HeideTOUR | Frühjahr 2024
HeideTOUR | Frühjahr 2024 Das Magazin für Fahrrad & Tourismus in der Dübener Heide und Umgebung
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Das Magazin für Fahrrad & Tourismus in der Dübener Heide und Umgebung
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Händlerporträt<br />
REISE IN EINE ANDERE ZEIT<br />
IRENE FAHRRADHAUS<br />
Fotos: K. Phillipp<br />
Marco Tennerts Reich ist gleichbedeutend<br />
mit einer Reise in die Vergangenheit.<br />
Das kann man nicht nur sehen, sondern<br />
auch riechen und vor allem spüren.<br />
„Das hier ist deutschlandweit in dieser<br />
Form einmalig. Zumindest ist mir nichts<br />
dergleichen bekannt“, sagt der 34-Jährige.<br />
An Glaubwürdigkeit mangelt es<br />
mit Betreten des altehrwürdigen Lokals<br />
nicht. Das Irene Fahrradhaus in der Bitterfelder<br />
Innenstadt ist längst mehr als<br />
ein Radladen oder eine Werkstatt. Das<br />
Baudenkmal ist eine Art Museum. Bis<br />
zu diesem offiziellen Status ist es zwar<br />
noch ein langer Weg, aber Tennert ist<br />
noch jung. Blut hat er bereits im Jugendalter<br />
geleckt. Seit 2022 macht er sich das<br />
Fahrradhaus zur Lebensaufgabe. Ob es<br />
dafür etwas Verrücktheit braucht? „Ja, du<br />
kannst ruhig sagen, dass ich eine Macke<br />
habe“, grinst der Bitterfelder, der haupt-<br />
beruflich als Maschinenbau-Ingenieur<br />
für einen großen im Ort ansässigen Konzern<br />
tätig ist.<br />
Die Geschichte des Irene Fahrradhauses<br />
begann im Jahr 1906 – in Berlin. Die<br />
Geschäftsleute Karl Max Schneider und<br />
Richard Döke gründeten damals ein<br />
Fahrradwerk. Als die Industrialisierung<br />
im mitteldeutschen Gebiet voranschritt,<br />
zog es Schneider im Jahr 1913 nach Bitterfeld,<br />
wo er mit dem Irene Fahrradwerk<br />
startete und fortan zügeweise in Richtung<br />
Hauptstadt verkaufte. Bis Mitte der<br />
1920er Jahre wurden eigene Drahtesel<br />
hergestellt, dann folgte die Umstellung<br />
auf Konfektionsräder. Das Gebäude, die<br />
alte Feldschmiede sowie die Werkstatt<br />
sind heute noch immer die gleichen und<br />
auch nahezu im Originalzustand.<br />
Schneider schuftete bis zu seinem Tod,<br />
dann übernahm Sohn Kurt Max, wiederum<br />
über 50 Jahre lang – zu DDR-Zeiten<br />
unter dem Deckmantel und nach der<br />
Wende durch die bürokratischen Hürden<br />
hindurch – bis zu seinem Tod. Gleiches<br />
Schicksal ereilte dessen Sohn Dieter Max.<br />
Über Letzteren kam Marco Tennert in<br />
Kontakt. „Ich habe seit frühester Kindheit<br />
an Fahrrädern geschraubt, mit 16,<br />
17 dann auch an alten und historischen.<br />
Hier führte mich irgendwann der Weg<br />
zu ‚Fahrrad-Schneider‘“, erzählt er. Ein<br />
Schlüsselerlebnis. Sein Dynamo war kaputt.<br />
Der junge Tennert kam mit Dieter<br />
Schneider ins Gespräch. „Ganz nebenbei<br />
demontierte er mein Rad. Einer der alten<br />
Kohlestifte war hinüber. Als ich dachte,<br />
dass es das jetzt war, zog er eine seiner<br />
Schubladen auf und holte einen Kohlestift<br />
aus den 1920er Jahren hervor. Das<br />
hat mich umgehauen“, erinnert sich Tennert.<br />
Beide blieben in Kontakt. Tennert bot<br />
später seine Hilfe im Laden an. Dafür<br />
sollte Schneider ihm das alte Handwerk<br />
beibringen. Die Win-Win-Situation<br />
wurde im Jahr 2021 abrupt unterbrochen.<br />
Noch bevor man sich konkrete<br />
Gedanken um eine Nachfolge machen<br />
konnte, verstarb Dieter Schneider. Was<br />
nun? Marco Tennert nahm allen Mut<br />
zusammen und einigte sich mit beiden<br />
Schneider-Söhnen über den Verkauf des<br />
Ladens. Seit Februar 2022 ist er nun Mieter<br />
im Erdgeschoss des alten Wohnhauses<br />
und erweckt das „Irene“ stückweise<br />
wieder zum Leben. Hinter Tennert liegen<br />
herausfordernde Monate, in denen<br />
er mit Freunden so etwas wie Ordnung<br />
in die Räumlichkeiten brachte – stets mit<br />
Blick auf die Erhaltung des Charmes.<br />
Einmal in der Woche, freitags zwischen<br />
18<br />
Im Laden klimpert noch die originale Kasse<br />
von annodazumal.<br />
Als wäre die Zeit stehen geblieben: Die<br />
Schubfächer sind noch immer gefüllt.<br />
Dieses Fahrrad wurde in Bitterfeld hergestellt.<br />
Den Beweis gibt‘s per Typenschild.