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Ärzt*in für Wien 2024/03

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SERVICE ÄRZTINNEN UND ÄRZTE WELTWEIT<br />

Primärversorgung<br />

Großbritanniens Gatekeeper<br />

Die Primärversorgung spielt seit jeher eine Schlüsselrolle im britischen Gesundheitssystem:<br />

Von ihrer Bewerbung in Flugblättern, die in den 40er-Jahren in britische Haushalte flatterten, bis zur<br />

Einrichtung von Primary Health Care Center (PHC) war das System von Anfang an auf die Versorgung<br />

von Gemeinden im gesamten Vereinigten Königreich ausgerichtet. Es war eines der ersten Länder der<br />

Welt, das ein System der Einbindung von Hausärztinnen und Hausärzten in die Primärversorgung<br />

einführte und diese so zu Gatekeepern <strong>für</strong> die sekundäre Versorgung machte. Doch finanzielle<br />

Engpässe, Personalmangel und steigende Nachfrage beuteln das System. Duncan Shrewsbury,<br />

Allgemeinmediziner aus Brighton, gibt Einblicke.<br />

Von Claudia Tschabuschnig<br />

► <strong>Ärzt*in</strong> <strong>für</strong> <strong>Wien</strong>: Herr Dr.<br />

Shrewsbury, wie war die Situation<br />

im britischen Gesundheitswesen vor der<br />

Einführung der Primärversorgung im<br />

staatlichen System – und wie danach?<br />

Shrewsbury: Als der Nationale Gesundheitsdienst<br />

(National Health Service<br />

– NHS), das öffentliche, staatliche<br />

Gesundheitssystem, in den späten<br />

1940er Jahren ins Leben gerufen wurde,<br />

befand sich die Allgemeinmedizin<br />

in England in einem desolaten<br />

Zustand: Überlastet, mangelhaft und<br />

unterfinanziert. Als Sinnbild <strong>für</strong> diese<br />

Krise dient der Collings-Bericht, der<br />

aus der Feder des australischen Arztes<br />

Joseph Collings stammt. Er besuchte<br />

das Vereinigte Königreich zu dieser<br />

Zeit. Collings’ Bericht gilt als erstes umfassendes<br />

Attest über die Qualität der<br />

hausärztlichen Versorgung – und fiel<br />

vernichtend aus. Collings schrieb über<br />

schlechte Versorgung und mangelhaften<br />

Arbeitsbedingungen, nannte das<br />

System einen „Anachronismus“ und<br />

pochte auf eine Reihe von Reformen.<br />

Freilich gab es bereits Jahrzehnte vor<br />

Gründung des NHS ein System der<br />

Primärversorgung. Damals in Form<br />

von Ärztinnen und Ärzten im Gesundheitswesen,<br />

Hausärztinnen und Hausärzten<br />

und Allgemeinmedizinerinnen<br />

und Allgemeinmedizinern, doch wurde<br />

die Rolle des Hausarztes als Kernpunkt<br />

des NHS angesehen, als dieser am 5.<br />

Juli 1948 gegründet wurde. „Die Regelungen<br />

<strong>für</strong> die Allgemeinmedizin sind<br />

der wichtigste Teil der Vorschläge <strong>für</strong><br />

den neuen nationalen Gesundheitsdienst“,<br />

hieß es in Flugblättern, die in<br />

„In Großbritannien<br />

besteht kein<br />

direkter<br />

Zugang zu<br />

Krankenhausleistungen<br />

– mit Ausnahme<br />

von<br />

Notfällen.“<br />

Duncan Shrewsbury:<br />

„Eine freie<br />

Arztwahl in der<br />

hausärztlichen<br />

Versorgung ist<br />

nicht ohne weiteres<br />

möglich.“<br />

ganz England verschickt wurden<br />

und den NHS bewarben.<br />

Später kamen die Primärversorgungszentren,<br />

die sich aus kleinen<br />

Organisationen zu mittleren und<br />

großen Arztpraxen entwickelt haben.<br />

Wir haben im Vereinigten<br />

Königreich einen bunten Mix von<br />

traditionellen kleinen Einzelpraxen,<br />

die in umgestalteten Wohnhäusern<br />

praktizieren, bis hin zu<br />

großen Gesundheitszentren.<br />

<strong>Ärzt*in</strong> <strong>für</strong> <strong>Wien</strong>: Was war der<br />

Anstoß, die Primärversorgungseinheiten<br />

ins Gesundheitssystem<br />

zu implementieren und wurde dieses<br />

Bedürfnis erfüllt?<br />

Shrewsbury: Es gab einen<br />

starken Bedarf nach einer Verbesserung<br />

der Gesundheit der<br />

Bevölkerung, etwa durch Gesundheitsförderung,<br />

die Erkennung<br />

und Behandlung chronischer<br />

Krankheiten sowie die<br />

Behandlung von Krankheiten,<br />

bevor diese so schwerwiegend<br />

werden, dass sie nur im Krankenhausaufenthalt<br />

behandelt werden<br />

können. In Großbritannien besteht kein<br />

direkter Zugang zu Krankenhausleistungen<br />

– mit Ausnahme von Notfällen.<br />

Hausärztinnen und Hausärzte fungieren<br />

als Gatekeeper der Patientinnen<br />

und Patienten und steuern sie auf dem<br />

Behandlungsweg durch den NHS. Das<br />

bedeutet, dass eine kleinere Anzahl von<br />

Ärztinnen und Ärzten im Krankenhaus<br />

sinnvoller und bedarfsgerechter eingesetzt<br />

werden.<br />

Archivbild des Flugblattes des NHS 1948.<br />

<strong>Ärzt*in</strong> <strong>für</strong> <strong>Wien</strong>: Wie wird die Allgemeinmedizin<br />

von der Politik gesehen?<br />

Steht sie auf der Agenda und wird sie<br />

ausreichend - auch finanziell - gefördert?<br />

Wie wird dieser Sektor in der Bevölkerung<br />

wahrgenommen?<br />

Shrewsbury: Allgemeinmedizinerinnen<br />

und -mediziner sowie die Allgemeinmedizin<br />

im Vereinigten Königreich<br />

sind ein „heißes Eisen“. Politik<br />

und Medien stellen unsere Berufsgruppe<br />

häufig als Sündenbock dar, was un-<br />

Fotos: Privat<br />

28 <strong>Ärzt*in</strong> <strong>für</strong> <strong>Wien</strong> <strong>03</strong>_<strong>2024</strong>

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