Ärzt*in für Wien 2024/03
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AM PULS COVERSTORY<br />
Exkurs Primärversorgung<br />
Von Gemeinden zum Weltklima<br />
Lange Öffnungszeiten, mehr Personal und fachliche Disziplinen: Primärversorgungseinheiten<br />
wollen der Bevölkerung einen niederschwelligen Zugang bieten und damit auch vulnerable Gruppen<br />
erreichen. Als erste Anlaufstelle in gesundheitlichen Fragen sind PVE zudem ein guter Ansatzpunkt<br />
<strong>für</strong> Prävention. Rund 170 Projekte mit PVE-Bezug sollen in Österreich als Teil des österreichischen<br />
EU-Aufbauplans bis 2026 zumindest in Pilotphasen umgesetzt werden. 100 Millionen<br />
Euro wurden da<strong>für</strong> lukriert. Dabei wird Gesundheit in der PVE breit gedacht: Von Community<br />
Nurses in örtlichen Gemeinden hin zum Weltklima. Ein Überblick.<br />
Von Claudia Tschabuschnig<br />
► International betrachtet ist der Ausbau<br />
der Primärversorgung weit fortgeschritten.<br />
Hier nimmt vor allem das Pflegepersonal<br />
seit vielen Jahren eine bedeutende<br />
Rolle ein. Die Integration vom Pflegesystem<br />
in das Gesundheitssystem soll Hospitalisierung<br />
und vermehrte Kosten vermeiden.<br />
In Österreich steckt das Konzept der Community<br />
Nurses, also Pflegepersonal, das als<br />
zentrale Anlaufstelle in Pflegefragen und im<br />
Präventionsbereich agiert, noch in den Kinderschuhen.<br />
In PVE arbeitet zwar bereits jetzt<br />
das Pflegepersonal mit anderen Berufsgruppen<br />
zusammen, es handelt sich dabei aber um<br />
Diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerinnen<br />
und -pfleger (DGKP), die von Community<br />
Nurses abweichen.<br />
Agieren als Gatekeeper<br />
Community Nurses agieren vor allem im Bereich<br />
Public Health. Auf Gemeindeebene suchen<br />
Community Health Nurses nach allen<br />
gesundheitsschädlichen und -förderlichen<br />
Aspekten, die die Gesundheit einer Bevölkerung<br />
in einer Gemeinde betreffen können.<br />
Sie organisieren ein Netz mit allen relevanten<br />
Berufsgruppen und leisten durch kontinuierliches<br />
Zusammenarbeiten Beziehungsarbeit.<br />
Da Community Nurses einen niederschwelligen<br />
Zugang haben, können sie Vertrauen zu<br />
allen Personen aus der Gemeinde aufbauen<br />
und spezifische Versorgungsleistungen anbieten<br />
und vermitteln. Sie agieren als Gatekeeper<br />
und weil sie individuell Patientinnen<br />
und Patienten betreuen, können sie auch bei<br />
systemrelevanten Gesundheitsgefährdungen<br />
mit allen Verantwortlichen im Gesundheitsbereich<br />
Interventionen setzen.<br />
Ein anderer Ansatzpunkt der Public Health<br />
ist die sogenannte Planetary Health, die<br />
immer mehr an Bedeutung gewinnt. Nicht<br />
zuletzt, weil klimaassoziierte Erkrankungen<br />
künftig noch stärker Teil der Primärversorgung<br />
sein werden. Die renommierte<br />
Lancet-Studie zu Gesundheit und Klima,<br />
die mittels 44 Indikatoren weltweit die Veränderungen<br />
der Gesundheit untersucht,<br />
erklärte 2021 den Klimawandel zur größten<br />
Bedrohung <strong>für</strong> die Gesundheit im 21. Jahrhundert.<br />
Gesundheitliche Folgen des Klimas<br />
Konzept der Primärversorgung<br />
Fest steht: Das Klima wirkt sich über direkte<br />
und indirekte Mechanismen auf die menschliche<br />
Gesundheit und damit auf die Ausbreitung<br />
übertragbarer und nicht-übertragbarer<br />
Erkrankungen aus, aber auch auf psychische<br />
Erkrankungen. Das betrifft nicht nur Extremwetterereignisse<br />
oder damit einhergehende<br />
Katastrophenfälle, sondern auch medizinische<br />
Folgen, die schließlich in der ärztlichen<br />
Praxis ankommen.<br />
So sehen Kinderärztinnen und Kinderärzte<br />
zunehmend Erkrankungen wie Asthma und<br />
Neurodermitis, die in Zusammenhang mit<br />
erhöhten Konzentrationen von Luftschadstoffen<br />
oder Pollen sowie außergewöhnlich<br />
hoher UV-Strahlung stehen. Das Gesundheitswesen<br />
sei kaum auf diese neuen Belastungen<br />
vorbereitet, so das Attest von Lancet.<br />
Expertinnen und Experten empfehlen neben<br />
Hitzeschutzplänen vor allem eine Reduktion<br />
des CO 2<br />
-Ausstoßes im Gesundheitswesen.<br />
Klimawandel und Gesundheit soll auch Thema<br />
in der Aus- und Fortbildung von Medizinerinnen<br />
und Medizinern sein.<br />
Das Konzept von Primärversorgungseinheiten<br />
(PVE) wurde stark von der<br />
Alma-Ata-Erklärung aus dem Jahr 1978<br />
beeinflusst, einer Erklärung der Weltgesundheitsorganisation<br />
und der UNICEF, in<br />
der die primäre Gesundheitsversorgung als<br />
Schlüssel gesehen wird, um Gesundheit<br />
„<strong>für</strong> alle“ zu erreichen. Die flächendeckende<br />
Gesundheitsversorgung ist eines der Ziele<br />
der Vereinten Nationen <strong>für</strong> nachhaltige<br />
Entwicklung bis 2<strong>03</strong>0. Damit ist gemeint,<br />
dass alle Menschen, die Gesundheitsversorgung<br />
benötigen, diese auch erhalten ohne<br />
finanzielle Not erleiden zu müssen.<br />
Generell sind vulnerable Gruppen, die ein<br />
komplexes Krankheitsbild aufweisen, die<br />
Hauptklientel der Primärversorgung. Dazu<br />
zählen vor allem chronisch Kranke und ältere<br />
Personen. Auch werden Richtlinien erarbeitet,<br />
die sich speziell an den Umgang mit von<br />
Armut Betroffenen richten und <strong>für</strong> die damit<br />
verbundene Scham sensibilisieren sollen.<br />
Projekte zu Audio- und Videodolmetsch<br />
sollen wiederum sprachliche und kulturelle<br />
Barrieren reduzieren. Darüber hinaus<br />
hat etwa jede fünfte Konsultation in der<br />
Primärversorgung einen nichtmedizinischen<br />
Hintergrund. Bei psychischen Erkrankungen<br />
oder Einsamkeit würden Konzepte wie Social<br />
Prescribing ins Spiel kommen, bei dem Patientinnen<br />
und Patienten sozialen Aktivitäten<br />
verschrieben werden (siehe <strong>Ärzt*in</strong> <strong>für</strong> <strong>Wien</strong><br />
02/<strong>2024</strong>). Die Idee dahinter ist, dass man<br />
den Menschen im Sinne des bio-psychosozialen<br />
Modells immer aus drei Richtungen,<br />
also der medizinischen, psychischen und<br />
sozialen Richtung, also in seiner Gesamtheit,<br />
sehen sollte.<br />
20 <strong>Ärzt*in</strong> <strong>für</strong> <strong>Wien</strong> <strong>03</strong>_<strong>2024</strong>