Evangelist das irdische Dasein Jesu in die göttliche »Metahistorie« einzeichnet, bezeugt er ein realistisches, nicht-doketisches Verständnis des Menschseins Jesu, das zugleich die ontische Differenz zwischen seinem Menschsein und dem Menschsein derer offenlegt, für die zu sterben er kam. Eine eingehende Untersuchung der markinischen Jesusdarstellung ergibt, dass diese soteriologisch fundamentale Differenz in der These von Jesu Sündlosigkeit gipfelt.

Die Frage, wer Jesus ist, beantwortet das Markusevangelium nicht diskursiv, sondern narrativ: Während es mit den komplementären Bezeichnungen »Gottessohn« und »Menschensohn« auf Jesu wahren Ursprung und auf seinen Auftrag verweist, schildert es sein geschichtliches Auftreten als die verborgene Epiphanie des präexistenten Gottessohns. Indem der Evangelist das irdische Dasein Jesu in die göttliche »Metahistorie« einzeichnet, bezeugt er ein realistisches, nicht-doketisches Verständnis des Menschseins Jesu, das zugleich die ontische Differenz zwischen seinem Menschsein und dem Menschsein derer offenlegt, für die zu sterben er kam. Eine eingehende Untersuchung der markinischen Jesusdarstellung ergibt, dass diese soteriologisch fundamentale Differenz in der These von Jesu Sündlosigkeit gipfelt.

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<strong>Emmanuel</strong> L. <strong>Rehfeld</strong><br />

Sündlos <strong>solidarisch</strong><br />

Der Sohn Gottes als Repräsentant der Menschheit<br />

nach der Darstellung des Markusevangeliums


Otfried Hofius<br />

Rainer Riesner<br />

Michael Basse<br />

in großer Dankbarkeit


Vorwort<br />

Dieses Buch ist ein Wagnis, möglicherweise ein Ärgernis: Nicht nur behandelt es<br />

eine Sachfrage, die gegenwärtig ein Schattendasein fristet (nachdem sie noch im<br />

19. Jahrhundert aus bestimmten Gründen groß in der theologischen Mode war),<br />

es erarbeitet auch eine Sicht der Dinge, die in Zeiten von »Low Christology« und<br />

diverser »Within-Judaism«-Perspektiven (»Jesus within Judaism«, »Paul within<br />

Judaism«, »John within Judaism« usw.) als wenig anschlussfähige Außenseiterposition<br />

gelten dürfte. Möge der Beitrag gerade auf diese Weise den exegetischen<br />

Binnendiskurs aufbrechen und die der Wissenschaft aufgegebene Wahrheitssuche<br />

über die Disziplingrenzen hinaus neu beleben. Möge er zugleich die Erinnerung<br />

daran wachhalten, dass nach reformatorischem Verständnis die biblische<br />

Exegese auf die sachgemäße Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus<br />

zielt und damit eine gemeinchristliche Verantwortung trägt.<br />

Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2020 von der Fakultät<br />

»Humanwissenschaften und Theologie« der TU Dortmund als Habilitationsschrift<br />

angenommen. Für den Druck wurde das Manuskript gründlich durchgesehen sowie<br />

stellenweise präzisiert und erweitert. Für entsprechende Anregungen danke<br />

ich den drei Gutachtern: Prof. Dr. K.-W. Niebuhr (Jena), Prof. Dr. R. Riesner (Dortmund),<br />

Prof. Dr. H. Löhr (Bonn). Literatur, die seit der Einreichung der Arbeit im<br />

Herbst 2019 erschien, konnte leider nur noch vereinzelt berücksichtigt werden.<br />

Der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig gilt mein herzlicher Dank für die<br />

nicht selbstverständliche Aufnahme meiner Arbeit in das Verlagsprogramm. Besonders<br />

dem Lektor, Herrn T. Meckel, und Frau C. Wollesky von der Herstellung<br />

danke ich für die sehr angenehme und verlässliche Zusammenarbeit.<br />

Für einen ebenso spontanen wie namhaften Druckkostenzuschuss danke ich<br />

von Herzen Dr. Stephan Hobrack (Magdeburg).<br />

Das Buch widme ich drei akademischen »Mentoren«, die meinen Werdegang<br />

in selbstloser Weise förderten und bis heute freundschaftlich begleiten: Prof. Dr.<br />

Otfried Hofius, Prof. Dr. Rainer Riesner und Prof. Dr. Michael Basse. Dass sie<br />

mir, der ich aus einem nicht-akademischen Elternhaus stamme, diesen Weg wiesen<br />

und ermöglichten, erfüllt mich mit bleibender Dankbarkeit.


8<br />

Vorwort<br />

Für ihre beständige Anteilnahme und Ermutigung sowie vielfältige Unterstützung<br />

in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten danke ich darüber hinaus<br />

von ganzem Herzen vielen wunderbaren Freunden. Namentlich erwähnt seien<br />

Daniel und Miriam Orsinger mit Elina (Crailsheim), David und Hanna Coers mit<br />

Leila, Mateo und Aaron (Lünen), Dr. Stephan und Eva Lauxmann mit Jona, Manuel,<br />

Julius und Josua (Schönaich), Jonas Wolf (Schwäbisch Gmünd), Pfr. Christian<br />

und Marisol Lehmann mit Mateo, Felipe (meinem lieben Patensohn) und Santiago<br />

(Walheim), Alf Meyer-Först und Ulla Först (Werne a. d. L.) sowie Jean und<br />

Ursula Hoffmann, die mich unzählige Male in Tübingen beherbergten.<br />

Sehr zu danken habe ich auch Pfr. Martin C. Wenzel (Bremen) für seine Hilfe<br />

beim Korrekturlesen der Habilitationsschrift in der 2019 eingereichten Fassung<br />

und sein kritisch-konstruktives Mitdenken. Danken möchte ich schließlich dem<br />

Lesesaalpersonal der Universitätsbibliothek Tübingen, das mich immer wieder<br />

ebenso zuverlässig wie zuvorkommend mit Literatur versorgte, sowie der Fernleihabteilung<br />

der Universitätsbibliothek Dortmund und dem Personal der Deutschen<br />

Nationalbibliothek am Standort Leipzig.<br />

Die zeitgenössische Ikone auf dem Umschlag steht in der Tradition der syrischaramäischen<br />

Ikonographie und trägt den Titel »Christ of the Desert«. Mit ihrem<br />

Bildprogramm bringt sie zum Ausdruck, worum es in diesem Buch geht. Zugleich<br />

soll sie an das Schicksal der leidgeprüften Menschen in den Ländern der<br />

östlichen Levante erinnern --- nicht zuletzt an die Not der einheimischen Christenheit.<br />

Ihnen fühle ich mich von klein auf in besonderer Weise verbunden.<br />

Möge das Buch letztlich dazu dienen, die Stimme dessen zu vernehmen, der<br />

nach dem Zeugnis des Markusevangeliums von Ewigkeit her der Sohn des lebendigen<br />

Gottes ist: οὗτός ἐστιν ὁ υἱός µου ὁ ἀγαπητός, ἀκούετε αὐτοῦ (Mk 9,7). Ihm<br />

gebühren alle Ehre und aller Dank.<br />

Zeitz, in der Epiphaniaszeit 2024<br />

<strong>Emmanuel</strong> L. <strong>Rehfeld</strong>


Inhalt<br />

Teil I: Thema und Fragestellung<br />

1 Einführung .......................................................................................................... 17<br />

2 Die theologische Frage nach dem Menschsein Jesu ................................... 21<br />

3 Das systematische Problem der Sündlosigkeit Jesu ................................... 25<br />

4 Das Desiderat einer biblisch-theologischen Antwort .................................. 27<br />

4.1 Die Rede von der Sündlosigkeit Jesu in den Briefen des Neuen<br />

Testaments ................................................................................................ 28<br />

4.2 Die Sündlosigkeit Jesu als Thema der Synoptiker? ........................... 32<br />

5 Fragestellung und Gang der Untersuchung ................................................. 35<br />

5.1 Notwendigkeit und Legitimität der Forschungsfrage ....................... 35<br />

5.2 Der Aufriss der Arbeit ............................................................................. 42<br />

Teil II: Die Eigenart der markinischen Jesusdarstellung<br />

1 Die markinische Jesusdarstellung als Zeugnis narrativer<br />

Christologie ........................................................................................................ 47<br />

1.1 Christologie zwischen Diskursivität und Narrativität ...................... 47<br />

1.2 Zur theologischen Interpretation narrativer Texte ............................ 48<br />

2 Das Markusevangelium als antiker Erzähltext ............................................ 51<br />

2.1 Exegetische Grundlagen ......................................................................... 51<br />

2.1.1 Philologisch-grammatische Textanalyse und<br />

Kontextprinzip .............................................................................. 53<br />

2.1.2 Anonyme Verfasserschaft und textimmanente<br />

Interpretation ................................................................................ 54<br />

2.1.3 Traditionsverarbeitung und redaktionelle Eigenaussage ..... 56<br />

2.1.4 Die Wiederentdeckung des »Mythos« als einer<br />

theologischen Sprachform .......................................................... 58<br />

2.2 Ästhetik und Logik narrativer Texte .................................................... 61<br />

2.2.1 Was sind und was leisten Erzähltexte? .................................... 62<br />

2.2.2 Der klassische »Narrative Criticism« und das Problem<br />

der extratextuellen Referenzialisierbarkeit ............................ 64<br />

2.2.3 Narratologische Neubesinnungen im Zuge des<br />

»Cognitive Turn« .......................................................................... 70<br />

3 Die theologische Eigenart der markinischen Jesuserzählung ................... 73<br />

3.1 Das Markusevangelium als »Passionsgeschichte mit<br />

ausführlicher Einleitung« (M. Kähler) ................................................. 73<br />

3.2 Das »Messiasgeheimnis« als markinisches Leitmotiv<br />

(W. Wrede) ................................................................................................ 75


10<br />

Inhalt<br />

3.3 Das Markusevangelium als »Buch der geheimen Epiphanien«<br />

(M. Dibelius, M. Frenschkowski) .......................................................... 78<br />

4 Die Bedeutung des »irdischen Jesus« für das Markusevangelium ........... 85<br />

4.1 Der historisch-evolutive (christogonische) Zugang ........................... 85<br />

4.2 Der soteriologisch-existentielle Zugang .............................................. 93<br />

4.3 Ein »heilsgeschichtlich«-christologischer Zugang ............................. 95<br />

5 Das markinische Christuszeugnis und die Abwegigkeit historischer<br />

Rückfragen ....................................................................................................... 105<br />

Teil III: Christologische Grundlegung<br />

1 Die Leitfrage: Wer ist Jesus? .......................................................................... 111<br />

2 Die Rahmentexte des Markusevangeliums als hermeneutischer<br />

Schlüssel ........................................................................................................... 115<br />

2.1 Überschrift (1,1), Prolog (1,2---13) und Überleitung (1,14f.) .......... 116<br />

2.2 Der ursprüngliche Buchschluss (16,1---8) .......................................... 120<br />

3 Jesus Christus, der einzigartige »Sohn Gottes« ......................................... 127<br />

3.1 Der präexistente Sohn (1,2f.) ............................................................... 128<br />

3.2 Der »geliebte« Sohn (1,10f.) ................................................................. 134<br />

3.3 Die Offenbarung der verborgenen Würde des Sohnes (9,2---8)...... 141<br />

3.4 Die verkannte Identität Jesu (14,61---64) ........................................... 164<br />

3.5 Der Gekreuzigte als der »Sohn Gottes« (15,39) ................................ 173<br />

4 Jesus Christus, der gottgesandte Menschheitsrepräsentant ................... 179<br />

4.1 Der υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου in der Forschungsdiskussion ....................... 180<br />

4.2 Philologische Anmerkungen zum Syntagma ὁ υἱὸς τοῦ<br />

ἀνθρώπου .................................................................................................. 186<br />

4.3 Traditionsgeschichtliche Erwägungen zum Syntagma ὁ υἱὸς τοῦ<br />

ἀνθρώπου .................................................................................................. 189<br />

4.4 Der υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου im Markusevangelium .................................. 193<br />

5 Jesu »göttliche Machtvollkommenheit« ....................................................... 197<br />

5.1 Jesu ἐξουσία in Wort und Tat ............................................................... 198<br />

5.1.1 Jesu »neue Lehre κατ’ ἐξουσίαν« (1,21---28) ............................ 198<br />

5.1.2 Jesu ἐξουσία, »auf der Erde Sünden zu vergeben« (2,1---<br />

12) ................................................................................................. 200<br />

5.2 Der Ursprung von Jesu ἐξουσία ........................................................... 210<br />

6 Konturen des markinischen Jesusbildes .................................................... 213<br />

Teil IV: Begriffsklärungen<br />

1 Grundzüge des Begriffs »Sünde« im Markusevangelium ........................ 221<br />

2 Der Begriff »Sünde« zwischen beschreibungssprachlicher Kategorie<br />

und quellensprachlichem Lexem ................................................................. 223


Inhalt 11<br />

3 Terminologische Annäherungen an den markinischen<br />

Sündenbegriff ................................................................................................... 229<br />

4 Mk 7,1---23 als möglicher Ansatzpunkt markinischer Hamartiologie ... 235<br />

5 Καρδία als anthropologisch-hamartiologischer Schlüsselbegriff ............ 243<br />

6 Die »kardiologische« Bestimmtheit der Sünde und die Frage nach<br />

der Sündlosigkeit Jesu .................................................................................... 247<br />

Teil V: Die faktuale Sündlosigkeit Jesu in der Darstellung des<br />

Markusevangeliums bis zur Passion (1,9---14,41a)<br />

1 Das Problem des Begriffs »Sündlosigkeit« .................................................. 253<br />

2 Zur Deutung und Bedeutung eines Negativbefundes ............................... 255<br />

3 Positive Indizien für die These von der Sündlosigkeit Jesu .................... 261<br />

3.1 Die juristische Grundlosigkeit und moralische<br />

Unbegreiflichkeit der Kreuzigung Jesu ............................................. 261<br />

3.1.1 Die Falschzeugen vor dem Synedrium (14,55---61a) ............ 263<br />

3.1.2 Die sachlich unzutreffende Anklage wegen Blasphemie<br />

(14,61b---64) ................................................................................. 268<br />

3.1.3 Jesus im Urteil des Pilatus (15,1---15) ..................................... 270<br />

3.1.4 Die markinische These von Jesu umfassender Unschuld ... 275<br />

3.2 Jesu uneingeschränkter Einsatz für die Sache des Vaters ............. 277<br />

3.2.1 Jesus als Inhalt und Verkünder des »Evangeliums<br />

Gottes« .......................................................................................... 277<br />

3.2.1.1 Das εὐαγγέλιον Ἰησοῦ Χριστοῦ und das<br />

εὐαγγέλιον τοῦ θεοῦ ..................................................... 278<br />

3.2.1.2 Jesus und Gott als Zielpunkt der πίστις .................. 283<br />

3.2.2 Jesu unbedingter Einsatz für den genuinen Gotteswillen .. 286<br />

3.2.2.1 Jesus und die religiösen Traditionen Israels<br />

(Tora, Halacha) ............................................................ 286<br />

3.2.2.2 Jesu innerer Einklang mit dem Willen des<br />

Vaters (14,36) .............................................................. 290<br />

3.2.3 Jesu Eifer für die Ehre des Vaters ........................................... 299<br />

3.2.3.1 Das Problem der ὑπόκρισις (7,6–13) ........................ 300<br />

3.2.3.2 Die sog. »Tempelreinigung« (11,15---18) ................. 301<br />

3.2.4 Jesu Kampf gegen den Satan, die Dämonen und<br />

»unreine Geister« ....................................................................... 305<br />

3.2.4.1 Jesu Versuchung »in der Wüste« (1,12f.) ............... 307<br />

3.2.4.2 Jesu Exorzismen als Ausdruck seiner<br />

herrscherlichen ἐξουσία ............................................. 317<br />

3.3 Jesu Einsatz für Kranke, Tote und Sünder ........................................ 321<br />

3.3.1 Die durchweg positive Wirkung des Einsatzes Jesu für<br />

andere ........................................................................................... 323


12<br />

Inhalt<br />

3.3.2 Die fehlende unmittelbar negative Wirkung des<br />

Einsatzes Jesu auf ihn selbst.................................................... 327<br />

3.3.2.1 Jesu physisch-rituelle Nicht-Kontamination<br />

durch die Berührung mit Kranken und Toten ....... 328<br />

3.3.2.2 Jesu moralisch-geistliche Nicht-Kontamination<br />

durch den Kontakt mit »Zöllnern und Sündern« .. 330<br />

3.3.3 Das Hinrichtungsbegehren gegen Jesus als Folge seines<br />

Einsatzes für Schwache und Sünder ...................................... 333<br />

3.3.4 Jesu Auferstehung als ultimative Überwindung des<br />

Todes ............................................................................................ 334<br />

4 Das Fehlen positiver Gegenbelege gegen die Sündlosigkeit Jesu .......... 341<br />

4.1 Zur Taufe Jesu (1,9---11) ........................................................................ 345<br />

4.2 Zu der Behauptung, Jesus weise das Gottesprädikat »gut« für<br />

sich zurück (zu 10,18) .......................................................................... 352<br />

4.3 Die Unerheblichkeit der hermeneutisch-anthropologischen<br />

Einwände ................................................................................................. 362<br />

4.3.1 Der anthropologisch-»inkarnatorische« Einwand ................ 362<br />

4.3.2 Der moralisch-emotionale Einwand ........................................ 368<br />

4.3.3 Der historisch-gnoseologische Einwand ................................ 370<br />

4.4 Zu der Behauptung einer moralischen »Gefährdung« des<br />

Auftrags Jesu .......................................................................................... 372<br />

Teil VI: Die Jesusdarstellung in der Markuspassion (14,41b---15,47)<br />

1 Die Peripetie von Mk 14,41 ........................................................................... 381<br />

2 Die »ausführliche Einleitung« und die Passionserzählung im<br />

engeren Sinne .................................................................................................. 383<br />

2.1 Jesus zwischen Galiläa und Jerusalem .............................................. 383<br />

2.2 Jesus »intra muros« und die Unausweichlichkeit der Passion ...... 386<br />

2.3 Das Motiv der »Stunde« und der Beginn der Passion (14,41b) ..... 389<br />

3 Die soteriologische Notwendigkeit des Kreuzestodes Jesu ..................... 399<br />

3.1 Die narrative Darstellung des Weges Jesu und das<br />

soteriologische δεῖ .................................................................................. 400<br />

3.2 Die expliziten Hinweise Jesu auf das ihm bevorstehende<br />

Geschick .................................................................................................. 403<br />

3.2.1 Die drei Ankündigungen des Leidens, Sterbens und<br />

Auferstehens Jesu (8,31; 9,31; 10,32---34) ............................. 403<br />

3.2.2 Das »Lösegeldwort« (10,45) ...................................................... 406<br />

3.2.3 Die Ankündigung der baldigen Auslieferung (14,18---21) .. 411<br />

3.2.4 Die Abendmahlsworte Jesu (14,22---25) ................................. 411<br />

4 Jesus »in der Verfügungsgewalt der Sünder« (14,41b---15,32)................ 435<br />

4.1 Jesu Alleinsein........................................................................................ 436


Inhalt 13<br />

4.2 Jesu Schweigen ....................................................................................... 437<br />

4.3 Jesu Verzicht auf Linderung und Selbstrettung ............................... 439<br />

5 Die Todesstunde Jesu als Jom-JHWH-Prolepse und eschatologischuniversaler<br />

Jom Kippur (15,33---39) ............................................................. 441<br />

5.1 Der narrative Zusammenhang von V. 33---39 ................................... 441<br />

5.2 Die dreistündige Finsternis als Vorbotin des Todesgerichts<br />

(V. 33)....................................................................................................... 445<br />

5.3 Der Ruf des um der Vielen willen von Gott Gerichteten (V. 34---<br />

36) ............................................................................................................. 449<br />

5.4 Das Sterben Jesu als bewusste Selbstdahingabe (V. 37) ................ 455<br />

5.5 Der zerrissene Tempelvorhang als Osterprolepse (V. 38) .............. 458<br />

5.6 Die Christuserkenntnis des römischen Zenturio (V. 39) ................ 463<br />

6 Epilog: die Grablegung (15,42---47) .............................................................. 465<br />

7 Der für die Sünder gekreuzigte Sündlose unter der Sündenmacht ....... 467<br />

Teil VII: Ergebnis und Ausblick<br />

1 Die markinische Bestätigung des urchristlichen Theologumenons<br />

von Jesu Sündlosigkeit ................................................................................... 473<br />

2 Jesu Sündlosigkeit als impeccantia de facto ............................................... 475<br />

3 Jesu Sündlosigkeit als impeccabilitas de necessitate ............................... 479<br />

4 Jesu irdisches Dasein als Geschichte des verborgen epiphanen<br />

Gottessohns ...................................................................................................... 481<br />

5 Das Fehlgehen historisierender Jesus-Deutungen .................................... 485<br />

6 Der theologische Ort der Rede von der Sündlosigkeit Jesu ..................... 489<br />

7 Die Wirklichkeit des Menschseins Jesu ...................................................... 491<br />

Literaturverzeichnis ............................................................................................... 495<br />

Stellenregister ......................................................................................................... 543


Teil I: Thema und<br />

Fragestellung


1 Einführung<br />

Τίς ἄρα οὗτός ἐστιν;<br />

»Wer ist denn dieser?«<br />

Markus 4,41b<br />

Was hat es mit jener Gestalt auf sich, die als »Jesus von Nazareth« in die Geschichte<br />

eingegangen ist? Die Frage nach Jesu Person ist so alt wie das Auftreten<br />

Jesu von Nazareth, dessen geschichtliche Existenz gegenwärtig kaum ernsthaft<br />

bestritten wird.<br />

Umso heftiger wird über jene berühmte Antwort gestritten, die sich seit den<br />

altkirchlichen Konzilien von Nicäa (325 n. Chr.), Konstantinopel (381 n. Chr.)<br />

und Chalcedon (451 n. Chr.) als relativer ökumenischer Konsens --- oder wenigstens<br />

als Formelkompromiss 1<br />

--- über viele Jahrhunderte durchsetzte: Im ausdrücklichen<br />

Anschluss an die Symbole von Nicäa und Konstantinopel ist dem<br />

Chalcedonense zufolge Jesus Christus, »unser Herr«, als »ein und derselbe Sohn<br />

zu bekennen« (ἕνα καὶ τὸν αὐτὸν ὁµολογεῖν υἱόν), und zwar »derselbe vollkommen<br />

in puncto Gottheit und derselbe vollkommen in puncto Menschheit (τέλειον τὸν<br />

αὐτὸν ἐν θεότητι καὶ τέλειον τὸν αὐτὸν ἐν ἀνθρωπότητι), wirklich Gott und wirklich<br />

Mensch derselbe (θεὸν ἀληθῶς καὶ ἄνθρωπον ἀληθῶς τὸν αὐτόν), [bestehend] aus<br />

vernunftbegabter Seele und Leib (ἐκ ψυχῆς λογικῆς καὶ σώµατος), wesenseins mit<br />

dem Vater hinsichtlich der Gottheit (ὁµοούσιον τῷ πατρὶ κατὰ τὴν θεότητα) und<br />

wesenseins mit uns --- derselbe --- hinsichtlich der Menschheit (ὁµοούσιον ἡµῖν τὸν<br />

αὐτὸν κατὰ τὴν ἀνθρωπότητα), in jeder Hinsicht uns gleich (κατὰ πάντα ὅµοιον<br />

ἡµῖν), doch ohne Sünde (χωρὶς ἁµαρτίας) […].« 2<br />

---------------------------------------<br />

1<br />

Den (erzwungenen) Kompromisscharakter betonen Hauschild/Drecoll, Lehrbuch I,<br />

333---338.<br />

2<br />

Griechischer Text bei Wohlmuth, Konzilien, 86,14---25. Zur Übersetzung vgl. Ritter, Alte<br />

Kirche, 221; ausführlicher ders., Konzil, 270---293. Der zentrale trinitätstheologische<br />

Terminus ὁµοούσιος drückt die Identität (Selbigkeit) des Wesens aus, nicht nur eine (relative)<br />

Gleichheit der Gestalt (ὅµοιος). Vgl. dazu Brennecke, Art. Homoousios; Nüssel, Art.<br />

Zwei-Naturen-Lehre, 1934.


18<br />

Teil I: Thema und Fragestellung<br />

Dass die Formulierungen dieses Bekenntnisses, das sich selbst als Konzentrat<br />

des apostolischen Christuszeugnisses versteht, ihrerseits das Resultat eines<br />

langen Ringens darstellen, wird in neuerer Zeit mit Recht hervorgehoben. 3 Doch<br />

das Chalcedonense ist m. E. mehr als nur ein historisch bedeutsames Dokument,<br />

bedenkt es doch wesentliche, wie ich meine: in der Natur der Sache liegende Fragen.<br />

4 Darauf verweist u. a. Wilfried Härle: »daß von einem (mit sich identischen)<br />

Subjekt, nämlich Jesus Christus, ausgesagt wird, er sei ›wahrhaft Gott‹ und zugleich<br />

›wahrhaft Mensch‹, das erst macht das Gemeinte deutlich und zeigt zugleich<br />

die Größe und Komplexität der hier bestehenden Denkaufgabe.« 5<br />

Als komplexe Aufgabe erweist sich aber nicht nur die Verhältnisbestimmung<br />

von Gottheit und Menschheit in dem einen Jesus Christus, wie sie in der<br />

Zweinaturenlehre ausgebildet wurde. 6 Mindestens so anspruchsvoll ist die Klärung<br />

der Frage, inwiefern von Jesus Christus --- »dem Sohn« (absolutes υἱός), d. h.<br />

der zweiten Hypostase der Trinität --- Menschsein auszusagen ist. 7 Die Formulierungen<br />

des Chalcedonense sind bemerkenswert differenziert: Während mit Blick<br />

---------------------------------------<br />

3<br />

Zu den historischen Entwicklungen auf dem Weg nach Chalcedon vgl. Drecoll, Entwicklungen,<br />

92---117. Umfassend über Anlass, Verlauf und Rezeption informiert Leuenberger-<br />

Wenger, Konzil.<br />

4<br />

Nicht von ungefähr war ihm eine reiche, wenn auch wechselvolle Rezeption beschieden.<br />

Vgl. dazu die instruktiven Beiträge in van Oort/Roldanus (Hg.), Chalkedon.<br />

5<br />

Härle, Dogmatik, 342. Er betont: »Wenn wir es in Jesus Christus nicht mit Gott selber zu<br />

tun bekommen, und zwar mit Gott in einem wirklichen Menschen, dann kann entweder<br />

nicht gesagt werden, daß wir in ihm dem Heil begegnen, oder es kann nicht gesagt werden,<br />

daß uns in ihm das Heil begegnet« (a. a. O., 343).<br />

6<br />

Mit Blick darauf betont Korsch, Jesus, 61, »dass die Einheit der zwei Naturen nur als<br />

unio personalis gedacht werden darf, als eine in der Individualität Jesu vorliegende und<br />

auf sie begrenzte Einheit«, und darum einer »kategorialen Allgemeinheits-Prüfung« entzogen<br />

bleibt. Vielmehr sei die Zweinaturenlehre, »in ihrer Konzentration auf die individuelle<br />

Gestalt Jesu, als hermeneutische Anweisung zu verstehen, wie von Jesus zu reden ist.<br />

[…] Man muss von Jesus erzählen, um zu verstehen, was mit den ›Zwei Naturen‹ gemeint<br />

ist --- man muss diese Erzählung aber auch in die Dimension von Gottheit und Menschheit<br />

einspannen oder darauf zulaufen lassen, wenn man recht von Jesus sprechen will«<br />

(a. a. O., 61f.). Damit weise die Zweinaturenlehre »auf die tatsächliche Funktion der Christologie<br />

und also der Dogmatik überhaupt hin: nämlich die kategorialen Rahmenbestimmungen<br />

ins Auge zu fassen, unter denen von Jesus recht gesprochen werden kann. Die<br />

Christologie lehrt mithin, von Jesus so zu reden, dass tatsächlich von Jesus selbst die Rede<br />

ist. Die Dogmatik hat hermeneutische Funktion« (a. a. O., 62).<br />

7<br />

In der Rezeption wird nicht immer genügend bedacht, dass das Chalcedonense von Jesus<br />

Christus als »unserem Herrn« spricht und ihn dezidiert als »den Sohn« einführt. Es fragt<br />

mithin nicht nach einer »historischen Persönlichkeit«, sondern thematisiert Wesen und<br />

Werk der zweiten Hypostase der Trinität. Es vertritt eine Christologie, der die Gottheit Jesu<br />

nicht fraglich ist. Insofern ist historische Plausibilität kein dem Gegenstand der Christologie<br />

angemessenes Kriterium (s. u. S. 32---34), denn die »Frage nach dem ›historischen<br />

Jesus‹ muß davon abstrahieren, daß Jesus der menschgewordene Sohn Gottes ist« (Hofius,<br />

Frage, 245, Anm. 39).


1 Einführung 19<br />

auf die Abstrakta »Gottheit« und »Menschheit« uneingeschränkte Wesenseinheit<br />

des Sohnes ausgesagt wird (doppelte Homousie), wird mit Blick auf »uns«, die<br />

konkret vorfindlichen Menschen, von einer nur relativen Gleichheit gesprochen<br />

(ὅµοιος). Es ist der neuralgische Punkt der »Sünde«, an dem sich der Sohn von<br />

uns unterscheidet --- ohne dass diese Differenz seine tatsächliche Teilhabe an der<br />

ἀνθρωπότης einschränkte (s. u. Kapitel 2).<br />

Unbeschadet der beachtlich differenzierten Redeweise lautet die vieldiskutierte<br />

Grundsatzfrage: Haben die altkirchlichen Theologen mit ihren Formulierungen<br />

das neutestamentliche Christuszeugnis philosophisch umgebogen und<br />

unterminiert oder sind sie --- angesichts vielfältiger Herausforderungen --- den<br />

Weg, den das apostolische Christuszeugnis vorgezeichnet hatte, nur konsequent<br />

weitergegangen und haben gerade damit den Ausgangspunkt bewahrt? Ist »Chalcedon«<br />

Ausdruck einer großkirchlichen Entfremdung von den galiläischen Ursprüngen<br />

und ein Beleg für die oft behauptete »Hellenisierung des Christentums«<br />

8<br />

--- oder bietet »Chalcedon« eine sachlich adäquate Ausformulierung dessen,<br />

was im Neuen Testament selbst grundgelegt ist? 9<br />

Der Streit geht quer durch die verschiedenen theologischen Disziplinen.<br />

Während etwa der Systematiker Eilert Herms meint, die Bemühungen der »inzwischen<br />

mehrhundertjährigen historisch-kritischen Suche nach dem Literalsinn<br />

der Schriften« hätten »zu dem schwer zu bestreitenden Ergebnis geführt,<br />

daß die Christuslehre des altkirchlichen Dogmas nicht die in den Schriften der<br />

γραφή selbst enthaltene inhaltliche Einheit […] ihres Zeugnisses ist«, 10<br />

plädiert<br />

der Neutestamentler Martin Hengel für ein erneutes und vertieftes Nachdenken<br />

darüber, »ob die Dogmenbildung in der Alten Kirche in der ihr notwendigerweise<br />

vorgegebenen griechischen Sprach- und Denkform nicht im Grunde nur konsequent<br />

weiterführte und vollendete, was sich im Urgeschehen der ersten beiden<br />

Jahrzehnte bereits entfaltet hatte.« 11 Im Hintergrund der Debatte stehen auch je<br />

verschiedene Überzeugungen von der Aufgabe der einzelnen Disziplinen, der<br />

Leistungsfähigkeit ihrer Methoden und ihrem spezifischen Beitrag zur theologischen<br />

Enzyklopädie, sofern bei aller Ausdifferenzierung überhaupt noch von einer<br />

»Einheit« der Theologie zu sprechen ist.<br />

Diese Fragen können im Rahmen der vorliegenden Abhandlung nicht in extenso<br />

diskutiert werden. Ohnehin könnte die Diskussion nicht darüber hinweg-<br />

---------------------------------------<br />

8<br />

Zur Problematik jener meist pejorativ verwendeten »historischen Deutungskategorie«<br />

vgl. Markschies, Hellenisierung; zur Sache ferner Grillmeier, Hellenisierung.<br />

9<br />

Vgl. in diesem Sinne neuerdings z. B. Watson, Identity; Eckstein, Anfänge; Hill, Paul;<br />

Tilling, Paul; ferner ders., Christology. Speziell für das Markusevangelium s. jetzt Mortensen,<br />

Baptismal Episode, bes. 237---247.<br />

10<br />

Herms, Bibel, 129.<br />

11<br />

Hengel, Sohn Gottes, 75. Dass die damals geleistete und auch heute erforderliche Übersetzungsarbeit<br />

eine diffizile Angelegenheit ist und größte Umsicht verlangt, steht außer<br />

Frage. Vgl. Heil, Kontingenz.


20<br />

Teil I: Thema und Fragestellung<br />

täuschen, dass es letzten Endes eben diese schlicht anmutende, aber folgenreiche<br />

Frage ist, die einer Antwort bedarf: Wie soll man --- um nur ein Beispiel zu<br />

nennen --- die Aussage von Phil 2,7 verstehen, der Inkarnierte sei »anhand der<br />

Erscheinung (σχῆµα) als ein Mensch (ἄνθρωπος) identifiziert worden«? Ist damit<br />

gemeint, Jesus sei ein Mensch »wie du und ich«?<br />

Diese Frage drängt sich nicht zuletzt denen auf, die predigen: Wie ist recht<br />

von Jesus Christus zu reden? Das Chalcedonense seinerseits wendet sich jedenfalls<br />

vehement gegen jene, »die in zerstörerischer Absicht Hand anlegen an das<br />

Mysterium der [Heils]ökonomie und schamlos daherreden, der aus der heiligen<br />

Jungfrau Maria Geborene sei ein bloßer Mensch (ψιλὸν ἄνθρωπον εἶναι)«. 12 Kann<br />

das Chalcedonense sich dafür mit sachlichem Recht auf das Neue Testament berufen<br />

oder konterkariert es damit gerade dessen Pointe?<br />

Um diese Sachfrage soll es im Folgenden hauptsächlich gehen. Mag es sich<br />

dabei auch nicht um eine rein exegetische Fragestellung handeln, so hat die neutestamentliche<br />

Exegese doch ihren Beitrag zu deren Klärung zu leisten. Als theologische<br />

Disziplin 13 kann sie sich der Frage nach dem Verständnis des Menschseins<br />

Jesu und den damit notwendig verbundenen Erwägungen und Folgerungen<br />

nicht entziehen (s. u. Kapitel 5).<br />

---------------------------------------<br />

12<br />

Griechischer Text bei Wohlmuth, Konzilien, 85,20---25.<br />

13<br />

Zu diesem Verständnis der neutestamentlichen Wissenschaft vgl. z. B. Hofius, Exegese.


2 Die theologische Frage nach dem<br />

Menschsein Jesu<br />

Jeder Erörterung des Menschseins Jesu oder der menschlichen »Natur« Christi<br />

stellt sich früher oder später diese kurze, aber entscheidende Sachfrage: »How<br />

much is Jesus just like us?« 1<br />

In der gegenwärtigen theologischen Forschung wird diese zentrale Frage<br />

weithin vernachlässigt. 2 Das Problembewusstsein scheint nur wenig ausgeprägt<br />

zu sein. Dabei handelt es sich um eine der Grundfragen, zu denen das neutestamentliche<br />

Christuszeugnis selber Anlass gibt. Denn so klar das Neue Testament<br />

das Menschsein Jesu bekundet, so deutlich artikuliert es auf vielerlei Weise eine<br />

qualitative Differenz zwischen dem Menschsein Jesu und dem Menschsein aller anderen<br />

Menschen. 3<br />

Umso problematischer wirkt sich der Umstand aus, dass die<br />

wesenhafte Einzigartigkeit und »Analogielosigkeit Jesu Christi […] in der Fachexegese<br />

kaum hinreichend bedacht« wird. 4<br />

Zuweilen wird der These einer christologisch-anthropologischen Differenz<br />

sogar energisch widersprochen. Dabei wird nicht selten ausgerechnet unter Berufung<br />

auf die dem Chalcedonense entnommene Formulierung »vere homo« die<br />

Meinung vertreten, man müsse im Blick auf Jesus von einem in jeder Hinsicht<br />

vorbehaltlosen, »reinen« Menschsein ausgehen. So postuliert etwa der evangelische<br />

Neutestamentler Wilhelm Pratscher, Jesus sei konsequent im Sinne eines<br />

»realistischen«, d. h. »des« vorfindlichen Menschseins zu interpretieren. 5<br />

---------------------------------------<br />

1<br />

Mit dieser christologisch-anthropologischen Grundsatzfrage eröffnet McKinley, Tempted,<br />

1, seine Studie über das Verhältnis von »Sündlosigkeit« und »Versuchung« Jesu.<br />

2<br />

Vgl. Pfüller, Behauptung, 215 m. Anm. 1; ferner Köber, Sündlosigkeit, 13 m. Anm. 1.<br />

3<br />

Dazu notiert bereits Kähler, Jesus, 53: »Der Unterschied [sc. zwischen Jesus und uns;<br />

E. R.] liegt nicht auf der Linie des Grades, sondern auf der Linie der Art.« Mit Blick auf<br />

den »einzigen Sündlosen« erweise sich das der historischen Forschung wesentliche »Analogisieren«<br />

als problematisch (ebd.). S. dazu unten S. 34.<br />

4<br />

So das Urteil von Hofius, Bedeutung, 290. Dass das Problem zuweilen geradezu zum<br />

Programm erhoben wird, zeigt exemplarisch Strotmann, Jesus, 15f.33f.<br />

5<br />

So Pratscher, Sündlosigkeit, 171f., im Anschluss an Pfüller, Behauptung, 226: »War<br />

Jesus ein Mensch […], dann konnte er gar nicht religiös-moralisch vollkommen sein.«


22<br />

Teil I: Thema und Fragestellung<br />

Dabei müsste gerade der evangelischen Theologie spätestens seit Luthers<br />

Disputation über Joh 1,14 von 1539 die prinzipielle Differenz zwischen anthropologisch-philosophischer<br />

und christologischer Herleitung des Begriffs »Mensch«<br />

geläufig sein: »Philosophisch bedeutet ›Mensch‹ ein Wesen des menschlichen<br />

Geschlechts außerhalb der Inkarnation; der physische Mensch […]. Theologisch<br />

bedeutet ›Mensch‹ in bezug auf Christus etwas anderes, nämlich: göttliche Person<br />

in menschlicher Natur; inkarnierte göttliche Person; Sohn Gottes.« 6<br />

Auch das altkirchliche Bekenntnis verweigert sich einer geradezu naiven Rezeption<br />

des »vere homo« und nötigt seinerseits zu einer präzisen Verhältnisbestimmung<br />

von »vere Deus« und »vere homo« einerseits sowie von »vere homo«<br />

und »purus homo« andererseits. Hinsichtlich des Menschseins unterscheidet das<br />

Chalcedonense zwischen Aussagen über die »Menschheit« (ἀνθρωπότης) im Sinne<br />

des φύσις/natura-Begriffs und Aussagen über »uns« (ἡµεῖς) als geschichtlich existierende<br />

Ausprägungen menschlicher Seinsweise. Während hinsichtlich der<br />

menschlichen Natur (ἀνθρωπότης) im Blick auf Jesus die volle Identität mit »uns«<br />

ausgesagt wird (ὁµοούσιος ἡµῖν κατὰ τὴν ἀνθρωπότητα), 7 wird hinsichtlich des jeweiligen<br />

geschichtlichen Daseins und Soseins nur eine relative »Gleichheit« zwischen<br />

ihm und »uns« behauptet: Er sei κατὰ πάντα ὅµοιος ἡµῖν χωρὶς ἁµαρτίας. 8<br />

»Unsere« Sünde und Errettungsbedürftigkeit 9 auf der einen und Jesu Sündlosigkeit<br />

auf der anderen Seite markieren den entscheidenden Gegensatz zwischen<br />

dem Inkarnierten und »uns«, die wir das Menschsein offenbar anders leben, als<br />

es der inkarnierte Gottessohn tat (vgl. 1Joh 2,6; 3,2b.3.5b). 10 Das alles verlangt<br />

nicht nur im Blick auf die Christologie 11 , sondern auch im Blick auf die theologi-<br />

---------------------------------------<br />

6<br />

Streiff, »Novis linguis loqui«, 64. Den scholastischen Theologen seiner Zeit wirft Luther<br />

vor, sie trügen wider besseres Wissen eine Äquivokation in die Unterscheidung ein, »um<br />

Theologie und Philosophie in Übereinstimmung zu bringen« (a. a. O., 65).<br />

7<br />

Anders Kühn, Christologie, 158f., der im Anschluss an die Übersetzung bei Grillmeier,<br />

Jesus I, 754, meint, »dass ›homousios‹, auf das Menschsein bezogen, tatsächlich nur eine<br />

›Wesensgleichheit‹ besagen kann, derzufolge Christus wie wir Mensch war, also derselben<br />

Gattung angehörte (was so für sein Gottsein nicht zutrifft, weil er sonst ein zweiter Gott<br />

wäre)« (Kühn, a. a. O., 159).<br />

8<br />

Eine derartige Einschränkung fehlt hinsichtlich der θεότης, weil »der Vater« im vollumfänglichen<br />

Sinne die θεότης ist und »der Sohn« in vollkommener und jederzeit ungebrochener<br />

Weise an der θεότης Anteil hat. Es gibt innerhalb der einen θεότης keine Differenz<br />

zwischen der göttlichen οὐσία und ihren drei Hypostasen.<br />

9<br />

Als ausdrückliches Ziel der Geburt Jesu in der Zeit (aus der Jungfrau und Gottesgebärerin<br />

Maria) gibt das Bekenntnis an: δι’ ἡµᾶς καὶ διὰ τὴν ἡµετέραν σωτηρίαν (Wohlmuth,<br />

Konzilien, 86,28f.).<br />

10<br />

Das ist nicht gleichbedeutend mit der Rede von Jesus als dem »Ideal« oder »Urbild« des<br />

Humanen, wie es gerade im 19. Jh. immer wieder postuliert wurde. Vgl. zur Sache Iwand,<br />

Christologie, bes. 442---452.<br />

11<br />

Dabei ist im exegetischen Kontext der Begriff »Christologie« zunächst rein etymologisch<br />

verstanden als jene »Wissenschaft […], die Christus zum Gegenstand hat« (mit Cullmann,<br />

Christologie, 1).


2 Die theologische Frage nach dem Menschsein Jesu 23<br />

sche Anthropologie nach einer wesentlich differenzierteren Rede vom »Menschsein«,<br />

als sie häufig anzutreffen ist. 12 So ist etwa die Lehre von der Gottebenbildlichkeit<br />

»des« Menschen, die sich theologisch einiger Beliebtheit erfreut, neutestamentlich<br />

kaum hinreichend abgesichert. 13 Der gegenwärtige Rekurs auf dieses<br />

im Unterschied zum Neuen Testament nicht christologisch (und christianologisch)<br />

orientierte, sondern nunmehr schöpfungstheologisch gewendete Interpretament<br />

verdankt sich wohl auch dem Interesse an einer möglichst umfassenden<br />

»Anschlussfähigkeit« theologischer Begründungszusammenhänge und der ebenso<br />

großen Sorge vor einem gesellschaftlichen und politischen Relevanzverlust<br />

des westeuropäischen Christentums. 14<br />

---------------------------------------<br />

12<br />

Vgl. dazu exemplarisch <strong>Rehfeld</strong>, Ontologie, 119---125.<br />

13<br />

Vgl. dazu ausführlich <strong>Rehfeld</strong>, Gottebenbildlichkeit.<br />

14<br />

Vgl. dazu die erhellenden Beobachtungen von Schoberth, Kultur, bes. 5---24.43---49.


Teil II: Die Eigenart der<br />

markinischen<br />

Jesusdarstellung


1 Die markinische Jesusdarstellung<br />

als Zeugnis narrativer Christologie<br />

Die Beobachtung mag zunächst banal erscheinen, ist aber von großer Tragweite<br />

für unsere Forschungsfrage: Das Markusevangelium unterscheidet sich in mancherlei<br />

Hinsicht deutlich von der neutestamentlichen Briefliteratur. Besondere<br />

Beachtung verdient der unterschiedliche Modus Loquendi. Pointiert gesagt: Das<br />

Markusevangelium erklärt nicht, es erzählt. Selbst diskursive Passagen wie<br />

»Streitgespräche« oder Jüngerbelehrungen sind stets narrativ situiert.<br />

Vor diesem Hintergrund hat sich der Begriff »narrative Christologie« (»narrative<br />

Christology«) etabliert, den R. C. Tannehill im Jahr 1980 mit Blick auf die<br />

markinische Jesusdarstellung in die exegetische Diskussion einbrachte. 1<br />

1.1 Christologie zwischen Diskursivität und<br />

Narrativität<br />

Wie H. Hübner feststellt, bietet das Markusevangelium keine »theologische Argumentation<br />

in Form von Begriffen, Konklusionen und dergl.«, auch wenn es<br />

---------------------------------------<br />

1<br />

Tannehill, Gospel, 161 (der Zeitschriftenjahrgang 1979 erschien im Jahr 1980). Zur forschungsgeschichtlichen<br />

Bedeutung des Beitrags notiert Skinner, Jesus, 86, Anm. 4: »This<br />

term [sc. narrative christology; E. R.] was first used by Robert Tannehill […].« Freilich unternahm<br />

bereits Baudler, Gott, den praktischen »Versuch einer narrativen Christologie«<br />

(a. a. O., 12; im Anschluss an J. B. Metz), nachdem wiederum Weinrich, Theologie, schon<br />

zu Beginn der 1970er Jahre grundsätzlich für eine »narrative Theologie« angesichts »postnarrative[r]<br />

Kommunikationsgewohnheiten« (a. a. O., 333) plädiert hatte. Überhaupt ist<br />

das Konzept »narrative Theologie« der Sache nach nicht neu. Hübner, Biblische Theologie<br />

III, 64, macht darauf aufmerksam, dass der Begriff »narrative Theologie« ursprünglich aus<br />

einem anderen Zusammenhang stammt, hält die Übertragung auf die synoptischen Evangelien<br />

aber für angemessen. Umgekehrt finden sich namentlich in den Paulusbriefen<br />

auch narrative Elemente, wie Heilig, Paulus, betont. Nach Boring, Introduction, 5---9, wäre<br />

sogar das gesamte Neue Testament narrativ strukturiert: »The common denominator of<br />

Letters and Gospels is that both are narrative forms« (a. a. O., 7).


48<br />

Teil II: Die Eigenart der markinischen Jesusdarstellung<br />

»von einem energischen theologischen Gestaltungswillen aus entworfen« ist. 2<br />

In<br />

ähnlicher Weise führt H.-J. Klauck aus: »Das Markusevangelium ist kein systematischer<br />

Traktat, sondern eine Erzählung. Es entfaltet seine Christologie nicht<br />

begrifflich, sondern narrativ. Wer kristallklare Definitionen erwartet, wird deshalb<br />

notwendigerweise einen Mangel an Präzision konstatieren müssen.« 3<br />

Das hat Auswirkungen auch auf die Art und Weise, wie unsere Forschungsfrage<br />

zu stellen und zu beantworten ist. Genauer gesagt: Die Einsicht in den gattungsspezifischen<br />

Charakter des Markusevangeliums 4 bedingt eine Modifikation<br />

der Forschungsfrage, weil ja von vornherein damit zu rechnen ist, dass man vergeblich<br />

nach einem Terminus wie »Sündlosigkeit« oder entsprechenden diskursiv-beschreibenden<br />

Formulierungen suchen wird. 5<br />

Ein Kommentar der Form:<br />

»Jesus war sündlos« (ὁ δὲ Ἰησοῦς ἀναµάρτητός ἦν o. ä.), ist zwar nicht kategorisch<br />

auszuschließen --- das zeigt Mk 7,3f.19c ---, er wäre für einen Erzähltext wie das<br />

Markusevangelium aber doch recht ungewöhnlich. Daraus abzuleiten, der Gedanke<br />

der Sündlosigkeit Jesu sei dem ältesten Evangelium fremd oder laufe ihm<br />

sogar zuwider, wäre indes nicht weniger voreilig, als ihn stillschweigend vorauszusetzen.<br />

Infolgedessen wird man das Markusevangelium sorgfältig daraufhin<br />

befragen müssen, ob und wie es den traditionellen urchristlichen Gedanken der<br />

Sündlosigkeit Jesu aufgreift und --- erwartungsgemäß narrativ --- darstellt.<br />

1.2 Zur theologischen Interpretation narrativer Texte<br />

In seinem eingangs erwähnten Beitrag betont R. C. Tannehill, narrative Texte<br />

folgten einer besonderen Logik und Ästhetik, die Gemeinsamkeiten zu den persuasiven<br />

poetischen Gattungen mit ihrer »Tiefenrhetorik« aufwiesen. 6<br />

Zugleich<br />

grenzt er seinen Ansatz vom (älteren) Strukturalismus ab und versteht seine<br />

---------------------------------------<br />

2<br />

Hübner, Biblische Theologie III, 64 (beide Zitate). Es war das Verdienst der redaktionsgeschichtlichen<br />

Herangehensweise, auf Letzteres neu aufmerksam gemacht zu haben.<br />

3<br />

Klauck, Vorspiel, 111. Vgl. Wypadlo, Verklärung, 5f. --- Dass das Markusevangelium ein<br />

dogmatisches Lehrbuch weder ist noch sein will, das nacheinander die wesentlichen Topoi<br />

abhandelt, ist keine nur modernem Empfinden zugängliche oder gar erst ihm zu verdankende<br />

Erkenntnis. Schon Irenäus von Lyon bemerkt, der Evangelist habe eine kompakte<br />

und vorwärtseilende Verkündigung geschaffen (et compendiosam et praecurrentem<br />

adnuntiationem fecit), die seinem prophetischen Charakter (propheticus … character) entspreche<br />

(Irenäus, adv. haer. III, 11,8, ed. Brox, 112.114).<br />

4<br />

Nach Ansicht von Reiser, Alexanderroman, 131, hat das Markusevangelium »am meisten<br />

den Charakter und Stil eines hellenistischen Volksbuchs biographischen Inhalts«.<br />

5<br />

Vgl. auch Schenke, Präexistenzchristologie, 49f., mit Hinweis auf Kampling, Israel, 41.<br />

6<br />

Vgl. Tannehill, Gospel, 162 m. Anm. 2. Er scheint das Markusevangelium in der Tradition<br />

des λόγος προτρεπτικός zu interpretieren oder an so etwas wie das γένος συµβουλευτικόν/genus<br />

deliberativum zu denken.


1 Die markinische Jesusdarstellung als Zeugnis narrativer Christologie 49<br />

Herangehensweise ausdrücklich nicht als Gegenentwurf zu einer historisch informierten<br />

Markuslektüre. 7 Was die Darstellung Jesu durch den Autor des Markusevangeliums<br />

anlangt, so gelte: »We learn who Jesus is through what he says<br />

and does in the context of the action of others.« 8 Für die Auslegung bedeute dies:<br />

»We must pay special attention to the main story lines that unify the Gospel, for it is<br />

not only the continuing centrality of Jesus that makes Mark a single story but also<br />

the fact that certain events can be understood as the realization or frustration of goals<br />

or tasks that are suggested early in the story.« 9<br />

Ist man gewillt, beiden Teilen des Syntagmas »narrative Christologie« gleichermaßen<br />

und in ihrem Zusammenspiel gerecht zu werden, 10 dann kann die Aufgabe<br />

theologischer Exegese mit R. Kampling so umrissen werden:<br />

»Die Eigenheit der markinischen Theologie, vom Heilshandeln Gottes in Jesus Christus<br />

zu erzählen, bedeutet für die Interpretation des ältesten Evangeliums, daß sie aus<br />

der Erzählung systematisierend thematisch bezogene Aussagen zu gewinnen sucht,<br />

um die narrativ vermittelte theologische Intention zu bestimmen. Das, was der Evangelist<br />

vermied, eine Zusammenstellung seiner Glaubens- und Lehrmeinungen in systematischer<br />

Form zu geben, ist in der Auslegung synthetisch zu leisten.« 11<br />

Das damit angedeutete Programm erfordert keine spezielle Methodik, denn auch<br />

narrative Texte sind grundsätzlich sprachlogische Gebilde 12 und darum nach allen<br />

Regeln der Philologie zu analysieren. Die Konsequenzen für die Auslegung<br />

sind vielmehr interpretatorischer Art und verlangen nach hermeneutischer Reflexion<br />

(s. u. Kapitel 2). Zu bedenken sind namentlich die theologische Eigenart der<br />

markinischen Jesuserzählung (s. u. Kapitel 3) und hier besonders die Frage nach<br />

dem Stellenwert des »irdischen Jesus« für das Markusevangelium (s. u. Kapitel<br />

4). Im Hintergrund steht dabei nicht zuletzt die Frage nach dem Verhältnis von<br />

Glaube und »Geschichte«.<br />

Alle derartigen Überlegungen treffen gegenwärtig auf eine reichlich disparate<br />

Forschungslage: »Recent years have seen a variety of approaches and signifi-<br />

---------------------------------------<br />

7<br />

Vgl. Tannehill, Gospel, 163: »The original readers (or hearers, if we think in terms of a<br />

public reading) were, of course, people of the first century. Their problems and possible<br />

responses must be understood in terms of the first century world. Therefore, the approach<br />

taken here is not opposed to historical research.« Zur Abgrenzung vom (älteren) Strukturalismus<br />

s. a. a. O., 162.<br />

8<br />

Tannehill, Gospel, 161.<br />

9<br />

Tannehill, ebd.<br />

10<br />

Vgl. dazu <strong>Rehfeld</strong>, Christus, 109f.112.130---132.<br />

11<br />

Kampling, Gesetz, 119.<br />

12<br />

Zu möglichen Problematisierungen vgl. jüngst Bader, Lesekunst, 146---160.


50<br />

Teil II: Die Eigenart der markinischen Jesusdarstellung<br />

cantly varying results. Any consensus seems far away.« 13 Das birgt die Gefahr,<br />

vor lauter methodischen Erwägungen und Theoriediskussionen den eigentlichen<br />

Forschungsgegenstand --- den auszulegenden Text! --- zu vernachlässigen und<br />

sich in unzähligen Metadiskursen zu verlieren, wie sich an etlichen Arbeiten zeigen<br />

ließe, die dieser Gefahr offensichtlich erlegen sind. Daher scheint mir eine<br />

Konzentration auf das unerlässliche Minimum theoretischer Vorreflexionen angebracht.<br />

---------------------------------------<br />

13<br />

So Johansson, Identity, 388, in seinem der markinischen Christologie gewidmeten Literaturbericht<br />

aus dem Jahr 2011. Seine Beobachtungen treffen aber auf die gesamte Markusforschung<br />

zu. Nicht ohne Grund beklagte schon Zwick, Montage, VII, »das permanent<br />

von Erschöpfung bedrohte Gespräch über das Markusevangelium«, und Elliott, Mark’s<br />

Jesus, 3, konstatiert einigermaßen konsterniert: »It may seem that another book on the<br />

Gospel of Mark is the last thing we need in the field of biblical studies.«


2 Das Markusevangelium als antiker<br />

Erzähltext<br />

Mindestens in forschungsgeschichtlicher Perspektive ist es gar nicht so selbstverständlich,<br />

das Evangelium als Erzählung zu charakterisieren. 1 Dazu bemerkt<br />

S. Huebenthal: »Als einer der langen Schatten der Formgeschichte kann gelten,<br />

dass dem Markusevangelium nur langsam und unter vielen Diskussionen der<br />

Status einer in sich geschlossenen Komposition und stimmigen Erzählung zuerkannt<br />

wurde.« 2 Während sich dadurch an der philologisch-grammatischen Texterschließung<br />

prinzipiell nichts ändert (s. u. Kapitel 2.1), bedarf diese Einsicht jedoch<br />

der hermeneutisch-interpretatorischen Reflexion (s. u. Kapitel 2.2).<br />

2.1 Exegetische Grundlagen<br />

Die ausufernden Methodendiskussionen der letzten Jahrzehnte haben sich nach<br />

meinem Urteil als in der Sache wenig hilfreich und zielführend erwiesen. Mindestens<br />

drei Problemkreise sind zu nennen: 1. Die isolierte Fokussierung auf methodische<br />

Fragen lenkt von den Texten selbst ab und überformt sie. In diesem<br />

Zusammenhang sei an eine wichtige Einsicht erinnert, die E. Lohmeyer in den<br />

Satz fasste: »Methoden ›wendet man nicht an‹, Methoden gewinnt man am jeweiligen<br />

Gegenstande, und so unerschöpflich der Gegenstand ist, so unerschöpflich<br />

und darum unendlich verschieden die Methode, ihn zu bewältigen.« 3 2. Ein nicht<br />

unerheblicher Anteil neuerer Publikationen beschäftigt sich fast nur noch mit<br />

---------------------------------------<br />

1<br />

Der von F. Hahn im Jahr 1985 herausgegebene Sammelband »Der Erzähler des Evangeliums«<br />

trug jedenfalls nicht zu Unrecht den Untertitel: »Methodische Neuansätze in der<br />

Markusforschung«. Schon gut zehn Jahre später notiert indes Klauck, Vorspiel, 40, es<br />

lasse sich wohl »Einigkeit herstellen« über den Charakter des Markusevangeliums als Erzählung.<br />

Das stellt so etwas wie den gegenwärtigen Minimalkonsens dar. Vgl. dazu u. a.<br />

Rüggemeier, Poetik; Rose, Erzählung; Seifert, Markusschluss.<br />

2<br />

Huebenthal, Markusevangelium, 51. Vgl. P. Müller, Jesus, 12ff.<br />

3<br />

Lohmeyer, Brief, 19.


52<br />

Teil II: Die Eigenart der markinischen Jesusdarstellung<br />

Metadiskursen und rein terminologischen oder forschungsgeschichtlichen Fragen,<br />

die sich wohl dem Eingeweihten erschließen, letztlich aber doch reichlich<br />

selbstreferentiell sind und zum Verständnis der auszulegenden Texte kaum etwas<br />

beitragen. 3. Nicht selten werden vermeintlich methodische (exegetische)<br />

mit faktisch hermeneutischen (philosophischen) Fragen vermischt oder gar verwechselt.<br />

4 Das Ausweichen auf hermeneutische Überlegungen zur Beantwortung<br />

methodischer Fragen lanciert in Wahrheit das jeweilige Vorverständnis und trägt<br />

das Seine zu einer insgesamt nicht besonders klaren Diskussionslage bei. 5<br />

In dieser Lage hilft m. E. nur eine konsequente Rückbesinnung auf die auszulegenden<br />

Texte und die zu ihrer Erschließung notwendigen philologischen<br />

Grundlagen. Allerdings scheint in dem Maße, wie die methodische bzw. hermeneutische<br />

Diskussion zugenommen hat, die basale philologische Kompetenz ---<br />

die intime Kenntnis der Alten Sprachen --- abgenommen zu haben, was angesichts<br />

begrenzter Arbeitskapazitäten kaum überrascht.<br />

Die Überbetonung des »Methodischen« zulasten konkreter philologisch-theologischer<br />

Textarbeit entspringt wohl nicht zuletzt dem Wunsch nach größtmöglicher<br />

interdisziplinärer »Anschlussfähigkeit« und Resonanz. Doch so versiert und<br />

breit informiert manche dieser Beiträge auch sein mögen --- die erzielten Resultate<br />

fallen dann doch oft unbefriedigend bescheiden aus. 6<br />

Eine solche Exegese<br />

führt zahlreiche Metadiskurse, anstatt die ihr vorgegebenen Texte auszulegen,<br />

deren »Anwalt« sie sein soll. 7 Symptomatisch für dieses Missverhältnis ist, dass<br />

in nicht wenigen Beiträgen die Darstellung und Diskussion von Ansätzen und<br />

Auslegungen das am Text gewonnene und am Text verifizierte exegetisch-philologische<br />

Sachargument ersetzt. Doch so interessant und mitunter erhellend die<br />

Wirkungs-, Rezeptions- und Forschungsgeschichte auch sein mag, sie darf das<br />

unmittelbare Bemühen um die Texte selbst nicht in den Hintergrund treten lassen<br />

oder gar verdrängen.<br />

---------------------------------------<br />

4<br />

Vgl. zum Problem auch Heilig, Paulus, 140---144: »Zum Verhältnis von (erzähltheoretischer)<br />

Deskription einerseits und Interpretation andererseits«.<br />

5<br />

Das zeigt sich exemplarisch an der inzwischen verbreiteten Forderung nach »textimmanenter<br />

Interpretation«, die auf ganz Unterschiedliches zielen kann --- je nachdem, ob sie<br />

exegetisch-methodisch (s. u. S. 53) oder hermeneutisch-philosophisch gemeint ist (s. u.<br />

S. 64---70 m. Anm. 73). Mit Blick auf die narratologischen Diskussionen der letzten Jahre<br />

spricht Heilig, Paulus, 56, gar von einer »recht chaotischen Diskussionslage«. Zu dieser<br />

Einschätzung gelangte fast 30 Jahre früher schon Weder, Heft, 1.<br />

6<br />

Exemplarisch genannt sei Gelardini, Christus. Die »exegetische Analyse« des fast 900<br />

Seiten dicken Buches beschränkt sich weitgehend auf wenig erhellende Paraphrasen.<br />

7<br />

Ich greife damit eine Formulierung von Feldmeier, Anwalt, 132 u. ö., auf.


2 Das Markusevangelium als antiker Erzähltext 53<br />

2.1.1 Philologisch-grammatische Textanalyse und Kontextprinzip<br />

Gegenstand der Exegese sind die von ihr zu analysierenden Texte in der ihr vorliegenden<br />

Gestalt. 8<br />

Als schriftlich fixierte Sprachäußerungen folgen sie grundsätzlich<br />

den Regeln von Grammatik und Sprachlogik. 9 Für die Erschließung eines<br />

antiken griechischen Textes wie des Markusevangeliums steht daher keine<br />

andere Methode zu Gebote als eine gründliche philologisch-grammatische Analyse<br />

des textkritisch ermittelten Grundtextes. Primäres Ziel der Exegese ist eine<br />

sachgemäße Übersetzung des griechischen Ausgangstextes in die jeweilige Zielsprache.<br />

10<br />

Nur eine exakte philologisch-grammatische Textanalyse vermag das<br />

zu gewährleisten.<br />

Was die (theologische) Auslegung von Texten anlangt, so sollten diese, wie<br />

O. Hofius und H.-C. Kammler betonen, »primär aus ihrer internen Argumentationsstruktur<br />

interpretiert und im Lichte ihres unmittelbaren literarischen Kontextes<br />

bedacht werden« 11 . Eine »textimmanente Interpretation« muss deswegen<br />

»den sachlichen Vorrang haben, weil andernfalls die Gefahr besteht, daß die<br />

Wahrnehmung der Textaussage durch textfremde Erwägungen verstellt wird.« 12<br />

Das damit angesprochene Kontextprinzip gilt übrigens auch in philologischer<br />

Hinsicht. So muss neben die griechische Grammatik und das klassische<br />

Lexikon stets die Erforschung des autorenspezifischen Ausdrucks treten. Denn<br />

die konkrete Semantik etwa entscheidet sich am jeweiligen engeren und weiteren<br />

Kontext, d. h. primär an der Einbindung eines Wortes in einen Satz oder ein<br />

Satzgefüge, sodann --- gleichsam in konzentrischen Kreisen abgestuft --- an seiner<br />

Verwendung in demselben Werk, ferner bei demselben Autor und schließlich in<br />

der literarischen und lebensweltlichen Umwelt des Autors, soweit dieser Hintergrund<br />

sich aufhellen lässt. Daran schließen sich weitergehende Fragen der Intertextualität<br />

sowie der Begriffs- und Motivgeschichte an, deren Beantwortung wiederum<br />

von der historischen und religionsgeschichtlichen Verortung eines Textes<br />

und seines Verfassers sowie von der Verhältnisbestimmung von Tradition und<br />

Redaktion abhängt. Dabei gilt grundsätzlich: Je weniger über einen Autor und<br />

sein Umfeld zweifelsfrei bekannt ist, desto unausweichlicher wird die Fokussierung<br />

auf eine dezidiert textimmanente Interpretation.<br />

---------------------------------------<br />

8<br />

Das betont auch Weder, Heft, 1. Er definiert »Philologie« als »eine Methode der Interpretation,<br />

die durch die Liebe zum gesagten Wort getragen und geprägt ist«, und fordert mit<br />

Nachdruck, die »Interpretation des Neuen Testaments« müsse sich wieder »auf die Auslegung<br />

der Texte konzentrieren« (ebd.). Anlass dieser Mahnung ist die Beobachtung, dass<br />

die »präzise Wahrnehmung des Gesagten […] in exegetischen Arbeiten bisweilen nicht<br />

den Stellenwert« hat, »den man ihr wünschen würde« (ebd.).<br />

9<br />

Das schließt die Möglichkeit von Fehlern und individuellen Varietäten nicht aus (s. u.).<br />

10<br />

Allen Internationalisierungsbemühungen zum Trotz können daher die Belange der irreduzibel<br />

verschiedenen Zielsprachen nicht einfach preisgegeben werden.<br />

11<br />

Hofius/Kammler, Johannesstudien, V (Vorwort).<br />

12<br />

Hofius/Kammler, ebd.


54<br />

Teil II: Die Eigenart der markinischen Jesusdarstellung<br />

2.1.2 Anonyme Verfasserschaft und textimmanente Interpretation<br />

Der Umstand, dass das Markusevangelium die Identität seines Verfassers nicht<br />

preisgibt, spricht für eine entschieden textimmanente Interpretation. Zwar bedeutet<br />

das Fehlen eines Verfassernamens in dem Werk selbst 13 nicht unbedingt,<br />

dass zur Zeit seiner Abfassung überhaupt unbekannt gewesen wäre, wer das<br />

Markusevangelium verfasst und/oder in Umlauf gebracht hat. Dass der Urheber<br />

sein Werk aber offenbar bewusst »anonym publiziert« hat (und man darum über<br />

Mutmaßungen hinsichtlich seiner Person nicht mehr hinauskommen kann), ist<br />

nach R. Pesch »in dessen Charakter selbst begründet: es ist das Evangelium von<br />

Jesus Christus, das überliefert ist und nicht einfach schriftstellerisch produziert<br />

wird; im übrigen entspricht die anonyme Publikation auch durchaus jüdischer<br />

Tradition, die an der Bewahrung vorgegebener Norm orientiert ist.« 14<br />

Bei derart »kontextloser« Literatur 15 liegen die Dinge grundlegend anders als<br />

etwa bei der Auslegung der Paulusbriefe als diskursiver Autorenliteratur. 16 Zwar<br />

ist auch das Markusevangelium von vornherein »für ein ›Publikum‹ bestimmt,<br />

nicht nur für den Bekanntenkreis des Autors niedergeschrieben« 17 . Ob und in<br />

welchem Umfang man einen gemeinsamen Kommunikationshorizont von (anonymem)<br />

Verfasser und (kaum greifbarem) Adressatenkreis 18<br />

hier voraussetzen<br />

---------------------------------------<br />

13<br />

Darüber, wie früh die beigefügten Überschriften anzusetzen sind und als wie zuverlässig<br />

die altkirchlichen Verfasserangaben zu gelten haben, besteht bekanntlich kein Konsens.<br />

--- Das Phänomen der Anonymität ist natürlich von jenem der Pseudonymität und<br />

der Pseudepigraphie strikt zu unterscheiden.<br />

14<br />

Pesch, Mk I, 4.<br />

15<br />

Zum Phänomen »kontextlose[r] Texte« und ihrer Funktion vgl. Goldberg, Untersuchung,<br />

137---139.<br />

16<br />

Echte Briefe wie die Paulusbriefe waren ursprünglich Teil eines umfassenderen Kommunikationsgeschehens<br />

zwischen Absender(n) und Empfängern, auf das sie häufig ausdrücklich<br />

Bezug nehmen. Oft genug dienten sie der Klärung bereits erfolgter Kommunikation.<br />

Man kann und muss also davon ausgehen, dass es einen Absendern und Adressaten<br />

gemeinsamen Kommunikationshorizont gab. Diesen zu erhellen, erscheint darum als<br />

eine wichtige und wenigstens im Ansatz durchführbare Aufgabe der Exegese.<br />

17<br />

So Dibelius, Formgeschichte, 1, mit Blick auf das Phänomen der sog. »Kleinliteratur«,<br />

zu der er insbesondere die synoptischen Evangelien zählt (a. a. O., 2).<br />

18<br />

Bedenbender, Botschaft, 72---115, rechnet mit einer heterogenen Leserschaft und plädiert<br />

für eine »interpretatio simul biblica et hellenistica« (a. a. O., 91---94; so schon Frenschkowski,<br />

Offenbarung II, 154, den Bedenbender unerwähnt lässt). Doch die Frage bleibt:<br />

Schreibt der Verfasser an ihm (persönlich) bekannte Adressaten? Spricht er sie als Mitglieder<br />

christlicher Gemeinden an? Oder hat er ein missionarisches Anliegen? Hat er<br />

»halbchristliche« Leser im Blick? Vgl. dazu Frenschkowski, a. a. O., 179, sowie den Hinweis<br />

auf das ›soziale Umfeld‹, in dem der Leser »das Evangelium in die Hände gelegt bekommt«<br />

(a. a. O., 166). Dass der Evangelist mit einem (lesenden/hörenden) Publikum<br />

rechnet, zeigt die Notiz in Mk 13,14: ὁ ἀναγινώσκων νοείτω (vgl. Pesch, Naherwartungen,<br />

144f.; Kertelge, Mk, 130f.), sofern es sich nicht um eine spätere Glosse handelt. Lührmann,<br />

Mk, 221, sieht in diesem Vers »einen Schlüssel […] für die Bestimmung der histori-


2 Das Markusevangelium als antiker Erzähltext 55<br />

kann, ist aber fraglich. 19 Umso fraglicher erscheinen darum auch die immer wieder<br />

unternommenen, weit ausgreifenden traditionsgeschichtlichen Untersuchungen,<br />

die in den (postulierten) geistigen Voraussetzungen des Textes den eigentlichen<br />

Schlüssel zu seinem Verständnis suchen. Dass es solche Voraussetzungen<br />

je für sich genommen sowohl aufseiten des Autors als auch aufseiten der Adressaten<br />

gegeben hat, ist klar. Für eine (auch unter historischen Gesichtspunkten)<br />

plausible Auslegung wäre aber entscheidend, ob man eine gemeinsame geistige<br />

Umwelt von Autor und Adressat(en) oder gar ein ihnen gemeinsames, hermeneutisch<br />

relevantes Traditionskontinuum voraussetzen darf. Gerade das aber ist<br />

nicht so sicher, wie zuweilen behauptet wird. 20<br />

Kann man z. B. wirklich von<br />

»markinischen Gemeinden« ausgehen, auf die hin (oder von denen?) das Markusevangelium<br />

konzipiert worden sein soll? 21 Anders gefragt: Will das Markus-<br />

---------------------------------------<br />

schen Situation des Markusevangeliums überhaupt.« Aber wer die hier angesprochene<br />

Leserschaft/Hörerschaft sein könnte, darüber lässt sich dem Werk selbst nicht viel entnehmen<br />

(anders Lk 1,3). Viel zu optimistisch Kmiecik, Menschensohn, 15---23.<br />

19<br />

Das gilt auch für den von Schenke, Präexistenzchristologie, 47, angenommenen Fall,<br />

»daß die Leser von einem [!] christologischen Wissen über Jesus herkommen, wie sie auch<br />

um seine Auferstehung/Erhöhung bereits wissen.« Was genau sie wissen, sagt er freilich<br />

nicht. Sowohl Autor als auch Adressaten haben aber jedenfalls eine Gemeinsamkeit: die<br />

Herkunft aus dem Einzugsbereich des Imperium Romanum. Eine gemeinsame Vertrautheit<br />

mit den realienkundlichen Gegebenheiten des Alltagslebens kann man wohl annehmen<br />

(vgl. Rosen, Rom, 42). Das gilt jedoch längst nicht im gleichen Maß für die oft ungeschützt<br />

vorausgesetzte Vertrautheit etwa mit griechisch-römischer Literatur und Kunst.<br />

Schon daran kranken »imperiumskritische« oder »postkoloniale« Deutungen, die das<br />

Markusevangelium als Reaktion auf den Jüdischen Krieg lesen wollen (zum Ansatz Gelardini,<br />

Christus, 1---22).<br />

20<br />

Vgl. exemplarisch Söding, Evangelist, 26f.: »Prinzipiell gilt: Das Evangelium ist keine<br />

Missionsschrift […]. Sie [sic!] ist für Christen verfaßt, die bereits in ganz erheblichem Umfang<br />

Jesus-Traditionen kennen --- vermutlich alle, die der Evangelist dann aufgreift.« Vgl.<br />

auch Moore, Literary Criticism, 91---95, der annimmt, dass die Evangelien grundsätzlich<br />

einer oralen Kultur entstammten, die im Gegensatz zur literarisch geprägten westeuropäisch-modernen<br />

stets ein Vorwissen habe, das der literarischen Festschreibung zeitlich<br />

und sachlich vorausliege, und dass sie an ein vorwiegend christliches Publikum gerichtet<br />

seien (vgl. auch Frenschkowski, Offenbarung II, 153f.). Vor diesem Hintergrund erscheine<br />

»the construct of a first-time hearer/reader unfamiliar with the unfolding story, on<br />

which the consecutive method depends, […] somewhat inept« (Moore, a. a. O., 91), ja man<br />

müsse sogar sagen: »If so [!], then [!] the virgin reader is an anachronistic construct for<br />

gospel research« (a. a. O., 95; die angezeigten Differenzierungen unterschlägt Mayordomo-Marín,<br />

Anfang, 151, Anm. 68, in seinem Moore-Referat leider).<br />

21<br />

Das bestreitet Bedenbender, Botschaft, 72f., der aber zugleich von »minimal informierte[n]«<br />

Lesern ausgeht (a. a. O., 76---85). Für die Existenz einer ›markinischen Gemeinde‹<br />

plädieren z. B. Reploh, Lehrer, 228---231; Söding, Evangelist, 26---34. Ein innerkirchliches<br />

Anliegen des Markusevangeliums (sei es zur Vergewisserung, sei es zur dogmatischen<br />

Korrektur) behaupten u. a. auch Grundmann, Mk, 1ff.; Schniewind, Mk, 20; Pohl, Mk, 40;<br />

ähnlich Berger, Exegese, 122 (»Selbstdarstellung der Gemeinde«). Eine prinzipiell bereits


56<br />

Teil II: Die Eigenart der markinischen Jesusdarstellung<br />

evangelium als Kommunikationsmedium einen Diskurs allererst initiieren, oder<br />

reagiert es auf einen solchen bereits existierenden Diskurs und führt ihn fort?<br />

Da für Letzteres bislang höchstens vage Indizien und zweifelhafte Hypothesen<br />

vorgebracht worden sind, ist ein Auslegungsansatz zu favorisieren, der darauf<br />

baut, dass alles, was zum Verständnis des Textes wirklich notwendig ist, in<br />

diesem selbst auch vorhanden, er mithin grundsätzlich aus sich selbst heraus<br />

verständlich ist. 22<br />

Vorrangiges Ziel ist dabei das »interpretierende Lesen der<br />

markinischen Schrift unter der methodischen Prämisse einer kohärent erzählten<br />

und somit aus sich selbst heraus verstehbaren Welt« 23 . Erst dort, wo eine kohärente<br />

und konsistente Interpretation des vorliegenden Textes beim besten Willen<br />

nicht gelingt, werden literarkritische und überlieferungsgeschichtliche Operationen<br />

sowie traditionsgeschichtliche Erwägungen sowohl notwendig als auch in<br />

zunehmendem Maße plausibel. Nur die gewissenhafte Interpretation des vorliegenden<br />

Textes kann schließlich auch die Basis für historisch gelagerte Konstruktionsversuche<br />

sein.<br />

2.1.3 Traditionsverarbeitung und redaktionelle Eigenaussage<br />

Wie selbstverständlich interpretierten Vertreter der klassischen Formgeschichte<br />

Texte wie das Markusevangelium als reine Traditionsliteratur ohne eigenständi-<br />

---------------------------------------<br />

vorinformierte Leserschaft nehmen neben Schenke, Söding u. v. a. auch Lohmeyer, Mk,<br />

1.8 u. ö.; Lührmann, Mk, 6, an; allgemein »Heidenchristen« nennt Bayer, Mk, 30, speziell<br />

an die Christen Roms denkt Pohl, Mk, 30f. Nach Sellin, Evangelium, 281 (= ders., Mythos,<br />

717), sollte das Verlesen des Markusevangeliums der »kultische[n] Repräsentation«<br />

dienen. Eine »missionarische« Zielsetzung sehen z. B. Frenschkowski, Offenbarung II,<br />

179, und besonders Rau, Markusevangelium, 2232f. (dagegen Söding, Evangelist, 26f. m.<br />

Anm. 65). Dschulnigg, Mk, 49---52.54, betrachtet das Markusevangelium als eine Art<br />

Kompendium für die Heidenmission, Moule, Mk, 2, spricht allgemeiner von einem »little<br />

handbook for basic Christian instruction«. Eine pointierte Position vertritt Schmithals,<br />

Mk I, 52f.: Der Evangelist habe mit seinem Werk die unmessianisch-prophetischen (ebionitischen)<br />

»Jesusanhänger für den kirchlichen Glauben an den Christus Jesus gewinnen«<br />

wollen (a. a. O., 53). Die Intention des Markusevangeliums wäre demnach eine Art innerchristliche<br />

Apologetik. Etliche Kommentatoren gehen auf die Frage nach den ursprünglichen<br />

Adressaten kaum oder gar nicht ein oder geben keine eindeutige Auskunft (z. B.<br />

Kertelge, Mk, 8: das Evangelium diene »der Vermittlung und der Vergewisserung des<br />

christlichen Glaubens«).<br />

22<br />

So dezidiert Schenke, Präexistenzchristologie, 53f. u. ö. (dagegen z. B. Söding, Evangelist,<br />

34f. m. Anm. 93). Zur Methodik vgl. bes. Stolle, Mk, 31f. In einem theologisch tiefen<br />

Sinn sagt Schniewind, Mk, 22, über das Markusevangelium: »Die Nachrichten, die es enthält,<br />

stehen auf sich selbst.« S. u. S. 103 m. Anm. 113. Dagegen verwendet Mayordomo-<br />

Marín, Anfang, 151, den Begriff »Textimmanenz« pejorativ.<br />

23<br />

So in Aufnahme einer Formulierung bei Dechow, Gottessohn, 291. Dass wir in vielem<br />

zu höchst unterschiedlichen Schlüssen gelangen, ist keine Frage der Methode, sondern<br />

der Argumente.


Teil III: Christologische<br />

Grundlegung


1 Die Leitfrage: Wer ist Jesus?<br />

Selbst wenn man in der Christologie nicht das eigentliche Thema des Markusevangeliums<br />

sehen wollte, so bildet sie doch derart offenkundig »seine Voraussetzung«,<br />

dass man unbedingt nach ihr fragen muss, »um […] die eigentliche Intention<br />

besser zu erfassen«, wie auch L. Schenke zugibt. 1 Im Markusevangelium<br />

findet ja »unbestreitbar ein Prozeß des Suchens nach Jesu wahrer Identität statt<br />

und ständig wird gefragt: ›Wer ist dieser?‹« 2 Diese Frage erweist sich mithin als<br />

die »Leitfrage des Markusevangeliums« 3 .<br />

Man hat die Frage nach Jesu Identität oft einseitig von den »Hoheitstiteln« her beantworten<br />

wollen. 4 Dieses Vorgehen ist nicht zuletzt deswegen in die Kritik geraten, 5<br />

---------------------------------------<br />

1<br />

Schenke, Präexistenzchristologie, 47. Schenkes »Kann« (s. o. S. 94 m. Anm. 61) habe ich<br />

allerdings durch ein »Muss« ersetzt. --- In forschungsgeschichtlicher Perspektive notiert<br />

Johansson, Identity, 388, die Mehrheit der Exegeten neige gegenwärtig (2011) zu der<br />

These, »that Mark’s Jesus is an exalted, but merely human figure. Scholars of this opinion<br />

for the most part interpret Mark against a Jewish background.«<br />

2<br />

Schenke, Präexistenzchristologie, 47.<br />

3<br />

P. Müller, Jesus, 139. Vgl. auch Telford, Theology, 30; Bayer, Mk, 30; Schnelle, Theologie,<br />

376; ähnlich Joynes, Question, 19. Anders Schenke, Präexistenzchristologie, 45ff.<br />

4<br />

Klassisch Hahn, Hoheitstitel, 9: »Zwar soll nicht übersehen werden, daß auch anderes<br />

Traditionsgut, das nicht mit einer Hoheitsbezeichnung verbunden ist, christologisch bedeutsam<br />

sein kann, aber die christologischen Anschauungen der ältesten Gemeinden haben<br />

sich doch weitgehend in Überlieferungsschichten Ausdruck verschafft, die durch einen<br />

bestimmten Hoheitstitel geprägt sind.« Konsequenterweise sieht Hahn die entscheidende<br />

Aufgabe in einer »traditionsgeschichtliche[n] Einordnung des dem Evangelisten<br />

vorliegenden Stoffes« (a. a. O., 10). Dagegen betont z. B. Theobald, Primat, 163, Anm. 7,<br />

»einem christologischen Titel wie υἱὸς τοῦ θεοῦ, in dem eine bestimmte Geschichte ›aufgehoben‹<br />

ist«, erwachse »die intentionale Richtung allein aus seinem kontextuellen Gebrauch,<br />

der einige der in der Wendung angelegten semantischen Möglichkeiten aktualisiert,<br />

andere aber unausgesprochen läßt.«<br />

5<br />

Vgl. z. B. Balz, Probleme, 46: »Es zeigt sich, daß die Titelchristologie nicht die Gesamtheit<br />

der neutestamentlichen Soteriologie [sic!] umfassen kann.« Zur Kritik an F. Hahns


112<br />

Teil III: Christologische Grundlegung<br />

weil damit die narrative Struktur der Evangelien nicht genügend Beachtung finde. 6<br />

Man sollte aber nicht in das entgegengesetzte Extrem verfallen und den »Titeln« 7 Jesu<br />

ihre Relevanz absprechen. Sie sind durchaus bewusst gewählt und bringen in der<br />

Sache Entscheidendes auf den Begriff. 8 Es kommt nur darauf an, sie ganz im Licht<br />

der jeweiligen Erzählung zu interpretieren. 9 Ein rein motivhistorischer Zugang reicht<br />

nicht aus, denn das notorische Problem sämtlicher Titel liegt darin, dass sie zwar irgendwie<br />

ausdrücken, »daß Jesus der seit Jahrhunderten Erwartete ist; aber Jesu Weg<br />

ist derart neu und ungewohnt, daß die alte Sprache dafür nicht mehr ausreicht.« 10 Insoweit<br />

nun die traditionsgeschichtliche Methode lediglich zu rekonstruieren versucht,<br />

wie bestimmte Begriffe und Motive ursprünglich (was auch immer das heißt)<br />

verstanden wurden, ist sie ungeeignet, das schlechthin Neue recht zur Geltung zu<br />

bringen, um das es dem Markusevangelium geht (vgl. 1,27; 2,21f.). Zu der Frage nach<br />

der Genese geprägter Sachgehalte muss darum immer die Frage nach deren konkreter<br />

Rezeption und innovativer Weiterentwicklung durch einen Autor (und sein Umfeld)<br />

treten. 11 Was etwa υἱὸς θεοῦ im Markusevangelium wirklich meint, kann eben-<br />

---------------------------------------<br />

Vorgehen s. bereits Vielhauer, Weg, bes. 196; vgl. Horstmann, Studien, 1 m. Anm. 1;<br />

Schröter, Christologie, 56f. m. Anm. 16.18.<br />

6<br />

Vgl. bereits Tannehill, Jünger, 42, Anm. 7; ferner Scholtissek, Vollmacht, 16f.<br />

7<br />

Zur Problematik des Begriffs vgl. Karrer, Jesus, 18.<br />

8<br />

Richtig z. B. Eckey, Mk, 44: Der »Hoheitsname des Gottessohnes […] spricht Jesu Geheimnis<br />

an, drückt aus, wohin Jesus gehört und bei wem er zuhause ist. Der Titel sagt<br />

Wesentliches zum Verständnis der Person, Stellung und Aufgabe Jesu«. Dschulnigg, Mk,<br />

45, betont, die »verschiedenen christologischen Titel« machten »darauf aufmerksam, dass<br />

im Mk eine aspektreiche und entwickelte Christologie vorliegt.« Dagegen lässt sich laut<br />

Balz, Probleme, 117, »nicht behaupten, daß mit bestimmten Titeln stets bestimmte und<br />

gleichartige Vorstellungen verbunden sind. Vielmehr werden die Titel vermischt und ausgetauscht.«<br />

Juel, Mk, 29, mahnt: »Titles are capable of more than one connotation.«<br />

9<br />

Das versucht konsequent z. B. Schenke, Präexistenzchristologie. Vgl. auch Kertelge,<br />

Mk, 11: Das Markusevangelium legt »seine Christologie […] nicht auf die angewandten Titel<br />

fest. Diese zeigen zwar aufgrund entsprechender Heilserwartungen und -vorstellungen<br />

bestimmte Inhalte an. Aber nicht die vorgegebenen Erwartungen sollen bestätigt, sondern<br />

ihre Gültigkeit in Anwendung auf Jesus neu bestimmt werden. Daß Jesus der Messias, der<br />

Sohn Gottes ist, ist nicht vom Gebrauch der Titel abzulesen, sondern erweist sich in seinem<br />

ganzen geschichtlichen Wirken.« Ebenso Matera, Christology, 26: »none of these [sc.<br />

the terms ›Messiah,‹ ›Son of God,‹ ›the Son of Man‹; E. R.] can be understood adequately<br />

apart from Mark’s narrative; for the Christology is in the story, and through the story we<br />

learn to interpret the titles.« Vgl. auch Schnelle, Theologie, 376. Eine logisch und sachlich<br />

problematische Alternative formuliert Horstmann, Studien, 5, wenn sie behauptet,<br />

»daß für die christologische Konzeption des Markusevangeliums die christologischen Hoheitstitel<br />

als solche nicht relevant« seien; es komme »vielmehr darauf an, welchen Stellenwert<br />

Markus ihnen innerhalb seines Rahmens zumißt« (Hervorhebungen E. R.).<br />

10<br />

So Schweizer, Mk, 92, mit Blick auf den Titel »Messias« (zu 8,29f.).<br />

11<br />

Vgl. Cullmann, Christologie, 5f., der sowohl die Neuartigkeit Jesu gemäß neutestamentlicher<br />

Darstellung betont als auch das Problem benennt, dass --- gerade deswegen --- »keiner<br />

dieser Titel für sich allein genügt, seine Person und sein Werk nach allen Seiten zu


1 Die Leitfrage: Wer ist Jesus? 113<br />

sowenig mit dem Hinweis auf Ps 2,7b oder Jes 42,1 beantwortet werden, wie sich das<br />

markinische Verständnis von υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου einfach an Dan 7,13f. entscheidet. 12<br />

Ob nun die Adressaten des Markusevangeliums bereits wissen, wer Jesus in<br />

Wahrheit ist, oder nicht --- jedenfalls sind es »die Personen der Handlung«, die so<br />

fragen: »Der christologische Erkenntnisprozeß der Jünger findet vor den Lesern<br />

statt, die ihn als Wissende miterleben.« 13 Dabei ist es allerdings der Evangelist<br />

selbst, der für das »Leserwissen« sorgt. 14 Schon mit den ersten Versen macht er<br />

deutlich, wer Jesus für ihn ist. Was der Prolog in nuce skizziert, entfaltet und<br />

präzisiert dann das Korpus des Evangeliums. Zum sachlichen Verhältnis des<br />

Prologs zum Korpus bemerkt C. Focant treffend:<br />

»En un certain sens, l’essentiel est connu. Mais en un autre sens, le lecteur ne sait<br />

pas encore grand-chose. Car il y a messie et messie. Et puis, que signifie être Fils de<br />

Dieu et baptiser dans l’Esprit saint? Ce sont les actions et façons de parler de Jésus<br />

dans le récit à suivre qui vont révéler comment comprendre ces notions qui, pour le<br />

moment, restent énigmatiques. Et, comme les disciples dans le récit, le lecteur qui<br />

découvre l’évangile de Marc pour la première fois ira de surprise en surprise.« 15<br />

---------------------------------------<br />

erfassen« (a. a. O., 6). Vgl. dazu die ausgewogenen methodischen Hinweise bei Steck,<br />

Exegese, 141f.146. Dagegen betont Schnelle, Einführung, 145, über Gebühr das Kriterium<br />

der Analogie und spricht nur von Motiven »mit relativ feststehender Bedeutung, auf<br />

die ein Autor zurückgreifen kann, um einen bestimmten Sachverhalt auszudrücken.«<br />

12<br />

Entgegen dem unhinterfragten Konsens vieler Ausleger (s. nur Hahn, Hoheitstitel, 340---<br />

346; Pesch, Mk I, 91---94; Dschulnigg, Mk, 67f.; Eckey, Mk, 76---78; Yarbro Collins, Mk,<br />

150f.; Strauss, Mk, 72f.; aus dogmatischen Gründen zurückhaltender z. B. Lohmeyer,<br />

Mk, 23f.; Bayer, Mk, 116; vgl. noch Hooker, Mk, 47f.; Stein, Mk, 58f.) betont Schenke,<br />

Präexistenzchristologie, 54: »Weder Ps 2,7 noch Jes 42,1 können als bestimmender<br />

Grundtext von 1,11 ausgemacht werden.« Zu den Problemen einer geradlinigen Herleitung<br />

vgl. auch Wypadlo, Verklärung, 71f. m. Anm. 259. Gleiches gilt für eine mögliche<br />

Rezeption von Dan 7,13f. in Mk 13,26f.; 14,62 (s. u. S. 172.184f.189---192).<br />

13<br />

Schenke, Präexistenzchristologie, 48 (beide Zitate).<br />

14<br />

Gegen Schenke, Präexistenzchristologie, 47, der meint, »daß die Leser von einem christologischen<br />

Wissen über Jesus herkommen, wie sie auch um seine Auferstehung/Erhöhung<br />

bereits wissen. Längst erwarten sie den erhöhten ›Menschensohn‹ dringlichst zur<br />

Parusie und müssen das nicht erst durch das Werk des Evangelisten lernen. Ebensowenig<br />

müssen sie durch das Buch erst noch eine Christologie erwerben, sondern haben sie<br />

schon.« Schenke selbst konterkariert seine eigene These allerdings, wenn er wenig später<br />

notiert, es gehe »dem Evangelisten darum […], seine Leser am Beispiel des Lebensweges<br />

Jesu zur glaubenden Einsicht zu führen, daß Gott durch den Tod hindurch rettet« (a. a. O.,<br />

48f.). Was für ein nennenswertes »christologisches Wissen« hätten die Leser denn gehabt,<br />

wenn der Evangelist sie erst zu dieser fundamentalen Einsicht »führen« muss?<br />

15<br />

Focant, Marc, 14f. Ganz ähnlich Klauck, Vorspiel, 45f., der a. a. O., 112, grundsätzlich<br />

zu bedenken gibt, dass »bei aller Bedeutung des ›primary effects‹ […] auch der ›retinency


114<br />

Teil III: Christologische Grundlegung<br />

Es ist die Art und Weise, wie der Evangelist die Frage nach Jesu Identität schon<br />

im christologisch grundlegenden Prolog und dann auch im weiteren Verlauf der<br />

Erzählung beantwortet, von der --- wenn denn überhaupt --- wesentliche Hinweise<br />

auch im Blick auf die Frage nach Jesu Sündlosigkeit zu erwarten sind. 16<br />

---------------------------------------<br />

effect‹ nicht ganz außer acht gelassen werden« dürfe: »Erwartungen, die der Erzähleingang<br />

weckt, werden entfaltet, präzisiert, gesteuert, modifiziert, gegebenenfalls auch korrigiert«,<br />

wobei es sich speziell beim Markusevangelium so verhalte, »daß von den Aussagen<br />

des Prologs keine wirklich zurückgenommen werden muß« (ebd.).<br />

16<br />

Auch Tannehill, Jünger, 42, Anm. 8, verspricht sich »neue Erkenntnisse in der markinischen<br />

Christologie« davon, dass »man sich nicht auf die Hoheitstitel konzentriert, die<br />

Jesus verliehen werden, sondern auf die Funktionen, die er innerhalb der markinischen<br />

Erzählung innehat.«


2 Die Rahmentexte des<br />

Markusevangeliums als<br />

hermeneutischer Schlüssel<br />

Es ist gegenwärtig weitgehend Konsens, dass die Rahmenstücke eines Werkes<br />

für die Leserlenkung von besonderer Bedeutung sind. 1 Im Blick auf den Anfang<br />

einer Erzählung stellt B. M. F. van Iersel ganz grundsätzlich fest: »It is generally<br />

accepted that the beginning, as the introduction to the story, has a distinctive<br />

character of its own.« 2 Auch F. Matera betont: »Few things are more essential to<br />

appreciating a story than understanding the manner in which the narrator begins.<br />

[…] At the beginning of a narrative, the narrator establishes the setting, introduces<br />

the characters, and lays the foundation for the plot.« 3 Als nicht weniger<br />

wichtig erweist sich das Ende einer Erzählung. So hat M. E. Boring in einem instruktiven<br />

Beitrag gezeigt, wie sehr Anfang und Ende des Markusevangeliums<br />

einander nicht nur sprachlich 4 , sondern auch inhaltlich korrespondieren:<br />

»The counterpart to the focalizing function of the introduction is the defocalizing<br />

function of the conclusion. […] Mark intentionally ends with ἐφοβοῦντο γάρ, ›for they<br />

were afraid‹, in order to bring the story into the reader’s present. […] The same is true<br />

of the introduction, but it becomes apparent only in retrospect.« 5<br />

Vor einer inhaltlichen Würdigung der markinischen Rahmentexte müssen jedoch<br />

einige ihrer exegetischen Probleme erörtert werden.<br />

---------------------------------------<br />

1<br />

An diesem Punkt treffen sich so unterschiedliche Positionen wie die von Mayordomo-<br />

Marín, Anfang, 203---205, und Becker, Markus-Evangelium, 239f. Vgl. dazu auch Klauck,<br />

Vorspiel, 40---46.<br />

2<br />

Van Iersel, Mk, 80. Er fährt fort: »Things are different in the case of the end of the book«<br />

(ebd.). Vgl. auch Lührmann, Mk, 32.<br />

3<br />

Matera, Prologue, 3. Darum gelte: »Readers who misunderstand the beginning almost<br />

unevitably misunderstand the conclusion« (ebd.).<br />

4<br />

Sprachliche Bezüge notieren z. B. Becker, Markus-Evangelium, 237---252; Seifert, Markusschluss,<br />

262---266.<br />

5<br />

Boring, Beginning, 68f. Zur Begründung s. ebd.


116 Teil III: Christologische Grundlegung<br />

2.1 Überschrift (1,1), Prolog (1,2--13) und Überleitung<br />

(1,14f.)<br />

Was den Anfang des Markusevangeliums betrifft, so ist vor allem dreierlei umstritten:<br />

1. die Abgrenzung bzw. der genaue Umfang dieses Anfangs, 2. seine terminologische<br />

Charakterisierung, 3. die syntaktische Struktur insbesondere von<br />

Mk 1,1---4. Ohne hier die uferlose und nicht immer zielführende Diskussion erneut<br />

aufzurollen, gehe ich von den folgenden Beobachtungen aus:<br />

1. Dass spätestens mit Mk 1,16 das eigentliche Korpus des Evangeliums beginnt,<br />

ist weitestgehend unbestritten, tritt Jesus hier doch endgültig in die Öffentlichkeit.<br />

6<br />

Von Jesu öffentlichem Auftreten in Galiläa sprechen allerdings<br />

schon die Verse 1,14f.; sie »haben die Funktion einer Überleitung zur Darstellung<br />

der Verkündigung Jesu in Galiläa ab 1,16, und sie bilden eine Zusammenfassung<br />

dessen, was Jesus nach Mk in Galiläa verkündigt bzw. gelehrt hat.« 7 Mk<br />

1,14f. fungiert also als programmatisch vorgeschaltetes Summarium, das scharnierartig<br />

die »Vorgeschichte« mit der eigentlichen Erzählung von Jesu öffentlichirdischer<br />

Wirksamkeit verklammert. 8<br />

2. Trotz der Einwände, die z. B. E.-M. Becker vorgebracht hat, 9 spricht immer<br />

noch viel dafür, den Anfang des Markusevangeliums als Prolog zu charakterisie-<br />

---------------------------------------<br />

6<br />

Eckey, Mk, 60, spricht von der »Entfaltung des Evangeliumsstoffes ab 1,16«.<br />

7<br />

Lührmann, Mk, 32. Er betont sodann »die enge Verknüpfung auch der Verkündigung Jesu<br />

mit dem Täufer« (ebd.), weshalb er 1,14f. noch zum Prolog schlägt, der damit allerdings<br />

nicht mehr »bloßer Prolog zum eigentlichen Evangelium« sei (ebd.). Eben deshalb<br />

spreche ich lieber von »Überleitung«. So auch van Iersel, Mk, 83, der von »hinge passages«<br />

bzw. »transitional links« spricht (vgl. auch Joynes, Question, 19). Eine zweite solche<br />

Passage sieht van Iersel in 15,40f. und schlägt daher für das gesamte Markusevangelium<br />

eine konzentrische Struktur vor, die m. E. viel für sich hat: A. Prolog in der Wüste (1,2---<br />

13), B. Vorausweisendes Scharnier (1,14f.), C. Galiläa (1,16---8,21), D. Rahmen: Blindheit/Sehen<br />

(8,22---26), E. der Weg (8,27---10,45), D’. Rahmen: Blindheit/Sehen (10,46---52),<br />

C’. Jerusalem (11,1---15,39), B’. Rückverweisendes Scharnier (15,40f.), A’. Epilog am Grab<br />

(15,42---16,8) (vgl. dazu besonders das Schaubild a. a. O., 84). Grundsätzliche Zustimmung<br />

zu van Iersels Vorschlag signalisiert z. B. Dschulnigg, Mk, 34, Anm. 6. Vgl. zur Diskussion<br />

auch Boring, Beginning, 55, der die »introduction« aber bis 1,15 reichen lässt (dazu<br />

a. a. O., 55---61). Eine andere »concentric structure« schlägt Humphrey, Mk, 1---5, vor.<br />

8<br />

Vgl. Eckey, Mk, 60: »Mit diesem Vierzeiler [sc. Mk 1,14f.; E. R.] wird die Botschaft des<br />

im folgenden erzählten Weges Jesu programmatisch zusammengefaßt.« Auch Rüggemeier,<br />

Poetik, 218, bezeichnet 1,14f. als »Scharnierstück«.<br />

9<br />

Vgl. Becker, Markus-Evangelium, bes. 108f.; dies., Debate. Die von Becker vorgetragenen<br />

Einwände überzeugen aber nicht. Das gilt gerade für ihr Hauptargument, mindestens<br />

Kap. 1---6 seien durch die »Parallelität von Täufer und Jesus« strukturiert (dies., Markus-<br />

Evangelium, 109; dagegen schon Schanz, Mk, 286). Dazu kommt der Täufer schlicht zu<br />

selten vor. Die Ablehnung des »Prolog«-Begriffs hängt bei Becker aber ohnehin vor allem<br />

mit ihrer Grundannahme zusammen, das Markusevangelium sei das älteste Beispiel frühchristlicher<br />

Historiographie. Dazu würde ein Proömium besser passen als ein Prolog.


2 Die Rahmentexte des Markusevangeliums 117<br />

ren. 10 Als solcher hat er die Aufgabe, die Adressaten des Werkes grundlegend zu<br />

instruieren. 11<br />

H.-J. Klauck erklärt: »Der Prolog leistet die Initiation des Lesers,<br />

seine Einweihung in das Mysterium.« 12<br />

Hilfreich ist in diesem Zusammenhang<br />

D. E. Smith’ Hinweis auf die Funktion des Prologs in der griechischen Komödie:<br />

»In comedy, a prologue would often apprise the audience of information unknown<br />

to the characters in the play. In this way it would function to give an ironic<br />

twist to the action.« 13 Eine durchaus vergleichbare Funktion hat der Prolog des<br />

Markusevangeliums. Auch hier wird den Rezipienten etwas anvertraut, was den<br />

Akteuren der Erzählung (Jesus ausgenommen: 1,2.11 u. ö.) vorerst verborgen<br />

bleibt. 14<br />

Das wiederum erklärt deren zuweilen fast grotesk wirkenden Reaktionen<br />

(Jüngerunverständnis u. ä.). Insofern betont etwa D. Lührmann mit Recht,<br />

der Markusprolog sei ein »Schlüssel für das ganze Evangelium«. 15<br />

3. Was schließlich die Frage nach der Struktur von Mk 1,1---4 anlangt, so folge<br />

ich der Textdarbietung bei NA 28<br />

und fasse V. 1 als in sich abgeschlossene<br />

Überschrift 16 über das Gesamtwerk 17 und V. 2---4 als einen 18 Satz auf. 19 Dagegen<br />

---------------------------------------<br />

10<br />

Mit Klauck, Vorspiel, 36---39, der zugleich »das nötige Problembewußtsein« (a. a. O., 39)<br />

anmahnt. Demgegenüber hält Feneberg, Markusprolog, leider nicht, was der Titel verspricht,<br />

wie auch Boring, Beginning, 54, feststellt. Vgl. Klauck, a. a. O., 19, Anm. 16.<br />

11<br />

Vgl. Boring, Beginning, bes. 61---69. Ausführlich auch Johnson, Form.<br />

12<br />

Klauck, Vorspiel, 113f.<br />

13<br />

Smith, Narrative Beginnings, 4. Er unterscheidet hinsichtlich der antiken Rhetorik zwischen<br />

»Vorwort« (Proömium, Exordium), »Dramatischem Prolog«, »Incipit« und »Virtuellem<br />

Vorwort«. Vgl. auch Johnson, Form; Ebner, Mk, 17. Kritisch gegenüber der Anwendung<br />

des aus dem antiken Theater herzuleitenden Prolog-Begriffs äußert sich Dautzenberg,<br />

Zeit I, 229---231. Demgegenüber sieht Standaert, Mk I, 36---41, den gesamten Aufbau<br />

des Markusevangeliums von den Konventionen des antiken Dramas bestimmt.<br />

14<br />

Klauck, Vorspiel, 113, sieht darin eine »Privilegierung des Lesers«.<br />

15<br />

Lührmann, Mk, 32.<br />

16<br />

Pesch, Mk I, 75 (m. Anm. 2), sieht eine »formal-verbale, aber nicht inhaltliche Parallele«<br />

zu Mk 1,1 in der Überschrift Hos LXX 1,2a (Ἀρχὴ λόγου κυρίου ἐν Ωσηε). Vgl. Eckey, Mk, 61.<br />

Dagegen Arnold, Eröffnungswendungen. Ihm folgend Pohl, Mk, 41---43.<br />

17<br />

So mit Boring, Beginning, 47---53. Überzeugend ist vor allem sein Hinweis auf das Fehlen<br />

des Artikels vor ἀρχή, was titularem Gebrauch entspricht (a. a. O., 50). Außerdem sei<br />

ἀρχή sonst nirgends als Terminus technicus zur Bezeichnung einer Zwischenüberschrift<br />

belegt (a. a. O., 51 m. Anm. 14). Vgl. schon Wellhausen, Mk, 3: »›Incipit evangelium Jesu<br />

Christi‹ muß der Sinn sein, mag ein solches Exordium in der griechischen Literatur schon<br />

so früh nachgewiesen werden können oder nicht. Es ist der Titel des Ganzen, das hier<br />

seinen Anfang nimmt.« Des »Problems« von V. 2f. entledigt Wellhausen, a. a. O., 3f., sich<br />

allerdings dadurch, dass er diese Verse mit Lachmann, Weiße und Ewald als eine Interpolation<br />

ausscheidet. Vgl. ferner Pesch, Mk I, 74---76, der zugleich auf den »Doppelsinn« von<br />

ἀρχή --- »Beginn und Grundlage« --- hinweist (a. a. O., 76); Yarbro Collins, Mk, 130, u. v. a.<br />

18<br />

Vgl. z. B. Hauck, Mk, 10f.; Klostermann, Mk, 4f.; Lührmann, Mk, 33f.; Boring, Beginning,<br />

48---50. Lüderitz, Rhetorik, 165, Anm. 1, zählt 1,2---4 zu den ›längeren Sätzen‹, für<br />

die er nur noch ein weiteres Beispiel beibringen kann: 5,25---27. Normalerweise habe das<br />

Markusevangelium »kurze, einfache Sätze; die Parataxe herrscht vor« (a. a. O., 165).


118<br />

Teil III: Christologische Grundlegung<br />

ist eingewandt worden, dass die Formulierung καθὼς γέγραπται weder sonst im<br />

Markusevangelium 20<br />

noch überhaupt im Neuen Testament einen neuen Satz,<br />

sondern immer nur die einer bestimmten These nachgestellte Explikation einleite.<br />

21 Dieses rein stilistische Argument sollte man aber nicht überbewerten. 22 Im<br />

Blick darauf stellt M. E. Boring lapidar fest: »True enough, but a document that<br />

ends with γάρ, ›for‹, can well begin with καθώς.« 23 Als rein stilistisches Argument<br />

kann es außerdem nicht die Tatsache verdecken, dass καθώς für sich genommen<br />

sehr wohl eine »satzeinleitende Konjunktion« sein kann. 24<br />

Das zeigt z. B. Röm<br />

1,28, selbst wenn man das καθώς dort mit BDR, § 453,2, in einem »begründenden<br />

Sinn« auffassen wollte, 25 der aber in Mk 1,2---4 nicht vorliegt. 26 Jedenfalls weist<br />

Röm 1,28 (abgesehen von der Wendung γέγραπται) exakt dieselbe Struktur auf<br />

wie Mk 1,2---4. Das gilt gerade auch für die oft monierte Fortführung ohne übliches<br />

27 οὕτως/ὡς. 28 Zudem lässt sich das Mischzitat 29 von Mk 1,2f. inhaltlich kaum<br />

sinnvoll mit V. 1 verbinden, sehr gut dagegen mit V. 4. 30<br />

Das belegen auf ihre<br />

Weise gerade die oft sehr gewundenen Erklärungsversuche derer, die V. 2f. als<br />

---------------------------------------<br />

19<br />

So u. a. Bengel, Gnomon, 173; de Wette, Mk, 169; Weiss, Mk, 12f.; Taylor, Mk, 152---<br />

155; Légasse, Mk I, 67f.72f.76; Eckey, Mk, 61. Zum Sprachlichen vgl. ausführlich Pellegrini,<br />

Elija, 182---187.<br />

20<br />

S. noch Mk 9,13; 14,21. Beide Stellen besagen aber schon deswegen nicht allzu viel,<br />

weil hier mit καθὼς γέγραπται überhaupt kein ausgeführtes Schriftzitat eingeleitet wird.<br />

Vgl. aber noch 7,6; ferner 14,27.<br />

21<br />

So argumentieren z. B. Schlatter, Mk, 11, Anm. 2; Guelich, Mk, 7, die καθὼς γέγραπται<br />

daher als Erläuterung von V. 1 verstanden wissen wollen --- in welchem Sinn eigentlich,<br />

das wird i. d. R. allerdings nicht gesagt. Inhaltlich lässt sich das Mischzitat eben nur<br />

schwer mit V. 1 verbinden, dagegen sehr wohl mit V. 4ff. (s. u. m. Anm. 30).<br />

22<br />

Vgl. Weiss, Mk, 12f.; ferner Johnson, Form, 42: »Singularity is no basis for exclusion.«<br />

23<br />

Boring, Beginning, 50. Ihm folgt z. B. Eckey, Mk, 60, Anm. 73.<br />

24<br />

So mit BDR, § 453,2. Lenski, Mk, 23, verweist dazu auf Lk 6,31.<br />

25<br />

So z. B. Wolter, Röm I, 154 (z. St.), der gleichwohl nur mit »wie« übersetzt (a. a. O.,<br />

135). Es handelt sich hier m. E. ohnehin um eine einfache Entsprechung im Sinne von:<br />

»demgemäß, dass… --- (so) …«.<br />

26<br />

Anders Pohl, Mk, 45 m. Anm. a und c, der tatsächlich mit BDR, § 453,2 das καθώς in<br />

Mk 1,2 begründend auffasst und übersetzt: »Da… --- geschah es: Johannes der Taufende…«<br />

27<br />

Die Fortführung mit οὕτως/ὡς findet sich z. B. Lk 11,30; 17,26; Joh 3,14; 2Kor 1,5. ---<br />

Auch eine Fortführung mit καί ist möglich, s. z. B. Joh 15,9; 17,18; 20,21; 1Joh 2,18; 4,17.<br />

28<br />

Vgl. 1Kor 15,49. Das οὕτως vermisst aber z. B. Arnold, Eröffnungswendungen, 124. Im<br />

(ungenauen) Anschluss an Reiser, Syntax, 92, Anm. 63, betont dagegen Pellegrini, Elija,<br />

185, Anm. 21: »Das Fehlen eines korrelaten οὕτως ist ein häufiger, jedoch unbegründeter<br />

Einwand (vgl. beispielhaft Joh 14,31 zu Joh 8,28)«. Reiser seinerseits sieht in V. 4 ein<br />

Asyndeton und kann sich der Meinung ausdrücklich »nicht anschließen«, wonach »in V 4<br />

die Apodosis der mit καθὼς γέγραπται beginnenden Protasis« vorliege (Reiser, ebd.).<br />

29<br />

S. dazu unten S. 129f., Anm. 16f.<br />

30<br />

Vgl. de Wette, Mk, 169: »Vs. 2. ὡς γέγραπται] bezieht sich natürlich auf Vs. 4.: ἐγένετο<br />

κτλ. Joh. trat auf, sowie geschrieben steht.« So u. a. auch Légasse, Mk I, 72f. m. Anm. 2;<br />

Steichele, Sohn Gottes, bes. 71---77.


2 Die Rahmentexte des Markusevangeliums 119<br />

Fortsetzung von V. 1 ansehen wollen. Über einen sehr allgemeinen Bezug zwischen<br />

der (artikellosen) ἀρχὴ τοῦ εὐαγγελίου κτλ. und dem Schriftzitat kommen<br />

sie i. d. R. nicht hinaus. Zudem müssen sie in V. 1 regelmäßig ein Verb ergänzen,<br />

31<br />

welches hier aber kaum εἶναι sein kann, was die Ergänzung insgesamt<br />

sehr fraglich sein lässt. 32 So spricht viel dafür, dass καθὼς γέγραπται hier doch<br />

einen neuen Satz einleitet, 33 näherhin den Prolog (V. 2---13) und damit das Markusevangelium<br />

insgesamt. Die exponierte Stellung des Satzes dürfte auch seine<br />

stilistische Eigenart hinreichend erklären. 34<br />

Das Markusevangelium geht ohne<br />

Umwege (gewissermaßen εὐθύς) medias in res, 35 so wie es dann in Mk 1,9 auch<br />

Jesus ohne weitere Umschweife --- »als ›fertige[n]‹ Mann« 36 --- einführen wird.<br />

Inhaltlich charakterisiert die Überschrift das Markusevangelium insgesamt<br />

als »verbindlichen Ausdruck des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes«<br />

(1,1). 37<br />

Dabei meint »Evangelium« an dieser Stelle das »gegenwärtig aller<br />

Welt verkündigte[] εὐαγγέλιον« 38 (vgl. 13,10; 14,9). Dessen Ursprung und Grundlage<br />

(ἀρχή) 39<br />

als Richtschnur für Gegenwart und Zukunft festzuhalten, ist das<br />

---------------------------------------<br />

31<br />

So z. B. Strauss, Mk, 62. Auf die damit verbundenen philologischen Probleme hat<br />

schon Schanz, Mk, 61, hingewiesen, der sie andererseits für »doch nicht so groß« hält,<br />

»sonst hätten nicht alle Griechen diese Erklärung geben können« (a. a. O., 62).<br />

32<br />

Schanz, Mk, 62, Anm. 4, hält freilich auch diese Schwierigkeit für lösbar.<br />

33<br />

So nachdrücklich Johnson, Form, 32---49, mit ausführlicher Begründung.<br />

34<br />

Mit Yarbro Collins, Mk, 135, Anm. 10. Vgl. Boring, Beginning, 50.<br />

35<br />

Zu 1,1 bemerkt Guy, Mk, 49, der Evangelist beginne »with an abruptness which is typical<br />

of his writing.«<br />

36<br />

So Schenke, Präexistenzchristologie, 47.<br />

37<br />

Boring, Beginning, 52f., begründet m. E. überzeugend das Verständnis von ἀρχή als<br />

»normative statement« und führt aus: »The document [sc. das Markusevangelium; E. R.] is<br />

not the εὐαγγέλιον, but it is entitled the ἀρχή by Mark himself« (a. a. O., 53). Mk 1,1<br />

besage also: »The rule, normative statement, for preaching the good news of Jesus Christ<br />

is the following narrative of the beginning and foundation for the church’s contemporary<br />

preaching of this message« (ebd.). In diesem Sinne auch Eckey, Mk, 61f. Ähnlich Klumbies,<br />

Evangelienschrift, 47---49, der das Markusevangelium als ätiologische Erzählung im<br />

Sinne einer »Begründungserzählung« charakterisiert, die »[r]etrospektiv […] in narrativer<br />

Weise die Grundlagen gegenwärtiger Wirklichkeit vermittelt« (a. a. O., 48). --- Eigenwillig<br />

Schlatter, Mk, 7: »Es beginnt die Heil verkündende Botschaft Jesu des Christus.«<br />

38<br />

Mit Lührmann, Mk, 33. Vgl. Boring, Beginning, 51f., mit wichtigen Differenzierungen:<br />

»As the introduction proceeds, it becomes clear that the εὐαγγέλιον preached in the church<br />

is in continuity with the εὐαγγέλιον preached by Jesus. Εὐαγγέλιον in the title and<br />

εὐαγγέλιον in 1:14 form a bracket around the introduction that binds together the gospel<br />

about Jesus and the gospel Jesus preached, without confusing or identifying them« (ebd.).<br />

Zur Sachfrage vgl. bereits Schmidt, Evangelium, bes. 893---896.897f.<br />

39<br />

Zu ἀρχή in dieser Bedeutung s. z. B. Ψ 110,10 (= Prov LXX 1,7; 9,10; vgl. Sir 1,14); Prov LXX<br />

16,5; SapSal 6,17; vgl. ferner SapSal 14,12 (ἀρχὴ γὰρ πορνείας ἐπίνοια εἰδώλων); Sir 10,12f.<br />

und bes. SapSal 14,27: ἡ γὰρ τῶν ἀνωνύµων εἰδώλων θρησκεία παντὸς ἀρχὴ κακοῦ καὶ αἰτία<br />

καὶ πέρας ἐστίν. Hier wird ἀρχή durch αἰτία und πέρας erläutert (vgl. die Übersetzung bei<br />

Georgi, Weisheit, 454), d. h. als Grundstruktur im umfassenden Sinn verstanden. Hüb-


120<br />

Teil III: Christologische Grundlegung<br />

Ziel des Markusevangeliums. Dass und wie es das erreichen will, dazu bemerkt<br />

M. E. Boring: »Mark composes a narrative which he intends to function as a<br />

normative statement for preaching the εὐαγγέλιον Ἰησοῦ Χριστοῦ […]. This rule is<br />

not an abstract statement, a discursive-language creed, but a narrative.« 40<br />

Das<br />

bedeutet: »εὐαγγέλιον is not the document Mark composes (discourse, narrative<br />

text) but the larger story to which it refers«. 41 Denn: »For Mark, the saving event<br />

happened not in a narrative, but in history.« 42 Damit ist allerdings gerade keine<br />

historisierende Lektüre impliziert: »Yet in Mark’s skillfully constructed narrative,<br />

the walls between Jesus’ time, Mark’s time, and the reader’s time grow thin,<br />

and the readers are challenged to find themselves included in the same world as<br />

Jesus and his message, the narrative world created by Mark’s Gospel.« 43<br />

Die Intentionalität einer solchen »Horizontverschmelzung« 44 entnehmen viele<br />

neuere Arbeiten vor allem dem Schluss des Markusevangeliums (16,1---8). 45<br />

2.2 Der ursprüngliche Buchschluss (16,1--8)<br />

Neben dem Anfang einer Erzählung kommt bekanntlich »dem Erzählende […] eine<br />

hohe Relevanz beim Verständnis der Gesamterzählung« 46 zu. Das ist grund-<br />

---------------------------------------<br />

ner, Weisheit, 177f., spricht von einem ehernen »Gesetz« (zu 14,12; vgl. aber auch a. a. O.,<br />

181, zu 14,27). Vgl. noch Sir 29,21: ἀρχὴ ζωῆς ὕδωρ καὶ ἄρτος καὶ ἱµάτιον καὶ οἶκος καλύπτων<br />

ἀσχηµοσύνην. Die ἀρχὴ ζωῆς bezeichnet hier die minimale »Lebensbasis«.<br />

40<br />

Boring, Beginning, 53.<br />

41<br />

Boring, ebd. Dagegen meint Vielhauer, Geschichte, 345, der Evangelist wolle das εὐαγγέλιον<br />

Ἰησοῦ Χριστοῦ »mit seiner ›Erzählung‹ nicht illustrieren, sondern darbieten. […] Das<br />

›Buch der geheimen Epiphanien‹ ist [!] εὐαγγέλιον.«<br />

42<br />

Boring, Beginning, 69.<br />

43<br />

Boring, ebd.<br />

44<br />

Zu Begriff und Sache s. Gadamer, Hermeneutik I, 270---384. Es gebe »so wenig einen<br />

Gegenwartshorizont für sich, wie es historische Horizonte gibt, die man zu gewinnen hätte.<br />

Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für<br />

sich seiender Horizonte« (a. a. O., 311). Nur »eine wirkliche Horizontverschmelzung, die<br />

mit dem Entwurf des historischen Horizontes zugleich dessen Aufhebung vollbringt«, gewährleiste<br />

eine sachgemäße »Anwendung« (a. a. O., 312). Dabei sei »die im Verstehen geschehende<br />

Verschmelzung der Horizonte die eigentliche Leistung der Sprache« (a. a. O., 383).<br />

45<br />

Nach Horstmann, Studien, 131, ist am Schluss des Markusevangeliums dessen »theologische<br />

Intention in besonderem Maße konzentriert«. Dibelius, Formgeschichte, 190---<br />

192, bestreitet dies aus form- und überlieferungsgeschichtlichen Gründen.<br />

46<br />

Rüggemeier, Poetik, 240. Dass es dem Markusschluss um die »Rehabilitation« Jesu<br />

durch Gott gehe (so Rüggemeier, ebd.), ist aber schon deswegen ausgeschlossen, weil es<br />

einer solchen Rehabilitierung gegenüber den Lesern ohnehin nicht bedarf (Jesus hat nach<br />

dem Zeugnis des Evangelisten ja nichts »falsch gemacht«) und weil die Auferstehung ---<br />

die Rüggemeier, ebd., übrigens stets passivisch als Auferweckung durch Gott auffasst ---<br />

nicht vor Jesu Gegnern stattfindet. Ebensowenig geht es um die Ankündigung einer »Ver-


Teil IV: Begriffsklärungen


1 Grundzüge des Begriffs »Sünde«<br />

im Markusevangelium<br />

Die Frage nach Jesu Sündlosigkeit zieht --- als deren unabdingbare sachliche Voraussetzung<br />

--- die umfassendere Frage nach dem Begriff der Sünde nach sich.<br />

Denn »[d]er Begriff der Sündelosigkeit und Unsündlichkeit wird bestimmt durch<br />

den der Sünde.« 1<br />

Dabei ist schon die Frage nach dem Wie und Woher (dem Ansatz, den Quellen<br />

und der Methode) einer angemessenen Definition des Begriffs »Sünde« strittig,<br />

er selbst darum stets interpretationsbedürftig 2<br />

und seine Verwendung begründungspflichtig.<br />

Im Rahmen unserer Untersuchung kommt erschwerend hinzu, dass das<br />

mutmaßlich einschlägige Wortfeld --- man denkt zunächst wohl unwillkürlich an<br />

das Lexem ἁµαρτία und seine Derivate --- im Markusevangelium nur spärlich vertreten<br />

ist (s. u. Kapitel 3 und 4).<br />

Lässt sich angesichts dieser Schwierigkeiten in der Sache überhaupt etwas<br />

Substanzielles und Tragfähiges ermitteln? Jedenfalls erfordert die komplexe Gemengelage,<br />

die um »Begriffe« und »Begrifflichkeiten« kreist und es dabei mit unterschiedlichen<br />

Sprach- und Denkmustern sowie unterschiedlichen soziologischen<br />

und historischen Kontexten zu tun hat, vorab eine eingehende Reflexion<br />

(s. u. Kapitel 2).<br />

---------------------------------------<br />

1<br />

Hennemann, Heiligkeit, 36.<br />

2<br />

Hennemann, ebd., definiert: »Sünde ist ein bewusster und gewollter Widerspruch gegen<br />

Gott, das persönliche Sittengesetz«, und folgert: »Demnach ist ›Unsündlichkeit‹ die Unmöglichkeit,<br />

jemals in Widerspruch zu Gott gebracht werden zu können. ›Sündelosigkeit‹<br />

dagegen sagt, dass die Person, welcher Sündelosigkeit vindiziert wird, sich nie im Widerspruch<br />

mit Gott befunden habe« (a. a. O., 37).


2 Der Begriff »Sünde« zwischen<br />

beschreibungssprachlicher<br />

Kategorie und<br />

quellensprachlichem Lexem<br />

Der exegetische Diskurs leidet seit längerem unter dem ernsten Defizit, dass in<br />

der Sache kaum recht zwischen Begriff und Begrifflichkeit bzw. zwischen Sachgehalt<br />

und Lexem unterschieden wird. 1 Wo das Problem überhaupt bedacht wird,<br />

liegt dem --- in diesem Fall dann beabsichtigten --- Fehlen sprachlicher und vor allem<br />

sachlicher Differenzierung nicht selten die sprachphilosophische Prämisse<br />

einer »Untrennbarkeit und sogar Identität von Form und Inhalt« 2 zugrunde. Zwar<br />

besteht in der Tat ein »grundsätzlich nicht-beliebiges Verhältnis von ›Form‹ und<br />

›Inhalt‹ oder Wort und ›Sache‹« 3 , aber die These, dass die vielzitierte »Einheit von<br />

Form und Inhalt« als »blanke Identität von Form und Inhalt« 4 aufgefasst werden<br />

---------------------------------------<br />

1<br />

Vgl. dazu die einleitenden Bemerkungen oben S. 35---41. Auch Heilig, Paulus, 83, moniert,<br />

man habe in der neutestamentlichen Wissenschaft den »mentale[n] Charakter« von<br />

Begriffen weithin ignoriert. In der »Vermischung« von »Begriff« (»Kategorie«, »Konzept«)<br />

und »Begrifflichkeit« (»Ausdruck«, »Lexem«) sieht er ein durchaus aktuelles Phänomen:<br />

»Auch bei der Lektüre der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur zum Neuen Testament<br />

drängen sich immer wieder Fragen im Zusammenhang mit dem Gebrauch des<br />

Wörtchens ›Begriff‹ auf: Ist lediglich von einem bestimmten Lexem die Rede (so wie etwa<br />

im Fall von ›Begrifflichkeit‹ in der Regel die terminologische Ebene gemeint ist) --- oder<br />

von dem durch diesen bezeichneten Konzept? Oder spiegelt die Wahl des Ausdrucks ›Begriff‹<br />

für diesen ›Begriff‹ des Konzepts gar eine bewusste sprachphilosophische Entscheidung<br />

wider, welche deren Deckungsgleichheit betonen möchte?« (ebd.).<br />

2<br />

Wellek, Literaturkritik 4/I, 666, sieht ein Neuaufleben dieser »alten Lehre«, die auf<br />

Aristoteles zurückgehe, insbesondere in der englischen Literaturkritik um 1950 und im<br />

Entstehen des New Criticism in den USA. S. dazu oben Teil II, Kapitel 2.2.2.<br />

3<br />

<strong>Rehfeld</strong>, Wahrheit, 96, Anm. 8. Man könnte auch von der Konvergenz von Form und Inhalt<br />

sprechen.<br />

4<br />

Wiederholt von einer solchen spricht Wagner, Aufhebung, 254.256f., in seiner Darstellung<br />

der Kritik Ph. Marheinekes an den »linkshegelianischen Lehren eines D. F. Strauß,<br />

B. Bauer und L. Feuerbach« (a. a. O., 254), deren Einfluss gerade auf die kontinentaleuropäische<br />

exegetische Tradition m. E. nicht unterschätzt werden sollte. Wagner, a. a. O.,<br />

257, zeigt, dass ein »Bewußtsein«, welches »einen Inhalt schlechterdings für nicht von der<br />

Form seiner Explikation ablösbar hält«, »auf der direkten und blanken Identität von Form<br />

und Inhalt derart insistieren [muß], daß es die Aussage, ein Inhalt sei in verschiedenen


224<br />

Teil IV: Begriffsklärungen<br />

müsse und »Begriff« und »Begrifflichkeit« mithin analog zur Umgangssprache 5<br />

synonym zu verwenden seien, ist unterkomplex und tendenziell tautologisch. Sie<br />

läuft darauf hinaus, dass die Betrachtung antiker Texte --- von reflektierender<br />

Auslegung kann kaum mehr die Rede sein --- sich im Grunde auf die bloße Auflistung<br />

quellensprachlicher Lexeme beschränken müsste, weil eben jeder Versuch<br />

einer Reformulierung und Übersetzung die Gefahr der inhaltlichen Verschiebung<br />

des quellensprachlichen Befundes und der Eintragung historisch wie sachlich<br />

unpassender Konzepte in sich birgt. 6<br />

Die lexematische Engführung eines Begriffs ist aber nicht nur theologisch unbefriedigend,<br />

sie ist auch exegetisch fragwürdig. Denn ein quellensprachlicher<br />

Ausdruck (wie prinzipiell jede sprachliche Äußerung) gewinnt erst im jeweiligen<br />

Kontext seinen präzisen Sinn, so dass nicht so sehr das Lexikon als vielmehr der<br />

Kontext den Begriff bestimmt. 7 Es wäre daher verfehlt, eine Begriffsbestimmung<br />

allein von der Existenz bestimmter quellensprachlicher Lexeme abhängig machen<br />

zu wollen, deren semantische Adäquatheit wiederum erst noch zu prüfen<br />

wäre. 8 Weder lässt sich aus dem Fehlen bestimmter Lexeme schließen, dass ein<br />

gewisser Gedanke dem Textzeugnis fremd sei, noch beweist umgekehrt das blo-<br />

---------------------------------------<br />

Formen der Darstellung entfaltbar, für zweideutig, wenn nicht gar für widerspruchsvoll<br />

hält« (ebd.). Dementsprechend muss die Einheit der Sache stets verneint werden, wo keine<br />

formale Identität erkennbar ist. Das führt in der Exegese zu der Behauptung einer unaufhebbaren<br />

Disparatheit hochgradig divergierender Konzepte, namentlich inkommensurabler<br />

»Christologien« und »Soteriologien« innerhalb des Neuen Testaments. Eine solche<br />

philosophische Vorfestlegung auf die prinzipielle Nicht-Vergleichbarkeit unterschiedlicher<br />

Aspekte oder Darstellungsformen und damit eine grundsätzliche Absage an die Frage<br />

nach der »Einheit der Wirklichkeit« halte ich für theologisch nicht sachgemäß. Vgl. dazu<br />

<strong>Rehfeld</strong>, Wahrheit, 98f.123f.<br />

5<br />

S. www.duden.de/rechtschreibung/Begriff (28.12.2023). Die Hauptbedeutung von »Begriff«<br />

lautet: »Gesamtheit wesentlicher Merkmale in einer gedanklichen Einheit; geistiger,<br />

abstrakter Gehalt von etwas« (ebd.).<br />

6<br />

Ein beredtes Beispiel liefert Schröter, Sühne, 60---66. Nachdem er die Möglichkeit ebenso<br />

strikt wie prinzipiell zurückgewiesen hat, die griechischen Lexeme (ἐξ)ἱλάσκεσθαι κτλ.<br />

in Röm 3,25; Hebr 2,17; 1Joh 2,2; 4,10 mit einem deutschen Wort wie »sühnen« wiederzugeben,<br />

weil sich »an den genannten Stellen […] natürlich keine Termini der Wortgruppe<br />

›Sühnen‹, sondern von ἱλάσκεσθαι κτλ.« fänden (a. a. O., 60, Anm. 23), bleibt ihm keine<br />

andere Wahl, als fortan ausschließlich mit den nicht-erklärten quellensprachlichen Lexemen<br />

zu operieren (s. a. a. O., 61ff.), d. h. sich einer Übersetzung und Auslegung zu verweigern.<br />

Für die Theologie als eine im Ansatz anwendungs-, d. h. verkündigungsorientierte<br />

Wissenschaft ist das kein gangbarer Weg.<br />

7<br />

Von daher ist es nicht unproblematisch, wenn Heilig, Paulus, 84, von »Lexemen« und<br />

»Ausdrücken« ausgeht, »die eine bestimmte Bedeutung aufweisen«, und diesen jeweils<br />

»spezifischen semantischen Gehalt« dann als »Konzept« bzw. »Kategorie« bezeichnet<br />

(ebd.). So eineindeutig ist die Sache jedenfalls nicht.<br />

8<br />

Die naheliegende Frage nach den Kriterien solcher Überprüfung führt letztlich auf das<br />

Problem der hier unaufhebbar bestehenden Zirkularität der Argumentation (s. u. S. 228<br />

m. Anm. 24).


2 Der Begriff »Sünde« 225<br />

ße Vorkommen bestimmter Lexeme schon das Vorhandensein eines bestimmten<br />

Gedankens. 9 Das gilt umso mehr für narrative Texte, die geistige Sachgehalte ohnehin<br />

anders darstellen, als dies beispielsweise ein dogmatisches Lehrbuch tut. 10<br />

Für unseren Fall bedeutet das: Mit der Beobachtung, dass das (vermeintlich) einschlägige<br />

Wortfeld für »Sünde« im Markusevangelium nur spärlich vertreten ist,<br />

ist nicht zugleich schon abschließend darüber entschieden, ob das, was man unter<br />

den dogmatischen Begriff der »Sündlosigkeit Jesu« fasst, der Sache nach im<br />

Markusevangelium tatsächlich fehlt. Jedenfalls ist der Begriff der Sünde und der<br />

Sündlosigkeit nicht notwendig an das Lexem ἁµαρτία und seine Derivate oder<br />

Synonyme gebunden --- weder positiv noch negativ. 11<br />

Das lehrt schon ein Blick in jene Textkorpora, die explizit von Jesu Sündlosigkeit<br />

sprechen (s. o. Teil I, Kapitel 4.1). Der Sündenbegriff des Hebräerbriefs ist wesentlich<br />

durch den Terminus »Schwäche« (ἀσθένεια) und das Motiv der Verstocktheit und<br />

Glaubenslosigkeit charakterisiert. »Sünde« besteht hauptsächlich in dem Hang des<br />

menschlichen Herzens zum Zweifel an Gottes Zusagen und im tatsächlichen Abfall<br />

von Gott und seinem Wort (ἀφίστασθαι). Wird Jesus Sündlosigkeit attestiert, dann ist<br />

gemeint, dass er zwar »wie wir versucht«, d. h. von außen mit Schrecknissen bedroht<br />

wurde, die geeignet waren, ihn zum Zweifel an Gottes Treue und zum Abfall von Gott<br />

zu bewegen (Hebr 4,15), doch trotz aller dieser Widerfahrnisse an seinem Vater festhielt<br />

und sich so als ἀρχηγὸς καὶ τελειωτὴς τῆς πίστεως erwies (Hebr 12,2). Denn im<br />

Gegensatz zu »uns« war Jesus der Schwachheit und damit jener »anthropologischen<br />

Konstanten« entnommen, »welche in die Versuchung und zur Sünde führt.« 12<br />

Bei Paulus verweist der Sündenbegriff auf jenen »anthropologische[n] Unheilszusammenhang«<br />

13 , dem die gesamte von Adam herkommende Menschheit unentrinnbar<br />

ausgeliefert ist (Röm 5,12ff.). Was der Apostel u. a. mit dem Lexem ἁµαρτία<br />

bezeichnet, meint im Kern die objektiv gegebene menschliche »Feindschaft gegen<br />

Gott« (ἔχθρα εἰς θεόν, Röm 8,7; vgl. 5,10). Ihre vielfältigen praktischen Äußerungen (s.<br />

Röm 1,18ff.; Gal 5,19---21) entspringen dem tief im Herzen verwurzelten Unglauben<br />

(vgl. Röm 14,23b). Die menschliche Sündhaftigkeit besteht für Paulus in der persönlichen<br />

und insofern schuldhaften Verstrickung in un- oder widergöttliches Sein und<br />

Tun. Attestiert der Apostel dagegen dem Gekreuzigten Sündlosigkeit, dann ist ge-<br />

---------------------------------------<br />

9<br />

Für sich genommen lässt sich aus dem bloßen Vorkommen des Verbums ἁµαρτάνειν<br />

nichts schließen, zumal es neben theologischen und moralischen oder ethischen Konnotationen<br />

auch die eher neutrale Bedeutung annehmen kann: »einen Fehler machen«, »sich<br />

vertun« (z. B. Menander, Dysk. 75; vgl. 2Kor 11,7: ἁµαρτίαν ποιεῖν = ἁµαρτάνειν). Vgl. den<br />

Überblick bei Pape, Hwb I, 116f., s. v. ἁµαρτάνω κτλ. Das Wortfeld umschreibt das Vorliegen<br />

einer irgendwie gearteten Unzulänglichkeit bzw. Normverletzung.<br />

10<br />

S. o. S. 47f. m. Anm. 3.<br />

11<br />

Vgl. zu diesem Problem auch die Andeutungen bei Löhr, Umkehr, 69f.<br />

12<br />

Löhr, Umkehr, 134.<br />

13<br />

Formulierung bei Löhr, ebd., der den Sündenbegriff des Hebräerbriefs scharf davon abgrenzt.


226<br />

Teil IV: Begriffsklärungen<br />

meint, dass Jesus zwar auf Gottes Geheiß hin und in willentlicher Übereinstimmung<br />

am Kreuz in die Sünde verwickelt wurde, ihr aber nicht von innen her ausgeliefert<br />

war, weil er als der ewige Sohn Gottes nicht im Schatten Adams stand. Folgerichtig<br />

spricht Paulus in 2Kor 5,21 von dem nicht-schuldhaften Der-Sünde-ausgeliefert-Sein<br />

Jesu als einem ihn strikt von außen treffenden, rein passiven Widerfahrnis. 14<br />

Doch nicht nur der quellensprachliche Befund signalisiert Klärungsbedarf, 15 auch<br />

die beschreibungssprachliche Kategorie »Sünde« ist alles andere als eineindeutig:<br />

Wovon sprechen wir eigentlich (d. h. in der Sache), wenn wir nach »Sünde« und<br />

»Sündlosigkeit« fragen? Der Duden vermerkt, dass die Wortherkunft letztlich<br />

»ungeklärt« sei --- »mittelhochdeutsch sünde, sunde, althochdeutsch sunt(e)a« ---,<br />

und bietet drei verschiedene Realdefinitionen für »Sünde«: »a) Übertretung eines<br />

göttlichen Gebots«, »b) Zustand, in dem sich jemand durch eine Sünde (a) oder<br />

durch die Erbsünde befindet« (»ohne Plural«), »c) Handlung der Unvernunft, die<br />

nicht zu verantworten ist; Verfehlung gegen bestehende (moralische) Normen«. 16<br />

Schon dieser Überblick zeigt, dass der Begriff »Sünde« weder im sprachlichen<br />

Ausdruck »Sünde« aufgeht noch durch ihn hinreichend definiert ist. Zwar ist die<br />

grundsätzlich negative Konnotation des Begriffs deutlich, der seinerseits eine<br />

Vielzahl religiöser, sittlicher (moralischer, ethischer), charakterlicher und geistiger<br />

Verfehlungen und Verirrungen in sich fasst. Doch anders als viele anschauliche<br />

und gegenständliche Bezeichnungen (wie etwa »Astgabel«) ist das Lexem<br />

»Sünde« nicht selbstevident: Was Sünde der Sache nach ist, geht aus dem deutschen<br />

Wort »Sünde« als solchem --- nicht zuletzt aufgrund seiner unklaren Etymologie<br />

17<br />

--- nicht präzise hervor. Das wiederum belastet von vornherein jede<br />

Übersetzung eines quellensprachlichen Lexems mit dem Ausdruck »Sünde«. Ein<br />

Verzicht auf Übersetzung ist jedoch keine zielführende Alternative, sondern bedeutet<br />

nur eine Kapitulation vor der Aporie.<br />

Angesichts der semantischen Unschärferelation zwischen quellensprachlichem<br />

Befund und beschreibungssprachlicher (Übersetzungs-)Kategorie kommt<br />

man nicht umhin, irgendwie definieren, d. h. festlegen zu müssen, was man unter<br />

»Sünde« versteht --- und zwar sowohl der Sache nach (Realdefinition) als auch<br />

terminologisch (Nominaldefinition). 18<br />

Dabei besteht prinzipiell jeweils die Möglichkeit<br />

enger oder weiter Definitionen. Je enger die Definitionen gewählt wer-<br />

---------------------------------------<br />

14<br />

Vgl. dazu <strong>Rehfeld</strong>, Krankheit, 186---193. Nach Wolff, 2Kor, 133, »erfuhr« Christus die<br />

»Sündenmacht« an sich.<br />

15<br />

Der gemeinsame Nenner liegt am ehesten im Begriff der Unzulänglichkeit und der (objektiven)<br />

Normverletzung (s. o. S. 225, Anm. 9). S. zum Ganzen unten S. 229---233.<br />

16<br />

Zit. nach www.duden.de/rechtschreibung/Suende (28.12.2023; alle Zitate).<br />

17<br />

Allerdings wäre selbst eine eindeutige Etymologie nicht ohne Weiteres semantisch relevant,<br />

weil Sprache sich wandeln kann und die Etymologie immer nur bedingt und indirekt<br />

Aufschluss über die Semantik gibt.<br />

18<br />

Zur Unterscheidung von Real- und Nominaldefinition vgl. Heilig, Paulus, 83---98.


2 Der Begriff »Sünde« 227<br />

den, desto präzisere und validere Aussagen scheinen möglich --- allerdings aufgrund<br />

der entsprechend schmaleren Datenbasis tendenziell auch weniger bis gar<br />

keine relevanten Aussagen. Nicht zuletzt in heuristischer Absicht plädiere ich<br />

daher in einem ersten (!) Schritt für ein möglichst weit gefasstes Verständnis von<br />

»Sünde«, das sich sowohl terminologisch als auch semantisch an dem polysemen<br />

Bedeutungsspektrum der deutschen Vokabel »Sünde« orientiert. Letzteres mag<br />

überraschen, doch lässt sich die Ziel- und Beschreibungssprache als ultimativer<br />

Ausgangs- und Referenzpunkt aller exegetischen Bemühungen prinzipiell weder<br />

negieren noch überspringen. 19<br />

Angesichts der »Differenz von quellensprachlicher Beschreibungssprache und metasprachlicher<br />

Verwendung deutender Kategorien aus anderen Sprach- und Vorstellungszusammenhängen«<br />

20 fordert etwa J. Schröter, die »Nachzeichnung des Textbefundes«<br />

solle sich »sprachlich so eng wie möglich an diesem orientieren, wogegen<br />

Systematisierungen der Textphänomene erst einen zweiten, hierauf aufbauenden<br />

Schritt darstellen können.« 21 Doch so berechtigt dieser Hinweis ist, so unbefriedigend<br />

ist er letztlich. Denn jedes nicht-quellensprachliche Wort ist seinerseits bereits eine<br />

»Deutung« (Schröter) des quellensprachlichen Befundes. In der Konsequenz dürfte<br />

man eigentlich nur noch in der Quellensprache denken, sprechen und nicht zuletzt<br />

publizieren. Da man diese aber wiederum nur durch ihrerseits schon systematisierende<br />

Werke (Grammatiken, Wörterbücher usw.) sich angeeignet bzw. vermittelt bekommen<br />

hat --- und zwar grundsätzlich in Form einer Übersetzungsleistung! ---, bleibt<br />

das Dilemma bestehen. Insofern kann biblische Exegese nur auf eine größtmögliche<br />

Annäherung an das in den Texten Gesagte zielen. 22<br />

Ein weit gefasstes Verständnis von »Sünde« und »Sündlosigkeit« hat zunächst<br />

den Vorteil, dass es auch Grenzfälle nicht von vornherein ausschließt. Es dürfte<br />

zudem interdisziplinär anschlussfähiger sein 23 als ein sehr enges, welches vor-<br />

---------------------------------------<br />

19<br />

S. o. S. 35---39 m. Anm. 4f. Diese Einsicht bedingt zugleich die bleibende Notwendigkeit<br />

einer lokal verankerten und ausgerichteten Exegese. Denn philologisch-exegetische Erkenntnisse<br />

lassen sich --- streng genommen --- gar nicht in andere Sprachen übersetzen,<br />

sondern sind für jede Sprachgemeinschaft je neu zu erarbeiten. Hier stößt gerade die vielfach<br />

geforderte Internationalisierung notwendig an Grenzen.<br />

20<br />

Schröter, Sühne, 69.<br />

21<br />

Schröter, Sühne, 71.<br />

22<br />

Der Hinweis auf die vermeintlichen und tatsächlichen Gefahren der »Systematisierung«<br />

darf nicht davon abhalten, den Texten nachzudenken, ist dies doch die Voraussetzung dafür,<br />

sie recht predigen zu können --- und um dieser Aufgabe willen betreibt evangelische<br />

Theologie biblische Exegese (mit Käsemann, Exegetische Versuche I, 8 [Vorwort]).<br />

23<br />

Von Jesu »Sündlosigkeit« ist nur dann sinnvoll und überzeugend zu sprechen, wenn der<br />

Begriff möglichst viel von dem ausgeschlossen sein lässt, was in irgendeiner Weise mit<br />

dem Ausdruck »Sünde« assoziiert werden kann. Im umfassendsten Sinne als sündlos dargestellt<br />

wäre Jesus, wenn er aus Sicht des Evangelisten nicht nur in religiöser und kulti-


228<br />

Teil IV: Begriffsklärungen<br />

gängig umso ausführlicher begründet werden müsste, je spezifischer es ist, zumal<br />

es ja ebenfalls auf einer Setzung beruht. Auch die gerade an diesem Punkt<br />

unvermeidliche Zirkularität jeder Argumentation 24 spricht m. E. für einen im ersten<br />

Schritt möglichst weiten Sündenbegriff, der im weiteren Verlauf der Untersuchung<br />

kontinuierlich nachzuschärfen ist. Die notwendige Nachjustierung und<br />

sachliche Ausdifferenzierung erfolgt selbstverständlich anhand einer möglichst<br />

gewissenhaften Rekonstruktion des markinischen Sündenbegriffs aus den Quellen.<br />

Eine solche Rekonstruktion kommt jedoch ohne vorläufige Voraus-Setzung<br />

eines vergleichsweise unspezifischen Sündenbegriffs --- nicht zu verwechseln mit<br />

einer unzulässigen Vorfestlegung --- gar nicht aus, denn man kann nur nach etwas<br />

fragen, wovon man wenigstens eine grobe Ahnung hat. Intendiert ist also<br />

ein mehrstufiges Verfahren, das von einem »irgendwie gearteten«, möglichst weiten<br />

Sündenbegriff ausgeht, der in der steten Auseinandersetzung mit den Quellentexten<br />

und ihrer allererst zu erhebenden spezifischen Enzyklopädie zunehmend<br />

auskonturiert wird. 25<br />

---------------------------------------<br />

scher, sondern auch in moralisch-ethischer und juristischer Hinsicht als intrinsisch von<br />

jeder schuldhaften oder tragischen Unzulänglichkeit frei dargestellt würde. Ob dafür dann<br />

aus exegetischer Sicht der Terminus »Sündlosigkeit« wirklich geeignet ist, sei einstweilen<br />

bewusst dahingestellt. Der forschungsgeschichtlich etablierte Ausdruck dient vorerst lediglich<br />

als Platzhalter für den entsprechenden Begriff, d. h. für den Gedanken oder das<br />

»Konzept«, das die in jeder nur denkbaren Hinsicht volle und dauerhafte persönliche Integrität<br />

Jesu zum Thema und Inhalt hat. Die Zielsetzung dieser Arbeit besteht darin zu<br />

prüfen, ob das Markusevangelium seinen Protagonisten tatsächlich in einer solchen (oder<br />

einer vergleichbaren) Weise darstellt.<br />

24<br />

Verdeutlichen lässt sich die Zirkularität der Argumentation an dem oben, S. 224, Anm.<br />

6, genannten Beispiel: Wenn J. Schröter die Übersetzung von (ἐξ)ἱλάσκεσθαι mit »sühnen«<br />

ablehnt und die Äquivalenz der beiden Ausdrücke bestreitet, dann setzt er seinerseits ein<br />

jeweils ganz bestimmtes Verständnis sowohl von (ἐξ)ἱλάσκεσθαι als auch von »sühnen«<br />

voraus, das sich aber schwerlich anders begründen lässt als durch die letztlich rein definitorische<br />

Zuschreibung von --- in diesem Fall: unterschiedlichen --- Bedeutungen an jeden<br />

der beiden Ausdrücke. Einem rein induktiven Verfahren stellt sich von jeher der sog.<br />

»hermeneutische Zirkel« entgegen (s. o. S. 36 m. Anm. 5).<br />

25<br />

Im Bild gesprochen: Die polyseme lexikographische Begriffsdefinition gleicht einem<br />

unbehauenen Granitblock, der mithilfe philologisch-exegetischer Werkzeuge so lange bearbeitet<br />

wird, bis seine Gestalt --- im Idealfall --- mit dem quellensprachlichen Begriff möglichst<br />

deckungsgleich ist, d. h. bis alles abgetragen und entfernt ist, was sich anhand der<br />

Quellentexte nicht verifizieren oder sich nicht mit ihnen vereinbaren lässt. Das Ziel ist ein<br />

möglichst quellenaffin konturiertes Begriffsgebilde. Dieses kann jedoch erst das Ergebnis,<br />

nicht die Voraussetzung der exegetisch-philologischen Arbeit sein!


3 Terminologische Annäherungen<br />

an den markinischen<br />

Sündenbegriff<br />

Die eingangs (S. 48) geäußerte Annahme, das Markusevangelium werde kaum<br />

expressis verbis von Jesu Sündlosigkeit sprechen, erhärtet sich, wenn man den<br />

Konkordanzbefund für die mutmaßlich einschlägigen Lexeme zur Kenntnis<br />

nimmt. Besonders signifikant wird das Ergebnis, wenn man den markinischen<br />

probehalber mit dem paulinischen Befund kontrastiert, der seinerseits eine sehr<br />

differenzierte Sicht erkennen lässt. 1 Dabei ist natürlich zu berücksichtigen, dass<br />

die jeweiligen Lexeme bei Paulus semantisch anders konnotiert sein können als<br />

im Markusevangelium. Heuristisch aufschlussreich ist der Befund dennoch.<br />

Anders als bei Paulus taucht das Substantiv ἁµαρτία im Markusevangelium<br />

nur selten (6mal) und zudem nur im Plural auf, wobei es in sämtlichen Fällen<br />

mit dem Substantiv ἄφεσις bzw. dem Verbum ἀφιέναι verbunden ist. 2 Im Grunde<br />

gebraucht das Markusevangelium ἁµαρτία gleichbedeutend mit ἁµάρτηµα, wobei<br />

es auch dieses Wort nur selten verwendet (3,28f.; vgl. 4,12 v. l.). 3<br />

Das Verbum<br />

ἁµαρτάνειν fehlt. Vergleichsweise häufig erscheint dagegen das (meist substantivierte)<br />

Adjektiv ἁµαρτωλός, wobei auch hier die ungleichmäßige Verteilung auffällt<br />

(2,15.16[2x].17; 8,38; 14,41). 4<br />

Allen soeben genannten Belegen ist leider gemein, dass sie nicht ausführen,<br />

was »Sünde« der Sache nach ist --- wenn man einmal davon absieht, dass der<br />

»Sünder« im strikten Gegensatz zum »Gerechten« steht und mit einem »Kranken«<br />

verglichen wird (2,17). 5 Erhellend sind aber einige sprachliche Beobachtun-<br />

---------------------------------------<br />

1<br />

Vgl. dazu jüngst Bahl, Macht; Fabricius, Hamartiology.<br />

2<br />

S. Mk 1,4f.; 2,5.7.9f. --- Bei Paulus ist das Verbum ἀφιέναι nur in dem Psalm-Zitat von<br />

Röm 4,7 belegt (vgl. aber Eph 1,7; Kol 1,14). In anderer Bedeutung taucht ἀφιέναι noch auf<br />

in Röm 1,27; 1Kor 7,11---13.<br />

3<br />

Ein weiteres Synonym ist das ebenfalls nur pluralisch gebrauchte παράπτωµα (11,25),<br />

s. u.<br />

4<br />

Ebenfalls sechs Belege bietet Paulus: Röm 3,7; 5,8.19; 7,13; Gal 2,15.17 (vgl. noch 1Tim<br />

1,9.15).<br />

5<br />

Freilich lässt sich über das präzise Verständnis von »Gerechtigkeit« ebensowenig sagen,<br />

denn das für Paulus und Matthäus so wichtige Substantiv δικαιοσύνη fehlt im Markus-


230<br />

Teil IV: Begriffsklärungen<br />

gen zur konkreten Verwendung der genannten Ausdrücke, die jedenfalls über<br />

die Struktur der markinischen Rede von »Sünde« etwas verraten. Von größter Bedeutung<br />

ist hierbei die bereits erwähnte Tatsache, dass das Wort ἁµαρτία und<br />

seine Synonyme ἁµάρτηµα und παράπτωµα im Markusevangelium nur im Plural<br />

und nur im Zusammenhang mit dem Substantiv ἄφεσις bzw. dem Verbum ἀφιέναι<br />

auftauchen. 6 »Sünden« bedürfen offenbar der »Vergebung«, wobei die Befugnis<br />

(ἐξουσία) zu solcher Vergebung allein Gott (so nach 2,7) und dem »Menschensohn«<br />

(so nach 2,10; vgl. V. 5) zukommt. Daraus ergibt sich zweierlei: Erstens<br />

tangieren Sünden in erster Linie das Gottesverhältnis, 7 und zweitens impliziert<br />

Jesu Vergebungsautorität, dass er selbst --- wie Gott, sein Vater --- von Sünden frei<br />

ist. 8 Dazu passt Jesu Selbstdistanzierung von »dieser ehebrecherischen und sündigen<br />

Generation« (8,38; vgl. 14,41). Das Hendiadyoin µοιχαλὶς καὶ ἁµαρτωλός bestätigt<br />

außerdem die These, dass Sünde als Abfall von bzw. Rebellion gegen Gott<br />

zu verstehen ist (vgl. die Rede von der γενεὰ ἄπιστος, 9,19). Das Adjektiv µοιχαλίς<br />

verweist hier auf das Motiv von »Ehebruch« (µοιχεία) und »Hurerei« (πορνεία) als<br />

geläufigen biblischen Metaphern für »Götzendienst«. 9<br />

Folgerichtig hat die Sündenvergebung nach Mk 1,4 vorrangig etwas mit µετάνοια<br />

zu tun (vgl. 6,12). Diese »Kehrtwende« 10 äußert sich in dem »öffentlichen<br />

Bekennen« (ἐξοµολογεῖσθαι) konkreter Sündentaten (1,5) und im »Glauben« (πιστεύειν)<br />

an das Evangelium Gottes (1,14f.). 11 Nicht zuletzt aber steht die Sündenvergebung<br />

in enger Verbindung mit dem Wirken des heiligen Geistes. 12 Das wird<br />

schon an der Entgegensetzung von johanneischer Wassertaufe und jesuanischer<br />

Geisttaufe deutlich (1,8) und erklärt zugleich, warum die Lästerung des Geistes<br />

eo ipso von der Sündenvergebung ausschließt (3,28--- 3 0 ) . 13<br />

---------------------------------------<br />

evangelium. Der Wortstamm δικ--- ist überhaupt nur an zwei Stellen belegt: Mk 2,17; 6,20<br />

(jeweils δίκαιος). Vgl. dazu unten S. 230, Anm. 7.<br />

6<br />

Zu ἁµαρτία s. Mk 1,4.5; 2,5.7.9.10; zu ἁµάρτηµα s. Mk 3,28.29; 4,12 v. l.; zu παράπτωµα<br />

s. Mk 11,25.<br />

7<br />

Ein weiteres Indiz: Als Synonym zu dem in Mk 2,17 als Antonym zu ἁµαρτωλός dienenden<br />

Adjektiv δίκαιος taucht in Mk 6,20 das Adjektiv ἅγιος (»heilig«) auf (zur Charakterisierung<br />

Johannes’ des Täufers).<br />

8<br />

S. o. S. 200---210, bes. 209f. m. Anm. 67.<br />

9<br />

Neben unzähligen Belegen aus dem Hoseabuch (Hos 1,2; 2,4ff.; 3,1; 4,12; 9,1 u. ö.) sind<br />

hier zu nennen: Num 14,33; Jdc 2,17; 8,27.33; 1Chr 5,25; 2Chr 21,10---15; Ψ 105,32---42<br />

(V. 39); Sir 46,11; Jes 1,21; Jer 2,1---3,20; 5,7f.; 13,27; Ez 6,8f.; 16,1---17,4; 23,1---49. Das<br />

Doppelmotiv von µοιχεία und πορνεία wird im Neuen Testament aufgegriffen in Apk 2,20---<br />

23.<br />

10 Zum Verständnis von µετάνοια als »Kehrtwende« vgl. <strong>Rehfeld</strong>, Rückbesinnung.<br />

11<br />

Dass die Begrifflichkeit unwillkürlich an Röm 10,8b---10 denken lässt, mag mehr als ein<br />

bloßer Zufall sein. Kein Zufall ist, dass der Begriff ἀπιστία im Markusevangelium eine hamartiologische<br />

Pointe hat (s. u.).<br />

12<br />

Prägnant bemerkt Pohl, Mk, 55: »›Geist‹ ist ein anderes Wort für ›Gott in Aktion‹.«<br />

13<br />

Zur »Sünde wider den heiligen Geist« und ihrer christologischen Pointe s. o. S. 210f.<br />

und unten S. 320f.


3 Terminologische Annäherungen an den markinischen Sündenbegriff 231<br />

Zusätzlich Konturen gewinnt der markinische Sündenbegriff durch den Gebrauch<br />

von Lexemen, die wiederum auch aus den Paulusbriefen bekannt sind.<br />

Bekanntlich ist ἁµαρτία der paulinische Hauptbegriff für das, was man im Deutschen<br />

--- oft sehr undifferenziert 14 --- mit »Sünde« bezeichnet. 15 Der Begriff als solcher taucht<br />

bei Paulus, »von wenigen Zitaten und formelhaften Wendungen abgesehen«, »ausschließlich<br />

im Singular und ohne den Zusatz irgendeines Attributes« auf. 16 Daneben<br />

finden sich zahlreiche Umschreibungen dessen, was »Sünde« ist und --- vor allem ---<br />

wie sie sich äußert. Zu nennen sind hier zum einen die ἔχθρα εἰς θεόν (Röm 8,7; vgl.<br />

5,10; ferner Phil 3,18) 17 , die theologisch qualifizierte ἀπείθεια (Röm 11,30.32; vgl.<br />

Röm 2,8; 10,21; 11,30.31; 15,31) und παρακοή (Röm 5,19; 2Kor 10,6), die ἀπιστία<br />

(Röm 3,3; 11,20.23; vgl. 1Kor 6,6 u. ö.) 18 sowie die ἀγνωσία θεοῦ (1Kor 15,34; vgl. Röm<br />

11,25) 19 , aber auch die gegen Gott und sein Gebot gerichtete ἐπιθυµία (Röm 1,24;<br />

6,12; 7,7.8; 13,14; Gal 5,16.24; 1Thess 4,5; vgl. 1Kor 10,6 sowie Gal 5,17), 20 zum anderen<br />

die »Schwäche« als ein (mögliches 21 ) Kennzeichen des unter die Macht der<br />

---------------------------------------<br />

14<br />

Das moniert grundsätzlich zu Recht z. B. Hagenow, Gemeinde, 15 (im Anschluss an<br />

G. Röhser): »Was in der Exegese alles unter Sünde verstanden wird, überlastet die paulinische<br />

Verwendung«, da Paulus den ἁµαρτία-Begriff »eben nur in einem eng begrenzten<br />

Kontext verwendet.« Vgl. zum Problem oben S. 223---228.<br />

15<br />

Vgl. Röhser, Metaphorik, 10. Die Belege im einzelnen: Röm 3,9.20; 4,7.8; 5,12(2x).<br />

13(2x).20.21; 6,1.2. 6(2x).7.10.11.12.13.14.16.17.18.20.22.23; 7,5.7(2x).8(2x).9.11.13(3x).<br />

14.17.20.23.25; 8,2.3(3x).10; 11,27; 14,23; 1Kor 15,3.17.56(2x); 2Kor 5,21(2x); 11,7; Gal<br />

1,4; 2,17; 3,22; 1Thess 2,16. Das Verbum ἁµαρτάνειν erscheint Röm 2,12(2x); 3,23; 5,12.<br />

14.16; 6,15; 1Kor 6,18; 7,28(2x).36; 8,12(2x); 15,34; vgl. noch 2Kor 11,7 (ἁµαρτίαν ποιεῖν =<br />

ἁµαρτάνειν, hier in der Bedeutung »einen Fehler machen«). Das (meist substantivierte) Adjektiv<br />

ἁµαρτωλός findet sich in Röm 3,7; 5,8.19; 7,13; Gal 2,15.17. Daneben taucht noch<br />

zweimal das (im NT seltene) Derivat ἁµάρτηµα auf (Röm 3,25; 1Kor 6,18).<br />

16<br />

Hofius, »Sünde«, 163 (Belege ebd., Anm. 3f.). Vgl. Röhser, Metaphorik, 9f.; Hagenow,<br />

Gemeinde, 14. Das ist im Markusevangelium anders (s. o. S. 229).<br />

17<br />

Sachlich vergleichbar sind Röm 2,23 (ἀτιµάζειν τὸν θεόν) und 1Kor 10,22 (παραζηλοῦν<br />

τὸν κύριον).<br />

18<br />

Dem Schlüsselsatz Röm 14,23 zufolge ist ἀπιστία (wörtlich: πᾶν ὃ οὐκ ἐκ πίστεως) gleichbedeutend<br />

mit ἁµαρτία (und umgekehrt). Dem entspricht, dass in Röm 4,20 Abrahams<br />

»Nicht-Unglaube« positiv als πίστις dargestellt und als δικαιοσύνη qualifiziert wird (V. 3 =<br />

Gen LXX 15,6: vgl. Röm 4,5). »Sünde« ist Paulus zufolge wesentlich Unglaube und Undank<br />

gegenüber Gott (Röm 1,21)!<br />

19<br />

Vgl. das sachlich vergleichbare, ebenfalls theologisch qualifizierte Adjektiv ἀσύνετος in<br />

Röm 1,21.31; 10,19. Der Begriff ἄθεος taucht im NT nur einmal auf (Eph 2,12), bedeutet<br />

dort aber nicht »atheistisch« in einem intentionalen, sondern in einem konstatierenden<br />

Sinn: »Ihr wart --- faktisch --- ohne Gott.«<br />

20<br />

Vgl. auch die Formulierung 1Thess 4,8: ὁ ἀθετῶν οὐκ ἄνθρωπον ἀθετεῖ ἀλλὰ τὸν θεόν κτλ.<br />

S. dagegen die Selbstaussage des Apostels in Gal 2,21: οὐκ ἀθετῶ τὴν χάριν τοῦ θεοῦ.<br />

21<br />

Der Begriff ἀσθένεια bzw. seine Derivate sind höchst ambivalent! Mindestens vier Konnotationen<br />

weist das Wortfeld auf: »schwach« im Sinne von »sündig« (so jedoch nur Röm<br />

5,6; Gal 4,9), »schwach« im geistlichen Sinne (von Christen ausgesagt: Röm 14,1.2.21;


232<br />

Teil IV: Begriffsklärungen<br />

Sünde Versklavten (vgl. Röm 5,6; ferner Gal 4,9). Außerdem verwendet Paulus im unmittelbaren<br />

Umfeld seiner Rede von »Sünde« noch eine ganze Reihe weiterer Lexeme,<br />

namentlich ἀδικία 22 , ἀνοµία 23 , ἀσέβεια 24 , κακία 25 , παράβασις 26 , παράπτωµα 27 , πονηρία<br />

28 und --- in bestimmten Fällen --- σάρξ 29 . Schließlich liefern insbesondere Stellen<br />

wie Röm 1,18---32; 1Kor 5,9---11; 6,9f.; 2Kor 12,20f.; Gal 5,19---21 viele weitere Termini<br />

(oft Hapaxlegomena), die ein konkretes Fehlverhalten bezeichnen, d. h. leibhafte Auswirkungen<br />

der Sünde benennen (etwa πορνεία oder ἀκαθαρσία). 30 Richtig ist, dass alle<br />

diese Ausdrücke statistisch deutlich hinter ἁµαρτία zurückstehen, jedoch »für die Interpretation<br />

der hamartia« inhaltlich durchaus von Belang sind. 31 Dabei ist allerdings<br />

mit H. Umbach sprachlich und sachlich zu unterscheiden zwischen der ἁµαρτία als<br />

der »Tiefendimension des menschlichen Fehlverhaltens« und den vielfältigen Formen<br />

menschlichen (auch christlichen) Fehlverhaltens. 32 Insofern bezeichnet ἁµαρτία ausschließlich<br />

die »Sünde« im engeren Sinne, während die übrigen Begriffe einzelne<br />

Teilaspekte der ἁµαρτία beleuchten.<br />

---------------------------------------<br />

15,1; 1Kor 8,7.9.10.11.12; 9,22[3x]; vgl. noch Röm 4,19 sowie Röm 8,26), »schwach« im<br />

Sinne von geschwächter körperlicher Konstitution (1Kor 2,3; 2Kor 10,10; 11,30; 12,5.<br />

9[2x].10[2x]; Gal 4,13; Phil 2,26.27) und/oder Krankheit (als direkte oder indirekte Folge<br />

der Sünde: 1Kor 11,30; 15,43; 2Kor 13,4) sowie »schwach« in einem übertragenen Sinne<br />

(so Röm 8,3; 1Kor 1,25.27; 12,22). An etlichen Stellen verwendet Paulus diese Begriffe in<br />

polemischer Absicht (so z. B. Röm 6,19; 1Kor 4,10; 2Kor 11,21.29[2x]; 13,3.4.9).<br />

22<br />

Das theologische Gewicht konzentriert sich auf den Gebrauch des Substantivs und des<br />

(substantivierten) Adjektivs. Substantiv: Röm 1,18(2x).29; 2,8; 3,5; 6,13; 1Kor 13,6; ferner<br />

Röm 9,14; Adjektiv: Röm 3,5; 1Kor 6,1.9. Demgegenüber verwendet Paulus das Verb (s.<br />

aber auch ἀδικία 2Kor 12,13) mehrheitlich in einer abgeblassten Bedeutung: 1Kor 6,7.8;<br />

2Kor 7,2.12(2x); Gal 4,12; Phlm 18.<br />

23<br />

S. Röm 4,7; 6,19(2x); 2Kor 6,14. Vgl. noch 1Kor 9,21 (ἄνοµος) und Röm 2,12 (ἀνόµως).<br />

24<br />

S. Röm 1,18; 11,26; vgl. Röm 4,5; 5,6 (ἀσεβής).<br />

25<br />

S. Röm 1,29; 1Kor 5,8; 14,20; vgl. Röm 1,30; 2,9; 3,8; 7,19.21; 12,17(2x).21(2x); 13,10;<br />

14,20; 16,19; 1Kor 10,6; 13,5; 15,33; 2Kor 5,10; 13,7; Phil 3,2; 1Thess 5,15(2x); ferner<br />

Röm 9,11; 13,3.4 (κακός).<br />

26<br />

S. Röm 2,23; 4,15; 5,14; Gal 3,19; vgl. Röm 2,25.27; Gal 2,18 (παραβάτης).<br />

27<br />

S. Röm 4,25; 5,15(2x).16.17.18.20; 11,11.12; 2Kor 5,19; ferner Gal 6,1 (Fehltritt eines<br />

Christen).<br />

28<br />

S. Röm 1,29; 1Kor 5,8; vgl. Röm 12,9; 1Kor 5,13; Gal 1,4; 1Thess 5,22 (πονηρός).<br />

29<br />

Zum (doppelten) σάρξ-Begriff bei Paulus vgl. <strong>Rehfeld</strong>, Ontologie, 135---143.<br />

30<br />

Aus der Fülle dieser Begriffe seien hier nur die dezidiert das Gottesverhältnis betreffenden<br />

Verfehlungen genannt: κατέχειν/µεταλλάσσειν τὴν ἀλήθειαν (τοῦ θεοῦ) (Röm 1,18.25);<br />

Undank und fehlende (gottesdienstliche) Ehrerbietung gegen Gott (Röm 1,21.23.25; vgl.<br />

V. 28.32a); θεοστυγής (Röm 1,30); εἰδωλολάτρης (1Kor 5,10.11; 6,9; 10,7; vgl. 1Kor 10,4;<br />

Gal 5,20). Auch die πορνεία als widergöttlich-dämonische Macht gehört hierher (vgl. dazu<br />

<strong>Rehfeld</strong>, Ontologie, 86.105---108).<br />

31<br />

Mit Röhser, Metaphorik, 10.<br />

32<br />

Umbach, Sünde, 56 (Hervorhebung getilgt), im Anschluss an Brandenburger, Das Böse,<br />

57f. u. ö.


3 Terminologische Annäherungen an den markinischen Sündenbegriff 233<br />

Von den soeben genannten »paulinischen« Lexemen 33<br />

verwendet das Markusevangelium<br />

in semantisch vergleichbarer Weise die folgenden: ἀπιστία (6,6;<br />

9,24; vgl. ἄπιστος 9,19), 34 ἀσύνετος (7,18), ἐχθρός (12,36 = Ψ 109,1), κακός (7,21;<br />

vgl. 15,14 und κακοποιεῖν 3,4), παράπτωµα (11,25; wie ἁµαρτία nur im Plural), πονηρία<br />

(7,22; vgl. πονηρός 7,22.23), die im Gegensatz zum πνεῦµα »schwache« σάρξ<br />

(14,38) sowie eine Reihe weiterer namentlich genannter Laster wie ἀσέλγεια<br />

(7,22; vgl. Gal 5,19; Röm 13,13; 2Kor 12,21), ἀφροσύνη (7,22), βλασφηµία (3,28;<br />

7,22; 14,64; vgl. 2,7), δόλος (7,22; 14,1; vgl. Röm 1,29), κλοπή (7,21), µοιχεία<br />

(7,22), πορνεία (7,21), ὑπερηφανία (7,22; vgl. ὑπερήφανος Röm 1,30), φόνος (7,21;<br />

vgl. Röm 1,29; Gal 5,21).<br />

Diese Übersicht bietet nicht nur materiale Präzisierungen des markinischen<br />

Sündenverständnisses, sie identifiziert zugleich jenen Abschnitt des Markusevangeliums,<br />

der --- bei aller Zurückhaltung --- am ehesten als Ansatzpunkt für<br />

eine Art markinische »Hamartiologie« in Frage kommt, nämlich Mk 7,1---23 (bes.<br />

V. 14---23). Die sich unmittelbar daran anschließenden Erzählungen (7,24ff.31ff.;<br />

8,1ff.) illustrieren dann narrativ, was Jesus in der Auseinandersetzung mit den<br />

Pharisäern und einigen Schriftgelehrten ἀπὸ Ἱεροσολύµων (7,1; vgl. 3,22) hinsichtlich<br />

kultischer (Un-)Reinheit lehrmäßig vertreten hat. 35<br />

---------------------------------------<br />

33<br />

Beide Aufzählungen sind natürlich nicht abschließend, aber doch jeweils repräsentativ.<br />

34<br />

Die Begriffe ὀλιγοπιστία/ὀλιγόπιστος (Mt 6,30; 8,26; 14,31; 16,8; 17,20; Lk 12,28) und<br />

das Logion vom Glauben ὡς κόκκος σινάπεως (Mt 17,20) fehlen im Markusevangelium. Vgl.<br />

in der Sache aber Mk 11,22---24.<br />

35<br />

Vgl. Pesch, Mk I, 367.384f.


<strong>Emmanuel</strong> L. <strong>Rehfeld</strong>, Dr. phil., Jahrgang 1980, studierte Evangelische<br />

Theologie in Tübingen und Heidelberg und war von 2006<br />

bis 2020 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Dortmund<br />

sowie Lehrstuhlvertreter an den Universitäten Dortmund (2017)<br />

und Lüneburg (2017 bis 2018). Seit 2020 ist er Privatdozent für<br />

Neues Testament an der TU Dortmund und seit 2021 Pastor der<br />

Landeskirchlichen Gemeinschaft in Zeitz.<br />

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

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Satz: <strong>Emmanuel</strong> L. <strong>Rehfeld</strong>, Zeitz<br />

Druck und Binden: BELTZ Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza<br />

ISBN 978-3-374-07561-4 // eISBN (PDF) 978-3-374-07562-1<br />

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