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Emmanuel L. Rehfeld: Sündlos solidarisch (Leseprobe)

Die Frage, wer Jesus ist, beantwortet das Markusevangelium nicht diskursiv, sondern narrativ: Während es mit den komplementären Bezeichnungen »Gottessohn« und »Menschensohn« auf Jesu wahren Ursprung und auf seinen Auftrag verweist, schildert es sein geschichtliches Auftreten als die verborgene Epiphanie des präexistenten Gottessohns. Indem der Evangelist das irdische Dasein Jesu in die göttliche »Metahistorie« einzeichnet, bezeugt er ein realistisches, nicht-doketisches Verständnis des Menschseins Jesu, das zugleich die ontische Differenz zwischen seinem Menschsein und dem Menschsein derer offenlegt, für die zu sterben er kam. Eine eingehende Untersuchung der markinischen Jesusdarstellung ergibt, dass diese soteriologisch fundamentale Differenz in der These von Jesu Sündlosigkeit gipfelt.

Die Frage, wer Jesus ist, beantwortet das Markusevangelium nicht diskursiv, sondern narrativ: Während es mit den komplementären Bezeichnungen »Gottessohn« und »Menschensohn« auf Jesu wahren Ursprung und auf seinen Auftrag verweist, schildert es sein geschichtliches Auftreten als die verborgene Epiphanie des präexistenten Gottessohns. Indem der Evangelist das irdische Dasein Jesu in die göttliche »Metahistorie« einzeichnet, bezeugt er ein realistisches, nicht-doketisches Verständnis des Menschseins Jesu, das zugleich die ontische Differenz zwischen seinem Menschsein und dem Menschsein derer offenlegt, für die zu sterben er kam. Eine eingehende Untersuchung der markinischen Jesusdarstellung ergibt, dass diese soteriologisch fundamentale Differenz in der These von Jesu Sündlosigkeit gipfelt.

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1 Die Leitfrage: Wer ist Jesus? 113<br />

sowenig mit dem Hinweis auf Ps 2,7b oder Jes 42,1 beantwortet werden, wie sich das<br />

markinische Verständnis von υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου einfach an Dan 7,13f. entscheidet. 12<br />

Ob nun die Adressaten des Markusevangeliums bereits wissen, wer Jesus in<br />

Wahrheit ist, oder nicht --- jedenfalls sind es »die Personen der Handlung«, die so<br />

fragen: »Der christologische Erkenntnisprozeß der Jünger findet vor den Lesern<br />

statt, die ihn als Wissende miterleben.« 13 Dabei ist es allerdings der Evangelist<br />

selbst, der für das »Leserwissen« sorgt. 14 Schon mit den ersten Versen macht er<br />

deutlich, wer Jesus für ihn ist. Was der Prolog in nuce skizziert, entfaltet und<br />

präzisiert dann das Korpus des Evangeliums. Zum sachlichen Verhältnis des<br />

Prologs zum Korpus bemerkt C. Focant treffend:<br />

»En un certain sens, l’essentiel est connu. Mais en un autre sens, le lecteur ne sait<br />

pas encore grand-chose. Car il y a messie et messie. Et puis, que signifie être Fils de<br />

Dieu et baptiser dans l’Esprit saint? Ce sont les actions et façons de parler de Jésus<br />

dans le récit à suivre qui vont révéler comment comprendre ces notions qui, pour le<br />

moment, restent énigmatiques. Et, comme les disciples dans le récit, le lecteur qui<br />

découvre l’évangile de Marc pour la première fois ira de surprise en surprise.« 15<br />

---------------------------------------<br />

erfassen« (a. a. O., 6). Vgl. dazu die ausgewogenen methodischen Hinweise bei Steck,<br />

Exegese, 141f.146. Dagegen betont Schnelle, Einführung, 145, über Gebühr das Kriterium<br />

der Analogie und spricht nur von Motiven »mit relativ feststehender Bedeutung, auf<br />

die ein Autor zurückgreifen kann, um einen bestimmten Sachverhalt auszudrücken.«<br />

12<br />

Entgegen dem unhinterfragten Konsens vieler Ausleger (s. nur Hahn, Hoheitstitel, 340---<br />

346; Pesch, Mk I, 91---94; Dschulnigg, Mk, 67f.; Eckey, Mk, 76---78; Yarbro Collins, Mk,<br />

150f.; Strauss, Mk, 72f.; aus dogmatischen Gründen zurückhaltender z. B. Lohmeyer,<br />

Mk, 23f.; Bayer, Mk, 116; vgl. noch Hooker, Mk, 47f.; Stein, Mk, 58f.) betont Schenke,<br />

Präexistenzchristologie, 54: »Weder Ps 2,7 noch Jes 42,1 können als bestimmender<br />

Grundtext von 1,11 ausgemacht werden.« Zu den Problemen einer geradlinigen Herleitung<br />

vgl. auch Wypadlo, Verklärung, 71f. m. Anm. 259. Gleiches gilt für eine mögliche<br />

Rezeption von Dan 7,13f. in Mk 13,26f.; 14,62 (s. u. S. 172.184f.189---192).<br />

13<br />

Schenke, Präexistenzchristologie, 48 (beide Zitate).<br />

14<br />

Gegen Schenke, Präexistenzchristologie, 47, der meint, »daß die Leser von einem christologischen<br />

Wissen über Jesus herkommen, wie sie auch um seine Auferstehung/Erhöhung<br />

bereits wissen. Längst erwarten sie den erhöhten ›Menschensohn‹ dringlichst zur<br />

Parusie und müssen das nicht erst durch das Werk des Evangelisten lernen. Ebensowenig<br />

müssen sie durch das Buch erst noch eine Christologie erwerben, sondern haben sie<br />

schon.« Schenke selbst konterkariert seine eigene These allerdings, wenn er wenig später<br />

notiert, es gehe »dem Evangelisten darum […], seine Leser am Beispiel des Lebensweges<br />

Jesu zur glaubenden Einsicht zu führen, daß Gott durch den Tod hindurch rettet« (a. a. O.,<br />

48f.). Was für ein nennenswertes »christologisches Wissen« hätten die Leser denn gehabt,<br />

wenn der Evangelist sie erst zu dieser fundamentalen Einsicht »führen« muss?<br />

15<br />

Focant, Marc, 14f. Ganz ähnlich Klauck, Vorspiel, 45f., der a. a. O., 112, grundsätzlich<br />

zu bedenken gibt, dass »bei aller Bedeutung des ›primary effects‹ […] auch der ›retinency

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