100_Jahre_Südtirol
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Hans Karl Peterlini
100 Jahre Südtirol
Geschichte eines jungen Landes
Inhalt
Titel 2
Vorwort 4
Erben des Krieges 8
Wie Südtirol entstand 20
Rote Soße und bittere Zeiten 30
Im Griff der Diktatur 39
Zwischen den Ideologien 62
Heim ins Reich des Nichts 73
„Befreiung“ als Trauma 86
Ein schwankender Neuanfang 106
Hoffnung Selbstbestimmung 115
Pokerpartie um die „Provinz“ 127
Aufbruchsstimmung und „Todesmarsch“ 140
Wende in der Volkspartei 150
Glanz und Schatten von Sigmundskron 160
Ein Land brennt 170
Von der Feuernacht zum Mailänder Prozess 189
Verhandlungen im Kugelhagel 201
Brüche und Aufbrüche 213
Die neue Leichtigkeit des Südtiroler-Seins 228
Lehrjahre der Autonomie 238
Ein Tirol mit zwei Gesichtern 251
Vom Wechsel der Zeiten 260
Die Erntezeit der Autonomie 272
Grenzen eines Traumes 285
Dank 300
Literaturhinweise 302
Bildnachweis 308
Hans Karl Peterlini 310
Zum Autor 311
Impressum 312
Weitere E-Books aus dem Haymon Verlag 313
Vorwort
Hundert Jahre auf und ab
Wann beginnt die Geschichte eines Landes? Wie und woran machen
wir sie fest? An den offiziellen Gründungsakten in demokratischen
Zeiten? Am Emporkommen einer Dynastie? An Landkauf oder
Landraub? Oder, was wohl das Sinnvollste wäre, an der Herausbildung
einer Gemeinschaft? So könnte die Geschichte Südtirols,
dieses an die Südseite der Alpen geduckten Herrgottswinkels, vor
vielen tausend Jahren beginnen oder 1248 mit Albert III., der aber
nicht der erste, sondern genau genommen der letzte Graf von Tirol
war, obwohl mit seinem Landgewinn durch geschickte Verheiratung
seiner Töchter häufig die Geburt Tirols verknüpft wird,
Tirols wohlgemerkt, denn die Entstehung Südtirols ist wieder ein
Stück weit komplizierter. Das Gebiet, das heute Südtirol oder – verwaltungssprachlich
– die Autonome Provinz Bozen ausmacht, ist
ebenso wie andere Gebiete in seiner politischen Abgrenzung ein
Kind von Zufall, Zusammenstößen, Zusammenführungen, schließlich
von Zerreißung; ein Stück dieses Landes oder auch das ganze
könnte, bei anderem Ausgang der einen oder anderen Schlacht, der
einen oder anderen fürstlichen Heiratsaffäre, durchaus auch bei
der Schweiz oder bei Slowenien sein, oder ein Ausläufer Frankreichs
oder kulturell unsichtbar gemacht bei Italien oder doch
wieder bei Österreich – die Geschichte hat ihre Launen. Wenn
wir sie nachträglich nach ihrem Sinn befragen, ist es in etwa so,
wie wenn ein Ziegelstein vom Dach geworfen und hinterher eine
Logik darin gesucht wird, warum einige Teile beisammenliegen,
einige ganz geblieben sind und andere weitum in der Gegend verstreut
sind. Die Ziegelsteinkarte, die da abgebildet auf dem Boden
entsteht, ist eine Wirklichkeit, zu der es unendlich viele andere
Möglichkeiten gegeben hätte.
Historische Erzählungen, die das heutige Land Südtirol in seiner
langen Genesis von den Menschen vor Ötzi bis in die Gegenwart
begleiten, können somit bei den großen Aufbrüchen der Erde,
tektonischen Verschiebungen, beim Rückzug des Meeres und dem
4
Vordringen des Eises, bei den ersten Besiedlungen und allmählichen
Zu- und Durchwanderungen beginnen und langsam den
Faden bis in die Gegenwart verfolgen. Sie werden erst ganz spät,
in den Schlusskapiteln sozusagen, von Südtirol reden können. Bis
dahin wird allmählich von einer Kulturgemeinschaft diesseits und
jenseits des Alpenhauptkammes die Rede sein, von römischen Provinzen,
die irgendwie diesen Raum abdecken, dann von wechselnden
Grafschaften, Vogteien, kirchlichen Lehen, schließlich von
Tirol als „Gefürstete Grafschaft“. In gekonnter Spannung zwischen
wissenschaftlicher Gültigkeit und angenehm lesbarer Sprache hat
Michael Forcher für den von ihm gegründeten Haymon Verlag
diese Arbeit für Tirol schon vor vielen Jahren geleistet. Sein Klassiker
„Tirols Geschichte in Wort und Bild“ führt die vielen Einzelstudien
von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in einer
durchgehenden Erzählform zusammen, angereichert durch Forchers
eigene Forschungen und seine Liebe fürs Detail. Dieselbe
Arbeit zur weiterhin gemeinsamen Tiroler Geschichte, aber mit
einem speziellen Blick auf das Gebiet südlich des Brenners war
Forcher erst vor zwei Jahren zu leisten bereit – bis dahin wehrte
er sich dagegen, dass man eine „Geschichte Südtirols“ schreiben
könne. Der gewählte Titel „Südtirol in Geschichte und Gegenwart“
weist subtil auf dieses Dilemma hin: nicht die „Geschichte Südtirols“
wird erzählt, sondern jene Geschichte, die sich über Jahrtausende
und Jahrhunderte in diesem Gebiet hier abspielte. Mir
war Ehre und Herausforderung beschieden, in diesem Werk die
Zeit ab 1945 zu behandeln, gewissermaßen die jüngste Geschichte
des heutigen Südtirol bis in die Gegenwart.
Damals entstand die Idee zu diesem nun vorliegenden Buch,
aus dem Gefühl heraus, dass es neben dem weitgespannten Bogen
über Jahrtausende hinweg auch ein Bedürfnis für einen engeren
zeitlichen Fokus gibt – eine dichte Erzählung der jüngeren Zeit,
jener Zeit, in der Südtirol wirklich Südtirol wird, nicht mehr Teil
Tirols ist, sich auf dem Weg befindet zur Autonomen Provinz Bozen.
Auch dazu gibt es schon Vorarbeiten, gründliche Aufarbeitungen,
breiteste Schilderungen – von der umfangreichen „Chronik des
20. Jahrhunderts in Südtirol“, herausgegeben von Gottfried Solderer,
über spezifische Ausleuchtungen dramatischer Höhepunkte
5
und herausragender Persönlichkeiten der Südtiroler Geschichte
bis hin zu den vielfältigen Editionen von Rolf Steininger. Was noch
fehlt, ist eine kompakte, zusammenschauende, aber auch reflektierende
Aufarbeitung der jüngsten Geschichte, die uns bis in die
Gegenwart nachweht – als Verständnishilfe für das, was war, als
Orientierung für das, was ist, und vielleicht auch für das, was kommen
könnte. In einem Kommentar für die vom Südtiroler Landesarchiv
sorgfältig und erfrischend edierte Zeitschrift „Geschichte
und Region/Storia e regione“ hat jüngst Hans Heiss als einer der
feinfühligsten Wahrnehmer unserer jüngeren Geschichte eine solche
Gesamterzählung des neuen Südtirol vermisst und gewünscht.
Dass er mir diesen Beitrag freundschaftlich noch vor der Publikation
zukommen ließ, habe ich als unausgesprochene Aufforderung,
jedenfalls aber als Herausforderung betrachtet.
„100 Jahre Südtirol“ ist ein gleich metaphorisch anklingender
wie kalendermäßig willkürlicher Titel. Damit wären wir wieder
bei der Frage: Wann beginnt die Geschichte eines Landes?
Streng genommen kann vom heutigen Südtirol erst mit dem Ende
des Ersten Weltkrieges 1918, noch strenger genommen mit den
Annexionsprozeduren 1919/1920 die Rede sein; aber dieses Ende
eines Krieges, das für Südtirol einen Anfang darstellt, lässt sich
nicht erzählen, ohne den Krieg zu erzählen, ohne ein Zurückleuchten,
wie dieser Krieg seinen Anfang nahm, welche deutschitalienische
Nationalismen darin ausbrachen, die das lange Miteinander
von Welsch- und Deutschtirol zerstörten. Die Grenze, die
1918–1920 durch das alte Tirol gezogen wurde, zog sich – wenn
auch mit anderem Verlauf – geistig schon in den Jahrzehnten davor
mit zunehmender Schärfe durch die lange sprachgruppenübergreifende
Einheit Tirols von Borghetto südlich von Rovereto bis
Kufstein im heutigen Bundesland Tirol. So sind die „100 Jahre
Südtirol“ bewusst mit einer gewissen Unschärfe gesetzt, hundert
Jahre als eine lange Zeit, in der sich Generationen abwechselten,
die mittlerweile durch eine gemeinsame Landesgeschichte verbunden
sind – sie können mit 1914 beginnen, als der Krieg ausbricht,
mit 1915, als Südtirols Zugehörigkeit zu Italien mit dem
Geheimvertrag von London letztlich vorentschieden wird, es sei
denn, Österreich hätte den Krieg gewonnen, sie können etwas frü-
6
her, etwas später beginnen, diese hundert Jahre Landwerdung.
Sie möchten zum Ausdruck bringen: In der Zeitspanne eines langen
Menschenlebens hat sich in diesem kleinen Raum entscheidendes
verändert, und wir – die am Ende dieser hundert Jahre
leben – haben vielleicht erstmals ausreichend Distanz gewonnen,
um besonnen und nachdenklich darauf zurückzublicken. Manches
aus diesen hundert Jahren schmerzt bis in die Gegenwart,
manches ist nicht ausreichend betrauert und nicht ausreichend
eingestanden worden, an manchem wird krampfhaft festgehalten,
obwohl es der Geschichte übergeben gehört, manches ist aber
auch geheilt und geglückt, fast ein Wunder, wenn an das Schicksal
der allermeisten anderen Minderheiten in Europa nach den
zwei fürchterlichen Kriegen gedacht wird, wenn bedacht wird,
wie sich ein „Volk in Not“ aus dramatischen Umständen eine neue
Zukunft eingerichtet hat.
So sind hundert Jahre Südtirol ein wenig wie hundert Jahre
Leben, in einem kleinen Land, das durch Unglück zum Land wurde,
aber darin auch viel Glück hatte. Gewidmet den künftigen Generationen,
zu denen auch meine Kinder Julia, Nathanael, Rahel und
Ruben gehören.
Hans Karl Peterlini
Bozen, September 2012
7
Erben des Krieges
Nationalismus und Kriegstrauma an der Wiege
des neuen Südtirol – Vom Londoner Geheimvertrag
zum Ende der Donaumonarchie
Südtirol ist ein Kriegskind. So steht am Beginn der Geschichte
eines Landes, wie es sich in seiner Gegenwart begreift, eine traumatische
Erfahrung, die Zukunftsvorstellungen, Sicherheiten,
Existenzgrundlagen hinwegriss und die Menschen vor völlig veränderte
Lebensbedingungen und politische Perspektiven stellte.
„Dies ist das Ende, ein Ende mit Schrecken“, schilderte die Tageszeitung
„Der Tiroler“ am 8. November 1918 die Lage in Bozen.
Ein Anfang, der den Schrecken beenden könnte, war damals wohl
schwer zu sehen.
Das Ende des Ersten Weltkrieges bedeutete den Zusammenbruch
der Donaumonarchie, der Tirol – mit dem italienischen
Welschtirol von Salurn bis Borghetto, mit dem heutigen Südtirol,
den ladinischen Tälern im Trentino und in Belluno, dem heutigen
Nord- und Osttirol – über Jahrhunderte angehört hatte. Risse hatten
sich in dieser Einheit schon lange früher angekündigt. Waren
1809 in den legendären Freiheitskämpfen der Tiroler gegen die
napoleonischen Truppen welsche, ladinische und deutsche Schützen
noch gemeinsam für ihr Ideal von „Gott, Kaiser und Vaterland“
ausgerückt, entwickelten sich vor allem Deutsch- und Welschtirol
ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zusehends auseinander. Die
bürger lichen Revolutionen von 1848, in denen Bedürfnisse nach
mehr Freiheit vom erwachenden nationalsprachlichen Bewusstsein
beflügelt wurden, lösten in Welsch- und Deutschtirol völlig
unterschiedliche Stimmungen aus. Während etwa der Pustertaler
Kreishauptmann Johann Jakob Staffler 1848 beklagte, dass „der
böse Geist des Trotzes und der Zuchtlosigkeit“ um sich greife und
überall das „unsinnige Geschrei“ von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“
zu hören sei, versuchte eine liberale Elite in Trient die
Stimmung für den Anschluss Welschtirols an die Lombardei zu
nützen, die zwar damals auch noch österreichisch war, aber ein
8
Symbolbild einer Entzweiung: In Bozen wurde am 15. September 1889
das Denkmal an Walther von der Vogelweide auch im Sinne des erstarkenden
deutschen Nationalgedankens enthüllt; die Errichtung des Dante-Denkmals
in Trient wurde umgekehrt in Deutschtirol als Provokation empfunden.
nationalsprachlich homogenes und wirtschaftlich starkes Gebiet
darstellte. Als die Truppen um Giuseppe Garibaldi, beseelt vom
nationalen Gedanken einer italienischen Einheit, gegen die österreichischen
Grenzen vordrangen, marschierten Deutschtiroler Studenten
und Schützen Schulter an Schulter an die Südfront, obwohl
die Studenten vom nationalfreiheitlichen (allerdings deutschen)
Geist durchaus inspiriert und begeistert waren, während die Schützen
treu zum Kaiser standen.
In Welschtirol war die Lage weniger eindeutig. Breite Bevölkerungskreise
identifizierten sich noch mit der Monarchie, aber intellektuelle
und auch aufgeschlossene kirchliche Kreise orientierten
sich zunehmend an Italien. Verhärtungen, Unfrieden, sich aufschaukelnde
Nationalismen auch innerhalb des alten Tirol waren Vorboten
des späteren Auseinanderbrechens: Welschtirol begehrte nach
mehr Autonomie und einem Aufschwung aus seinem Hinterland-
Dasein am Rande der Monarchie, maßgebliche und zunehmend
nationalistische Kräfte in Deutschtirol stellten sich dagegen. Die
Hundertjahrfeiern 1909 im Gedenken an 1809 standen im Zeichen
9
Die verregnete Enthüllungsfeier für das Dante-Denkmal in Trient am
11. Oktober 1896.
einer deutschpatriotischen Mobilisierung und eines inneren Ab -
rückens Welschtirols von der Monarchie. Der Krieg warf zu diesem
Zeitpunkt schon seine Schatten voraus.
Die Schüsse von Sarajewo, mit denen der österreichische Thronfolger
Franz Ferdinand erschossen wurde, trafen mitten in ein Pulverfass,
sie entfesselten die nur mühsam mit Allianzen, Angriffsund
Nichtangriffspakten zurückgehaltene Kriegsbereitschaft. Die
Kriegserklärung Österreichs an Serbien vom 28. Juli 1914 ist auch
im Lichte der Machtkämpfe zwischen Deutschland-Österreich
auf der einen, Russland-Frankreich und Großbritannien auf der
anderen Seite zu sehen. Nur so konnte sie jene Kettenreaktion
aus lösen, an deren Ende Europa in einem bis dahin beispiellosen
Krieg stand. Für Tirol eine besondere Rolle spielte das schwierige
Verhältnis Österreichs zu Italien, das erst 1861 aus dem Königreich
Sardinien-Piemont hervorgegangen war und seine junge nationale
Identität gerade an den Unabhängigkeitskriegen um die von Österreich
beherrschten oberitalienischen Gebiete aufgerichtet hatte,
besonders durch die Eroberung von Piemont 1858 und Mailand
1859 als wichtigste Schritte zur Einigung Italiens. Ein früher Aufstand
gegen Österreich war schon 1848 geglückt, aber noch von
10
Mit dem Kriegseintritt Italiens rückten Tirols Außengrenzen mit einem
Schlag an die Frontlinie, ein erbitterter Gebirgskrieg begann.
kurzer Dauer gewesen. Der aus Mailand vertriebene Feldmarschall
Radetzky holte sich das Gebiet nach drei Monaten wieder zurück.
1866 konnte Österreich Venetien und Friaul zwar noch verteidigen,
musste beide Gebiete aber wegen seiner Niederlage gegen Preußen
abtreten, das mit Italien verbündet war. 1870 eroberte Italien
auch Rom und drängte den Kirchenstaat zurück, die italienische
Einigung war nahezu vollendet – bis auf die zwei letzten „unerlösten“
Gebiete von Trient und Triest, der „terra irredenta“.
Der italienische Irredentismus trachtete allerdings zunehmend
nicht nur nach dem italienischen Teil Tirols, dem damaligen „Südtirol“
und heutigen Trentino, sondern nach dem gesamten Gebiet
südlich des Brenners, also einschließlich des südlichen Deutschtirol.
Daran änderte auch eine eher strategische Aussöhnung in
der österreichisch-italienischen „Erbfeindschaft“ (Claus Gatterer)
nichts, als das Königreich Italien 1882 in den Dreibund mit Österreich
und Deutschland eintrat. Die formale Aussöhnung blieb ein
von der Bevölkerung wenig gefühlter und daher leicht zu kündigender
Pakt. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges konnte Italien
die Gunst der Stunde nützen. Streng juridisch war es vom Dreibund
nur im Falle eines Verteidigungskrieges seiner Partner zur
11
Abmarsch in den Krieg,
im Bild ein Stand schützenbataillon
aus Meran am
20. Mai 1915.
Solidarität verpflichtet, nicht aber bei Angriffskriegen. So erklärte
sich Italien zunächst neutral und begann zugleich, mit beiden Seiten
zu verhandeln. Von Österreich forderte es Triest, Istrien und
Welschtirol, was Kaiser Franz Joseph I. zunächst strikt ablehnte.
Erst mit zunehmender Propaganda Italiens für einen Eintritt in den
Krieg gegen Österreich lockerte sich diese Position. Im Frühjahr
1915 signalisierte Wien, „Tirol soweit es italienischer Nationalität
ist“ abtreten zu wollen. Zu spät: Italien hatte für den Fall seines
Kriegseintrittes an der Seite von Frankreich, Groß britannien, Russland
(Entente) weitergehende Zusagen erhalten. Mit dem Londoner
Geheimvertrag vom 26. April 1915 wurden Italien die Gebiete
von Triest mit der Halbinsel Istrien und „ganz Südtirol bis zu seiner
natürlichen Grenze, als welche der Brenner anzusehen ist“,
zugesprochen. Unmittelbar darauf, am 4. Mai 1915, kündigte Italien
den Dreibund, am 23. Mai erklärte es seinem Eben-noch-Bundespartner
Österreich den Krieg.
12
Damit lag Tirol mit einem Schlag unmittelbar an einer nahezu
schutzlosen Front. Das österreichische Militärkommando hatte auf
das Landlibell von 1511, das den Tirolern die Verteidigung ihres Landes
anvertraute und dafür den Kriegsdienst außerhalb des Landes
ersparte, längst vergessen – eine Laune der Tiroler Geschichte,
wenn bedacht wird, dass dieses Prinzip einer der Gründe war,
warum sich Tirol 1809 gegen die napoleonisch-bayrische Besatzung
erhoben hatte. Die wehrpflichtigen Männer Tirols waren schon an
die Ostfront eingezogen worden, einschließlich der Kaiserjägerregimenter,
der Landesschützen und der als Reserve gedachten
Landsturmregimenter. Warnungen der Landeshauptleute von Tirol
und Vorarlberg waren in den Wind geschlagen worden. Die Landesverteidigung,
zentrales Motiv der Tiroler Identität unter Altösterreich,
oblag nun jungen Burschen und alten Männern, die zu einer
Verteidigungstruppe von rund 30.000 Mann zusammengetrommelt
und an die südlichen Außenposten der Monarchie geschickt
wurden. Zu Hilfe eilte ihnen – eine weitere Laune der Geschichte –
ein Hilfskorps aus Bayern, dem einstigen Feindland. Auftrag der
13 Bataillone des deutschen und weitgehend bayrischen „Alpenkorps“
war es, die Linie am Inn zu halten, das Gebiet südlich des
Brenners schien offenbar schon verloren. Trotzdem konnte das
gemeinsame Aufgebot den von italienischer Seite erhofften „Spaziergang
nach Innsbruck“ schon an den Südgrenzen Tirols so lange
stoppen, bis die Kaiserjäger und Landesschützen aus Serbien und
Russland zurückkehrten und die Landesverteidigung übernahmen.
Unterstützt wurden sie von Heeresverbänden der k. u. k. Armee.
Der Krieg „in Fels und Eis“, wie er mythisch verklärt wird, war
grausam. Die Soldaten der beiden Heere standen sich in einem verbissenen
Stellungskrieg unter extremen Bedingungen gegenüber,
in ausgesetzter Höhe und bitterer Kälte mit dürftigster Aus rüstung
und beeinträchtigter Versorgung. Außer jenen Gebieten, die im ersten
italienischen Ansturm nicht verteidigt werden konnten, wie
vor allem Ampezzo, wurde kein Meter Boden preisgegeben. Der
Preis dafür war auf beiden Seiten unvorstellbar hoch. Besonders
umkämpft war die östlich gelegene Isonzofront, allein die vierte von
zwölf Isonzoschlachten kostete die italienischen Truppen 120.000,
die k. u. k. Armee 70.000 Tote. Ausdruck der Technisierung des
13
Der häufig heroisierend dargestellte Krieg „in Fels und Eis“ war
eine Material- und Menschenschlacht unter extremen Bedingungen.
Krieges, wie es vorher nicht vorstellbar war, ist der Minenkrieg
im Gebirge, vor allem am Monte Piano nördlich von Ampezzo, in
den Toblacher und Sextener Dolomiten und im Gebirgsstock des
Pasubio östlich von Rovereto. Durch unterirdische Stollen wurde
versucht, zum Feindeslager vorzudringen und diesen durch Sprengungen
zu treffen, abgesprengte Fels vorsprünge und Bergkuppen,
am Pasubio sogar die gesamte Felsplatte auf italienischer Seite,
wurden vielfach zum Massengrab. Trotzdem veränderte sich die
Frontlinie kaum, erst in der letzten Isonzoschlacht bei Caporetto
gelang den Österreichern im Oktober 1917 ein unerwarteter Durchbruch
bis zum Piave.
Wohl im Zeichen des Krieges und der vermeintlichen gewonnenen
Oberhand ist eine Proklamation des Tiroler Volksbundes vom
9. März 1918 in Sterzing zu verstehen. Zugleich zeigt sich darin,
wie national verhärtet das einst supranationale „Tirolertum“ mittlerweile
verstanden wurde, erodiert in Jahrzehnten der sich aufschaukelnden
Nationalismen, zerstört vom Krieg: Der Volksbund
forderte eine Berichtigung der österreichischen Grenzen, indem
diese wieder in die Lombardei, ins Veneto und ins Friaul verlegt
würden, eine stärkere Allianz Österreich-Deutschland, die Ein-
14
führung von Deutsch als Staatssprache für die gesamte Monarchie,
die Zurückweisung von tschechischen und slawischen Staatsgründungsplänen,
die Unteilbarkeit Tirols von Kufstein bis zur Veroneser
Klause, die Bekämpfung des Irredentismus durch Stärkung
des Deutschtums, Ausweisung der Irredentisten, Enteignung ihres
Vermögens bei Vorenthaltung von Begnadigung und Staatsbürgerschaft,
Ernennung eines deutschen Bischofs für Trient.
Obwohl „Caporetto“ zum italienischen Trauma und zur
Deutschtiroler Hoffnung wurde, wendete sich der Kriegsverlauf
nicht zugunsten Österreichs. Im Hinterland Tirols wurden 1918
die Lebensmittel knapp, die Höfe wurden nur noch von Bäuerinnen
und Kindern bewirtschaftet, die weitgehend ohne maschinelle
Unterstützung die Nahrungsmittelproduktion aufrechterhalten
mussten. Hunger breitete sich aus, es kam zu Unruhen und Streiks,
die Armee wurde von einer Sommergrippe zusätzlich geschwächt,
allmählich machte sich die materielle Überlegenheit der italienischen
Truppen bemerkbar. Jetzt rächte sich auch, dass die mögliche
Dauer des Krieges unterschätzt worden war. Die strategischen Vor -
stellungen erwiesen sich als unhaltbar, die Impfungen der Soldaten
waren unzulänglich, Strategien zur Ernährungslage zu wenig
bedacht worden. Wichtige Bahnlinien, deren Bau lange verzögert
worden war, mussten nun als wichtige Versorgungslinien im Kugelhagel
gebaut werden, so vor allem die Strecke Toblach-Cortina. Die
Grödner Bahn wurde über Klausen nach St. Ulrich im Eiltempo
verlegt, aber vorerst nicht für den Tourismus, sondern für den Soldatentransport.
Die Fleimstaler Bahn von Neumarkt nach Cavalese
wurde erst 1916 unter dem Druck des Krieges in Angriff genommen.
Als am 21. November 1916 Kaiser Franz Joseph I. verstarb, dessen
Amtszeit mit dem Jahr der Umbrüche von 1848 begonnen hatte,
war das Ende der Monarchie schon vorgezeichnet. Sein Nachfolger
Kaiser Karl I., später als Friedenskaiser verehrt, konnte trotz
mancher Bemühung die von seinem Vorgänger übernommene
Tragödie nicht beenden. Die Umbenennung der Landesschützen
zu Kaiserschützen zeugt von der Hilflosigkeit eines Kaisers, der
den Frieden wünscht und den Krieg nicht beenden kann. Die große
Weltschlacht, in die 1914 auch viele Intellektuelle und Gegner der
Monarchie mit Begeisterung gezogen waren, hatte ihre Faszina-
15
tion verloren. Die Moral der Truppen und der Zivilbevölkerung
war angeschlagen. An manchen Frontstellungen begannen sich die
Soldaten diesseits und jenseits zu verständigen oder versuchten
wenigstens, sich – in einem Fall mittels eines Hundes – Botschaften
für vereinbarte Kampfpausen zukommen zu lassen. Das strenge
Militärregime wurde auch in Deutschtirol als Last empfunden,
besonders hart war es in Welschtirol, dessen Kriegspatriotismus als
wenig vertrauenswürdig galt. Obwohl die Kriegserklärung Italiens
nur rund 700 Trentiner veranlasst hatte, zum italienischen Heer
überzulaufen, griff die verrohende österreichische Militärjustiz
gnadenlos durch. Die Hinrichtung führender, aber auch namenlos
gebliebener Irredentisten sollte Exempel statuieren, schuf aber
spätestens mit Cesare Battisti und seinen Wegbegleitern Damiano
Chiesa und Fabio Filzi die ersten Trentiner Märtyrer. Der sozialistische
Reichsratsabgeordnete Battisti hatte lange vergeblich um
Autonomie für Welschtirol gekämpft. Im Krieg gegen Österreich
und dessen monarchisches System sah er eine Chance, den Traum
von einer gerechteren Gesellschaft mit dem Kampf für ein freies
Trentino zu verbinden. Allerdings sollte nach Battistis Vorstellungen
nur der italienischsprachige Teil Tirols zu Italien kommen, die
Forderung nach der Brennergrenze lehnte er ab, weil dadurch im
neuen Italien ein deutscher Irredentismus entstehen würde. Eine
solche Haltung gegenüber Deutsch-Südtirol wäre nach dem Krieg
möglicherweise wertvoll gewesen.
Für die breite Bevölkerung schmerzhaft war die Massenevakuierung
des Frontgebietes. Auf italienischer Seite wurden 30.000
Menschen, auf österreichischer Seite 70.000 umgesiedelt. In Mitterndorf
an der Fischa in Niederösterreich entstand das berüchtigte
Barackenlager für die Welschtiroler Evakuierten. Versorgung
und Verpflegung waren katastrophal, viele starben an Hunger und
Krankheit. 1700 Welschtiroler, die als politisch unzuverlässig eingeschätzt
wurden, kamen in das Internierungslager Katzenau, wo
sie zum Teil behandelt wurden wie Vieh.
Auch Kaiser Karls letzter Versuch, das Schicksal der untergehenden
Monarchie zu wenden, war vergeblich und kam viel zu
spät: Das föderalistische Manifest vom 18. Oktober 1918 an alle
Völker der Monarchie, ihre eigenen Parlamente und Regierungen
16
Soldaten und Zivilbevölkerung litten gegen Ende des Krieges unter der
schlechten Versorgungslage: im Bild die Plünderung eines Lebensmittellagers
in Brixen um 1918.
zu bilden, wäre um 1910 möglicherweise noch eine rettende Maßnahme
gewesen. Damals aber wurden auch kleine Zuständig keiten
wie eine italienische Universität in Trient oder Triest möglichst
lange hinausgezögert, ebenso die Autonomie für Welschtirol, die
von Deutschtiroler Seite so lange boykottiert wurde, dass der Krieg
sie obsolet machte. 1918 beklagte Deutschtirol 20.000 Gefallene, das
waren vier Prozent der Bevölkerung. Welschtirol beklagte allein in
Galizien 60.000 Tote. Darin zeigt sich auch eine besonders zynische
Seite der Vielvölkermonarchie: Die „unverlässlichen“ Welschtiroler
waren 1914 als erste an die Ostfront abkommandiert worden.
Dass die „Heimatfront“ erfolgreich verteidigt worden war,
konnte die schweren Verluste und Rückschläge an vielen anderen
Fronten nicht wettmachen. Die neuen Nationalregierungen, die sich
nach Kaiser Karls Völkeraufruf bildeten, begannen nacheinander
ihre Truppen von der Front abzuziehen. So hielt das kaiserliche
Manifest den Zusammenbruch der Monarchie nicht auf, sondern
beschleunigte ihn. An der Front zu Italien bedeutete dies, dass der
Kampf vergeblich gewesen war. Einer großangelegten Offensive
der italienischen Truppen mit massiver britischer Unterstützung
17
Chaos am Kriegsende, der Bozner Bahnhof als Sammelpunkt
eines Heeres in Auflösung, November 1918.
am Piave schien Österreich nichts mehr entgegensetzen zu können.
Am 28. Oktober wies Kaiser Karl seine Unterhändler an, Verhandlungen
über einen Waffenstillstand aufzunehmen, schon einen
Tag später erreichten die italienisch-britischen Heeresverbände
Vittorio Veneto. Österreich musste sich bei den Verhandlungen in
der Villa Giusti bei Padua den italienischen Bedingungen beugen.
Zu diesen gehörte nicht nur die Räumung der italienisch besiedelten
Gebiete der Monarchie, sondern auch Tirols bis zum Brenner.
Der Waffenstillstand wurde am 3. November 1918 unterzeichnet,
in Kraft treten sollte er am Tag danach um 15 Uhr. Diese 24-Stunden-
Frist wurde zu einer Art Zeitfalle: Ob durch ein Versehen, ob durch
Missverständnisse, ob durch Versagen der Heeresleitung konnte
nie genau geklärt werden, Tatsache ist, dass die österreichischen
Truppen die Kriegshandlungen unmittelbar nach dem Abschluss
des Waffenstillstandes einstellten und die italienischen Truppen
somit nahezu 24 Stunden freie Hand hatten. Kampflos konnten
sie in wenigen Stunden 400.000 k. u. k. Soldaten entwaffnen und
das bis dahin nicht einnehmbare Gebiet besetzen. Die österreichischen
Truppen traten einen ungeordneten Rückzug an, die Offiziere
18
flüchteten mit dem nächsten erreichbaren Zug Richtung Wien, die
Soldaten kehrten ausgemergelt, demoralisiert, vielfach auch enthemmt
zurück, es wurde geraubt und geplündert. Die italienischen
Truppen rückten noch am 3. November bis Triest und Trient vor,
am 4. November erreichten sie von Süden aus Salurn, von Westen
aus den Vinschgau und den Mendelpass. Das Waffenstillstandsabkommen
erlaubte das Vordringen bis zum Brenner sowie die
Postierung kleinerer Einheiten in Innsbruck und anderen strategischen
Orten nördlich des Alpenhauptkammes. Am 6. November
erreichten sie Meran und Bozen, am 10. November wurde am Brenner
die Trikolore aufgepflanzt, am 14. November marschierten in
Bozen triumphal mehrere Bataillone auf, unter ihnen der Vater der
späteren führenden neofaschistischen Politiker Andrea und Pietro
Mitolo.
Im Zusammenbruch der Monarchie und in den Wirren eines
aufgelösten und überrannten österreichischen Heeres waren die
italienischen Truppen nun im Gebiet des künftigen Südtirol die
bestimmende Ordnungsmacht: „Unsere Heeresleitung“, schrieb
die Tageszeitung „Der Tiroler“ über den Einmarsch am Morgen
des 14. November, „wandte sich mit dem dringenden Ersuchen an
die italienische Heeresleitung, den Anmarsch zu beschleunigen,
den Ordnungsdienst in Bozen zu übernehmen und nach Beseitigung
der derzeitigen Unordnung den Truppenabmarsch [...] möglichst
rasch durchzuführen.“ Dem ersten Wunsch wären die italienischen
Truppen auch ohne Ersuchen nachgekommen, an einen
Abmarsch dagegen dachte die italienische Heeresleitung natürlich
nicht. So beschrieb ein Korrespondent des „Corriere della Sera“
die Stimmung in Deutsch-Bozen als Benommenheit und als Versuch,
„eine gleichgültige Miene aufzusetzen, um sich nicht bloßzustellen
gegenüber jenen, die nun angekommen sind und keine
Absicht hegen, wieder abzuziehen“.
Drei Tage zuvor, am 11. November, hatte Kaiser Karl seinen Verzicht
auf jegliche Teilnahme an den Staatsgeschäften deklariert, am
12. November proklamierte die Provisorische Nationalversammlung
einstimmig die Republik Deutschösterreich. Nicht nur Trient,
auch Deutschtirol südlich des Brenners, bald Südtirol genannt,
würde ihr nicht mehr angehören.
19
Wie Südtirol entstand
Zeit des Übergangs – von der militärischen
Besetzung zur Zivilverwaltung und zur Annexion
Die kampflose Besetzung des Gebietes bis zum Brenner durch
das italienische Heer schuf zwar Tatsachen, wurde aber in Deutschtirol
– in Unkenntnis des Londoner Geheimvertrages – nicht für
dauerhaft gehalten. In der Proklamation der neuen Republik
Deutschösterreich war noch von der „Grafschaft Tirol mit Ausschluss
des geschlossenen italienischen Siedlungsgebietes“ als Teil
des neuen Staates die Rede. Allerdings schien Tirol einen Sonderweg
gehen zu wollen: Noch im Oktober wurde eine eigenständige
„Nationalversammlung“ einberufen, die sich weniger an Österreich
orientierte als vielmehr an Bayern und Deutschland, wo am
9. November Kaiser Wilhelm II. abdankte und die Republik ausgerufen
wurde. Hoffnung gab den Tirolern die 14-Punkte-Deklaration
des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson für eine
neue Friedensordnung in Europa. In Punkt 2 wurde „die Regelung
aller Fragen, sowohl der Gebiets- wie der Souveränitätsfragen“ der
„freien Annahme dieser Regelung durch das Volk, das unmittelbar
damit betroffen ist“, unterstellt, und zwar ausdrücklich unabhängig
von Interessen oder Vorteilen anderer Nationen. Italiens
Ansprüche schienen mit Punkt 9 der Deklaration eingeschränkt,
da sich Gebietsveränderungen „nach den klar erkennbaren Linien
der Nationalität“ richten müssten. Eine solche Weltordnung fand
– nach den zunächst überzogenen Forderungen durch den Tiroler
Volksbund vor Kriegsende – mittlerweile das volle Einverständnis
aller politischen Kräfte in Deutschtirol. Diskutiert wurde lediglich,
ob die Welschtiroler nicht doch die Möglichkeit bekommen sollten,
über ihre Zugehörigkeit zu Italien oder Österreich abzustimmen.
Hoffnung machten auch die – ansonsten wenig geschätzten –
sozialdemokratischen und sozialistischen Kräfte in Italien, die in
der Tradition Cesare Battistis von einer Annexion nicht-italienischer
Gebiete absehen wollten. Sozialistenchef Filippo Turati vertrat
noch mitten im italienischen Eroberungsjubel am 21. Novem-
20
Symbolische und faktische Besitznahme eines Landes: italienische Truppen
auf dem Waltherplatz in Bozen, November 1918.
ber 1918 im Parlament den Standpunkt, dass bei der Grenzziehung
das Selbstbestimmungsrecht zu respektieren sei. Als im Juli 1919
alle damals 172 Gemeinden Südtirols sich in einer gemeinsamen
Petition gegen die Annexion des Landes durch Italien aussprachen,
vertrat Turati den Standpunkt, dass „diese freie Willensäußerung
einer freien Bevölkerung“ respektiert werden müsse. Der ebenfalls
sozialistisch orientierte Minister Leonida Bissolati trat aus
Protest gegen die sich abzeichnende Annexion sogar von seinem
Amt zurück. Im Kampf für die italienische Einigung hatten Kräfte
zueinander gefunden, die nun auseinanderbrachen – auf der eine
Seite der minderheitensensiblere sozialistische Block, auf der anderen
Seite die nationalistischen Kräfte, die auf der Brennergrenze
beharrten und zu deren wichtigsten Wortführern der aus Rovereto
stammende Irredentist Ettore Tolomei wurde. Der lange für einen
Kauz gehaltene Geograph und Geschichtsforscher hatte sich 1906
im Bergdörfchen Glen bei Montan niedergelassen, um von hier
aus Italiens Anspruch auf Südtirol durch die Übersetzung aller
Orts- und Flurnamen „wissenschaftlich“ zu begründen. Bei Kriegsbeginn
setzte er sich über die Grenze nach Italien ab, im Tross
der italienischen Truppen kehrte er nach Kriegsende zurück, um
sein Lebenswerk zu vollenden. Ein vorübergehender Weggefährte
Battistis war Benito Mussolini gewesen, der 1909 wegen seiner
– zunächst weniger national denn revolutionär-sozialistisch ins-
21
pirierten – Propaganda aus Österreich ausgewiesen worden war.
Als „österreichfreundlich“ eingestuft war dagegen der christlichkatholische
Widerpart Battistis im Trentino, Alcide Degasperi.
Dieser blieb bis zum Zusammenbruch der Monarchie deren
Reichsratsabgeordneter. Als der im Krieg kaum tagende Reichsrat
1917 erstmals wieder zusammentrat, wurden die Namen jener Abgeordneten
verlesen, deren „Mandate durch rechtskräftiges Urteil
freigeworden waren“, darunter auch jener des hingerichteten Rivalen
Battisti. Degasperi, der spätere Ministerpräsident Italiens, war
Protokollführer.
Schon unmittelbar nach dem Waffenstillstand versuchten sich
in Südtirol die politisch maßgeblichen Kräfte zu formieren. Eine
Schwierigkeit lag darin, dass alle Verbindungen über den Brenner
abgebrochen waren. Die italienischen Kontrollen über Verkehr
und Nachrichtenwesen waren rigoros, der Brenner unpassierbar,
Postwege und telegraphische Übermittlung versperrt. Selbst Brieftauben
wurden konfisziert, um jeglichen Kontakt von Südtirol nach
Österreich zu unterbinden. Die Südtiroler mussten sich auf sich
selbst stellen. So wurde der Provisorische Nationalrat für Deutsch-
Südtirol einberufen, wie sich das besetzte Gebiet nun nannte. Im
Sinne des „volklichen“ Zusammenhaltes beendeten die Tiroler
Volkspartei und die Deutschfreiheitliche Partei ihre oft heftig ausgetragenen
Kämpfe zwischen konservativer und liberaler Ideologie.
Nicht überbrückt wurde der Graben zu der – in Tirol nie stark
Fuß fassenden – sozialdemokratischen Partei.
Führender Kopf des Nationalrates war der Bozner Bürgermeister
Julius Perathoner, eine charismatische Persönlichkeit, in der Tradition
der Freiheitlichen äußerst deutschnational eingestellt. Am
16. November rief der Deutsch-Südtiroler Nationalrat die „Unteilbare
Republik Südtirol“ aus, gab ein Amtsblatt heraus, beschloss
die Einführung eigener Steuern, eigener Währung und Briefmarken.
Der Traum vom eigenen Staat „Südtirol“ währte aber nur kurz:
Die italienische Militärregierung löste den Nationalrat im Jänner
1919 wieder auf, da er weder von der österreichischen noch von
der italienischen Regierung legitimiert worden sei.
Die Machtverhältnisse waren ganz andere. Schon am 30. Oktober
1918 hatte der Alliierte Kriegsrat auf Vorschlag Groß bri-
22
Bild eines Entfremdungsschocks: Italienische Verordnungen in Meran;
die Menschen, an die sich die Aufrufe wandten, waren des Italienischen
meist kaum oder gar nicht mächtig.
tanniens einstimmig jene Grenzziehung beschlossen, die im
Londoner Geheimvertrag mit Italien festgelegt worden war. Auch
US-Präsident Wilson stimmte zu. Die USA und mit ihnen Frankreich
versuchten nämlich, das sich formierende, spätere Jugoslawien
für den Westen günstiger zu stimmen, indem sie Italiens
Ansprüche im Osten etwas dämpften. So wurden zwar Friaul, Istrien
und Triest, nicht aber Dalmatien mit Fiume an Italien angeschlossen.
Im Gegenzug sollte aber Italien zumindest am Brenner
nicht enttäuscht werden. Dazu kam die Unsicherheit, ob sich
Österreich nicht am Ende mit Deutschland zusammenschließen
würde. Ein solcher neuer großdeutscher Staat wurde mit Besorgnis
betrachtet und sollte besser nicht über die Brennergrenze reichen.
Enttäuscht richteten die Südtiroler Gemeinden noch im Frühjahr
1919 eine Petition an Wilson, um ihn an seine Grundsätze zu erinnern:
„Und nun soll unsere deutsche Heimat mit ihrer tausendjährigen
Kultur und Geschichte, dieses Volk mit seinem angestammten
Freiheitssinn italienisch werden? Ein einziger Aufschrei
tiefsten Schmerzens durchhallt bei diesem Gedanken das ganze
Land.“
23
Der Verhandlungssaal im Schloss Saint-Germain bei Paris, wo im Zuge des
Friedensvertrages mit Österreich auch die staatliche Zugehörigkeit Südtirols
entschieden wurde.
Am 18. Jänner 1919 hatten in Paris die Friedensverhandlungen
begonnen, die Verhandlungen um den Friedensvertrag mit Österreich
fanden im Vorort Saint Germain en Laye statt. Am 24. April
wurde der erste Entwurf vorgelegt, Südtirol darin Italien zugesprochen.
Die österreichische Verhandlungsdelegation unter Staatskanzler
Karl Renner wies den Entwurf am 2. Juni noch zurück, es
gab aber keinen Spielraum: Am 10. September 1919 nahm die österreichische
Nationalversammlung den Friedensvertrag einschließlich
der Bestimmung für Südtirol an. Damit war Südtirols künftige
Staatszugehörigkeit entschieden. Bis zur formalen Annexion
dauerte es noch ein Jahr: Im Sommer 1920 fand im italienischen
Parlament die Debatte über die Annexion Südtirols statt, die Sozialisten
wehrten sich vergeblich dagegen. Am 10. Oktober 1920 trat
das von der Mehrheit des italienischen Parlamentes verabschiedete
Annexionsdekret in Kraft: Südtirol gehörte nun – wie de facto
schon seit der Besetzung 1918 – auch staatsrechtlich zu Italien.
In einer ersten Stellungnahme zur Annexion fanden die Tiroler
Volkspartei, die deutsch-freiheitliche Volkspartei und die sozialdemokratische
Partei noch zu einer gemeinsamen Erklärung zusam-
24
men: „Südtirol ist das Opfer des Friedensvertrages geworden, der
uns trotz des feierlich verkündeten Selbstbestimmungsrechtes
von unseren Volksgenossen losreißt. Wir Südtiroler haben die
unerschütterliche Hoffnung, dass der Tag kommen wird, an welchem
uns Gerechtigkeit und weitschauende Politik die nationale
Befreiung bringen werden.“ Das Schreiben endet mit einem Aufruf:
„Südtiroler! Aufrecht wollen wir den heutigen Tag über uns ergehen
lassen! Wir fordern euch auf, jede Ungesetzlichkeit zu vermeiden
und mit Ruhe und Würde das Schicksal zu ertragen.“ Dem Deutschen
Verband schlossen sich die Sozialdemokraten trotz dieser
gemeinsamen Erklärung nicht an, zu nationalistisch waren ihnen
die Positionen von Volkspartei und Freiheitlichen.
Noch hofften die Südtiroler innerhalb Italiens auf weitgehende
Unabhängigkeit. Die Regierung unter Ministerpräsident
Francesco Saverio Nitti stand einer Territorialautonomie aufgeschlossen
gegenüber, es rächten sich aber die jahrzehntelangen
Verstimmungen mit dem einstigen Welschtirol. Die bestimmende
Persönlichkeit war nun der ehemals „österreichfreundliche“ Alcide
Degasperi, der sich in der Haltung gegenüber Südtirol deutlich von
jener Battistis unterschied: Die Trentiner sprachen sich nicht nur
gegen eine Sonderautonomie für Südtirol aus, sondern forderten
die Angliederung des teilweise auch italienisch besiedelten Südtiroler
Unterlandes an das Trentino.
Möglicherweise verkannten die Südtiroler in dieser ersten Phase
nach der Annexion die Notwendigkeit realpolitischer Forderungen.
Im Gefühl, dass das Unrecht der Annexion nur durch eine
De-facto-Unabhängigkeit gutgemacht werden konnte, legte der
Deutsche Verband ein umfassendes Autonomiemodell vor: primäre
Gesetzgebungszuständigkeit in allen wichtigen Bereichen, dazu
die Kontrolle des Verkehrswesens, eine eigene Zoll- und Handelspolitik,
Steuerhoheit, eigene Gerichtsbarkeit und eigenes Militär
nach dem Modell der Standschützenorganisationen. Dem konnte
die Regierung Nitti nicht zustimmen, ganz abgesehen vom massiven
Druck der immer stärker werdenden Rechtsopposition um die
faschistische Partei Benito Mussolinis. Ohne Chancen blieb auch
ein eigener Entwurf der Sozialdemokratischen Partei, der sich vor
allem in sozial- und demokratiepolitischen Fragen von jenem des
25
Militärverwalter General Guglielmo Pecori-Giraldi (Bild links) war noch
einigermaßen sensibel für die Befindlichkeit der deutsch- und ladinischsprachigen
Südtiroler gewesen, der auf ihn folgende Zivilverwalter Luigi
Credaro (Bild rechts, im Anzug) schlug eine härtere Gangart ein.
Deutschen Verbandes unterschied, nämlich durch Betonung des
Parteienpluralismus, des Mitspracherechts für die Arbeiterklasse,
der Verankerung von Arbeitsschutzbestimmungen und einer klaren
Trennung von Staat und Kirche, die man durch die Allianz des
Deutschen Verbandes mit der Kirche gefährdet sah.
Eine Bruchlinie zwischen Sozialdemokraten und Deutschem
Verband war immer auch die Haltung zum Trentino gewesen. Ob
sich bei einer Stärkung der sozialistisch-sozialdemokratischen
Kooperation zwischen Deutsch- und Welschtirol andere politische
Lösungen eröffnet hätten, lässt sich nicht sagen. Sicher aber rächte
sich nun die feindselige Deutschtiroler Haltung gegenüber den
Welschtiroler Autonomiewünschen, da sich die Machtverhältnisse
umgedreht hatten. Die Sozialdemokraten versuchten eine sprachgruppenübergreifende
Allianz zu schließen, indem sie 1920 als
autonome Sektion der Sozialistischen Partei Italiens beitraten.
Damit wurden sie, ganz abgesehen vom ausbleibenden Wahlerfolg,
in Südtirol freilich erst recht als patriotisch unzuverlässig abgestempelt.
26
Für Südtirol 1921 ins neue römische Parlament gewählt: Wilhelm von
Walther, Karl Tinzl, Eduard Reut-Nicolussi und Friedrich Graf Toggenburg.
Im Übergang zwischen militärischer Besetzung und formaler
Annexion wurde für Südtirol eine Zivilverwaltung eingesetzt.
Bis dahin hatte der liberal gesinnte General Guglielmo Pecori-
Giraldi gemessen an der prekären Lage eine umsichtige Amtswaltung
gepflegt. Wohl wurden die Bezirkshauptleute, wie sie in
der österreichischen Verwaltung als staatliche Exekutivbeamte
üblich gewesen waren, durch italienische Kommissare ersetzt. Die
österreichischen Beamten blieben aber im Amt, ebenso wurden die
Gemeinden nicht angetastet. Trotz des Drucks von Ettore Tolomei
hielt sich Pecori-Giraldi sogar an die landesüblichen Ortsnamen.
Mit Juli 1919 gingen Verwaltung und Kontrolle des Landes an das
Ufficio per le Nuove Province über, das direkt dem Ministerrat
unterstellt war. Für die Venezia Tridentina, der Südtirol zu- und
untergeordnet war, wurde Luigi Credaro als Generalvizekommissar
eingesetzt. Wohl war er ebenso wie Pecori-Giraldi ein Liberaler,
er leitete aber die ersten markanten Entkulturalisierungsmaßnahmen
ein. So verbot Credaro 1920 alle nichtreligiösen tirolerischen
Kundgebungen, das Böllerschießen und das Hissen von Fahnen mit
Ausnahme der Trikolore. Anlass waren die durchaus als politische
Kundgebung gedachten Herz-Jesu-Feuer vom 13. Juni 1920 gewesen.
Bürgermeister, die in ihrem Schriftverkehr die Namen „Tirol“
oder „Deutsch-Südtirol“ verwendeten, wurden belangt, jener von
Salurn deswegen sogar abgesetzt. Eine Rolle für den verschärften
27
Kurs dürfte der Umstand gespielt haben, dass Italien nun die volle
Souveränität über Südtirol erreicht hatte und keine Rücksichten
mehr nehmen musste. Im Friedensvertrag war Italien zu keiner
Sonderbehandlung Südtirols verpflichtet worden, das Versprechen
von Viktor Emanuel III. („vollste Achtung der lokalen autonomen
Einrichtungen und Bräuche“) war eine freiwillige Willensbekundung,
keine Zusicherung. Im Juni 1920 wurde zudem die regionalistisch
ausgerichtete Regierung Nitti gestürzt, der neue Ministerpräsident
Giovanni Giolitti schlug einen zentralistischen Kurs an.
Nach Inkrafttreten des Annexionsdekretes mussten im Oktober
1920 alle Südtiroler Bürgermeister einen Eid auf Italien und
den italienischen König ablegen. Der Obermaiser Bürgermeister
Alois Hölzl leistete den Schwur ausdrücklich nur als formalen Akt
und erklärte, er trage den Eid innerlich nicht mit. Trotz Mahnungen
aus Rom, solche Fälle nicht zu hoch zu spielen, erwirkte Credaro
die Auflösung des gesamten Gemeinderates der damals noch
selbständigen Gemeinde Obermais.
In Bozen leistete sich Julius Perathoner einen Eklat, als Viktor
Emanuel III. anlässlich der Annexion im Oktober 1920 nach
Bozen kam: Des Italienischen bestens mächtig, begrüßte der Bürgermeister
den König in deutscher Sprache. Noch glaubten die
Südtiroler, sich im neuen Staat behaupten zu können. Bei den ersten
demokratischen Parlamentswahlen am 15. Mai 1921 hatte der
Deutsche Verband vier Abgeordnete durchbekommen: Wilhelm
von Walther, Karl Tinzl, Eduard Reut-Nicolussi und Friedrich Graf
Toggenburg. Außer Tinzl, der als jüngster in der Südtiroler Politik
noch eine prägende Rolle einnehmen sollte, hatten sie alle schon
aktive politische Erfahrung im alten Österreich gesammelt: Graf
von Toggenburg war Statthalter von Tirol und im letzten Kriegsjahr
österreichischer Innenminister gewesen, der aus der altbairischen
Trentiner Sprachinsel Lusern stammende Eduard Reut-
Nicolussi war Obmann der christlich-sozialen Partei und letzter
Südtiroler Abgeordneter im Wiener Nationalrat gewesen. Er verabschiedete
sich dort, um sich für Südtirol ins italienische Parlament
wählen zu lassen. Wilhelm von Walter war der einzige Vertreter
der Deutschfreiheitlichen. Die Sozialdemokraten, die alleine kandidiert
hatten, kamen auf neun Prozent, blieben aber ohne Man-
28
dat. Wilhelm von Walther legte in der ersten Wortmeldung im Parlament
eine Rechtsverwahrung gegen die Annexion als „Akt der
Unterdrückung Südtirols“ ab, verbunden mit dem Hinweis auf die
„Vorenthaltung seines Selbstbestimmungsrechtes“.
29
Rote Soße und bittere Zeiten
Erste Fremdheitserfahrungen im neuen Staat –
Lebensstile, Einschränkungen und Heimatverluste
Sich plötzlich in einem anderen Staat zu befinden, hatte für die Südtiroler
Bevölkerung nach dem Ersten Weltkrieg auch sehr praktische
Auswirkungen. Die Preise für Lebensmittel stiegen aufgrund
der Knappheit nach dem Krieg dramatisch an. Den meisten fehlte
es an Geld. 320 Millionen Kronen hatte die damalige Bevölkerung
in Südtirol als Kriegsanleihen gezeichnet. Diese Schulden wurden
vom neuen Staat nicht übernommen, das Geld war praktisch verloren.
Zwar durfte noch eine Zeitlang mit der österreichischen
Krone bezahlt werden, ab 10. April 1919 aber war nur noch die Lira
erlaubt. Der Währungswechsel war äußerst nachteilig. Vor dem
Krieg war der Umrechnungskurs mit 100 zu 105 in etwa ausgewogen
gewesen, nun wurde er mit 100 zu 40 festgelegt, und selbst als
sich dies allmählich auf 100 zu 60 besserte, war der Kapitalverlust
enorm. Wer Geld in Kronen gespart oder verliehen hatte, bekam
weniger oder kaum mehr als die Hälfte zurück. Kredite bei österreichischen
Instituten waren oft ganz verloren. Dass die Inflation
in Österreich noch viel verheerendere Auswirkungen hatte, war
den Betroffenen in Südtirol ein schwacher Trost.
Für das Wirtschaftsleben, das traditionell auf die Märkte in der
Monarchie ausgerichtet war, hatte die Abschottung gegen Norden
dramatische Auswirkungen. Ohne Personen-, Waren-, Postund
Finanzverkehr über den Brenner brachen Absatzmärkte und
Geschäftsverbindungen zusammen. Der Export von Obst, Wein,
Vieh, aber auch anderer Produkte nach Norden war unterbunden,
zugleich sahen sich die Produzenten schutzlos den italienischen
Märkten ausgesetzt, mit denen sie noch nicht vertraut waren und
wo die Konkurrenz übermächtig schien. Lediglich dort, wo es schon
Geschäfte mit Italien gegeben hatte, wie im Holzhandel, waren die
Folgen nach Aufhebung der Beschränkungen weniger lähmend.
Die Urlauber aus dem deutschsprachigen Raum blieben vorerst
aus, den italienischen Gästen standen viele Gastwirte ablehnend
30
Aus dem Hotel „Zum Grafen von Meran“ wurde das „Al Conte di Merano“ –
Südtirols Vorzeigebetriebe wurden zu Schnäppchen für italienische
Investoren.
gegenüber, Verständigungsschwierigkeiten erschwerten den
Umgang miteinander. Der Krieg hatte den Tourismus so schwer
getroffen, dass Hotels und Pensionen massenhaft zum Verkauf
anstanden, nun konnten sich italienische Investoren die Schnäppchen
sichern, etwa das „Savoy“ und den „Kaiserhof“ in Meran, der
in „Excelsior“ umgetauft wurde. Auch andere ruhmreiche Hotels
in Meran wechselten aufgrund der neuen politischen Verhältnisse
schon 1920 die Namen, aus dem „Erzherzog Johann“ wurde das
„Esplanade“, aus dem „Habsburger Hof“ das „Bellevue“, Meran
wurde schon im selben Jahr offiziell zu „Merano“. Unter dem
Faschismus wurde die italienische Übernahme von Hotels durch
Enteignungen noch einmal forciert.
Nicht alle Entwicklungen nahmen zunächst negative Verläufe.
Litt die Hotellerie in den ersten zwei Nachkriegsjahren noch darunter,
dass die Lebensmittel knapp waren, lebte der Tourismus
schon bald wieder auf, in Meran wurde im September 1920 erstmals
nach sechs Jahren wieder eine Kursaison eröffnet. Die Italiener
entdeckten das „eroberte Gebiet“ auch als neues Urlaubsland, das
es – wie Ettore Tolomei zufrieden registrierte – durchaus auch im
31
nationalen Erfolgsgefühl zu bereisen galt. Und als in den folgenden
Jahren die Einreisebestimmungen gelockert wurden, kamen auch
wieder mehr Gäste aus Österreich und Deutschland nach Südtirol,
zusätzlich angeregt von der beginnenden Propaganda um das
verlorene Südtirol durch nationale Verbände in Bayern und Österreich
wie etwa den Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA):
„Wandert deutsche Jungen und Mädel hinaus auf die Höhen, die
der Feind uns als Grenze setzte ...“ So wurden zahlreiche Hotels
ausgebaut oder aufgefrischt, etwa das „Elephant“ in Brixen mit
einer neuen Fassade und das Grandhotel Karersee mit fließendem
Kalt- und Warmwasser in allen Zimmern. Ab Juni 1920 wurde die
Bahnlinie Wien-Meran wieder aktiv mit einem Kurswagen befahren.
Auch die letztlich für den Krieg gebauten und zu spät fertig
gewordenen Lokalbahnen wie die Grödner Bahn und Toblach-
Cortina wurden zu Transportmitteln des Tourismus, letztere für
die Entdeckung des oberen Pustertals durch italienische Gäste.
Dazu kam der Durchbruch des Automobils. Im Sommerhalbjahr
1922 wurden in Bozen 23.000 Autos gezählt, das waren doppelt so
viele wie zwei Jahre zuvor.
Der stark veränderte Tourismus war bald auch ein wichtiger
Stimulus (und Auftraggeber) für die Entwicklung einer modernen
bildstarken Werbesprache. Das Medium Plakat kam in Mode und
wurde mit künstlerischem und innovativem Anspruch genutzt.
Nach Vorbildern wie Oskar Kokoschka und anderen Künstlern
der Moderne prägte in Südtirol Franz Lenhart ein neues, mondänes
Südtirol-Bild, das sich mit surrealistischen, expressionistischen,
kubistischen Elementen vom traditionsbehafteten „Land
im Gebirge“ und auch vom „Heiligen Land Tirol“ deutlich abhob.
So blühte und lebte manches im Lande auf, während in Österreich
die Wirtschaft darnieder lag. Freilich machte die Weltwirtschaftskrise
den kurzen Wirtschaftsaufschwung der frühen 1920er Jahre
schon wenige Jahre später auch in Südtirol zunichte.
Manches, was aus Italien kam, wurde von der heimischen Bevölkerung
rasch aufgenommen, etwa die zunächst völlig unbekannte
Art, Nudeln zu kochen und mit Tomatensugo zu servieren. So war
die „rote Soße“ bald eine willkommene Abwechslung zur gewohnten
bäuerlichen Kost, die im städtischen Bereich bis dahin eher
32
durch Rezepte und Kochkünste aus östlichen Gebieten der Monarchie
beeinflusst war. Warnten die deutschnationalen Turner vereine
vor dem Fußballspielen als „artfremde“ Sportart, fühlte sich Südtirols
Jugend doch sehr bald schon vom italienischen National sport
angesteckt. So entstand etwa schon 1923 im deutschpatriotischen
Unterlandler Dorf Tramin eine Sektion Fußball des dortigen Sportvereins,
aber auch in vielen anderen Landgemeinden und auch in
den Städten entstanden heimische Fußballclubs. In Meran hatte
es einen Fußballclub schon 1910 gegeben, aufgrund des internationalen
Publikums gab es in Meran auch schon Sportarten wie
Golf, Krocket, Rasen-Hockey sowie Rad- und Motorrennen. Für
das Autorennen „Coppa delle Alpi“ wurde Meran sogar zum Zielort,
1923 feierte der legendäre Fiat- und Alfa-Romeo-Pilot Antonio
Ascari einen Sieg, bevor er 1925 in Monza seinen ersten Grand Prix
gewann und nur einen Monat später beim GP von Frankreich tödlich
verunglückte.
Im Sport war Südtirol zunächst sogar noch die Verbindung zu
Österreich gestattet. Die Sportvereine konnten einige Jahre lang
ihre Kontakte zu Nord- und Osttiroler Verbänden halten, die Südtiroler
Rodler und Bobfahrer durften an den Tiroler Meisterschaften
teilnehmen. Die aus der deutschnationalen Bewegung ent standenen
Turnervereine – besonders stark in Bozen, Meran, Lana, Algund,
Untermais, Kaltern, Gröden, Brixen, Bruneck und Sterzing – sahen
ihre sportliche Betätigung nun umso mehr als politisch-patriotischen
Heimatdienst. Junge Turner unter Führung von Generalstabshauptmann
Georg von Tschurtschenthaler und dem späteren
NS-Volksgruppenbeauftragten Toni Ruedl erneuerten die in ihren
Stilen und Sitten veraltete Turnerbewegung, setzten Freiluftsport,
kürzere Hosen und mit Nägeln beschlagene Laufschuhe durch. 1923
nahm der Turnverein Bozen am ersten deutschen Nachkriegsturnfest
in München teil. Auftrieb erhielt auch der Wintersport durch
den Bau von ersten Aufstiegsanlagen, zunächst in Gröden, dann
aber auch in anderen Gebieten. Die Seilbahn aufs Vigiljoch gab es
schon seit 1912, mit jener nach Hafling bekam der Sportclub Meran
nun auch eine starke Ski-Sektion. Die „Arlbergtechnik“ der Österreicher
mit ihrem Stemmschwung beeinflusste auch den Skistil
in Südtirol. Die Revitalisierung des Nachkriegslebens erfuhr frei-
33
Die weitgehend aus deutschnationalen Turnerbünden hervorgegangenen
Südtiroler Sportgruppen erhielten zwar einen italienischen Namen, legten
aber ihre Gesinnung nicht ab: im Bild die Schwimmer und Turmspringer
von „Bolzano Nuoto“.
lich schon bald eine drastische Einschränkung, faschistische Vereinsverbote
und Vereinnahmung trafen besonders auch den Sport.
Die politische Strategie Italiens, wie mit Südtirol umzugehen
sei, war von Anfang an auf „Durchdringung“ (penetrazione) ausgerichtet,
wobei Militärgouverneur Pecori-Giraldi nüchtern zwei
Möglichkeiten der Durchdringung unterschieden hatte: nämlich
eine „schnelle und gewaltsame“, wie sie Ettore Tolomei offen
favorisiert hatte und die zur Strategie des bereits aufziehenden
Faschismus wurde, oder eine „friedliche“, für die sich Pecori- Giraldi
entschied, da er sich von einer behutsamen Italianisierung weniger
Widerstand und langfristig größeren Erfolg versprach. So sollte
die deutsche Bevölkerung weiterhin Zugang zu Arbeitsstellen in
öffentlichen Ämtern haben, die Leitungspositionen sollten aber an
Italiener gehen; die heimischen Banken sollten allmählich von nationalen
Instituten übernommen werden; in der Schulpolitik sollte
darauf geachtet werden, dass die italienischen Gemeinschaften
durch eigene Schulen gestärkt werden, während in den deutschen
Schulen die Lehrpläne der italienischen Schule anzupassen seien.
34
Die Südtiroler Wirtschaft konnte sich nach schweren Krisen allmählich
auf die neue Staatszugehörigkeit umstellen. Im Bild die Prospekte zweier
Pionierbetriebe (Zuegg und Durst).
So ließ er schon im Jänner 1919 die Lehrpläne für Geschichte und
Geographie an Italien ausrichten, für die Südtiroler Schülerinnen
und Schüler änderten sich schlicht die Koordinaten ihrer historischen
und territorialen Zugehörigkeit. Die deutsche Schule selbst
aber blieb noch bestehen.
Auch die Schaffung von Arbeitsplätzen in der Industrie für
Arbeitskräfte aus südlicheren Provinzen war, wenn auch auf sanftere
Art, ein frühes Konzept der italienischen Verwaltung in Südtirol.
Die erste Zuwanderungswelle war noch verhalten, es kamen
vor allem Beamte und Militärs, um die Verwaltung und Kontrolle
des Landes gewissermaßen „in italienische Hand“ zu nehmen. Um
1921 betrug die Anzahl der Italiener in Südtirol um die 20.000, bei
etwas mehr als 200.000 deutschsprachigen und knapp 10.000 ladinischsprachigen
Einwohnern. Wenn bedacht wird, dass es auch im
alten Tirol italienische Minderheiten vor allem in Bozen und Meran
gegeben hatte und auch Teile des Unterlandes italienisch besiedelt
waren, dürften zwischen 1918 und 1921 rund 13.000 Menschen ins
Land gezogen sein. In Bozen lebten 1921 knapp 6000 Italiener, in
Meran und Brixen je rund 1500, in Bruneck knapp 400.
35
Dagegen vervierfachte die faschistische Zuwanderungspolitik
binnen weniger Jahre die italienische Präsenz in Südtirol. Dies
wirkte sich vor allem auf Bozen (80.000) und Meran (15.000) durch
den neu geschaffenen Stadtteil Sinich aus. In Bruneck stieg die
Zahl der Italiener auf etwas über 1200, in Brixen auf 1800, in den
meisten Landgemeinden blieben die Zuwanderungsraten marginal.
Fühlten sich die ersten Zuwanderer noch als Akteure und künftige
Verwalter der „Eroberung“, kamen die späteren Neusüdtiroler vor
allem wegen der angebotenen Arbeitsplätze und ohne politische
Vorstellungen ins Land. Sie lebten eher isoliert in den neuerbauten
Arbeitervierteln, wussten von der sie umgebenden Südtiroler
Realität kaum etwas, erlebten diese auch selten als feindlich, waren
sich der strategischen Rolle, die sie im Plan der „Durchdringung“
hatten, kaum bewusst. So waren auch die Kontakte zwischen den
Sprachgruppen auf wenige Gebiete, auf den Amtsverkehr, auf die
Schule und auf die Kontrollbehörden beschränkt – keine besonders
günstige Voraussetzung für eine kulturelle Annäherung. Die
modischere Kleidung und die typisch italienischen kulinarischen
Gerichte wurden von der heimischen Bevölkerung aufgrund des
sich verändernden Warenangebots wohl auch gern aufgenommen,
für kulturellen Austausch und menschliche Verständigung waren
die Bedingungen kaum gegeben und die Lebenswelt zu getrennt.
Die Bevölkerungszahlen waren bereits wichtiges politisches
Kapital. So wurden die Daten der Volkszählung von 1921 gezielt
zugunsten einer stärkeren italienischen Präsenz (die in den oben
genannten Zahlen bereits korrigiert ist) verfälscht, indem bei einer
Revision viele Menschen mit italienisch klingendem Familien -
namen nachträglich der italienischen Sprachgruppe zugerechnet
wurden. Für die ladinische Bevölkerung wurde eine eigene Spalte
eingeführt, und zwar weniger aus ethnischem Feingefühl, sondern
vielmehr aus Sorge, dass sich sonst viele Ladiner als Deutsche
erklären würden. Schon im Mai 1920 hatten 70 Gemeindevertreter
aller ladinischen Täler bei einer Kundgebung am Grödner Joch ein
unmissverständliches Bekenntnis zu einer eigenständigen Tiroler
Kultur als eigenständige ladinische Volksgruppe abgelegt und die
damals neu entworfene blau-weiß-grüne ladinische Fahne gehisst.
Der Antrag auf einen Zusammenschluss aller Ladiner aus Gröden,
36
Enneberg, Buchenstein, Ampezzo und Fassa war politisch zwar aussichtslos,
durchkreuzte aber doch die Strategie der italienischen
Verwaltung, die Ladiner als eine Art Besonderheit italienischer Kultur
zu behandeln und nicht als eigenständige Sprachgruppe. Die
Ladiner ergriffen die Chance, sich bei der Volkszählung als Ladiner
zu erklären, in so hohem Maße, dass auch ihre Zahlen durch
willkürliche Revision nach unten gedrückt wurden.
Eine drastische Auswirkung hatte die Bevölkerungspolitik für
tausende Arbeiter und Angestellte, die noch unter den Habsburgern
in anderen Ländern der Monarchie geboren worden waren.
Im Friedensvertrag von Saint Germain war grundsätzlich festgelegt,
dass jeder Altösterreicher die Staatsbürgerschaft jenes Gebietes
erhalten sollte, in dem sich seine Heimatgemeinde nach den
neuen Grenzziehungen befand. Für Südtirol wurde eine Ausnahmeregelung
eingeführt, die auf den ersten Blick nach einer größeren
Wahlmöglichkeit aussah: Wer erst nach dem Kriegseintritt Italiens,
also ab 24. Mai 1915 geboren worden war oder das Heimatrecht in
einer Südtiroler Gemeinde erhalten hatte, sollte wählen dürfen. So
erlebte Südtirol erstmals vor der traumatischen Option von 1939
eine weitgehend vergessene „kleine“ Option um die Staatsbürgerschaft.
Beeinflusst war die Entscheidung auch davon, dass viele
bei einem Verbleib in Italien aufgrund der minderheitenfeindlichen
Politik der Zivilverwaltung um ihren Arbeitsplatz fürchteten.
Besonders in Sorge waren die öffentlichen Bediensteten, die durch
den Staatenwechsel in eine äußerst unsichere Lage geraten waren.
So plante schon Generalvizekommissar Credaro, deutschsprachige
Lehrerinnen und Lehrer zu entlassen, was von der Regierung in
Rom vorerst aber noch unterbunden wurde.
Verhängnisvoll war die kleine Option für all jene Beamte und
Arbeiter aus anderen Ländern der Monarchie, die zwar in Südtiroler
Gemeinden gearbeitet hatten, aber dort nie das sehr restriktiv
gehandhabte Heimatrecht erhalten hatten. Viele Gemeinden
hatten zum Beispiel gerade die gewerkschaftlich gut organisierten
und häufig sozialdemokratisch gesinnten Eisenbahner aus anderen
Ländern der Monarchie nie offiziell als Bürger anerkannt, um
bei Wahlen sozialdemokratische Zuwächse zu verhindern. So verließen
90 Prozent der Südbahn-Bediensteten bis 1923 das Land,
37
vielfach mussten sie jahrelang in Notlagern am Innsbrucker Bahnhof
leben. Die Zahl der Menschen, die im Zuge dieser Option
aufgrund eines engherzigen Heimatverständnisses die sonst so
beschworene Heimat verloren, wird auf einige Tausend geschätzt.
Südtirol verlor damit auch eine geschulte und gebildete Beamtenschicht.
Manche Optionsansuchen um die italienische Staatsbürgerschaft
(als Voraussetzung für den Verbleib in Südtirol) wurden auch
aus politischen Gründen abgelehnt, etwa im Falle eines in Nordtirol
geborenen Gymnasiallehrers, der sich in einem Artikel italienfeindlich
geäußert hatte. Den italienischen Zuwanderern dagegen
mussten die Gemeinden unmittelbar das Heimatrecht gewähren.
38
Im Griff der Diktatur
Südtirol unter dem Faschismus –
zwischen Faszination und Gewaltschock
Schwarze Fahnen schwingend, in schwarze Hemden und Hosen
gekleidet, prägten schon unmittelbar nach Kriegsende die von Mussolini
offiziell 1919 gegründeten „Fasci italiani di combattimento“
das politische Stimmungsbild in den italienischen Städten. Hauptsächlich
als Kampfgruppe gegen die befürchtete linke Revolution
durch Gewerkschaften, Sozialisten und Kommunisten gegründet,
marschierten die „squadristi“ mit präpotentem Gehabe auf, schlugen
mit ihren Stöcken auf politische Gegner, zunehmend aber auch
auf Passanten ein. Am heftigsten entzündete sich der „squadrismo“
in der Venezia Giulia in den Grenzgebieten zu Jugoslawien, wo das
Feindbild der „roten Gefahr“ mit nationalistischen Motiven aufgeladen
war. Auch im Trentino waren die ersten „Fascio“-Gruppen
nationalistisch inspiriert. Von bürgerlichen und konservativen
Kreisen wurde Mussolinis Bewegung zunächst als eine Art Schutztruppe
der guten Bürgerlichkeit begrüßt. Alcide Degasperi sprach
von „Aktionen, bei denen die Gewalt zwar den Anschein von Aggression
erweckt, aber in Wirklichkeit eine defensive Gewalt und daher
legitim ist“. Schon bald kam es bei den Zusammen stößen zu Toten,
schließlich auch zur offenen Exekution politischer Gegner. Die
offiziellen Ordnungsmächte hielten sich zurück und schauten ohnmächtig
zu, wie der Faschismus am Staat vorbei die Macht übernahm.
Die Übergriffe auf Südtirol folgten mit einer gewissen Verzögerung
im Frühjahr 1921. Die faschistischen Strafexpeditionen
entbehrten hier aufgrund einer nicht existenten roten Gefahr der
Klassenkampfmotive, nährten sich aber umso mehr an der nationalen
Aggression gegen alles Altösterreichische und Tirolerische.
Die ersten Überfälle von Truppen, die meist aus den italienischen
Gebieten der Venezia Giulia kamen, trafen das Unterland. In Salurn,
Auer und Neumarkt wurden alle öffentlichen Gebäude besetzt
und von Symbolen der österreichischen Vergangenheit „bereinigt“,
39
Aufmarsch der Faschisten in Bozen: Lange verharmlost, rissen Mussolinis
Squadristi von Stadt zu Stadt die Macht an sich.
in Neumarkt wurde der Doppeladler vom Rathaus gerissen und
der Bürgermeister gezwungen, sich die Trikolore umzuwickeln.
Die Anbringung der Aufschrift „Municipio di Egna“ wurde vom
Trentiner Generalkommissariat unterstützt, so dass der Bürgermeister
sie nicht verhindern konnte. Einige Wochen später wurden
in denselben Dörfern Passanten überfallen, weil sie einen Gamsbart
trugen, wer nicht den Hut vor den Faschisten zog, wurde nieder -
geprügelt.
Zum schwersten Übergriff kam es am 24. April 1921 beim traditionellen
Trachtenumzug zur Eröffnung der Bozner Mustermesse.
Kurz davor war auch in Bozen ein „Fascio“ gegründet worden, der
sich über die Nichteinladung zum Umzug beklagte. Dass am selben
Tag in Tirol über die gewünschte Angliederung an das Deutsche
Reich abgestimmt wurde, dürfte die Stimmung zusätzlich angeheizt
haben. Rund 280 Schläger kamen in einer gut vorbereiteten
Aktion mit dem Zug aus Mantua, Brescia, Verona, aber auch aus
den Trentiner Gemeinden Riva del Garda, Rovereto, Mezzolombardo
und Cles, in Bozen wurden sie von weiteren 120 Fascio-
Mitgliedern unterstützt. 400 Mann stark fielen die Squadristi am
Bozner Obstplatz über den Trachtenumzug her, es wurde geprü-
40
Opfer des Bozner „Blutsonntags“: Beerdigung von Franz Innerhofer
am 26. April 1921.
gelt, mit Revolvern geschossen und mit Granaten geworfen, die
Menge stieb schockiert auseinander, rund 50 Passanten wurden
verletzt. Als der Marlinger Lehrer Franz Innerhofer, Mitglied der
mitmarschierenden Musikkapelle seines Ortes, zwei Buben schützen
wollte, wurde er erschossen. Das anwesende Militär ließ die
Faschisten unbehelligt zum Bahnhof ziehen und heimfahren. Die
Behörden waren über die Aktion im Vorhinein informiert gewesen,
nun wurde sie zwar verbal verurteilt, eine ernsthafte Untersuchung
und Ahndung aber blieb aus.
Die zunächst in Bozen und Meran gegründeten Fascio-Sektionen
(Brixen folgte 1923, Bruneck 1924) griffen immer dreister
in die demokratisch gewählten Organe ein. So blieb dem Meraner
Gemeinderat 1922 nichts anderes übrig, als Forderungen der örtlichen
Fascio-Sektion umzusetzen, etwa die Übersetzung der deutschen
Straßennamen (wobei die deutschen Bezeichnungen noch
bestehen bleiben durften). In Bozen widersetzte sich Bürgermeister
Perathoner solchen Eingriffen, so dass der örtliche Fascio im
September 1922 formal seine Absetzung, die Auflösung der städtischen
Polizei, die Umwandlung einer der vier deutschen Bozner
Schulen in eine italienische und Sprachkurse für die Gemeinde-
41
bediensteten verlangte. Für die Erfüllung der Forderungen wurde
der 30. September als Ultimatum gesetzt. Die Regierung schritt
nicht nur nicht ein, sondern enthob Perathoner wegen seiner deutschen
Ansprache an den König am 24. September seines Amtes.
Noch vor Ablauf des Ultimatums begann eine von Benito Mussolini
persönlich beschlossene Strafexpedition: 1200 Squadristi aus
dem Veneto und der Lombardei machten sich in Zügen, Bussen
und Autos auf den Weg nach Bozen, angeführt von höchsten Vertretern
des Partito Nazionale Fascista. Sie besetzten die Elisabeth-
Schule und benannten sie bald darauf in „Scuola Regina Elena“ um.
Als Nächstes wurde unter Duldung der Polizei das Rathaus von
700 Mann besetzt, worauf Generalvizekommissar Credaro der Forderung
nach Auflösung des Gemeinderates sofort nachkam und
einen italienischen kommissarischen Verwalter einsetzte. Die noch
kaum erprobten demokratischen Institutionen über gaben den Staat
kampflos an den Faschismus, wenig später – am 28. Oktober 1922 –
übernahm Mussolini mit dem „Marsch auf Rom“ die Macht in Italien,
am 30. Oktober wurde er zum Ministerpräsidenten ernannt.
Die politische Vertretung Südtirols hoffte zunächst auf ein Auskommen
mit dem Faschismus. Rein ideologisch gab es auch offene
Sympathien für eine starke Hand, die in Italien für Ordnung sorgen
würde. So hatte Friedrich Graf Toggenburg noch nach dem Überfall
auf den Bozner Trachtenumzug offen geäußert, „wäre ich Italiener,
wäre ich wahrscheinlich Faschist“. Einzig das nationalistische
Vorgehen der Squadristi machte Sorgen, aber man glaubte an einen
Modus Vivendi. So unterzeichnete der Deutsche Verband unter
Leitung von Toggenburg und des Deutschfreiheitlichen von Walther
1923 ein Abkommen mit dem Provinzialsekretär der Venezia
Tridentina, das den Verzicht auf Italianisierung, die Zweisprachigkeit
in den öffentlichen Ämtern und die Rückgliederung der ans
Trentino abgetretenen Gebiete des Unterlandes vorsah. Im Gegenzug
versprach der Deutsche Verband, die Italienischkenntnisse der
deutschsprachigen Bevölkerung zu fördern und durch Verzicht auf
jedwede irredentistische Propaganda de facto den Verbleib Südtirols
bei Italien anzuerkennen. Einziger Gegner des Paketes war
nicht zufällig Eduard Reut-Nicolussi, dem der Faschismus ideologisch
fremd und die Rückkehr Südtirols zu Österreich ein Herzens-
42
anliegen war: „Ein ewiges und unwiderrufliches Nein“ hatte er in
seiner tief betroffenen Abschiedsrede als österreichischer Nationalratsabgeordneter
der Annexion entgegengehalten: „Jedes Pathos
ist heute zwecklos. Es ist unmöglich, jene Gefühle zu schildern,
welche einen Mann beseelen, der in den Reihen der Tiroler Jäger
gegen Italien gekämpft und sein Blut vergossen hat und nunmehr
mit seinen Brüdern in die Knechtschaft wandert. [...] Es wird jetzt
in Südtirol ein Verzweiflungskampf beginnen um jeden Bauernhof,
um jedes Stadthaus, um jeden Weingarten. Es wird ein Kampf
sein mit allen Waffen des Geistes und mit allen Mitteln der Politik.“
Reut-Nicolussi trat dem Faschismus offen entgegen, als Anwalt
verteidigte er vor Gericht auch die sozialdemokratische Gewerkschaft
wegen Besetzung ihres Sitzes durch die Faschisten.
Der unheilige Pakt mit dem Faschismus kam nicht zustande,
da ihn der Faschistische Großrat wegen zu großzügiger Haltung
gegenüber dem Deutschtum im Lande verwarf. Stattdessen verkündete
Ettore Tolomei, von Mussolini zum Senator ernannt, am
15. Juli 1923 im Bozner Stadttheater seine „Provvedimenti per l’Aldo
Adige“, das in 32 Punkten das „große Vorhaben der nationalen
Penetration“ Südtirols umsetzen sollte – ein institutionell, politisch,
kulturell, schulisches Italianisierungsprojekt. Südtirol sollte
binnen zweier Generationen vollkommen italienisch sein. Schrittweise
wurde das Programm tatsächlich umgesetzt: 1923 setzte mit
der „Lex Gentile“ die Italianisierung der Schule ein, ebenso wurden
die Kindergärten italianisiert, ab 1925 gab es die deutsche Sprache
an den öffentlichen Schulen nicht mehr, lediglich in den Klosterschulen
konnte sich der Deutschunterricht in bestimmtem Maße
halten. Die deutschsprachigen Lehrkräfte mussten um eine italienische
Lehrbefähigung ansuchen, die aufgrund der verlangten
Italienischkenntnisse nur von den wenigsten erlangt wurde. Die
anderen mussten in Pension gehen oder ohne Gehalt im Schuldienst
bleiben, bis sie ausreichend Italienisch gelernt haben würden. Dies
veranlasste die meisten, sich aus dem Schuldienst zurückzuziehen.
Zugleich wurde durch – sich lange haltende – Privilegien wie günstige
Wohnung, besseres Gehalt und großzügige Rentenregelung
die Einstellung italienischer Lehrkräfte forciert. 1928 schließlich
wurde verfügt, dass auch die Südtiroler Lehrpersonen mit Lehr-
43
Hoch zu Ross im Geist nationaler Überhöhung: Benito Mussolini und
Ettore Tolomei (ganz links) bei einem Aufmarsch in Rom.
befähigung überallhin nach Italien versetzt werden konnten, bei
Weigerung oder auch bei Verdacht auf politische Unzuverlässigkeit
wurden sie entlassen.
Ähnlich traf es auch die deutschen Beamten und Behörden auf
allen Ebenen. Die Gemeinderäte wurden aufgelöst, die gewählten
Bürgermeister durch faschistische Podestà ersetzt, die deutschen
Gemeindesekretäre durch italienische. In allen Ratsstuben, aber
auch in allen anderen öffentlichen Gebäuden einschließlich der
Gastlokale, mussten die Bilder des Königspaares und von Benito
Mussolini aufgehängt werden. Mit 1. März 1924 wurde Italienisch
als einzige Amtssprache eingeführt. Aber auch Rechnungen waren
ausschließlich auf Italienisch auszustellen, Firmenschilder, auch
die Schilder von Ärzten und Anwälten durften nur mehr italienisch
beschriftet sein, ebenso hatte sich ihr Schriftverkehr ausschließlich
der italienischen Sprache zu bedienen. Mit einem
ersten Dekret begann 1923 die Übersetzung der Südtiroler Ortsnamen
nach dem „Prontuario dei nomi locali dell’Alto Adige“ des
Ettore Tolomei, das er in mehreren Etappen veröffentlichte und
1939 vollendete. So traten am 10. Juli 1940 die 8000 weitgehend
frei erfundenen, teils von römischen und vorrömischen Namen
44
abgeleiteten Übersetzungen für Flure, Berge, Bäche, Höfe, Weiler,
Orte, Gemeinden in Kraft. Zugleich übersetzte Tolomei auch rund
20.000 Familiennamen, die 1926 dekretiert wurden. Die Umsetzung
dieser Maßnahme war schleppend, aber immerhin wurden
bis 1939 die Namen für 12.000 Personen in Südtirol ins Italienische
übersetzt. Ab 1927 war die deutsche Sprache auch auf Grabinschriften
verboten.
Schon der Krieg hatte das um 1900 aufblühende und durchaus
pluralistische Zeitungswesen im Lande ausgedünnt, oft ganz
einfach deshalb, weil die wenigen Redakteure einrücken mussten.
Trotzdem gab es 1922 in Südtirol noch über 30 Zeitungen und
Zeitschriften unterschiedlicher politischer Färbung. Die faschistischen
Gesetze trafen als erste die sozialdemokratische Partei und
deren Zeitschrift „Volksrecht“, die schon 1923 eingestellt werden
musste. Die anderen Zeitungen wurden durch das Pressegesetz von
1924 zunehmend an die kurze Leine gelegt und bei unerwünschten
Inhalten mit Verwarnungen belangt, 1925 wurde eine Vorzensur
eingeführt. In der Folge wurde die bis dahin auflagenstärkste Zeitung
„Der Landsmann“ nach zweimaliger Verwarnung eingestellt,
es folgte binnen weniger Monate die Schließung der „Bozner Nachrichten“
und der „Brixener Chronik“.
Die gänzliche Ausschaltung deutschsprachiger Südtiroler Zeitungen
konnte nur durch eine Intervention des Vatikans verhindert
werden, auf dessen Haltung Mussolini am ehesten Rücksicht nahm.
Der Duce setzte darauf, durch geregelte Beziehungen zur Kirche
das italienische Volk ganz für sich zu gewinnen, 1929 traten die
zwischen Mussolini und dem Vatikan ausgehandelten Lateranverträge
in Kraft. Die Intervention beim Vatikan war von Kanonikus
Michael Gamper ausgegangen, der – als Nachfolger des christlichsozialen
Priesters und Tiroler Medienpioniers Ämilian Schöpfer –
unter anderem den 1926 verbotenen „Tiroler Volksboten“ geleitet
hatte. So durften ab 1927 die katholisch ausgerichteten Blätter des
einstigen Tyrolia-Verlages wieder erscheinen. Die neugegründeten
„Dolomiten“ erschienen dreimal wöchentlich, dazu kamen die
Wochenblätter „Volksbote“ (ohne Tirol) und das „Katholische Sonntagsblatt“.
Die Bezeichnung „Tirol“ in allen Kombinationen (auch
als „Südtirol“ oder „Südtiroler“) war schon 1923 amtlich unter-
45
sagt, weshalb „Der Tiroler“ in „Landsmann“ umbenannt werden
musste, bevor er ganz verboten wurde. Der Tyrolia-Verlag wurde
zunächst zum „Vogelweider-Verlag“, bis auch allzu deutsch klingende
Namen nicht mehr erlaubt waren und die Wahl auf den
unverfänglicheren Namen „Athesia“ fiel. Auch inhaltlich waren
die Auflagen streng, aber Kanonikus Michael Gamper und seine
„Athesia“ wurden durch die Ausnahme vom allgemeinen Erscheinungsverbot
zur einzig überlebenden Pressestimme Südtirols.
Gampers Position wurde indirekt auch durch die faschistische
Zerstörung der letzten demokratischen Überbleibsel gestärkt.
Schon die ersten Wahlen nach Mussolinis Machtübernahme von
1924 waren eine Farce. Mit einem neuen Wahlgesetz sicherte Mussolini
seiner Einheitsliste („listone“) bei mindestens 25 Prozent der
Stimmen zwei Drittel der Parlamentssitze. Der Deutsche Verband
konnte nicht mehr alleine antreten, sondern musste sich zu einer
Listenverbindung mit den Kroaten und Slowenen der Venezia Giulia
zusammenschließen. Von den Südtiroler Parlamentariern der
ersten Nachkriegswahl trat nur noch Karl Tinzl an, der Südtirol
nun zusammen mit dem Pusterer Baron Paul von Sternbach im Parlament
vertrat. Von Sternbach war ebenfalls wie seine Vorgänger
schon im alten Österreich politisch tätig gewesen, als Vertreter der
Tiroler Landesregierung hatte er an den Friedensverhandlungen
von Saint Germain teilgenommen. Am Vorabend der Parlamentswahl
wurde er in seinem Ansitz in Uttenheim von faschistischen
Schlägern frühmorgens überfallen und schwer misshandelt, lediglich
durch das Eingreifen von Dorfbewohnern konnte seine Verschleppung
und möglicherweise Ermordung verhindert werden.
In Bruneck kam es zu massiven Einschüchterungen der Bevölkerung
durch Schlägertrupps. Überfallen und verprügelt wurde auch
der damalige Vizebürgermeister Josef Neuhauser in seiner Eigenschaft
als Wahlkontrolleur. In Bozen wurden der abgesetzte Bürgermeister
Julius Perathoner und der nicht mehr kandidierende
Eduard Reut-Nicolussi überfallen. Gemessen am Wahlergebnis
wirkten die Einschüchterungsversuche zumindest nicht landesweit.
Der Deutsche Verband kam auf 83 Prozent der Stimmen
und konnte Tinzl und von Sternbach durchbringen, die faschistische
Einheitspartei kam in Südtirol auf 17 Prozent. Da und dort
46
Aufruf der „Brixener Chronik“ zu den Wahlen vom 6. April 1924 –
verzweifeltes Aufbäumen gegen die ersten Einschränkungen unter
dem Faschismus.
aber zeigte der faschistische Schrecken auch Wirkung, etwa im
Sarntal, wo der „listone“ trotz der fast ausschließlich deutschen
Bevölkerung auf fast gleich viele Stimmen kam wie der Deutsche
Verband.
Die zwei gewählten Vertreter des Deutschen Verbandes achteten
zwar sehr darauf, sich von der antifaschistischen Opposition
fernzuhalten, um eine einigermaßen günstige Verhandlungsbasis
gegenüber der faschistischen Regierung zu wahren. Es half aber
nicht viel. 1926 wurden alle Parteien bis auf den Partito Nazionale
Fascista verboten. Eduard Reut-Nicolussi emigrierte 1927 nach
47
Innsbruck, die zwei Südtiroler Parlamentarier waren weitgehend
isoliert und konnten in Südtirol keine Parteiarbeit mehr leisten.
1929 lief ihr Mandat aus, die nächsten zwei Wahlgänge sahen nur
mehr eine einzige Liste vor, die vom faschistischen Großrat (Gran
Consiglio del Fascismo) bestellt wurde. Die Wahl bestand lediglich
darin, die Liste anzunehmen oder abzulehnen, wobei auffällig und
unterschiedlich gefärbte Stimmzettel sowie erneute Einschüchterungsaktionen
dafür sorgten, dass auch in Südtirol 80 Prozent
für den „listone“ stimmten, und dies, obwohl sich 1929 auf dieser
Liste kein deutschsprachiger Kandidat befand.
Der Widerstand gegen den Faschismus war verhalten, Lähmung
und Resignation ergriffen weite Kreise der Bevölkerung. Dazu
kam wohl auch, dass aus Österreich kaum Rückendeckung erhofft
werden konnte. Die vom großen Kaiserreich übriggebliebene
Schrumpfrepublik war wirtschaftlich schwer angeschlagen und auf
gute Beziehungen zu Italien angewiesen. Schon 1920 anerkannte
Österreich in einem Abkommen die alleinige Zuständigkeit Italiens
für die Minderheiten auf italienischem Territorium. Im Freundschaftsvertrag
Österreich-Italien von 1930 wurde Südtirol nicht erwähnt.
Der austrofaschistische Ständestaat ab 1933 orientierte sich
in seiner Außenpolitik an Mussolini, in der Hoffnung, damit Hitlers
Anspruch auf Österreich in Schach zu halten. Kurt Schuschnigg, der
Nachfolger des 1934 ermordeten Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß,
kam zwar aus Tirol, verkniff sich aber bei den 125-Jahr-Feiern
im Gedenken an 1809 in Innsbruck jede Erwähnung Südtirols.
Eher kam – vor Hitlers Machtergreifung – Unterstützung aus
Deutschland. Die deutsche Außenpolitik strebte nämlich schon
vor Hitler ein möglichst alle deutsch besiedelten Gebiete umfassendes
Deutsches Reich an, weshalb das „Deutschtum im Ausland“
tatkräftig und auch finanziell unterstützt wurde. So vermied es
der deutsche Außenminister Gustav Stresemann 1925, auf Mussolinis
Forderung nach Anerkennung der Brennergrenze einzugehen.
Besonders am Herzen lag Südtirol der bayrischen Landespolitik.
Ministerpräsident Heinrich Held drückte 1926 „unseren
Südtiroler Brüdern“ die Solidarität gegen die „brutale Vergewaltigung
des Deutschtums“ aus. Mussolini protestierte heftig gegen
solche Interventionen, gab aber dem ersten Präfekten der 1926
48
gebildeten „Provinz Bozen“, Umberto Ricci, zunächst den Auftrag,
die Assimilierung sanft durchzuführen. Die von Tolomei 1923
heftig geforderte Entfernung des Walther-von-der-Vogelweide-
Denkmals wurde auch unter dem Eindruck heftiger Proteste aus
Deutschland 1926 vorerst gestoppt. Erst 1935, als Mussolini in
Hitler einen Bündnispartner sah, der ihm auch in Südtirol nicht
dreinreden würde, kam es zur Verlegung des Denkmals, im selben
Jahr wurde an der Mariensäule in Bozen die deutsche Inschrift
weggemeißelt. An den Laurinbrunnen, der die Theoderich-Sage
aufgreift, hatte man sich schon 1933 gewagt.
Bozen war – neben Meran – die strategische Machtbasis, von
der aus der Faschismus Südtirol durchdringen wollte. Symbolisch
zum Ausdruck gebracht wurde dies mit dem Bau des vom Architekten
Marcello Piacentini entworfenen Siegesdenkmals gegenüber
der Bozner Altstadt am anderen Ufer der Talfer. Das Denkmal
war eine Idee Mussolinis persönlich, errichtet wurde es in
bezeichnender Symbolik neben dem Fundament eines erst 1917
in Angriff genommenen und nicht fertig gewordenen Kaiserjägerdenkmals.
Die bis in die Gegenwart als anstößig empfundene Inschrift
sprach die Sprache der Kolonisatoren: „Hic patriae fine
siste signa. Hinc ceteros excoluimus lingua legibus artibus“. Zu
Deutsch lautet der Spruch: „Hier sind die Grenzen des Vaterlandes,
setze die Zeichen. Von hier aus lehrten wir den anderen Sprache,
Gesetze und Künste“. „Ceteros“ für „andere“ hätte ursprünglich
„barbaros“ lauten sollen, die elegantere Formulierung änderte aber
nichts an der Botschaft des Denkmals. Wie den „Doss Trento“ widmete
Mussolini auch das Bozner Siegesdenkmal dem Irredentisten
Cesare Battisti, trotz dessen Ablehnung der Brennergrenze
und trotz Einspruchs der Witwe. Der um das Denkmal ebenfalls
neu entworfene Siegesplatz mit dem anschließenden „Corso Littorio“
(der heutigen Freiheitsstraße) wurde zum Ausgangspunkt
der „Città Nuova“, der Neustadt. Geplant war auch eine Fortsetzung
des „Corso“ in das Herz der Altstadt hinein, was eine breite
Schneise durch die Museumstraße bedeutet hätte. Der damalige
Denkmalamtsleiter Giuseppe Gerola, obwohl kein Freund der Altbozner
Architektur, widersetzte sich diesem Anliegen. Einen weithin
sichtbaren Tribut musste die Altstadt – neben der Schleifung
49
Der Sockel für das geplante Kaiserjägerdenkmal wurde 1926 von den
Faschisten zerstört, daneben entstand das Siegesdenkmal.
mancher Gebäude für faschistische Bauten – aber auf besonders
plastische Weise zahlen: 1936 wurde der neugotische Zinnenturm
des Stadtmuseums geschliffen. Die offizielle Begründung lautete,
„das Rosengarten-Panorama werde [...] von der Spitze des Museumsturmes
unterbrochen“, was freilich nur vom Siegesdenkmal aus
betrachtet zutreffen konnte. Grundsätzlich ging es um die Beseitigung
„deutsch“ wirkender und an die österreichische Vergangenheit
erinnernder Bauelemente.
Im neuen Bozen verschmolzen die Sprachen von Macht und
Architektur. In unmittelbarer Nähe zum Siegesplatz wurde 1935
durch den Umbau der Villa Wendlandt das Oberkommando der
Armee errichtet, im Westen davon entstand die Villa Reale (Herzogspalast)
in der Prinz-Eugen-Allee. Am quer zum Corso Littorio
geplanten Viale Giulio Cesare (heute Italienallee) wurde 1939 das
Gerichtsgebäude und gegenüberliegend das Parteigebäude Casa
Littoria errichtet, der spätere Sitz des Finanzamtes mit einem umstrittenen
Relief, in dessen Mitte Benito Mussolini hoch zu Ross
reitet. Am Entwurf der beiden Gebäude am Gerichtsplatz war
unter anderem auch der Architekt Luis Plattner beteiligt, das Relief
stammte aus der Hand des Südtiroler Künstlers Hans Piffrader. Dass
50
Einweihung des Alpini-Denkmals in Bruneck 1937: Nach dem Einmarsch
der Deutschen Wehrmacht 1943 wurde es zerstört, nach dem Krieg wurde
es wieder aufgebaut und zum Ziel mehrerer Attentate.
sich Künstler an faschistischen Aufträgen beteiligten, kann nicht
mit dem massiven Druck des Regimes allein erklärt werden. Zum
einen mochte die Faszination der faschistischen Idee vom Menschen,
der sich über sich selbst erhebt, eine wichtige Rolle gespielt
haben. Zum anderen widerspiegelte der Faschismus in seiner Zeichensprache
die Stile der Zeit, mit denen nach dem verheerenden
Krieg, nach der Ernüchterung in einer als gottlos empfundenen
Welt gewissermaßen neue Ausdrucksformen gesucht wurden. Parallel
zum Corso Littorio wurde die Drususstraße angelegt, für die
Brücke zu Ehren des römischen Feldherrn Drusus wurde schon
1924 ein Wettbewerb ausgeschrieben. So wuchs jenseits der Talfer
das neue Bozen, mit Prachtstraßen, Wohnblöcken für Offiziere
und Beamte, Freizeiteinrichtungen (Corso-Kino, GIL-Gebäude
für die Jugend), INA-Gebäude für das Versicherungsinstitut,
Schulzentrum mit dem Istituto Tecnico „Cesare Battisti“ und dem
Istituto Tecnico Industriale, das OMNI-Gebäude als Mutter-Kind-
Haus. Die Architektur sollte die Erneuerung der Gesellschaft auf
den Ebenen der Wehrhaftigkeit, der Staatsmacht, der Jugendarbeit,
der Sozialleistungen, der Aufwertung von Mutterschaft zum Aus-
51
Der Künstler Hans Piffrader
bei einer Auftragsarbeit für
Mussolini: Die Zusammenarbeit
mit dem Regime fand
im berüchtigten Mussolini-
Relief am damaligen Sitz der
faschistischen Partei ihre
Krönung.
druck bringen und fördern – ein ehrgeiziges, notwendigerweise
hinter den Ansprüchen bleibendes Projekt.
In Südtirol stand der Erneuerungsgeist des Faschismus unter
den nationalistischen Vorzeichen der Assimilierungspolitik. So wie
Satelliten um ein Zentrum kreisen, wurden nach dem Siegesdenkmal
als gedachte Mitte der neuen Provinz an den Außengrenzen
Südtirols Gefallenendenkmäler errichtet: Für die drei „Beinhäuser“
an der Malser Haide im Vinschgau, bei Innichen im Pustertal und
in Gossensaß am Brennerpass wurden Überreste von anderswo
ge fallenen Soldaten exhumiert und an die neuen italienischen
Grenzorte gebracht. In Meran und Bruneck wurden den Alpini
überlebens große Denkmäler gewidmet (1937 und 1938).
Auf ähnliche Weise stand auch die technikbejahende, wirtschaftliche
Potenz anstrebende Ideologie des Faschismus in Südtirol
in einer nationalen Funktion: Einerseits ging es um eine intensive
Energienutzung für den Aufbau einer wettbewerbsfähigen
Industrie, andererseits war dies eines der effizientesten Mittel der
52
Die Entfernung des Walther-Denkmals von seinem Platz im Herzen Bozens
1935: dargestellt wie der Abtransport eines Gefangenen.
„Penetrationspolitik“. Am neuen Bozner Bahnhofsgebäude, 1928
erbaut, wurde auch dieser Geist durch monumentale Skulpturen
architektonisch zum Ausdruck gebracht: Die zwei riesigen Figuren
am Eingang sollten Dampfkraft und Elektrizität personifizieren.
Mit dem Bau der Industriezone im Süden von Bozen begann
ab 1934 eine Offensive in der Zuwanderungspolitik, Bozen sollte
binnen kurzer Zeit auf 100.000 Einwohner gebracht werden. Mit
einem Federstrich wurden durch ein Sondergesetz von 1935 die
nötigen Obstwiesen zu Baugründen von „öffentlichem Interesse“
umgewidmet, gegen die Enteignung gab es praktisch kein Rechtsmittel
mehr, abgelöst wurden die Gründe für Spottpreise. Zunächst
auf 32 Hektar, bald auf weit über 50 Hektar schossen Industriehallen
in die Höhe: die Stahlwerke, die Aluminiumwerke, das
Lancia-Werk, das Holzplattenwerk Feltrinelli, die Gießerei Pippa,
der Hersteller synthetischer Treibstoffe CEDA, der Ätherproduzent
Carbural, der Parkettbodenhersteller Tamanini, die Fließenfabrik
Vignoni, der Teigwarenproduzent Ciele, die Strumpffabrik
Dolomiti, die staatliche Schnapsbrennerei Destillerie Federali,
die Einrichtungsfirma SIDA, die FIAT-Garagen und viele andere
verwandelten nicht nur Stadtbild, sondern auch Arbeitsplatzan-
53
gebot und Wirtschaftsstruktur der Landeshauptstadt. Die Südtiroler
Industrie war traditionell schwach ausgeprägt, einzelne
Branchen konnten aber den technischen Aufschwung nützen: So
bauten die Brixner Brüder Julius und Gilbert Durst ihre Werkstatt,
in denen sie Fotoapparate bastelten, zunehmend aus, bis – auch
dank des Einstiegs der Bozner Lederfabrikanten Luis und Heinz
Oberrauch als Finanziers – eine Firma von Weltruf daraus wurde.
In Toblach gründete Max Glauber 1925 die Radiofabrik Unda, in die
später auch die Unternehmerfamilie Amonn einstieg. Die Bedeutung,
die das Medium Radio für die totalitären Systeme des frühen
20. Jahrhunderts errang, brachte der Firma ungeahnten Aufschwung,
aber auch eine unvermeidliche Nähe zum Regime. Am
12. Juli 1928 wurde vom „Ente Italiano Audizioni Radiofoniche“
(EIAR) die erste Rundfunkstation in Bozen in Betrieb genommen.
Erste Sendung war die Liveübertragung der Rede von König Viktor
Emanuel III. zur Einweihung des Siegesdenkmals.
Für den Strombedarf der neuen Industriebetriebe wurden nach
und nach Elektrizitätswerke in Angriff genommen. Die Werke bei
Marling (für die Stickstofffabrik in Sinich) und Kardaun (für Bozen)
wurden schon in den 20er Jahren erbaut, jenes bei Waidbruck ging
1939 in Betrieb, imposant geschmückt mit einem Reiterstandbild,
das die Fortschrittskraft des Faschismus verherrlichen sollte, dem
sogenannten „Aluminium-Duce“. Aber auch viele kleinere E-Werke
wurden errichtet. Zur 100.000-Einwohner-Stadt sollte Bozen erst
viel später werden, aber 1939 hatte sich die Bevölkerung in der
Landeshauptstadt gegenüber dem Stand von 1921 mehr als verdoppelt
und fast die 60.000 erreicht. Damit war die deutschsprachige
Bevölkerung in Bozen in die Minderheit versetzt. Waren
den Beamten und Offizieren die palastartigen Wohnblöcke an
den Prachtstraßen vorbehalten, wurden für die Arbeiter die neuen
Viertel „Rione Littorio“ und „Rione Dux“ angelegt, das heutige
Europaviertel und die Semirurali-Zone. Hier wuchs jenes weitgehend
isolierte Neubozen aus dem Boden, das in grellem Widerspruch
zur Altstadt entstand und bis in die Gegenwart das fragwürdige
Flair einer eigenen, abgeschotteten Welt behielt.
Mit dem Jahr 1922 hatte aber auch für das ländliche Süd tirol
eine neue Zeitrechnung begonnen, die „Era Fascista“, die sich
54
buchstäblich im Kalender niederschlug. So erzählt Claus Gatterer
in seinem Roman „Schöne Welt, böse Leut“ von der italienischen
Lehrerin, „die, auf dem Pult thronend, ihre Nägel lackierte“ und
das Datum diktierte, das über die Aufgabe zu schreiben war: „Sesto,
27 ottobre 1930/VIII. E.F.“, das achte Jahr der „Era Fascista“.
Die Italianisierung der Schulen war ein Südtiroler Sonderfall
der faschistischen Schulpolitik. Staatsweit ging es um eine Faschisierung
des Unterrichts, die auch in die Freizeitgestaltung eingreifen
und die Jugend für die faschistischen Ideale bilden und
gewinnen sollte. So wurden einerseits Lerninhalte auf die Verherrlichung
Mussolinis, seines Regimes, der Kolonialkriege zugeschnitten,
andererseits über die 1925/26 gegründete „Opera Nazionale
Balilla“ Freizeitangebote an die Jugend entwickelt. Am 1933 eingeführten
„sabato fascista“ war für die Mitglieder der faschistischen
Jugendorganisationen die Teilnahme an Programmen politischer
Bildung und militärischer Frühschulung verpflichtend. An den
Schulen und bei der Balilla musste marschiert, italienisch gesungen
und vor der Trikolore salutiert werden. Sich dem Druck von
Schule und Balilla zu entziehen, war nur schwer möglich. Die Mitgliedschaft
war häufig auch Voraussetzung für den Mensabesuch,
der für Bauernkinder mit weitem Schulweg aufgrund des ebenfalls
eingeführten Nachmittagsunterrichts oft die einzige Möglich keit
war, zu einem warmen Essen zu kommen. Besserstehende Bauern
und Bürger konnten es sich eher leisten, ihre Kinder nicht bei der
Balilla einzuschreiben, da und dort arrangierten sich aber gerade die
Dorfgrößen leichter mit dem Regime als die einfache Bevölkerung.
Ebenso wie viele Künstler und Intellektuelle waren auch einfache
Menschen und bodenständige Kulturvereine hin- und hergerissen
zwischen einer im Einzelfall nicht schwer fallenden Anpassung
und einer äußerst risikoreichen Auflehnung. Der Faschismus
ließ keinen Lebensbereich aus: 1926 wurde der aus dem einstigen
Tiroler Bauernbund hervorgegangene Südtiroler Bauernbund
zugunsten der „Federazione Sindacati Fascisti degli Argricoltori“
umgewandelt, ebenso wurden die um die Jahrhundertwende
er folgreich gegründeten bäuerlichen Genossenschaften dieser
Federazione unterstellt, 1928 folgte die Gründung des „Consorzio
Cooperativo dell’Alto Adige“, des späteren „Consorzio Agrario“
55
Die Urbanisierung Bozens – mit dem „Rione Littorio“ (dem heutigen
Europaviertel) entstand eine neue Stadt.
mit vielen Zweigstellen im Lande. Die technische Revolution, die
dem Faschismus – durchaus im Einklang mit dem Zeitgeist – vorschwebte,
blieb in der Südtiroler Berglandwirtschaft freilich aus.
1922 gab es in Südtirol einen einzigen Traktor im Etschtal, zehn
Jahre später gab es fünf, 20 Jahre später immer noch nicht ganze
50. Aus wirtschaftlicher Not, aus Verschuldung und in vielen Fällen
aufgrund des politischen Druckes standen in den 30er Jahren
immer mehr Bauernhöfe zum Verkauf. So gingen hunderte von
Bauernhöfen in den Besitz italienischer Gesellschaften über, die
sie an italienische Bewerber weitergeben hätten sollen. Das Projekt
hatte keinen durchschlagenden Erfolg, einerseits weil sich die
Berglandwirtschaft für eine solche „Penetration“ schwerlich eignete,
andererseits aber auch, weil der „Volksbund für das Deutschtum
im Ausland“ den verschuldeten Südtiroler Bauern finanziell
massiv unter die Arme griff, um die Höfe zu retten.
In eine zwiespältige Lage gerieten auch viele Vereine, da der
Faschismus folkloristische Vereine durchaus zu fördern bereit
war. So gab es nach 1922 sogar Neugründungen von Vereinen. 1929
nahmen Südtiroler Vereine an einem Trachtentreffen in Venedig
teil. Auftritte der Südtiroler Musikkapellen bei nationalen Ereig-
56
Die aufgezwungene und die heimlich bewahrte Kultur: Südtiroler Buben
trugen „Balilla“-Uniform, die Mädchen (links im Hintergrund) kamen
zu den „Piccole Italiane“. Das Bild darunter zeigt eine deutsche „Notschule“
im Sarntal.
57
nissen waren ausdrücklich gewünscht. Ganz offensichtlich lag
dieser Haltung eine Sichtweise von Brauchtum als Exotik zugrunde,
die durchaus gewünscht war, sofern sie sich in den Dienst des
Regimes stellte. So wurden die Musikkapellen der faschistischen
Freizeit-und Kulturorganisation „Opera Nazionale Dopolavoro“ eingegliedert.
Sie mussten die nationalen Hymnen wie „Marcia Reale“,
„Giovinezza“ und die „Canzone del Piave“ spielen. Bei Widerstand
wurden die Kapellmeister abgesetzt. Die meisten Musikkapellen
machten gute Miene zum bösen Spiel, sicherte dies doch den Fortbestand
des Vereins. Kreativ wurde das Regime ausgetrickst, etwa
indem der Marsch „Unter dem Doppeladler“ auf den Repertoirelisten
als „Marcia Aquila“, der Kaiserschützenmarsch als „Echo aus
früheren Zeiten“ und „Wien bleibt Wien“ als „Wein bleibt Wein“
ausgewiesen wurden, um die Zensur zu umgehen. 1935 war Schluss
mit lustig, nun richteten sich die faschistischen Verbote gegen das
Tragen der Tracht.
Politisch suspektere Vereine hatten schon vorher ein schwieriges
Dasein. Turnerbünde und Feuerwehren, deren Gründungsgeschichte
im 19. Jahrhundert eng mit der deutschen Nationalbewegung
verwachsen war, wurden aufgelöst, ebenso der Alpenverein,
dessen Schutzhütten an den „Club Alpino Italiano“ übergingen.
Deutsches Volkstheater wurde eine Zeitlang im Rahmen des Dopolavoro
geduldet, allmählich aber ebenfalls zum Verschwinden
gebracht. Letztlich zeigt sich in diesen anfänglichen Ver suchen,
das Südtiroler Kulturleben einzunehmen, um es schließlich stillzulegen,
die Strategie der sanften Durchdringung: Sie förderte
zunächst die Anpassung, die in der Hoffnung auf einen Modus
Vivendi zum Teil auch versucht wurde; zugleich wurde so auch
vorbeugend die Protestbereitschaft geschwächt, als schließlich
härter durchgegriffen wurde.
Der Südtiroler Widerstand gegen den Faschismus war vorwiegend
passiv, er bestand in der Organisation des heimlichen Deutschunterrichts,
dem Aufbau der „Katakombenschulen“. Den Anstoß
dazu hatte Kanonikus Michael Gamper am 1. November 1923 im
„Volksboten“ gegeben: „Wir müssen es halt den ersten Christen
nachmachen. Als sie vor den Verfolgungen nicht mehr sicher waren,
in den öffentlichen Tempeln ihren Gottesdienst zu halten, zogen
58
sie sich an den häuslichen Herd zurück. [...] Als die Verfolger auch
dorthin drangen, nahmen sie zu den Toten in den unterirdischen
Gräbern, in den Katakomben, ihre Zuflucht.“ Am 2. Oktober 1924
schrieb er noch deutlicher: „Jedes Haus, jede Hütte muß zum
Schulhaus, jede Stube zur Schulstube werden, in der die Kinder
ihren Unterricht in ihrer Muttersprache erhalten. Und die Lehrer
seid ihr, ihr deutschen Väter und Mütter, ihr wackeren deutschen
Mädchen und Buben, die ihr schon aus der Schule draußen seid.“
Heimlich wurde 1925 ein erster Lehrgang für Notschullehrerinnen
im Palais Toggenburg in Bozen abgehalten, maßgebliche Kräfte
waren neben dem Kanonikus die Politiker des Deutschen Verbandes
Eduard Reut-Nicolussi und Karl Tinzl, der Salurner Rechtsanwalt
Josef Noldin, die Direktorin der Bozner Mädchenschule
Emma von Leurs sowie die Volksschullehrerin Maria Nicolussi,
eine Schwester von Eduard Reut-Nicolussi, bald als „Tante Moi“ im
ganzen Land für ihren Einsatz um den Geheimunterricht bekannt.
Den Kindern wurde eingeschärft, wie sie sich auf dem Weg zum
Unterricht – in privaten Häusern, auf entlegenen Höfen – verhalten
sollten, sie gingen einzeln hin und kehrten einzeln heim. Es
wurden Wachposten aufgestellt, die beim Anrücken von Carabinieri
oder Polizei unauffällig Alarm schlugen. Als Unterrichtsmittel
wurden nur lose Blätter mit Bleistift verwendet oder leicht löschbare
Schiefertafeln, zur Tarnung standen Spiele oder auch italienische
Schulbücher griffbereit. Es wurde Schreiben und Lesen in
deutscher Sprache geübt, deutsche Lieder wurden gesungen, dazu
auch die Tiroler Geschichte unterrichtet – jene Fächer, die aus den
faschistischen Lehrplänen getilgt worden waren.
Rein in Zahlen ausgedrückt war der Notunterricht weniger groß
angelegt als gemeinhin angenommen, von den rund 30.000 deutschsprachigen
Schulkindern wurden etwa 5000 jährlich erreicht. Aber
es war eine Möglichkeit, zumindest im Geheimen etwas für den
Erhalt der eigenen Sprache und Kultur zu tun, was offen kaum
mehr möglich war oder zumindest nicht mehr für möglich gehalten
wurde. 1936 hatte Mussolini eine Reihe von Ausnahmegesetzen
erlassen, mit denen jedwede nichtfaschistische politische Tätigkeit
verfolgt wurde. Unter dem Vorwand der Aufrechterhaltung
der öffentlichen Ordnung konnte völlig willkürlich vorgegangen
59
Josef Noldin und Angela Nikoletti – Regimeopfer und Symbolgestalten eines
passiven und nahezu wehrlosen Widerstands.
werden, bei missliebigem Verhalten kam es zu Verwarnungen, zu
Polizeiaufsicht und zur Verbannung. Diese Sondergesetzgebung
war auch eine Handhabe gegen den geheimen Deutschunterricht.
Der Salurner Josef Noldin wurde 1927 zu fünf Jahren Verbannung
auf die Insel Lipari verurteilt, sein Traminer Weggefährte Rudolf
Riedl auf die Insel Pantelleria verbannt. Mit Noldin bekam der passive
Südtiroler Widerstand einen ersten Märtyrer: Noldin erkrankte
auf Lipari schwer, wurde schon 1928 begnadigt, starb aber ein Jahr
später an den Folgen der Krankheit. Im Empfinden der bedrängten
Bevölkerung wurde auch die junge Kurtatscher Lehrerin Angela
Nikoletti zu einem Opfer des Faschismus. Sie wurde hartnäckig
verfolgt und vorübergehend auch eingesperrt. Dass sie die Nachstellungen
der Behörden in einem sensibel geführten Tagebuch
aufzeichnete und 1930 erst 25-jährig an einem Lungenleiden verstarb,
verdichtete ihre traurige und zugleich von Mut zeugende
Lebensgeschichte zu einem bis in die Gegenwart wirkenden Mythos.
Schwierigkeiten, Nachstellungen, Inhaftierung mussten auch viele
andere Katakombenlehrerinnen und -lehrer auf sich nehmen. Dass
sich um die Notschule teilweise auch überzogene Legenden rankten,
die auf Südtiroler Seite zu einer radikaleren Nationalisierung
60
führten, muss wohl vor dem Hintergrund der politischen Umstände
betrachtet werden. So gründete der illegale Völkische Kampfring
Südtirols ab 1935 eine „Mädelschaft“ für den Deutschunterricht,
die sich am Nationalsozialismus orientierte. Obwohl von Kanonikus
Gamper heftig abgelehnt, geriet die Notschule damit zunehmend
unter nationalsozialistischen Einfluss. Der Grat zwischen der
Abwehr des Faschismus und der Anfälligkeit für den Nationalsozialismus
war schmal, um völkische Erziehung war es auch
Gamper gegangen. Südtirol war zwischen zwei Ideologien und
Diktaturen geraten, die sich vor allem durch die Sprache unterschieden.
61
Zwischen den Ideologien
Verirrungen und Versuchungen –
die Anziehungskraft des Nationalsozialismus
Der verhaltene, im Untergrund operierende Südtiroler Widerstand
gegen den Faschismus erweckte selbst bei den Behörden den Eindruck,
dass die Südtiroler Bevölkerung sich mit der Zugehörigkeit
zu Italien abgefunden habe und sich allmählich dem italienischen
Lebensstil zuwende. Das war zum einen wohl ein trügerisches Bild,
das aufgrund der repressiven Maßnahmen entstanden war. Soweit
es aber zutraf, mochte es damit zu tun haben, dass der Faschismus
– jenseits seiner deutschfeindlichen Politik – mit einem guten Teil
seines Wertepakets sehr wohl der Grundhaltung vieler Südtirolerinnen
und Südtiroler entsprach. Zugleich dürften die modernistischen
Elemente, die mit der italienischen Zuwanderung nach
Südtirol kamen und vom Faschismus besonders gepflegt wurden,
eine gewisse Faszination ausgeübt haben – das dynamische Frauenbild,
das freilich ganz in den Dienst von Familien- und Mutterkult
genommen wurde, der Einsatz neuer Medien wie Kino und
Radio, die vordergründige Einbeziehung der Arbeiter und Arbeiterinnen
in die Wirtschaftskorporationen, mit denen zugleich eine
Knebelung der Gewerkschaften einherging, die Überhöhung des
Körperkults und die damit zusammenhängende ideologisierende
Förderung des Sports.
Südtiroler Sporterfolge wurden vom faschistischen Regime
durchaus auch begrüßt und vereinnahmt. Die Sportgruppe „Bolzano
Nuoto“ brachte mit Italienmeister Otti Casteiner und Olympia-
Teilnehmer Karl Dibiasi die absolute Elite im Turmspringen hervor.
Bei den Frauen triumphierte die spätere Musikerin Johanna
Blum bei den „Giovani fasciste“ – um sie in ihrer Karriere nicht
zu behindern, wurde ihre polnische Abstammung väterlicherseits
und ihr doch ziemlich jüdisch klingender Name schlicht übergangen.
Die Medaille für ihren Sieg bei den Italienmeisterschaften
trug ein Duce-Abbild, überreicht wurde sie vor dem Siegesdenkmal
in Bozen. Die neuen Großsportanlagen wie das Lido und das
62
Die illegale NS-Bewegung rekrutierte ihre Mitglieder aus dem Sport und aus
dem Brauchtumsleben; im Bild eine Volkstanzgruppe in den 30er Jahren.
Drusus stadion in Bozen, der Pferderennplatz und die Tennisanlagen
in Meran waren imponierende Stätten der faschistischen
Sportförderung, verbunden mit dem Anspruch auf Größe und
Macht. Zugleich waren diese Gebäude zum Teil höchster architektonischer
Ausdruck der rationalistischen Moderne. Der Trentiner
Erbauer des Bozner Lidos und des Meraner Rathauses Ettore
Sottsass hatte bei Friedrich Ohmann in Wien studiert und galt als
wichtigster Vertreter des italienischen Rationalismus, am Lido mitgearbeitet
hatte der Deutsche Willy Weyhenmeyer.
Ein solches Angebot vordergründig positiv besetzter Werte
und kühner neuer Stilmittel bei gleichzeitiger Unterdrückung des
Südtiroler Kulturlebens trug wohl wesentlich dazu bei, dass die
nahezu deckungsgleiche, aber Deutsch sprechende Ideologie des
Nationalsozialismus in Südtirol umso wohlwollender aufgenommen
wurde. Die freiere Lebensgestaltung, der Ausbruch aus klerikal-konservativer
Erziehung, der Aufbruch zu einem überhöhten
Menschenbild bei gleichzeitiger Betonung des Deutschtums waren
attraktive Botschaften, die besonders auch die jüngeren Generationen
in Südtirol in den Bann zogen. Das faschistische Vereinsverbot
von 1926 forcierte das Entstehen der „illegalen“ Bewegung,
63
die sich ab 1930 am Nationalsozialismus zu orientieren begann.
Eine exemplarische Episode dafür ist die Teilnahme der verbotenen
Bozner Turner um Toni Ruedl an einem Staffellauf bei einer
Leichtathletik veranstaltung in Meran: Mit weißen Leibchen und
schwarzem Trauerstreifen von einem politisch wohl etwas unbedachten
Sportfunktionär zum Rennen zugelassen, holten sie glatt
den Sieg. Von der Siegerehrung vor hohen Militärs und dem italienischen
Kronprinzen hielten sich die Turner dann aber lieber
doch fern. Ebenso dreist nahmen die „Illegalen“ an Wettkämpfen
in Tirol und Österreich teil, es wurden – im Stil der Katakombenschulen
– heimlich Sportgruppen gegründet, Hilfsturnlehrer/innen
ausgebildet und zunehmend Kontakte zu Deutschland geknüpft.
Der NS-Reichssportführer Hans von Tschammer setzte sich stark
für die Illegalen in Südtirol ein, beispielhaft ist die Emigration von
Karl Dibiasi ins Reich.
Schon vor der Machtergreifung Hitlers 1933 entstand so eine
weit über den Sport hinausreichende illegale und NS-orientierte
Bewegung in Südtirol. Gestützt auf Turnerbewegung und Alpenverein
bildeten sich zahlreiche Jugendgruppen, die sich weniger
am kirchlichen Widerstand von Kanonikus Gamper und auch nicht
an der politischen Vertretung durch den Deutschen Verband orientierten,
sondern direkt am Nationalsozialismus. Sie trugen zum
Teil fantasievolle Namen wie „Das aufrechte Fähnlein“ oder „Laurinia“.
Sowohl Kirche als auch Politik hatten es verabsäumt, die
neu sich entwerfende Jugendkultur zu verstehen und anzusprechen.
1928 schlossen sich die Jugendgruppen zum „Gau-Jugend-
Rat“ zusammen, im selben Jahr wurde in Bozen der „Nibelungen-
Ring“ gegründet. Hitlers Ernennung zum Reichskanzler Ende
Jänner 1933 gab der Bewegung einen entscheidenden Auftrieb. Im
Juni 1933 gründeten die Jugendgruppen auf der Haselburg bei
Bozen die „Südtiroler Heimatfront“, die bald darauf in „Völkischer
Kampfring Südtirol“ umbenannt wurde. Nach der Emigration des
ersten „Landesführers“ Rolf Hillebrand und kurzen Zwischenlösungen
wurde der Bozner Schneider Peter Hofer Führer des
VKS – eine der künftigen Schlüsselfiguren für die NS-Zeit in Südtirol.
Führende Persönlichkeiten beim VKS waren auch Norbert
Mumelter, Kurt Heinricher, Heinrich Gschwendt, Robert Helm.
64
Zwei Ereignisse verstärkten die Tendenzen in der Südtiroler
Bevölkerung hin zum Nationalsozialismus: Am 13. Jänner 1935
durfte die Bevölkerung des Saarlandes über ihre Staatszugehörigkeit
abstimmen, wie es – unabhängig von den Expansionsplänen
Hitlers – bereits im Friedensvertrag von Versailles vorgesehen
war. Am selben Tag brannten in Südtirol Bergfeuer, Hakenkreuze
wurden an Wände gemalt, die Aufschrift „Heute die Saar – wir
übers Jahr“ war Ausdruck von Hoffnung auf vielen Hausmauern.
Die massive Entscheidung der Saarländer für Deutschland führte
zu offenem Jubel auch in Südtirol. Dass Hitler von allem Anfang
an den „Verzicht auf die Deutschen in Südtirol“ zugunsten der
Zusammenarbeit mit Italien und Mussolini „als überragendes Genie“
beschlossen hatte, konnte das nahezu blinde Vertrauen vieler Südtiroler
in den Nationalsozialismus nicht beeinträchtigen.
Noch im selben Jahr 1935 trat Italien in den Krieg gegen Abessinien.
Der in Italien lange weit weniger mörderische (wenngleich
für viele Opfer nicht minder folgenschwere) Rassismus der faschistischen
Ideologie wollte an der afrikanischen Front nicht nur
seinen Hunger nach Kolonialmacht und altrömischer Größe stillen,
sondern konnte hier auch seine Vernichtungswut ausleben:
Massaker an der Zivilbevölkerung und Einsatz von Giftgas begleiteten
den Abessinien-Krieg, den Mussolini als Schritt zur Wiedererrichtung
des „Imperium romanum“ bezeichnete. Für Mussolini
war der Krieg auch eine Gelegenheit, die Südtiroler in die nationale
Pflicht zu nehmen. Wie viele Südtiroler im Abessinien-Krieg
zum Einsatz kamen, ist nicht genau bekannt, die Zahlen schwanken
von rund 600 bis über 5000. Gezielt wurden alle Südtiroler
Reserveoffiziere in Stellungspflicht genommen, da den faschistischen
Behörden die nationalsozialistische Begeisterung der Südtiroler
Jugend und auch der führenden Schichten nicht entgangen
war. So stimmten die Reserveoffiziere, die sich im Sommer 1935
am Bozner Bahnhof sammeln mussten, demonstrativ das Horst-
Wessel-Lied an, die Parteihymne der Nazis. Einer Alpinidivision
mit dem Namen „Val Pusteria“ wurde 1938 für ihre Kriegsleistungen
in Abessinien am Kapuzinerplatz in Bruneck ein Denkmal errichtet,
das als „Kapuzinerwastl“ von da an für böses Blut, Proteste
und wiederholte Anschläge sorgte. Fast 2000 Südtiroler, die zum
65
Abessinien-Krieg abkommandiert waren, desertierten. Sofern sie
sich nach Österreich oder Deutschland absetzen konnten, waren
sie – trotz der guten Beziehungen beider Staaten zu Italien – vor
der Auslieferung sicher; untergebracht wurden sie meist in Lagern
der SS. Dem einen Kriegseinsatz waren sie entkommen, der andere
stand ihnen erst bevor.
Wie Heimat- und Weltverständnis, Lebensentwürfe und Orientierungsversuche
in einer Zeit des Auf- und Umbruchs in das
Spannungsverhältnis zweier verwandter Ideologien gerieten,
zeigt sich besonders anschaulich auch in der Kunst dieser Zeit.
Die existenzielle Erfahrung des Krieges als Menschheitskatas -
trophe, die alle Illusionen zerstört, steht auch hier am Anfang einer
neuen Bewegung, die sich – europaweit – in der Neuen Sachlichkeit
ausdrückt. Für die Südtiroler Künstler ist Albin Egger-Lienz,
der 1926 verstirbt, das Vorbild. Seine Bilder zum Krieg sind Dokumentationen
unaussprechbaren und namenlosen Grauens, trotzdem
konnten sie sich der Um- und Bewerbung durch den Faschismus
ebenso wenig erwehren wie jene von Carl Moser. Berühmt
waren und sind die Stolz-Brüder: Ignaz, der Älteste, erhielt Anerkennung
vor allem für seine Porträts und Frauendarstellungen.
Rudolf, der Mittlere, erhielt 1928 den Auftrag für ein (im Zweiten
Weltkrieg) zerstörtes Monumentalfresko am Innsbrucker Bahnhof,
dessen expressive Bauernfiguren gut auch in die politische
Symbolsprache der Zeit passten, obwohl sie sich an Egger-Lienz
orientierten. Der Arbeit von Stolz wurde der Vorzug gegenüber
einem Entwurf von Alfons Walde aus Kitzbühel gegeben, der in
seinem Fresko auf die Teilung Tirols anspielen wollte, was im noch
nicht nationalsozialistischen Österreich lieber vermieden wurde.
Der jüngste Stolz-Bruder, Albert, erhielt von den Faschisten den
Auftrag für den Freskenzyklus im Meraner Rathaus mit dem Duce
als Schmied des neuen Italiens. 1932 trat er, anders als seine Brüder,
dem „Sindicato Fascista delle Belle Arti“ bei. Hans Piffrader, der
als 30-jähriger den Ersten Weltkrieg erlebt hatte, verarbeitete in
seinen Zeichnungen auf anklagende Weise das Trauma des
Krieges. 1938 begann er die Arbeit am Relief für den Sitz der faschistischen
Partei am Bozner Gerichtsplatz, dem späteren Finanzgebäude.
66
Mit dieser Bereitschaft, das eigene Schaffen in den Dienst des
Regimes zu stellen oder zumindest dessen Gunst für das eigene
Schaffen zu nutzen, stand Piffrader nicht alleine. 1938 fand in Bozen
eine „Biennale“ zu Ehren der „Größe des Mussolinischen Zeitalters“
statt. 25 Künstler nahmen teil, 18 wurden ausgezeichnet,
darunter neben Piffrader der Bildhauer Ignaz Gabloner, der Maler
Albert Stolz sowie Tullia Socin, eine in Bozen geborene italienische
Künstlerin. Andere flohen in die Arme des Nationalsozialismus,
so Hubert Lanzinger, der 1933/34 in Berlin ein Porträt für
den Führer schuf, eine aus heutiger Sicht unfreiwillig komische
Darstellung Hitlers als steif-starren „Bannerträger“. Für die Innsbrucker
Universität erstellte Lanzinger ein Mosaik nach demselben
Vorbild, es wurde nach dem Krieg verdeckt. Der Brixner Leo
Sebastian Humer erhielt in Deutschland den Auftrag zu einem
Fresko in der Ehrenhalle der SS. Die Ausdrucksmittel der rationalistischen
Sachlichkeit ließen sich leicht zu heroisierender Idealisierung
überdehnen. Auch waren die Künstler angewiesen auf
die Mäzene ihrer Zeit. Der Brunecker Bildhauer Othmar Winkler
hatte zunächst das Glück von einem römischen Adeligen gefördert
zu werden, der ihn nach Rom einlud, wo er dann auch Mussolini
porträtieren durfte. 1933 bekam er aus Berlin den Auftrag, Reichspropagandaminister
Joseph Goebbels darzustellen. Entsetzt über
die Züge des Nationalsozialismus versuchte er sich den Ideologien
durch Auswanderung nach Norwegen zu entziehen, mittellos
aber kehrte er nach Italien zurück und ließ sich in Trient nieder.
1940 wurde er – wie Piffrader – von Mussolini zum Cavaliere
ernannt. Das Verhältnis von Winkler zu Südtirol blieb belastet, in
seiner Wahlheimat Trient hielt er bis ins hohe Alter Distanz zum
Land seiner Herkunft.
Auch an anderen Künstlerbiografien lässt sich nachzeichnen,
wie schwierig es war, Nischen zu finden und sich dem Bann der
ideologischen Vereinnahmung zu entziehen. Offene Auflehnung
war gefährlich. Der in Bozen geborene, in Innsbruck aufgewachsene
Christian Hess besuchte die Münchner Akademie und schloss
sich dem Kreis der „Juryfreien“ an, die sich auch mit Max Ernst,
Paul Klee, Pablo Picasso, Miró auseinandersetzten und von den
Nazis wegen Nähe zum Bolschewismus aufgelöst wurden. Hess ver-
67
Luis Trenker,
Überlebenskünstler
zwischen den Diktaturen:
hier im Film „Der
verlorene Sohn“.
schlug es nach Sizilien und von dort in die Schweiz. Als er schließlich
doch nach Deutschland zurückkehrte, wurde er zum Opfer
eines Bombenangriffs. Der Sarner Johannes Troyer, mit einer Jüdin
verheiratet, fand Schutz in Liechtenstein, nach dem Krieg wanderte
er in die USA aus. Der Schwazer Hans Weber-Tyrol, der sich
zuvor schon häufig im südlichen Tirol aufgehalten hatte, ließ sich
nach seiner Heirat mit einer Südtirolerin ab 1929 ganz in Südtirol
nieder, er gilt als einer der „wichtigsten Tiroler Künstler der
Zwischenkriegszeit“ (Michael Forcher). Das faschistische Regime
kaufte seine Bilder gerne an. Leo Putz, dessen Werke wie jene von
Weber-Tyrol zwischen Spätimpressionismus und Expressionismus
oszillieren, wanderte 1929 auf Einladung von Verwandten
(Tiroler Auswanderern) nach Rio de Janeiro aus, was seinem Spätwerk
eine besondere Exotik verlieh. 1936 kehrte er nach Meran
zurück, 1937 wurde er aus der Reichskulturkammer ausgeschlossen.
Bei den Bildersturmaktionen der Nazis wurden sowohl Bilder
68
von Weber-Tyrol als auch von Putz als „entartete Kunst“ beschlagnahmt.
Der Versuch, sich zwischen den Diktaturen durchzuschwindeln,
prägt den Lebenslauf des lange berühmtesten Südtirolers, des
Bergsteigers, Architekten, Filmstars, Buchautors und Regisseurs
Luis Trenker. Seine berufliche Laufbahn begonnen hatte Trenker
als Architekt bei Clemens Holzmeister. Dessen Rationalismus in
Verbindung mit einem Stil regionaler Einfachheit in Anpassung
an Landschaft und Gelände war – zusammen mit zwei anderen
Nordtiroler Architekten – ein zentraler Bezugspunkt für die junge
Architektur der Zwischenkriegszeit in Südtirol. Holzmeister hatte
unter anderem die Villa Pretz in Bozen und das Hotel Drei Zinnen
in Moos/Sexten geschaffen, Lois Welzenbacher die Villa Settari
und das Haus Baldauf in Dreikirchen, Franz Baumann das Hotel
Monte Pana in St. Christina/Gröden. Zum wichtigsten Südtiroler
Architekten wurde Marius Amonn mit der Villa Staffler am Ritten,
dem Stallerhof in Leifers und dem Haus Leszl in Guntschna
bei Bozen. Trenker, der sich schon als Alpinist einigen Ruhm und
auch Kriegsauszeichnungen erworben hatte, studierte nach dem
Krieg Architektur in Graz und eröffnete mit Holzmeister ein Büro
in Bozen. Laut Trenker wurden dem Büro aber wegen des „ausländischen
Professors“ unter dem Faschismus die Aufträge entzogen,
und als das Regime 1927 den in Österreich erworbenen Studientiteln
die Anerkennung entzog, bedeutete dies für Trenker praktisch
Berufsverbot als Architekt. Über Jobs als Bergführer und
Skiführer kam er – dank Bekanntschaft mit dem damaligen Bergfilmpionier
Arnold Fanck – zum Film, zunächst als Schauspieler,
bald schon als Filmproduzent, Regisseur und Hauptdarsteller in
Personalunion. Zusammen mit Leni Riefenstahl galt er im Film
„Der heilige Berg“ als Neuentdeckung des deutschen Films. Zwischen
den beiden begann – vermutlich – eine kurze Affäre und
eine lange Hassliebe, beide wurden sie auf ihre Weise von der NS-
Propaganda vereinnahmt, Leni Riefenstahl aktiver, Luis Trenker
lavierend zwischen Faschismus, Nationalsozialismus und einem
mitunter gut versteckten Kern Tiroler Widerständigkeit.
Trenkers Filme, bei denen er sich die Neuentdeckung des Tonfilmes
zu Nutze machte, bestechen durch die Darstellung von
69
Gewalt und Schönheit der Natur, durch den Kampf des Menschen
mit seinem Schicksal. „Der Ruf des Nordens“ führte Trenker in die
Arktis auf die Spuren von Polarforscher Roald Amundsen, die Auswanderergeschichte
„Der verlorene Sohn“ wurde zu einem auch
in den USA gefeierten Dokument der amerikanischen Depression.
Die Idealisierung von Heimat und Bergwelt spielte ihm die Gunst
von Faschismus und Nationalsozialismus gleichermaßen zu. Joseph
Goebbels sah unmittelbar vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten
die Vorführung der Trenker’schen Verfilmung der
Tiroler Freiheitskämpfe von 1809, in seinem Tagebuch schrieb er:
„Abends Film. Luis Trenker ‚Der Rebell‘. Die Spitzenleistung. Ein
nationalistischer Aufbruch. Ganz große Massenszenen ... Hitler
ist Feuer und Fett.“ Wie brüchig das Eis war, auf dem Trenker auf
seinem Erfolgskurs gehen musste, zeigte sich am Film „Condottieri“,
der von der faschistischen Regierung gesponsert wurde. In
Trenkers Film wirft sich der stolze Condottiere vor dem Papst auf
die Knie. Während Mussolini die Versöhnungsgeste gegenüber der
Kirche ins Konzept passte, war Hitler empört. Auf der Biennale in
Venedig wurde der Film 1937 preisgekrönt, bei Vorführungen in
Deutschland warfen Hitlerjungen faule Eier auf die Leinwand. In
der Folge ließ Goebbels die Kniefall-Szene zensieren, so dass der
Condottiere in der deutschen Version vor dem Papst in aufrechter
Haltung stehen bleibt. Während Trenker einerseits klare Zeichen
der Regimetreue setzte (so seine Mitgliedschaft in der nationalsozialistischen
„Reichsfachschaft Film“), wagte er es andererseits
immer wieder, Hitler und Goebbels zu reizen. Wenn es kritisch
wurde, wich er auf unverfängliche Themen aus, etwa durch den
Skilehrerfilm „Liebesbriefe aus dem Engadin“. Als direkter Angriff
auf Hitler wurde 1939/40 „Der Feuerteufel“ verstanden, erneut
aus dem Thema der Tiroler Freiheitskämpfe gegriffen, mit einem
herrschsüchtigen Napoleon als Feindbild, in dem unschwer Hitler
zu erkennen war. In der Schweiz, in Schweden, in den USA wurde
der Film als „Freiheitsfilm gegen die Diktatur“ wohlwollend aufgenommen
und besprochen, in Deutschland wurden nach der Premiere
weitere Vorführungen untersagt.
Aus der Bergwelt schöpfte auch der Bozner Jurist, Hüttenwirt
und Skilehrer Hubert Mumelter: Mit der ironischen „Schifibel“,
70
Franz Tumler (Bildmitte) im Sog des Nationalsozialismus – ein sprachlich
nur subtil und leise überwundenes Nahverhältnis; im Bild mit Verwandten
auf der Tschenglser Alm.
dem Bauern- und Bäuerinnen-Roman „Maderneid“ und dem Ro -
man „Zwei ohne Gnade“ landete er große Erfolge auf dem deutschen
Markt, die kernigen Geschichten aus der Südtiroler Bergwelt
trafen exakt den Zeitgeist. Die politischen Wirrnisse spiegeln sich
im Schaffen und im Leben der Schriftsteller und Dichter. Maria
Veronika Rubatscher kam als Lehrerin aus Hall nach Südtirol, unter
dem Faschismus verlor sie ihre Stelle. Ihre Romane greifen historische
Stoffe auf, um darin auch die Südtiroler Gegenwart zu
erzählen. Der Ahrntaler Dichter Joseph Georg Oberkofler verlor
dagegen durch die Schließung der Zeitung „Der Tiroler“ seine
Redaktionsstelle und zog nach Innsbruck, wo er Verlagsleiter der
„Tyrolia“ wurde (dem Nordtiroler Pendant von Athesia als Überbleibsel
des einstigen christlichsozialen Verlages). Vor dieser Er -
fahrung erklärt sich zum Teil die Blut- und Boden-getränkte Poesie
des literarisch begabten Oberkofler. Die herausragende journalistische
Stimme im alten Tirol war der aus Osttirol stammende
Priester Sebastian Riegler. Er schaffte es, die Auflage des „Tiroler
Volksboten“ von 3000 auf über 40.000 zu steigern. Besonders erfolg-
71
reich war in der Zwischenkriegszeit der Kalender als Medium der
Volks- und Heimatliteratur, so der „St. Kassian“-Kalender, für den
Maria Veronika Rubatscher schrieb, oder der „Haus-Kalender“ mit
Illustrationen von Albert Stolz und Erzählungen von Maria Buol
und Karl Felix Wolff. Über die Zeitdauer am erfolgreichsten war
„Reimmichls Volkskalender“, der 1920 zum ersten Mal erschien
und praktisch unverändert durch Faschismus und Nationalsozialismus
kam. Der „Reimmichl“-Kalender war – wie zum Teil auch
die anderen Kalender – geprägt von der Idealisierung der bäuerlichen
Welt, von einem stark konservativen, demokratieskeptischen
und mitunter auch antisemitischen Weltbild. So kam der „Reimmichl“
durch die Diktaturen, ohne sich jemals von der einen oder
anderen allzu sehr vereinnahmen zu lassen.
Gewissermaßen umgekehrt lassen sich Werk und Leben des
bedeutendsten Repräsentanten der Südtiroler Literatur deuten:
Franz Tumler, in Laas geboren, aber nach dem Tod des Vaters schon
früh mit der Mutter nach Österreich gekommen, griff in seinen frühen
Erzählungen und Romanen die Themen aus der ladinischen
Bergwelt und aus der Südtiroler Geschichte auf. Mit den Buchtiteln
„Das Tal von Lausa und Duron“ und „Der Ausführende“ hatte
er in Österreich und Deutschland großen Erfolg und genoss auch
die Anerkennung durch die Nationalsozialisten, obwohl weder
seine feinsinnige Sprache, noch seine Inhalte in nationalsozialistische
Propaganda oder Hetzliteratur einzureihen sind, sondern
mit den Schwächeren fühlen. Sehr wohl aber pflegte Tumler ein
nahes Verhältnis zum NS-Regime, was ihm zweifellos Vorteile und
nach dessen Bekanntwerden späte Infragestellung seiner literarischen
Vorbildrolle eintrug. Wie es jemandem gehen konnte, dem
Südtirol am Herzen lag, ohne sich vom Nationalsozialismus korrumpieren
zu lassen, zeigt der Karriereknick von Eduard Reut-
Nicolussi. Antifaschismus war für Reut-Nicolussi, anders als für
viele Südtiroler, nicht vereinbar mit Nationalsozialismus. Nach
dem „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland wurde dem
Professor für Rechtsphilosophie und Völkerrecht an der Universität
Innsbruck wegen seiner Distanz zum Regime die Lehrbefugnis
eingeschränkt.
72
Heim ins Reich des Nichts
Das Umsiedlungsabkommen zwischen Hitler
und Mussolini – Südtirol vor der Selbstauflösung
Für die Faszination, die Faschismus und Nationalsozialismus auf
die Menschen ausübten, greifen einzelne Erklärungen zu kurz:
Kriegsniederlage, Depression, wirtschaftliche Perspektivenlosigkeit,
politische Umbrüche, autoritäre Grunderfahrungen über Ge n-
erationen hinweg und modern auftretende Ersatzangebote für die
zusammengebrochenen Bezugsgrößen spielen zusammen. Eine
Bedeutung fällt im tief katholisch geprägten Tirol wohl auch der
Erschütterung des Glaubens durch die Weltkriegserfahrung und
durch den technokratischen Zeitgeist zu. Hans Heiss berichtet von
Kriegsheimkehrern, die am Sonntag zwar noch zur Kirche gingen,
„aber ohne innere Anteilnahme“, der Glaube bot nicht mehr den gewohnten
Halt. Mit dem Ende von Kaiser und Vaterland, für die man
in den Krieg gezogen war, erlitt auch die erste und höchste Instanz
in der „Tiroler Dreifaltigkeit“ von Gott, Kaiser und Vaterland einen
schweren Vertrauensverlust. Dazu trug auch bei, dass so mancher
Priester dem Krieg als patriotisch-religiöse Pflicht gehuldigt hatte.
Erst gegen Kriegsende besann sich die Kirche – beispielhaft in den
Aufrufen von Papst Benedikt XV. an die Kriegsmächte – auf ihre
friedensmahnende Aufgabe.
In dem von Österreich abgetrennten Teil Tirols musste sich die
Kirche mit Ende des Ersten Weltkrieges völlig neu orientieren: Der
Brixner Fürstbischof Franz Egger verstarb 1918, eine unmittelbare
Nachfolge war nicht möglich, lag doch der Großteil der alten Diözese
nahezu unerreichbar jenseits des Brenners. Für den österreichischen
Teil der Diözese gab es erst 1925 eine Klärung dieser
Sondersituation durch die Erhebung zur Apostolischen Administratur,
die natürlich nicht von Brixen abhängig sein konnte und deshalb
direkt dem Vatikan unterstellt wurde. Erster Administrator
wurde der aus Brixen stammende Sigismund Waitz, der ein enger
Berater von Kaiser Karl gewesen war und als heftiger Gegner des
Anschlusses Südtirols an Italien galt. 1934 stieg Waitz zum Erz-
73
Die Option wurde zu einem der tiefsten Einschnitte in der Südtiroler
Geschichte: im Bild Auswandererfamilien in Brixen 1940 beim Warten auf
die Abreise; die Männer mit Armbandschleife sind AdO-Beamte.
bischof von Salzburg auf. Für den Südtiroler Teil der Diözese Brixen
wurde 1921 Johannes Raffl zum Bischof ernannt, er erkrankte aber
bald und verstarb schon 1927. Dies betraf aber nur einen kleinen
Teil des Landes, denn die Diözese Brixen reichte von Norden her
nur bis knapp unterhalb von Klausen, dazu kam noch ein kleiner,
geographisch völlig abgetrennter Teil im Westen des Landes. Der
Großteil Südtirols gehörte zur Diözese Trient.
Ein erster Versuch, eine einheitliche Diözese für das Gebiet von
Südtirol zu schaffen, scheiterte am Veto der römischen Regierung,
so dass sich ein Teil der Südtiroler Bevölkerung zusätzlich von der
Kirche entfremdet fühlen mochte. Der Trientner Bischof Celestino
Endrici war unter den Habsburgern noch als Förderer des Irredentismus
nach Heiligkreuz in Niederösterreich verbannt worden.
Obwohl er sich in Rom besorgt über die minderheitenfeindliche
Politik der Regierung äußerte, wurde er in Südtirol als Vertreter
italienischer Interessen wahrgenommen, vor allem als er sich der
Abtretung des Gebietes südlich von Bozen an die Diözese Brixen
widersetzte. Endrici, heftig angefeindet von der deutschsprachigen
Bevölkerung, fand 1929 einen Ausweg aus seiner Befangenheit,
74
indem er mit Joseph Kögl einen Vizegeneralvikar für die Südtiroler
Gebiete der Trientner Diözese einsetzte.
Die institutionelle Schwächung der Kirche schuf zugleich
Freiraum für einige profilierte Priester, die sich des gekränkten
Süd tiroler Volkstums leidenschaftlich annahmen, so vor allem
Kanonikus Michael Gamper, der durch seine Zeitung über alle
Diözesangrenzen hinaus wirkte. In der Brixner Diözese hatte der
aus Sand in Taufers stammende und beim Volk beliebte Generalvikar
Josef Mutschlechner eine starke Position, nach dem Tod
Raffls führte er als Administrator drei Jahre lang die Amtsgeschäfte.
Grund war ein Machtkampf zwischen Vatikan und Regierung: Die
Regierung drängte auf einen italienischen Bischof, die profiliertesten
Südtiroler Kandidaten Johannes Geisler und der Ladiner Felix
Roilo lehnte sie strikt ab, worauf der Vatikan die Nachbesetzung
für Raffl schlicht nicht vornahm. Erst als die Regierung – in Folge
des Konkordats zwischen Mussolini und dem Vatikan von 1929 –
im Jahr 1930 die Ernennung von Geisler akzeptierte, bekam die
Diözese Brixen einen neuen Fürstbischof. Damit gerät der sehr
populäre Kirchenmann Mutschlechner wieder ins Abseits, wohl
auch deshalb, weil er durch souveräne und selbstbewusste Amtsführung
auch den italienischen Machthabern Grenzen gesetzt hatte.
So verhinderte er 1926 die Auflösung des Vinzentinum und ließ im
Diözesanblatt die verbotenen deutschen Ortsnamen verwenden.
Gegen den Druck des Faschismus war die Kirche trotz ihrer
Machteinbuße eines der wenigen Schutzschilder. Den eigenen
Einflussverlust in der Bevölkerung spürend, verstärkte die Kirche
ihre Verbandsarbeit durch die Gründung der „Katholischen
Aktion“, einer Art Dachverband für kirchliche Vereinigungen,
Laien bewegung und Kirchenblätter. Durch die Wiederzulassung
der Zeitungsgruppe von Kanonikus Gamper wurde 1927 mit dem
„Katholischen Sonntagsblatt“ eine Kirchenzeitung geschaffen. Die
größte Herausforderung für die Katholische Aktion war das Werben
um die vom technokratischen Zeitgeist faszinierte Jugend,
für die der Faschismus und in Südtirol besonders der Nationalsozialismus
auch das Versprechen größerer Freiheiten bereithielten.
So war die kirchliche Jugendarbeit ein Gegenprogramm auch
gegen die nationalistische Versuchung der Zeit, vorangetrieben
75
von weltoffenen und weitsichtigen Geistlichen. Zu nennen sind
Alfons Ludwig als erster Vorsitzender der Katholischen Aktion,
der spätere Schulamtsleiter Josef Ferrari als Jugendseelsorger,
aber auch Laien wie Diözesanjugendführer Josef Mayr-Nusser,
der später dem NS-Terror zum Opfer fiel. Führend dabei waren
auch schon Pepi Posch und Toni Kaser, die nach dem Krieg eine
wichtige Rolle beim Neuaufbau des zerstörten sozialen und politischen
Lebens spielten.
Im Doppeldruck zwischen faschistischer Verfolgung und nationalsozialistischer
Versuchung war der Stand der Kirche aber letztlich
zu schwach. An der Kirche vorbei, zum Teil auch aus ihrer
Jugendarbeit hervorgehend entwickelten sich die NS-orientierten
Jugendgruppen viel kräftiger. Dass die Amtskirche in Fragen von
Lebensstil, Moral und auch Sexualität als einengend und stickig
empfunden wurde, mochte dazu beigetragen haben. Über die illegalen
Gruppen hieß es, sie wären sexuell zu freizügig, wobei damit
auch nur ein freierer Umgang mit dem Körper gemeint war, wenn
sie verleumdet wurden, bei ihren Treffen auf den Almen „nackig
herumzugehen“, wie es etwa einer Gruppe in Göflan widerfuhr:
Die Burschen waren mit nacktem Oberkörper in der Sonne gelegen.
Eine wichtige Rolle spielte aber zweifellos auch der Umstand,
dass die Kirche zwar hinter den Kulissen viel Schaden von Südtirol
abwendete, aber scharfe nationalistische Töne vermied. Die
„illegale“ Bewegung, die sich im Völkischen Kampfring Südtirols
zusammenfand, konnte mit ihrem offensiven Patriotismus und
ihrer zunehmend nationalsozialistisch durchsetzten Propaganda
viel stärker bei der Jugend punkten. Am sichtbarsten zum Ausdruck
kommt dies in der Entscheidung des späteren VKS- Führers
Peter Hofer, von der Katholischen Aktion zur nationalsozialistischen
Bewegung überzuwechseln.
Folgenreich wirkte sich die Schwächung der Kirche bei der
Entscheidung zur Option von 1939 aus. Für die Achse Rom-Berlin
war Südtirol ein ständiger Unsicherheitsmoment, vor allem Italien
wurde gegenüber Deutschland zunehmend misstrauischer – schon
1934, als in Österreich ein erster nationalsozialistischer Putsch versucht
wurde, umso mehr aber als Hitler 1938 in Österreich einmarschierte
und den „Anschluss“ erzwang. Schon vorher hatte es
76
Handschlag vor dem Siegesdenkmal: Herzog Filiberto di Pistoia
empfängt 1932 zur 10-Jahresfeier der faschistischen Machtergreifung
auch nationalsozialistische Parteifunktionäre (in Hitler-Uniform).
sowohl auf deutscher als auch auf italienischer Seite Überlegungen
gegeben, wie man das „Problem Südtirol“ für beide Reiche zufriedenstellend
aus der Welt schaffen könnte. Auch Umsiedlungspläne
gab es schon früh, zum Teil wohl angeregt durch ähnliche ethnische
Säuberungsaktionen zwischen Griechenland und der Türkei
1920. Nach dem „Anschluss“ Österreichs schrieb der italienische
Außenminister Galeazzo Graf Ciano in sein Tagebuch, dass man
wohl „den Deutschen über die Opportunität der Rücksiedlung ihrer
Leute einen Wink“ geben müsse: „Da Südtirol geographisch gesehen
italienisches Gebiet ist, die Berge nicht versetzt und der Lauf
der Flüsse nicht geändert werden können, ist es eben notwendig,
dass die Menschen verpflanzt werden.“ Der zynische Plan war für
beide Regime verlockend: Hitler brauchte für Kriegspläne und
Kriegsindustrie Soldaten und Arbeitskräfte, die italienische Regierung
verband mit der Umsiedlung die Vorstellung, die Italianisierung
nicht mehr langwierig, sondern durch einen totalen Bevölkerungsaustausch
umzusetzen.
Am 23. Juni 1939 war das Abkommen handschlagreif: Hitler
hatte „Reichsführer SS“ Heinrich Himmler mit den Verhandlun-
77
gen zur Umsiedlung der Südtiroler Bevölkerung beauftragt, das
entscheidende Treffen mit der italienischen Delegation fand in
Berlin am Sitz der Gestapo statt. Das Abkommen, das in seinen
technischen Details noch auszuhandeln war und daher auch nicht
unterschrieben wurde, sah drei Stufen für die Umsiedlung vor:
Zuerst sollten die in Südtirol lebenden Reichsdeutschen gehen,
dann die „nicht bodengebundenen“ Volksdeutschen, schließlich
die „bodengebundenen“ Volksdeutschen, also jene, die Immobilienbesitz
hatten. Die ersten Reaktionen in Südtirol waren empörte
Ablehnung. Auch der VKS und sein Anführer Peter Hofer stellten
sich zunächst gegen das Umsiedlungsabkommen, wurden aber
innerhalb weniger Wochen „umgedreht“. Ausschlaggebend war
wohl das völlig illusorische Versprechen Himmlers, die Südtiroler
in einem geschlossenen Gebiet anzusiedeln, in dem sie sich – ohne
faschistische Repression, „daheim“ im deutschen Reich – eine neue,
letztlich gleich schöne Heimat aufbauen könnten. Damit den Auswanderern
in der neuen Heimat auch wirklich alles ersetzt würde,
wurde eine aufwendige und akribische Bürokratie zur Dokumentation
der verlassenen Häuser und Höfe in Gang gesetzt, eine eigene
Wertfestsetzungskommission führte präzise Buch über Bauernstuben,
Kachelöfen (für diese war der spätere Landeshauptmann
Silvius Magnago zuständig) und sonstige mobile und immobile
Besitzstände. Die eigens eingerichtete Amtliche Deutsche Ein- und
Rückwanderungsstelle ADERST eröffnete in allen Städten und
Talschaften Zweigstellen, Himmler übernahm selbst die Oberaufsicht
über die Durchführung der Umsiedlung. Als Ansiedlungsgebiet
für Südtirol wurde an eroberte Ostgebiete gedacht, die dazu
freilich erst von ihrer angestammten Bevölkerung „bereinigt“ werden
mussten. Der Historiker Stefan Lechner verweist auf den naheliegenden
Zusammenhang „zwischen den Umsiedlungen der ‚Volksdeutschen‘
und der Entscheidung zum Holocaust“.
Der VKS, der noch am 27. Juni mit dem Deutschen Verband
beschlossen hatte, „unter allen Umständen“ die Auswanderung
zu verhindern, begann – von Himmler überzeugt – schon am Tag
danach mit der Auswanderungspropaganda: „Angesichts der
Not seines von Feinden umringten Volkes hat sich der Führer entschlossen,
das Wohl Südtirols dem Wohle Deutschlands zu opfern.“
78
Die Schlussfolgerung aus dieser bitteren Erkenntnis war der Aufruf,
möglichst geschlossen zu gehen. Obwohl der Deutsche Verband
bei seiner Opposition gegen die Auswanderung blieb, schlug
die Stimmung auf eine nicht mehr steuerbare Weise zugunsten der
Auswanderung um. Ein Grund dafür war die sogenannte „sizilianische
Legende“, das Gerücht, dass jene, die nicht nach Deutschland
auswandern, in südliche Provinzen umgesiedelt würden. Die Herkunft
dieses Gerüchtes lässt sich kaum noch mit Sicherheit feststellen,
es kam auf jeden Fall dem VKS zugute, der es in Umlauf
brachte, es wurde aber anfangs offenbar auch von faschistischen
Funktionären verstärkt. Als der Geistliche Rudolf Posch im Auftrag
von Kanonikus Michael Gamper im Juli 1938 beim Präfekten Giuseppe
Mastromattei vorsprach, zerstreute dieser zwar das Gerücht,
verweigerte vorerst aber eine öffentliche Erklärung.
Zu diesem Zeitpunkt glaubte die italienische Regierung wohl
noch, den Druck auf die deutsche Bevölkerung möglichst hoch
halten zu müssen, damit die Auswanderung in Gang kommt. Allerdings
zielte die italienische Strategie nach der ersten Euphorie
nicht mehr auf eine Totalumsiedlung ab. Zum einen erkannte man
die Schwierigkeit, die Land- und Berggebiete ausreichend schnell
und effizient neu zu besiedeln, zum anderen wurde das Ausmaß
der im Abkommen festgelegten Entschädigung für den frei werdenden
Südtiroler Besitz erst nachträglich bewusst. Die Summe
wurde auf 15 bis 20 Milliarden Lire geschätzt, das wären inflationsbereinigt
um die 15 Milliarden Euro. Hauptziel der „Option“ war
aus faschistischer Sicht die Abwanderung der irredentistischen
Elemente und möglichst auch der Stadtbevölkerung. Als Mastromattei
im November 1938 angesichts der massiven Auswanderungspropaganda
die Bewegung der „Dableiber“ stärken wollte
und die Sizilien-Legende offiziell dementierte, war es bereits zu
spät. Das Dementi bewirkte eher noch das Gegenteil, war Mastromattei
doch 1933 von Mussolini eingesetzt worden, um die nicht
ausreichend erfolgreiche Italienisierungspolitik zu forcieren. Sein
Vorgänger Giovanni Battista Marziali war abgesetzt worden, weil
er zu wenig hart durchgegriffen hatte, mit Mastromattei hatte die
forcierte Zuwanderungspolitik begonnen. Selbst wenn die Sizilien-
Legende nur ein Mittel der deutschen Propaganda gewesen sein
79
sollte, war es für die Südtirolerinnen und Südtiroler offenkundig,
dass sie bei einem Verbleib in Italien kulturell schutzlos sein
würden. Ein verzweifelter Versuch des Deutschen Verbandes, von
Mussolini persönlich die Zusicherung zu erhalten, dass die Dableiber
in Südtirol bleiben können, blieb erfolglos, in Abstimmung
mit den deutschen Behörden verweigerte Mussolini die Audienz.
Die Propaganda für die Auswanderung war beispiellos, in den
Dörfern begann eine Hetze gegen alle, die nicht gehen wollten. Der
Riss zwischen „Optanten“ und „Dableibern“ ging mitten durch die
Dörfer, häufig auch mitten durch Familien. Es war schon sehr bald
eine einseitige Auseinandersetzung, die Dableiber gerieten in die
Minderheit, der Gruppendruck zur Auswanderung war enorm. Die
Mittel der Propaganda waren ungleich verteilt. Wohl hatten die
Dableiber auf ihrer Seite Kanonikus Michael Gamper und dessen
Zeitung, aber es war dies beinahe die letzte Bastion: Der Deutsche
Verband hatte jegliches Gewicht eingebüßt und wie die Kirchenspitze
den Kontakt zum Volk weitgehend verloren. Dagegen gründete
der VKS mit deutscher Unterstützung die Arbeitsgemeinschaft
der Optanten für Deutschland (AdO). Mit einer kapillaren,
militärisch strukturierten Organisation trat die AdO mit Beratung
und Hilfestellung in Rechts- und Besitzfragen auf. Da ihr gewissermaßen
im Schutze Hitlers die Verwaltung der Auswanderungsprozedur
oblag, war die AdO auch dem Zugriff der italienischen
Behörden entzogen.
Welche Umdeutung das Heimatgefühl in der Option erfuhr, zeigt
sich in der Geschichte der Lieder, die von Optanten und Da bleibern
aufgeboten wurden. 1926 hatte Karl Felderer das Bozner Bergsteigerlied
geschrieben, bekannt geworden mit dem Eingangssatz
„Wohl ist die Welt so groß und weit ...“, in dem die Heimat Süd tirol
mit ihren Schönheiten besungen wird. In der Auseinandersetzung
zwischen Dableibern und Auswanderern schrieb Felderer nun aber
auch das Auswandererlied „Die brennende Lieb“ mit dem Schlüsselsatz
„Die Treue zu Deutschland war stärker“. Von Hans Egarter,
dem späteren Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime, stammt
mit demselben Motiv der Geranie als „brennende Lieb“ und derselben
Metrik eine eigene Fassung. Im Dableiber- Gedicht lautet
der Schlüsselsatz: „Die Treue zur Heimat war stärker.“
80
Für und gegen die Option: Propagandakarte mit Verratsvorwurf an Hitler-
Deutschland, Optionsgegner Kanonikus Michael Gamper (oben rechts) und
Friedl Volgger (links unten neben Mutter und Bruder), AdO-Anführer und
künftiger „Volksgruppenführer“ Peter Hofer bei einem Besuch im Sarntal.
81
Ein starkes Argument des VKS war, dass ein möglichst hoher
Prozentsatz für die Auswanderung von Hitler als Treuebekenntnis
verstanden würde. Es gehe also darum, Hitler durch eine möglichst
geschlossene Entscheidung fürs Deutsche Reich umzustimmen,
dann werde sich seine Haltung zugunsten eines Verbleibs aller
Südtiroler ändern: „Wenn alle gehen“, lautete die Formel, „geht niemand.“
So wurden die Dableiber zu Verrätern. Wer für das Dableiben
das Wort ergriff, war örtlichen Schikanen ausgesetzt, wurde
beschimpft und verprügelt, ja selbst Kinder von Dableibern wurden
„porchi italiani“ genannt und waren auf dem Schulweg nicht
mehr sicher. Dableibern wurden, wie Friedl Volgger als einer der
führenden Dableiber in seinen Memoiren schreibt, nachts die Fensterscheiben
eingeschlagen, der Hund erschossen, die Haustür mit
Kot beschmiert, das landwirtschaftliche Gerät beschädigt: „Wenn
ein Kirchenstuhl fast voll war und ein Dableiber sich noch hineingesellte,
verließen alle anderen die Bank.“
Die Kirche war überrumpelt und verhielt sich zwiespältig. Von
den einfachen Geistlichen waren die meisten für das Dableiben,
aber ihr Mahnen gegen die Abwanderung versagte gegenüber der
Wirkung der sizilianischen Legende und vor allem gegenüber der
starken nationalsozialistischen Bewegung, die an der Kirche vorbei
im Land gewachsen war. Die Diözese Trient erhob zwar die
Stimme gegen die nationalsozialistische Gefahr, gestützt auf die
Enzyklika von Papst Pius XI. von 1937 unter dem Titel „Mit brennender
Sorge“. Doch von dieser Seite waren die Südtiroler wohl
kaum noch zu überzeugen, wohl auch deshalb weil von Seiten der
„deutschen“ Diözesanspitze in Brixen die Verurteilung des Nationalsozialismus
praktisch unterblieb. Bischof Johannes Geisler und sein
Generalvikar Alois Pompanin aus Ampezzo hatten in der Ära Mastromattei
zäh die Übergriffe des Faschismus auf deutsche Priester
und auf die letzte Nische des Deutschunterrichtes in Südtirol
abgewehrt, nämlich auf die katholischen Institute. Im Nationalsozialismus
sahen sie, bei allem Argwohn gegen dessen Ideologie,
eine Chance auf kulturellen und sprachlichen Schutz. Geisler und
Pompanin dürften schon im Oktober 1939 entschieden haben, selbst
ebenfalls auszuwandern. Auch wenn sie dies nicht kundtaten, entzog
ihr Schweigen den Pfarrern in den Dörfern jede Unterstüt-
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Bischof Geisler auf dem Weg zur Unterschrift für die Auswanderung:
Die Entscheidung wurde propagandistisch in Szene gesetzt, der Bischof
vom Leiter der Brixner Auswanderungsstelle begrüßt.
zung und gewährte der Propaganda für die Auswanderung freien
Raum. Als Bischof Geisler im Oktober 1940 mit dem berühmten
Satz „Der Hirte geht mit seiner Herde“ für Deutschland optierte,
beugte er sich scheinbar einer unvermeidlichen Entwicklung, zu
deren Ab wehr er nichts beigetragen hatte. Mit Geisler optierte
auch Generalvikar Pompanin.
Das Ergebnis der Option war eindeutig, zwischen 85 und 90 Prozent
der Südtiroler unterschrieben für die Auswanderung, wobei
die Entscheidung den Familienvätern zukam, lediglich erwachsene
Söhne und Töchter konnten selbst entscheiden. Die ersten
bekannt gewordenen Ergebnisse waren manipuliert, von italienischer
Seite war von 70 Prozent für die Auswanderung die Rede,
der VKS gab zunächst 90,7 Prozent an – wohl nicht zufällig das
exakte Ergebnis der Saar-Abstimmung. In manchen Dörfern war
der Prozentsatz noch höher, erreichte sogar die hundert Prozent.
So wäre etwa das Dorf Truden im Unterland ein Geisterdorf ge worden,
wenn die Option konsequent umgesetzt worden wäre. In den
ladinischen Gebieten waren die Mehrheiten weniger eindeutig.
In Gröden, das sich stärker am Deutschtum Südtirol orientierte,
83
Spatenstich für die Südtiroler-Siedlung in Lienz: Häufig standen die
Ausgewanderten aber auch vor verschlossenen Türen oder übernahmen
Höfe, die ihren Besitzern mit Gewalt weggenommen worden waren.
entschieden sich rund 80 Prozent für die Auswanderung, im Gadertal
nur rund 30 Prozent. 1939 wanderten bereits um die 12.000 Menschen
aus, gemäß dem Drei-Stufen-Plan vor allem jene, die bereits
österreichische oder deutsche Staatsbürger waren. Rund 2000 Soldaten,
die durch die Option den italienischen Wehrdienst beenden
durften, wechselten ebenfalls mit der ersten Welle die Staatsbürgerschaft,
sie wurden nahezu unmittelbar für die Wehrmacht
rekrutiert. Bis 1940 wanderten rund 60.000 Menschen aus, allen
voran einfache Arbeiter und Besitzlose. Sehr viele machten enttäuschende
Erfahrungen, mussten in Auffanglagern in Nord- und
Osttirol auch viel Kränkung über sich ergehen lassen. Andere wurden
in österreichischen und deutschen Gebieten verstreut angesiedelt,
manche kamen tatsächlich in die Ostgebiete auf Höfe, deren
rechtmäßige Besitzer vertrieben wurden. Viele Familien erlitten
nie mehr heilende Brüche.
Dass nicht alle rund 200.000 Optanten für Deutschland das
Land verließen, ist auf ein Zusammenspiel von glücklichen und
weniger glücklichen Umständen zurückzuführen. Druck übten
die faschistischen Behörden vor allem auf jene Optanten aus, die
84
man wegen ihres bekennenden Deutschtums loswerden wollte.
Die AdO dagegen versuchte zunehmend, die Auswanderung bürokratisch
zu verschleppen, zunächst aus ganz praktischen Gründen,
weil sich die Umsiedlung nicht so einfach durchführen ließ. Das
geschlossene Siedlungsgebiet stand schlicht nicht zur Verfügung.
Als zu Beginn des Jahres 1940 die Grödner Optanten geschlossen
nach Osttirol auswandern wollten, stellte sich die AdO dagegen.
Noch im Juli 1940 besichtigten Peter Hofer und Karl Tinzl ein vermeintliches
Siedlungsgebiet in Burgund, wo die Orte Besançon in
Bozen, Charlos in Meran, Dole in Brixen, Pontarlier in Bruneck
umbenannt werden sollten. Je nach Kriegsverlauf war auch von
der Halbinsel Krim oder von Südpolen die Rede. Die Schätzung
des Optantenbesitzes war weit aufwändiger als gedacht. Dazu kam
allmählich auch ein heimlicher politischer Boykott der Auswanderung,
geduldet und unterstützt vom Gauleiter für Tirol-Vorarlberg
Franz Hofer. Auch die deutsche Reichsvertretung in Mailand
nahm eine bremsende Haltung gegenüber der Auswanderung ein.
Der Kriegseintritt Italiens im Juni 1940 veränderte die geopolitische
Lage und verlagerte die politischen Interessen, der Sturz
Mussolinis 1943 und die Besetzung Oberitaliens durch die deutschen
Truppen setzten der Option ein Ende. Ein glückliches Ende
war es nicht, zumindest noch nicht.
85
„Befreiung“ als Trauma
Die Operationszone Alpenvorland –
Schreckensherrschaft der Nazis und Bombenkrieg
Die Zerreißprobe zwischen Gehen und Bleiben, der viele Menschen,
Familien, ganze Dörfer durch die Option ausgesetzt waren, fällt
nahezu mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zusammen. Mit
dem Angriff Deutschlands auf Polen am 1. September 1939 machte
Hitler seine Kriegspläne wahr, auf die er seine ganze Politik – von
der Rassenideologie und Expansionspropaganda über die Außenpolitik
zur kriegsorientierten Wirtschafts-, Bau- und Investitionsstrategie
– ausgerichtet hatte. Der schnelle Einmarsch in Polen, als
Blitzkrieg gerühmt, nährte die Illusion der deutschen Überlegenheit
und den damit verbundenen Anspruch auf die Vorherrschaft
in Europa und möglichst in der Welt. Nur drei Jahrzehnte nach
der Katastrophe des Ersten Weltkrieges erfasste wieder Kriegsbegeisterung
weite Teile der Bevölkerung, vor allem in Deutschland
und Österreich, aber auch in Südtirol. Die Aussicht, durch
die Option in ein kriegführendes Land zu übersiedeln, schreckte
nicht ab, sondern förderte vermutlich den Auswanderungstaumel.
Es war, als würden die Schrecken einander aufheben: Bis zur
Option standen die Südtiroler Jungmänner im Dilemma, beim
italienischen Heer einrücken zu müssen, mit der Möglichkeit des
Kriegseinsatzes in den Afrika-Feldzügen, aber auch im Spanischen
Bürgerkrieg von 1936 bis 1939, wenngleich dies nur wenige tatsächlich
betraf. Im italienischen Kontingent von 70.000 Soldaten, mit
denen Mussolini – ebenso wie Deutschland – dem Verbündeten
General Franco beistand, stellte Südtirol nur rund 50 Mann. Dass
Deutschland und Italien Schulter an Schulter an denselben Fronten
kämpften, konnte nationale Fremdheitsgefühle nicht beseitigen.
Für Deutschland optieren bedeutete nun für die Südtiroler
Rekruten die Entlassung aus dem italienischen Heer und die Überstellung
zur Wehrmacht – ein Uniformwechsel, der vielfach mit
Jubel und Begeisterung angestrebt wurde. Daheim zu bleiben,
„unabkömmlich“ gemeldet zu sein, wurde weniger als Schutz vor
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Jubel nach dem deutschen Einmarsch: im Bild Volksgruppenführer Peter
Hofer mit Ritterkreuzträger Helmut Valtiner bei einer Fahrt durch Bruneck.
Spalierstehen für Hitler: Trotz des Optionsabkommens und seinem
Bündnis mit Mussolini blieb der „Führer“ Hoffnungsträger für Südtirol.
Im Bild mit Gauleiter Franz Hofer anlässlich des Treffens mit Mussolini
am 4. Oktober 1940 am Brenner.
87
dem Kriegsdienst empfunden, sondern als Schande. Sich freiwillig
für den Krieg zu melden, war dagegen mit Vorstellungen von
Männlichkeit, Tapferkeit, Ehre verbunden. Binnen kürzester Zeit
meldeten sich rund 4000 junge Südtiroler freiwillig zur Wehrmacht,
rund 1000 zur SS und zur deutschen Polizei.
Ein weiterer Umstand milderte das Trauma der bevorstehenden
Auswanderungswelle ab: Im Zuge der Option geriet Südtirol –
vorübergehend – in ein nationales Zwischenstadium, für die Optanten
griff vorab die deutsche Staatsbürgerschaft. Ein erster Schritt
war die Einrichtung von Deutschkursen für die Optanten-Kinder,
so dass mit der Entscheidung zur Auswanderung der Italianisierungsdruck
durch die Schule für die allermeisten Südtiroler ein
Ende fand. Während den Dableiber-Kindern weiterhin nur die
italienische Schule offenstand, hätten die Optanten-Kinder zwar
diese zusätzlich besuchen können, aber der Großteil beschränkte
sich auf den Besuch der Deutschkurse. Nach der Schließung der
deutschen Schule durch die faschistischen Gesetze und dem Aufbau
einer ausschließlich italienischen Schule bestanden somit in
Südtirol erstmals zwei sprachlich getrennte Unterrichtsstrukturen
nebeneinander – das nach Sprachen getrennte Schulsystem
der späteren Autonomiezeit wurzelt in der Übergangslösung der
Option. Auf ähnlich paradoxe Weise erfuhr das Südtiroler Kulturleben
gewissermaßen kurz vor der geplanten Versprengung einen
künstlich forcierten Auftrieb. Das SS-Ahnenerbe, mit dem „Reichsführer
SS“ Heinrich Himmler das „arische“ Kultur- und Naturerbe
für alle Zeiten bergen wollte und dessen pseudowissenschaftlicher
Ehrgeiz bis zu Experimenten an KZ-Häftlingen getrieben wurde,
erkor Südtirol im Zuge der Option zu seiner wichtigsten Auslandsmission.
Eine eigene „Kulturkommission“ sollte die „Aufnahme des
gesamten dinglichen und geistigen Kulturgutes“ in die Bestände
des SS-Ahnenerbes sichern. Die mit über 50 Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern besetzte Kommission mit 14 Arbeitsgruppen entwickelte
eine ehrgeizige Tätigkeit, die zusätzlich angetrieben war von
der Hoffnung, gerade hier im preisgegebenen Grenzland so etwas
wie das Urdeutsche zu finden. So wurde möglichst alles, was mit
Südtiroler Kultur verbunden wurde, fotografiert, auf Tonband aufgenommen,
gefilmt, dokumentiert, kartographiert, katalogisiert.
88
Einen Großteil der praktischen Arbeit übernahm der „Kulturdienst“
der AdO unter der Leitung von Nobert Mumelter. Allein die Arbeitsgruppe
„Volksmusik“ machte über 3000 Tonbandaufnahmen vom
Südtiroler Liedgut. Die propagandistische Kraft des Mediums Film
kennend und erkundend, leitete SS-Hauptsturmführer Hellmut
Bousset persönlich die Arbeitsgruppe für filmische Dokumentation.
Sagen wurden nach Möglichkeit tontechnisch aufgezeichnet,
zumindest aber schriftlich festgehalten. Im Übereifer, alles
zu retten, was bald verloren sein könnte, wurden Bräuche zum
Teil erfunden wie manche Volkstänze, zum Teil ästhetisiert und vor
allem germanisiert, etwa durch heidnisch inspirierte Fackelläufe
und NS-Kulte anstelle religiöser Elemente. Die versessene Dokumentationsarbeit
auf so vielen kulturellen Feldern bewirkte im
Empfinden jener, die sich auf die Auswanderung vorbereiteten, eine
enorme emotionale Aufwertung all dessen, was unter dem Faschismus
extrem eingeschränkt, wenn nicht ganz verboten worden war.
So geriet alles Kulturschaffen in den Sog der NS-Ideologie, gut
nachzuvollziehen auch dies an der Vita des an sich privilegierten
Luis Trenker. Obwohl von den höchsten NS-Behörden zunächst
gefeiert, leistete sich der aufstrebende Star einige unvorsichtige
Aussagen gegen die Vertreibung der Juden in Deutschland und
über die Schwierigkeit für ihn als Regisseur, jüdische Schauspieler/innen
zu engagieren. Als er mit seiner Optionsentscheidung
zögerte, schrieb Goebbels in sein Tagebuch: „Ich trage dem Führer
den Fall Trenker vor. Dieses Schweinestück hat in Südtirol nicht für
uns optiert. Hinhalten, freundlich sein, aber abservieren.“ Schließlich
optierte Trenker doch noch für Deutschland, in einem persönlichen
Brief an Hitler versicherte er: „Sie, mein Führer ... können
sich verlassen, daß ich zu gegebener Stunde genau weiß, wo ich
hingehöre und wo ich zu stehen habe.“ Liebkind des NS-Regimes
wurde Trenker trotzdem nicht mehr. Als ihm zunehmend Filmprojekte
abgelehnt wurden, zog er von Berlin nach Rom, wo er sich
– vom faschistischen Italien – mehr Förderung versprach. Als im
September 1943 die deutschen Truppen in Italien einmarschierten,
wurde über Trenker ein Aufenthaltsverbot in Südtirol verhängt.
Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kriegsverlauf für Deutschland
und für Italien dramatische Wendungen erfahren. Im Novem-
89
Deutsche „Tiger“-Panzer in Brixen, 1943: Das Kampffahrzeug war
erst 1942 in Produktion gegangen und galt als neue deutsche Geheimwaffe
für den Endsieg.
ber 1942 erlebte die deutsche Armee bei Stalingrad ihre bis dahin
schwerste Niederlage. Obwohl sie hoffnungslos eingekreist war,
verbot Hitler die Kapitulation. In der Folge starben 90.000 deutsche
Soldaten, noch einmal so viele gerieten in Gefangenschaft.
Während die NS-Propaganda weiterhin Endsieg-Visionen verbreitete
und Goebbels den „totalen Krieg“ ausrief, waren die deutschen
Truppen an vielen Fronten schon entscheidend geschwächt. Im
Mai 1943 erlitten die deutschen und die italienischen Truppen bei
El Alamein in Ägypten eine schwere Niederlage durch das amerikanisch-britische
Truppenbündnis. Mit der dadurch erleichterten
Landung der Amerikaner in Sizilien endete Mussolinis große
Zeit. Er wurde am 25. Juli vom faschistischen Großrat abgesetzt,
die Regierung wurde Marschall Pietro Badoglio anvertraut. In derselben
Nacht wurden in Hamburg durch amerikanische Bomberangriffe
30.000 Menschen getötet. Während Italien unverzüglich
Verhandlungen mit den Alliierten aufnahm und nach der Landung
der Briten auf Kalabrien am 3. September einen zunächst geheimen
Waffenstillstand abschloss, führte Deutschland den „totalen
Krieg“ unerbittlich weiter.
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Am 8. September wurde der italienische Waffenstillstand bekannt
gegeben, Italien trat damit unverzüglich an die Seite der
Alliierten in den Krieg ein, König Viktor Emanuel III. ließ Mussolini
verhaften, am frühen Morgen des nächsten Tages rückten
die Alliierten von Süden her vor. Die bereits in Italien stationierten
deutschen Truppen waren darauf vorbereitet, sie entwaffneten die
eben noch verbündeten italienischen Truppen und besetzten binnen
weniger Tage den von den Alliierten noch nicht befreiten Teil
Italiens. Ein Fallschirmjäger-Kommando („Unternehmen Eiche“)
stürmte Mussolinis Gefängnis und brachte ihn in Sicherheit. In Salò
am Gardasee wurde die „Republica Sociale Italiana“ ausgerufen,
der Mussolini mehr als Marionette Hitlers denn als Machthaber
vorstand. Das hinderte ihn nicht, sich an all jenen Parteigängern
zu rächen, die von ihm abgefallen waren. Sofern er ihrer habhaft
werden konnte, ließ er sie hinrichten, einschließlich seines eigenen
Schwiegersohnes Galeazzo Ciano. Hitler seinerseits nahm nach
Möglichkeit Rücksicht auf das Image des gestürzten Diktators.
Wohl waren schon am 8. September die deutschen Truppen auch
in Südtirol einmarschiert, freudig begrüßt von jubelnden Menschen
am Straßenrand und Blumen streuenden Kindern. So sehr
die allermeisten aber glaubten, dass Hitler nun Südtirol dem Reich
anschließen würde, so sehr wurden sie erneut enttäuscht. Südtirol
wurde zusammen mit den Provinzen Trient und Belluno zur
„Operationszone Alpenvorland“ zusammengeschlossen, die zwar
dem Gauleiter von Tirol und Vorarlberg Franz Hofer als oberstem
Kommissar unterstellt und von deutschen Behörden verwaltet
wurde, aber italienisches Hoheitsgebiet blieb. Hofers Forderung
nach einem Anschluss Südtirols an das Reich wurde abgelehnt.
Die italienische Bevölkerung reagierte ähnlich gelähmt auf den
Machtwechsel wie das italienische Heer. In Trient hatte es Versuche
gegeben, die Kasernen vor den Deutschen zu verteidigen,
dabei kamen 48 Soldaten ums Leben. In Bozen gab es keine ähnlichen
Widerstandsversuche. Die Errichtung der „Operationszone“
hatte das Ziel, die Lage möglichst zu beruhigen und die Anhänger
Mussolinis nicht zu arg vor den Kopf zu stoßen. Eine ähnliche
Operationszone gab es für die an den Osten grenzenden Provinzen
Udine, Görz, Triest, Pola, Fiume, Quarnaro und Ljubljana, die unter
91
Gauleiter Franz Hofer wurde Oberster Kommissar der „Operationszone
Alpenvorland“. Das Bild zeigt ihn bei einem Auftritt 1944 in Gossensaß.
Kaderschmiede auch für junge Südtiroler: die „Volksdeutschen“ sollten
in Rouffach (Bild) und in Achern zu richtigen Deutschen erzogen werden.
92
Führung des Kärntner Gauleiters zur „Operationszone Adriatisches
Küstenland“ zusammengefasst wurden.
Trotzdem fühlten sich viele Südtiroler, die unter dem Faschismus
gelitten hatten, erleichtert und befreit. Die Provinz Bozen
bekam mit dem „Volksgruppenführer“ Peter Hofer einen eigenen
Präfekten, der nur dem „obersten Kommissar“ unterstand. Hofer
war zuvor schon Leiter der AdO gewesen, die nun – da die Option
ausgesetzt war – in „Deutsche Volksgruppe“ umbenannt wurde.
Seine Amtszeit währte nur kurz, schon Anfang Dezember 1943
kam er bei einem Bombenangriff ums Leben. Neuer Präfekt wurde
Karl Tinzl.
Im Gebiet der Provinz Bozen wurde die Zweisprachigkeit eingeführt,
die italienischen Beamten behielten zwar großteils ihre
Stellen, die Schalthebel gingen aber an deutsche Vorgesetzte über.
Straßen und Plätze bekamen zur italienischen Übersetzung ihren
ursprünglichen Namen wieder dazu. Die italienischen Podestà
wurden durch deutsche Kommissare ersetzt. Das zuvor an das
Trentino angeschlossene Unterland kam zu Südtirol, ebenso die
ladinischen Gebiete im Belluno (Ampezzo und Buchenstein),
während Fassa beim Trentino blieb. Die italienische Schule blieb
bestehen, zusätzlich wurden die deutschen Sprachkurse schon ab
Oktober 1943 zu einer deutschen Schule ausgebaut. Für Gröden
und Enneberg wurde eine deutsch-ladinische Schule geschaffen.
Durch ein allgemeines Parteienverbot wurde der Faschistischen
Partei der Boden entzogen, zugleich innerhalb der Operationszone
auch auf die Gründung der NSDAP verzichtet. Die Sicherung der
Ordnung wurde einer eigenen Behörde anvertraut, dem „Südtiroler
Ordnungsdienst“ (SOD).
Revancheakte gegenüber der italienischen Bevölkerung und
Beamtenschaft blieben nahezu aus, sie standen unter dem Schutz
des NS-Regimes. Eine der wenigen Ausnahmen waren Prügel für
faschistische Exponenten in Gröden und ein Anschlag auf das
Sieges denkmal, wobei bezeichnenderweise vor allem die Büsten
von Cesare Battisti, Fabio Filzi und Damiano Chiesa beschädigt
wurden. In der Folge musste der SOD das Siegesdenkmal be wachen,
um eine weitere Brüskierung des Mussolini-treuen Italien zu vermeiden.
Keine Rücksichten gab es dagegen gegenüber jenen, die
93
in der Auseinandersetzung um die Option nicht auf der Seite der
neuen Machthaber gestanden hatten. SOD-Funktionäre führten
sich vor Ort herrisch auf und drangsalierten ehemalige Dableiber.
166 führende Persönlichkeiten der Dableiber-Bewegung wurden
in Konzentrationslager deportiert, die bekanntesten sind Friedl
Volgger und Rudolf Posch, die nach Dachau kamen. Viele weitere
wurden unter Aufsicht gestellt, Jugendseelsorger Josef Ferrari
wurde in „Schutzhaft“ genommen. Kanonikus Michael Gamper
musste sich zunächst zwei Monate in einem Pfarrhaus am Ritten
verstecken, danach entzog er sich der Verhaftung durch Flucht
in den befreiten Teil Italiens. Die Verlagsanstalt Athesia wurde
geschlossen, auch alle kirchlichen Presseorgane verboten. An ihrer
Stelle erschienen nun nationalsozialistisch ausgerichtete Blätter,
so das „Bozner Tagblatt“, die Jugendzeitung „Edelweiß“ und der
Kalender „Alpenheimat“. Die kirchlichen Schulen, die unter dem
Faschismus fortbestanden hatten, wurden ausnahmslos geschlossen,
so das Vinzentinum in Brixen, das Johanneum in Dorf Tirol,
das Franziskanergymnasium und die Marcelline-Schule in Bozen,
das Kapuziner-Gymnasium in Salurn, die Heime der Englischen
Fräulein und der Benediktiner in Meran. Die Schulgebäude wurden
beschlagnahmt. Dem optionsgegnerischen Klerus drohten Nachstellungen.
In den öffentlichen Schulen, Rathäusern, Amtssitzen
wurden die Kruzifixe entfernt, Prozessionen und religiöse Bräuche
eingeschränkt, der Religionsunterricht wurde gestrichen. Die
Gottesdienste wurden bespitzelt, oppositionellen Priestern drohte
die Verhaftung. Dies war das andere Gesicht der „Befreiung“.
Besonders schwer traf es die jüdische Bevölkerung, die vor
allem in Meran angesiedelt war. Begonnen hatte die Judenverfolgung
schon mit dem Inkrafttreten der faschistischen Rassengesetze
vom November 1938. Zu diesem Zeitpunkt waren in Meran
155 jüdische Familien gemeldet, zusätzlich aber dürften zahlreiche
Juden aus Deutschland in das zunächst für sicherer gehaltene
Italien geflüchtet sein. Juden, die nach dem 1. Jänner 1938 die italienische
Staatsbürgerschaft erworben hatten, verloren sie wieder
und mussten Italien binnen 23. März 1939 wieder verlassen. Jüdische
Kinder durften nicht mehr zur Schule gehen, auch bestimmte
Berufe waren Juden nicht mehr zugänglich. Vielen alteingesesse-
94
Eidverweigerer und NS-Opfer Josef Mayr Nusser, beim Transport ins KZ
gestorben; die Häftlingskarte von Friedl Volgger nach seiner Deportation ins
KZ Dachau.
nen Juden in Meran und auch in anderen Südtiroler Gemeinden
blieb fast nur die Auswanderung. Schon vor dem deutschen Einmarsch
schlug vielen jüdischen Familien zusätzlich der Hass NSorientierter
Kreise in Südtirol entgegen, so dass etwa die Toblacher
Familie Glauber es vorzog, ihre Radiofabrik Unda an den Comer
See zu verlegen. Neben der Nähe der Schweizer Grenze und der
dadurch leichteren Flucht im Ernstfall hatte dies auch mit Gehässigkeiten
vor Ort zu tun.
Als am 8. September 1943 die Deutschen in Südtirol einmarschierten,
waren die Juden die ersten Opfer. Schon am 12. September
erging an die Kreisleiter der Befehl, die in ihrem Gebiet befindlichen
Juden zu verhaften. In Meran lebten zu diesem Zeitpunkt
nur noch 50 Juden, die Hälfte wurde am 16. September von Südtiroler
SOD-Funktionären und SS-Polizisten verhaftet. Immobilien
und Vermögen wurden enteignet und an „verdiente Volksgenossen“
verteilt. Im Oktober wurde die Judenverfolgung auf ganz Italien
ausgedehnt. Dabei wurden auch viele von jenen aufgespürt und
deportiert, die sich in Meran noch in extremis der Haft entziehen
konnten. Die in Südtirol Verhafteten wurden zunächst in den
95
Keller räumen des GIL-Gebäudes eingesperrt, von dort kamen sie
in das „Arbeitserziehungslager“ Reichenau in Innsbruck. Wer nicht
schon dort starb, hatte nur noch die Endstation der Vernichtungslager
vor sich: Alle verhafteten Südtiroler Juden wurden ermordet.
Im Juli 1944 bekam Bozen, ähnlich dem Lager Reichenau, ein
eigenes Lager. Dazu wurde das faschistische Kriegsgefangenenlager
in Fossoli (Modena) von der nationalsozialistischen Verwaltung
übernommen und nach Bozen verlegt. Viele überlebten die
Grausamkeiten im „Polizeilichen Durchgangslager“ nicht, den
anderen stand die Überführung in die Todeslager bevor. Mindestens
13 große Transporte von Bozen nach Auschwitz, Mauthausen,
Flössenburg, Dachau und Ravensbrück sind belegt. Die Belegschaft
kam zum Teil aus dem Lager in Fossoli, aber auch Südtiroler
gehörten zum Wachpersonal.
Der NS-Terror griff zunehmend auf politische Gegner über. Ab
November 1943 waltete in der Bozner Dantestraße ein Sondergericht
seines Amtes, das erste Todesurteil wurde im März 1944
gegen den Tagelöhner Ettore Stenico aus San Michele im Trentino
verfügt, weil er eine Telefonleitung der Wehrmacht durchtrennt
hatte. Von März 1944 bis Kriegsende wurden zwischen 25 und
30 Südtiroler hingerichtet oder kamen in einem KZ ums Leben.
Psychisch kranke und geistig Behinderte wurden ausgeforscht
und in „Euthanasie“-Anstalten im Reich getötet, aus den zwei
Alt tiroler Heilanstalten Pergine und Hall wurden die Insassen in
Sonder zügen in die auf „Euthanasie“ spezialisierten Krankenhäuser
gebracht. Die Zahl der ermordeten Südtiroler Behinderten wird
auf 350 geschätzt. So kosteten die nicht einmal zwei Jahre NS-
Herrschaft ein Vielfaches mehr an Menschenleben auch in der Südtiroler
Zivilbevölkerung als die über zwei Jahrzehnte währende
faschistische Herrschaft.
Hart durchgegriffen wurde gegen Kriegsdienstverweigerer,
Partisanen und Deserteure. Auch Dableiber, die eigentlich italienische
Staatsbürger waren, wurden willkürlich zur Wehrmacht
oder zu deutschen Polizeieinheiten eingezogen. Wer sich weigerte,
wurde erschossen, so der Gewissensverweigerer Markus Dapunt
aus dem Abteital. Auch bei Einberufung in die SS gab es kein Entkommen,
Deserteure mussten im Falle einer Ergreifung mit dem
96
sicheren Tod rechnen, im Falle einer gelungenen Flucht mit der
Inhaftierung ihrer nächsten Verwandten. So kamen auch viele
Schwestern geflohener Männer in NS-Haft. Der ehemalige Diözesanführer
der katholischen Jugend Josef Mayr-Nusser wurde
für seine religiös begründete Verweigerung des Eides auf die SS
nach Dachau deportiert und starb noch auf dem Weg dorthin. Auch
seine Bereitschaft, den Eid auf die Wehrmacht zu leisten, weil dies
jeder Staat verlangen dürfe, brachte ihm keine Gnade ein.
Der Südtiroler Widerstand gegen das NS-Regime war entsprechend
schwach ausgebildet, er konnte sich fast nur aus der verschwindenden
Minderheit der Dableiber heraus entwickeln und
stand einem mörderischen Regime gegenüber. Erster Obmann des
Andreas-Hofer-Bundes (AHB) war Friedl Volgger, der wegen seines
Einsatzes gegen die Option deportiert worden war; als Widerständler
aufgegriffen zu werden, hätte ihm ein noch schwereres
Schicksal beschert. So überlebte Volgger das Lager wie auch andere
deportierte Dableiber, so der Sarner Franz Thaler, der diesem Stück
Südtiroler Geschichte mit seinen Erinnerungen „Unvergessen“ ein
trauriges Denkmal stiftete. Volggers Nachfolge im Andreas-Hofer-
Bund übernahm Hans Egarter, der wie Friedl Volgger als Journalist
für den Athesia-Verlag gearbeitet hatte und sich im Kreis
von Kanonikus Gamper bewegte. Neben der vorwiegend kirchlich-religiös
motivierten Kerngruppe wurde die Widerstandsbewegung
auch von bürgerlichen Liberalen wie Erich Amonn und
Josef Raffeiner unterstützt. Die wichtigsten Widerstandsoperationen
bestanden darin, Kontakte zu den Alliierten herzustellen,
teilweise über die Schweiz, teilweise über französische und britische
Geheimdienste, teilweise über NS-Funktionäre, die am eigenen
System irre wurden. Kontakte hielt Egarter auch zu Deserteuren,
wie etwa die Passeirer Gruppe um Karl Gufler.
Im Schutz der Industriezone Bozen wuchs auch im Gebiet von
Südtirol eine italienische Widerstandsbewegung heran. Die großen
Fabriken, die noch in der Hand italienischer Unternehmer waren,
versteckten Flüchtlinge, Deserteure, Verfolgte. Sie standen auch
in Verbindung mit dem Comitato di Liberazione Nazionale (CLN)
in den großen italienischen Industriestädten, vor allem Mailand.
Der aktive Widerstand des Bozner CLN beschränkte sich weitge-
97
Durchgangslager „Sigmundskron“ bei Bozen – grausame Zwischenstation
zu den Todeslagern.
hend auf kleine Sabotageaktionen, wichtig waren vor allem der
Schutz für Verfolgte und versteckte Hilfeleistungen für Insassen
des Durchgangslagers. Die Bozner CLN-Gruppe wurde von Manlio
Longon geleitet, der in den Magnesiumwerken eine leitende Stelle
innehatte. Zum engsten Kreis gehörten der Priester Daniele Longhi
und die Kommunisten Enrico Pedrotti und Rinaldo Dal Fabbro.
Im Dezember 1944 flog die Führungsgruppe auf, deren Mitglieder
wurden verhaftet, Longon während eines Verhörs ermordet.
Damit brach auch die Häftlingshilfe für die Insassen des Durchgangslagers
ein. Longon hatte auch zu deutschsprachigen Widerstandskreisen
Kontakte gesucht, vor allem zu Erich Amonn. Nach
dem Krieg fehlten durch seine Ausschaltung Ansprechpartner vor
Ort, der wichtigste CLN-Funktionär Bruno De Angelis kam erst
im März 1945 aus Mailand nach Bozen.
Die Bekämpfung der italienischen Partisanenbewegung war
unheilvoll auch mit Südtirol verknüpft. Unmittelbar nach dem
Einmarsch 1943 waren vier Polizeiregimenter gegründet worden
(Bozen, Alpenvorland, Schlanders und Brixen), die nun besonders in
der Partisanenbekämpfung zum Einsatz kamen. So waren auch Südtiroler
Soldaten an Massakern wie etwa in Riva am Garda see betei-
98
Den Naziterror überlebt: Die Roveretaner Schwestern Maria und Gemma
Marsilli am Tag der Befreiung aus dem Durchgangslager Bozen, sie tragen
noch den Häftlingsoverall, Maria hält den Essensnapf unterm Arm. Sie retten
das „Verzeichnis der Intendanz“ für die Nachwelt.
Im Bild rechts italienische Zivilisten und Partisanen in Bozen nach ihrer
Befreiung aus der Internierung, 4. Mai 1945.
Italienische Gefangene nach ihrer Befreiung bei einer Sammelstelle der
Partisanenvereinigung Comitato di Liberazione Nazionale in Bozen (12. Mai
1945).
99
ligt, als die Gestapo in Blitzaktionen reihenweise junge Burschen
aus den Häusern holte, die des Widerstandes verdächtig waren.
Durch die deutsche Besetzung Südtirols war das Land praktisch
an die Front gerückt. Die Bombardierungen Bozens durch
die amerikanischen Truppen hatten schon am 2. September 1943
eingesetzt, in der Folge kam es zu immer neuen, schweren Luftangriffen.
Ziel war vor allem das Bahnhofsgelände in Bozen und
die gesamte Brennerbahnstrecke, um den Nachschub für die deutschen
Truppen in Italien zu erschweren. Einer der schwersten
Angriffe fand am 2. Dezember 1943 statt, der Bombenhagel verwüstete
anstelle des Bahnhofsgeländes einen dicht besiedelten
Streifen von der Oswaldpromenade bis zur Talferbrücke. 45 Menschen
fielen allein diesem Angriff zum Opfer, darunter Präfekt
Peter Hofer. Fast 200 Menschen wurden verwundet. Viele Familien,
die Bekannte oder Verwandte auf dem Land oder in Bergtälern
hatten, flohen aus der Landeshauptstadt.
Der Rohheit, mit der das NS-Regime nach innen auftrat, stand
das Zerbröckeln an seinen Kriegsfronten gegenüber. Spätestens
ab 1944 zeichnete sich die deutsche Kriegsniederlage ab, die Landung
der Alliierten in der Normandie und Einbrüche an der Ostfront
ließen das Kriegsende greifbar werden. Das 2. Polizeiregiment
Bozen wurde zur Partisanenbekämpfung im Bellunesischen
abkommandiert, es führte 85 Einsätze durch, denen in der Regel
grausame Hinrichtungen folgten. In der Valle del Bios wurden am
20. und 21. August 1944 ganze Dörfer niedergebrannt und 46 Menschen
getötet. Manche Soldaten der Polizeiregimenter nutzten
Möglichkeiten für menschliche Gesten, wenngleich das mörderische
System, dem sie dienten, kaum Spielräume gewährte. So wurden
da und dort die heimgesuchten Gebiete vorab gewarnt, damit
sich die Menschen in Sicherheit bringen konnten. Das Polizeiregiment
Brixen, das erst in den letzten Kriegsmonaten gebildet worden
war und großteils aus älteren Herren bestand, leistete sich
eine kollektive Eidverweigerung auf dem Appellplatz. Sie wurden
nach Schlesien strafversetzt, die meisten kamen dort ums Leben.
Zu einem Stachel im öffentlichen Gedächtnis Italiens und Südtirols
wurde die Tragödie um das 3. Bataillon des Polizeiregimentes
Bozen, das im Februar 1944 in Rom mithelfen sollte, die bedrohte
100
Hauptstadt zu halten. Bei einem Anschlag am 23. März in der Via
Rasella starben 33 Soldaten. SS-Obersturmbannführer Herbert Kappler
verfügte einen Vergeltungsschlag durch die Erschießung von
335 Geiseln, nachdem sich die Attentäter nicht freiwillig gestellt
hatten. Damit überzog er sogar die grausame Formel, dass für jeden
beim Attentat getöteten Soldaten zehn Unschuldige sterben sollten.
Die Geiseln wurden wahllos aus den Gefängnissen geholt und in
den Fosse Ardeatine in einem römischen Außenbezirk erschossen.
Ursprünglich hätte die Massenhinrichtung von den Über lebenden
des Polizeiregimentes Bozen vorgenommen werden sollen. Diese
konnten sich dem Befehl entziehen, mit Verweis auf ihren katholischen
Glauben wurden sie für nicht geeignet befunden, die Exekutionen
durchzuführen.
Spürbar löste sich die einstige Begeisterung für Führer, Krieg
und Heldentod in schiere Verzweiflung aus, die Zahl der Südtiroler
Deserteure stieg binnen kurzer Zeit in die Hunderte. Das
Kriegsende wurde schon für Herbst 1944 erwartet, Hitlers blinde
und rücksichtslose Durchhaltestrategie verlängerte den Krieg und
brachte für die Geflohenen die zusätzliche Schwierigkeit, den Winter
in den Bergen zu überleben. In der Grausamkeit des Krieges
kam es zu menschlichen Tragödien ebenso wie zu Taten gelebter
Solidarität, indem Deserteuren trotz der auf sie ausgeschriebenen
Todesstrafe Unterschlupf geboten wurde. In der allgemeinen
Auflösung glaubte Gauleiter Franz Hofer an eine seiner Meinung
nach kriegsrettende Idee einer „Alpenfestung“. In dieser sollte
sich die Führungsspitze des Reiches zurückziehen und sich mit
britischen und amerikanischen Kriegsgefangenen als lebenden
Schutzschildern vor Bombardierungen schützen. Durch einen eisernen
Verteidigungswall entlang der Linie Füssen-Arlberg-Ortler-
Garda see-Karawanken-Leoben könne so zwei Jahre durchgehalten
werden; auch die Rüstungsindustrie und riesige Vorratskammern
sollten in diesem Gebiet zusammengezogen werden. Hofers Brief
an Hitlers Sekretär Martin Bormann wurde von diesem nicht ernst
genommen. Erst Tage vor seinem Selbstmord kam Hitler auf die
nie konkret angegangene Idee zurück.
Eines der letzten Kampf- und Rückzugsgebiete war Südtirol in
einem gewissen Sinne aber doch. Nahezu pausenlos fanden entlang
101
Bombenangriff auf Bozen, 2. September 1943: In der Stadt brach Panik aus,
Gebäude stürzten ein, Feuer breitete sich aus.
102
der Brennerbahnstrecke Luftangriffe mit schweren Bombern statt,
um die Brücken entlang der Bahnlinie zu zerstören und die Bahnhöfe
Innsbruck, Bozen, Trient, Verona auszuschalten. Zur Abwehr
der Luftangriffe wurden zwischen Verona und Innsbruck über
500 Flakgeschütze postiert, die zum Teil von Jugendlichen bedient
wurden und mäßigen Erfolg hatten. So waren im März 1945 rund
1900 Kampfflugzeuge der Alliierten im Luftraum zwischen Innsbruck
und Verona im Einsatz, abgeschossen wurden 14 Maschinen.
Dagegen gelang es der US-Luftflotte unter anderem, Brücken
bei Brixen, Albeins und Auer zu zerstören, schwer getroffen wurden
auch die Bahnhöfe von Gossensaß, Sterzing, Franzensfeste,
Brixen, Bozen, Auer. Eine Aktion, die auf die Idee der Alpenfestung
verweisen könnte, war die gezielte Unterbringung prominenter
Kriegsgefangener im Pragser Tal. Es handelte sich um 136 „Sonderund
Sippenhäftlinge“ aus 22 Ländern, von deren „Tauschwert“ sich
die Gestapo Vorteile im äußersten Notfall erhoffte. So wurden sie
aus den deutschen Konzentrationslagern, die durch das Anrücken
der Alliierten nicht mehr sicher waren, nach Prags gebracht. Für
den Fall, dass die Geiseln keine Verhandlungsvorteile bringen würden,
war deren sofortige Exekution vorgesehen, die Leichen sollten
im Pragser Wildsee versenkt werden. Das Massaker wurde in einer
etwas veränderten Verhandlungslogik verhindert: Wie Margareth
Lun in ihrer Rekonstruktion des Kapitels Pragser Wildsee aufzeigt,
bekamen die Oberbefehlshaber der deutschen Streitkräfte
in Bozen Wind von der Absicht. Da diese, ebenso wie die Gruppe
um Erich Amonn, schon lange mit den Alliierten in Verhandlung
standen, wäre eine solche Massenhinrichtung auf Südtiroler Boden
verheerend gewesen. In Zusammenarbeit mit höchsten Funktionären,
die auf Distanz zum NS-Regime gegangen waren, so vor
allem mit Stabschef Herbert Thalhammer und dem Tiroler Quartiermeister
Anton Ducia, konnte eine Panzergrenadierkompanie
nach Prags gesandt werden. Sie entwaffnete die SS und befreite
die Häftlinge, Präfekt Karl Tinzl ließ sie mit Lebensmitteln und
Kleidern versorgen. Unterstützt worden war die Aktion auch von
Partisanengruppen.
Mit der Befreiung Mailands am 25. April 1945 wurde auch in Italien
das Ende der NS-Herrschaft eingeleitet. Mussolini versuchte,
103
in die Schweiz zu flüchten, wurde aber am Comer See von Partisanen
erkannt und festgenommen. Schon am nächsten Tag, dem
28. April 1945, wurde er zusammen mit seiner Geliebten Clara
Petacci und seinen letzten getreuen Begleitern ohne ordentlichen
Prozess erschossen, anschließend wurden die Leichen des Diktators,
seiner Geliebten und seiner Begleiter auf dem Piazzale Loreto
in Mailand mit dem Kopf nach unten aufgehängt. Auf eben diesem
Platz waren zuvor Partisanen hingerichtet worden. Als Hitler
noch am 29. April davon erfuhr, diktierte er sein privates Testament,
an der Schwelle zum 30. April heiratete er seine Lebensgefährtin
Eva Braun, Stunden später fügte er ein politisches Testament
an, verteilte Giftampullen an seine letzten Begleiter und erprobte
das Serum an seiner Schäferhündin. Danach vergiftete sich Eva
Braun, Hitler erschoss sich. Bekanntgegeben wurde der Tod erst
am 1. Mai, am 2. Mai kapitulierte die Wehrmacht in Italien, einige
Tage später folgte die Kapitulation in Deutschland.
Damit endete beinahe ein Vierteljahrhundert des Schreckens.
Für viele Menschen, auch in Südtirol, brach aber zunächst eine
Welt zusammen: „Alles war umsonst. Ich bin zutiefst erschüttert.
Bin am Ende meiner Lebensphilosophie“, schrieb etwa der spätere
Unterlandler Politiker Robert von Fioreschy in sein Tagebuch.
Auch eine Tagebucheintragung von Hans Dietl zeugt davon, wie
schwer sich eine von Nationalsozialismus und Kriegstreiben in den
Bann gezogene Generation tat, sich neu zurechtzufinden. Dietl war
nach schwerer Verwundung in der Kesselschlacht von Demjansk
vom Kriegsdienst entlassen und in der NS-Verwaltung in Trient
angestellt worden, vor dem Krieg hatte er zum Kreis der Illegalen
gehört. Am 24. Jänner 1945, als sich die Niederlage abzeichnete,
schrieb er: „Erkennen wir unseren größten Fehler? Dass unsere
Führung große Ideen, die einer neuen Weltordnung Grund und
festen Bestand zu geben vermöchten, vor den Wagen eines überspitzten
Nationalismus gespannt hat, das ist der größte Fehler.
Dadurch verloren diese Ideen bei uns an Gehalt, den übrigen Völkern
aber wurden sie verhasst.“ Das mag noch ein mildes Urteil
über ein System von Gewaltherrschaft, Massenmord und Kriegsterror
sein, aber es war mehr an Distanzierung, als vielen dieser
Generation damals möglich war.
104
Das Kriegsende verlief nicht ohne letzte Opfer. In Meran schossen
noch am 30. April Nationalsozialisten auf eine Gruppe von Italienern,
die den Vormarsch der resistenza feierten, es kam zu neun
Toten. In Laas wurden am Tag der deutschen Kapitulation in Italien
neun italienische Arbeiter erschossen. Am folgenden Tag eröffneten
Arbeiter der Lancia-Fabrik in Bozen das Feuer auf heimkehrende
Wehrmachtssoldaten, 45 Menschen starben. Bei einem
Feuergefecht zwischen italienischen und deutschen Soldaten im
Kampf um ein Lebensmittellager zwei Tage später kam es zu sieben
Todesopfern. Die Soldaten waren ausgemergelt, hatten Hunger,
sehnten sich wohl nach Frieden und waren noch gefangen von
der mörderischen Logik des Krieges. Auf über 50 Millionen Menschen
wird die Zahl geschätzt, die in Europa und in Japan durch
Kriegshandlungen getötet wurden. Werden auch die Opfer von
Kriegsfolgen und Verbrechen während des Krieges eingerechnet,
reichen die Schätzungen bis zu 80 Millionen Toten. Die höchsten
Verluste an Soldaten und Zivilpersonen weisen Russland und China
mit 15 bis 20 Millionen Menschen auf, Deutschland und Polen
erlitten Verluste zwischen 6 und 7 Millionen Menschen, wobei in
Polen der Großteil Zivilisten und davon fast die Hälfte jüdische
Opfer des Holocaust waren. Für Italien wird die Zahl der Toten auf
400.000 geschätzt, für Österreich auf rund 270.000. Von den schätzungsweise
25.000 Südtirolern im Kriegseinsatz ist mit 8000 Toten
fast ein Drittel gefallen, für die vorwiegend in der letzten Kriegsphase
betroffene Zivilbevölkerung liegen keine genaueren Angaben
vor. Durch Holocaust, schwerste Kriegsverbrechen und den Einsatz
der Atombombe im Krieg gegen Japan hinterließ der Zweite
Weltkrieg ein tiefes Erschrecken der Menschheit über die eigene
Zerstörungsgewalt. Allein den deutschen Massenverbrechen
– jene der Roten Armee beispielsweise sind kaum erforscht – fielen
vor allem durch die planmäßige Systematik des Holocausts schätzungsweise
6 Millionen Juden, 4 Millionen nichtjüdische (meist
politische) Deportierte und Zwangsarbeiter, 3 Millionen sowjetische
Kriegsgefangene, 200.000 Sinti und Roma, 250.000 Behinderte
zum Opfer.
105
Ein schwankender Neuanfang
Südtirols neue Stunde Null –
Unter amerikanisch-italienischer Verwaltung
Das Ende des Krieges und der demokratische Neuanfang tragen
für Südtirol kein klares Datum. Nach dem Partisanenaufstand vom
25. April 1945 hatte sich die deutsche Besatzungsmacht in Truppenverbände
aufgelöst, die sich unkoordiniert zumeist über Südtirol
zurückzogen. Anders als in der letzten Kriegsphase angedacht,
wurde Südtirol nicht zur Alpenfestung, sondern eher zur letzten
Fluchtburg des zerfallenden Dritten Reiches. Das Hauptquartier der
Heeresgruppe C der Wehrmacht wurde von Recoaro nach Bozen
verlegt, ein Ausweichquartier in der Herbstenburg in Toblach eingerichtet.
Das Kommando der SS in Fasano del Garda kam nach
Meran. Die nachrückenden alliierten Truppen stoppten dagegen
zunächst in Trient. Erst als die Deutsche Wehrmacht am 2. Mai 1945
um 14 Uhr ihre bedingungslose Kapitulation erklärte, erhielten
die amerikanischen Divisionen im Norden und Süden des Landes
den Befehl, bis zum Brenner vorzurücken. In der Nähe von Gossensaß
trafen sie aufeinander – für die US-Armee wohl ein erhebender
Moment.
Für Südtirol begann ein Interregnum der unsicheren Verhältnisse.
Die Reaktion auf den Einmarsch der Amerikaner war unterschiedlich.
Für die italienische Bevölkerung Südtirols endete das
„existenzielle Trauma“ (Leopold Steurer) der deutschen Besatzung,
die US-Soldaten wurden begeistert begrüßt. Auch auf deutschsprachiger
Seite überwog, nach der weit verbreiteten Niedergeschlagenheit
der letzten Kriegsmonate, ein hoffnungsvolles Aufatmen,
gedämpft aber von Angst vor Ahndung und Internierung
wegen der Kollaboration mit den Nazis oder dem Dienst in der
Wehrmacht. Die Amerikaner gingen behutsam vor, selbst der im
Bozner Herzogspalast residierende Bevollmächtigte General der
Deutschen Wehrmacht in Italien, SS-Obergruppenführer Karl
Wolff, wurde zunächst nicht belangt. Wehrmachtssoldaten wurden
für die Verkehrsregelung in Bozen eingesetzt, daneben über-
106
Amerikanische Soldaten und italienische Partisanen am Dorfplatz von
Niederdorf, 2. Mai 1945. Bild unten: Vielfach wurden die Amerikaner als
Attraktion empfunden.
107
nahmen italienische Partisanen und amerikanische Soldaten die
Polizeidienste.
Noch am 2. Mai fanden in Anwesenheit der höchsten deutschen
Offiziere die Verhandlungen zwischen dem Andreas-Hofer-Bund
und dem italienischen Comitato di Liberazione Nazionale statt.
Die kleine Südtiroler Dableiber- und Widerstandsbewegung stand
dem italienischen Partisanenverband ohnmächtig gegenüber. Der
nach der Ermordung von Manlio Longon bestimmende CLN-
Bevollmächtigte für das Gebiet „Alta Italia“ war Bruno De Angelis,
der sich gegenüber den Befindlichkeiten der Südtiroler Minderheit
wenig zimperlich zeigte. Er drohte mit dem Einmarsch von
50.000 Partisanen in Südtirol, falls ihm nicht unverzüglich die
Verwaltung des Landes übertragen werde. Unter diesem Druck
blieb dem Andreas-Hofer-Bund nichts anderes übrig, als der Forderung
nachzugeben. Unterzeichnet wurde das Übergabepapier
von SS-Obergruppenführer Wolff und Generaloberst Heinrich von
Vietinghoff. Erich Amonn, der an den Verhandlungen teilnahm,
schrieb zerknirscht in sein Tagebuch: „Schwerster Tag meines
Lebens.“
So fanden die US-Truppen bei ihrem Einmarsch eine italienisch
verwaltete Provinz vor. De Angelis konnte sich den Amerikanern
als zumindest provisorisch legitimierter Gesprächspartner vorstellen,
am 12. Mai wurde er von der alliierten Militärbehörde AMG
(Allied Military Government) formell als Präfekt bestätigt. Schon
am nächsten Tag, dem 13. Mai, wurde General Wolff verhaftet, während
er gerade im Park des Palastes seinen 45. Geburtstag feierte.
Damit ging auch die Zurückhaltung gegenüber der Wehrmacht zu
Ende. Rund 20.000 deutsche Soldaten wurden als Kriegs gefangene
nach Modena überführt, am 19. Mai folgte die Massenevakuierung
deutscher Einheiten in die Kriegsgefangenenlager von Ghedi und
Bassano. Zur Wahrung der Ruhe wurden Ausgangssperren verhängt.
Die Fahndung nach hochrangigen SS-Offizieren, die in Südtirol
Unterschlupf gefunden hatten, wurde intensiviert.
Im allgemeinen Chaos gelang trotzdem vielen die Flucht, Südtirol
wurde für hohe Nazis – wie Gerald Steinacher minutiös recherchiert
hat – zu einer Art Drehtür ins Ausland, vor allem nach
Übersee. Dies entsprang weniger einer zentral organisierten
108
Fluchthilfe, als vielmehr dem Zusammenspiel von allgemeinem
Chaos, karitativen Überlegungen, Strategien amerikanischer Geheimdienste
und den Geschäftsinteressen spontan entstandener
Schlepper- Organisationen. Rotes Kreuz und kirchliche Organisationen
wie die päpstliche „Pontifica Commissione Assistenza“ stellten
oft im guten Glauben Papiere aus, die auch NS-Ver brechern
die Ausreise ermöglichte. Zum einen sollte die Flüchtlingshilfe
nicht durch zu strenge Kontrollen erschwert werden, zum anderen
gab es auch eine stillschweigende Hoffnung auf Bekehrung
und Re-Christianisierung, gewissermaßen eine „Entnazifizierung
durch Taufe“ (Steinacher). Für die US-Geheimdienste waren die
aus dem Land geschmuggelten Nazis teilweise wertvolle und auf
Lebenszeit abhängige Mitarbeiter, eine „Humanressource“ im früh
beginnenden Wettlauf mit dem Osten vor dem Hintergrund des
aufziehenden Kalten Krieges.
In Südtirol waren ortskundige Fluchthelfer aktiv, die Netzwerke
stützten sich vielfach auf die noch frische Kriegskameradschaft,
auf Beziehungen zu Priestern, auf Zugänge zu Klöstern. Ideologische
Skrupel gab es kaum, waren doch die allermeisten dem NS-
Wahn erlegen, das Ausmaß der Kriegsverbrechen wurde erst nach
und nach bewusst. Auf manchen Bauernhöfen wurden Flüchtlinge
aus spontaner Hilfsbereitschaft heraus versteckt, Kontrollen
gab es zwar, aber in entlegenen Dörfern war die Möglichkeit, erwischt
zu werden, verhältnismäßig gering. Ein Fahndungserfolg
betraf nicht versteckte Nazis, wohl aber deren Raubgut: In der
Festung Franzensfeste wurden einige tausend Goldbarren der
Banca d’Italia sichergestellt. Ebenfalls gefunden wurden 264 Bilder
berühmter Maler wie Tizian, Rubens, Raffael, Rembrandt, Bellini
und Caravaggio, die von den Nazis aus dem Palazzo Pitti und den
Uffizien in Florenz in die „Alpenfestung“ gebracht worden waren,
als die Lage in Italien zu unsicher geworden war.
Gegenüber örtlichen Nazis gab es anfangs sehr wohl ein Bedürfnis
nach Abrechnung, Partisanenverbände und auch der Andreas-
Hofer-Bund suchten zunächst gezielt nach ihnen. Mancherorts
kam es zu willkürlichen Verhaftungen, vereinzelt auch zu blutigen
Säuberungen. So wurden in Gröden fünf Südtiroler SOD-Offiziere
durch italienische Partisanen kurzerhand exekutiert. Eine legi-
109
timierte Instanz wurde erst mit der Kommission für die „Epurazione“
in Bozen geschaffen, in der sich sehr bald die Haltung
durchsetzte, das unrühmliche Kapitel möglichst bald und möglichst
versöhnlich zu schließen. Die Fahndungen erlahmten. Es
setzte sich die Stimmung durch, dass man den Schrecken hinter
sich lassen und nach vorne schauen solle. Eine konsequente Entnazifizierung
hätte ebenso wie eine konsequente Entfaschisierung
wohl zu viele betroffen. So war es im beiderseitigen Interesse,
die Vergangenheit soweit wie möglich auf sich beruhen zu
lassen. Im Vordergrund der politischen Auseinandersetzung stand
die Zukunft Südtirols.
Präfekt De Angelis verfolgte von Anfang an eine klare Strategie:
Er wollte Südtirol für Italien sichern. Der Mailänder Industrielle
war führendes Mitglied der Faschistischen Partei gewesen
und, wie viele andere ehemalige Faschisten, rechtzeitig zur Sozialistischen
Partei übergetreten. Dies erklärt auch die nationale Haltung
der CLN-Vertretung in Südtirol, deren erste Amtshandlung
nach dem Einmarsch der Amerikaner das Hissen einer Tricolore
am Brenner gewesen war. Schon von den ersten Tagen an wurden
deutschsprachige Beamte aus ihren Büros vertrieben und durch
italienische ersetzt. Dies entbehrte zwar jeder rechtlichen Grundlage,
aber da auch die Anstellung der deutschen Beamten in der
Zeit der NS-Besatzung nicht legitim erfolgt war, gab es auch gegen
die Willkürakte des Präfekten keine Handhabe. Zugute kam De
Angelis sein freundschaftliches Verhältnis zur alliierten Militärregierung,
die den Südtirolern zwar korrekt, aber aufgrund der
zweijährigen NS-Herrschaft doch argwöhnisch gegenüberstand.
Die Südtiroler Politik musste sich – nach den schweren Zerwürfnissen
in der Optionszeit und NS-Ära – erst neu organisieren.
Als nahezu einzige politische Klasse, die noch einigermaßen intakt
und handlungsfähig war, übernahm das liberale Bozner Bürgertum
um Erich Amonn die Initiative. Hauptanliegen Amonns war
es, die tiefe Spaltung der deutschen und ladinischen Bevölkerung
durch Option und Nazizeit zu überwinden. Vorbild war der ehemalige
Deutsche Verband, in dem nach dem Anschluss Südtirols
an Italien die Christlichsozialen und Konservativen, die Freiheitlichen
und Liberalen zusammengearbeitet hatten.
110
Unter den Gründern der SVP befanden sich nahezu alle wichtigen Persönlichkeiten
der Nachkriegszeit, von links: Josef Raffeiner, Obmann Erich
Amonn, Vizeobmann Josef Menz-Popp, Otto von Guggenberg und Toni Ebner
(bei der Fronleichnamsprozession 1946).
Schon am 8. Mai 1945, wenige Tage nach Kriegsende, wurde
die Südtiroler Volkspartei (SVP) als Sammelpartei aller deutschen
und ladinischen Südtiroler gegründet. Lediglich die Sozialdemokraten
standen erneut abseits und gründeten erst im Herbst 1945
eine eigene Partei. Im offiziellen Gründungsakt der SVP schienen
vorwiegend Namen von Dableibern auf, auch Andreas-Hofer-Bund-
Obmann Hans Egarter befand sich darunter. Tatsächlich aber waren
gut ein Drittel der Gründungsmitglieder prominente Optanten, so
der ehemalige Präfekt Karl Tinzl und die von den Nazis eingesetzten
Bürgermeister von Bozen und Brixen, Fritz Führer und Hans
Stanek. Maßgeblich an der Gründung der SVP beteiligt war auch
Kanonikus Michael Gamper, der mit Rücksicht auf sein Priesteramt
nicht genannt wurde.
Das CLN sah die Gründung der SVP mit Unbehagen und
schwärzte die Sammelpartei bei der amerikanischen Militärregierung
an, zum Teil mit gefälschten Listen, auf denen auch Widerstandskämpfer
als angebliche Nazis aufgelistet wurden. Ein wichtiger
Gewährsmann für die alliierte Militärverwaltung war der
111
Dachau-Häftling und Andreas-Hofer-Bund-Gründer Friedl Volgger.
Die SVP berief ihn zum Organisationsleiter, Generals ekretär
wurde Josef Raffeiner. Das SVP-Programm bestand aus drei Punkten:
„1. Nach 25jähriger Unterdrückung durch Faschismus und
Nationalsozialismus den kulturellen, sprachlichen und wirtschaftlichen
Rechten der Südtiroler auf Grund demokratischer Grundsätze
Geltung zu verschaffen; 2. Zur Ruhe und Ordnung im Lande
beizutragen. 3. Seine Vertreter zu ermächtigen – unter Ausschluss
aller illegalen Methoden – den Anspruch des Südtiroler Volkes auf
Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes bei den alliierten Mächten
zu vertreten.“
Trotz heftiger italienischer Proteste gegen den dritten Punkt
genehmigte die AMG das Parteiprogramm und gestand der SVP
die Herausgabe einer Parteizeitung zu, des „Volksboten“. Dar über
hinaus wurde mit den „Dolomiten“ auch die Herausgabe einer
deutschsprachigen Tageszeitung erlaubt. Die italienische Lokalpresse
wurde auf eine einzige Zeitung beschränkt, den „Alto Adige“.
Das italienische Blatt musste neu aufgebaut werden, nachdem mit
dem deutschen Einmarsch 1943 die faschistischen Blätter „La provincia
di Bolzano“ und „Alpenzeitung“ eingestellt worden waren.
Die Herausgeberschaft des „Alto Adige“ übernahm zunächst der
CLN selbst, später ging die Zeitung an die Genossenschaft „Seta“
über (Società editrice tipografica atesina). In den folgenden Jahren
erhielt der „Alto Adige“ neben den offiziellen staatlichen Förderungen
auch heimliche Zuwendungen aus dem Innenministerium.
Für die italienische Bevölkerung Südtirols, die in der NS-Zeit über
keine Zeitung mehr verfügt hatte, wurde das Blatt zu einem wichtigen
Bezugspunkt. Es verstand sich als Sprachrohr der italienischen
Interessen in Südtirol.
Die „Dolomiten“, ebenso wie das SVP-Organ „Volksbote“ von
der Athesia herausgegeben und von Kanonikus Michael Gamper
geleitet, standen sowohl personell als auch politisch in enger Beziehung
mit der Südtiroler Volkspartei. In der ersten Ausgabe vom
19. Mai 1945 veröffentlichten sie in großer Aufmachung den Aufruf
der neugegründeten Partei: „Das unvermeidliche, an Furchtbarkeit
alle Vorstellungen und Ausmaße übersteigende Ende des Nationalsozialistischen
Regimes ist eingetreten. Ströme vergossenen Blutes,
112
blühende Städte und Dörfer in Schutt und Asche gelegt, Hunger
und Elend, unsägliches Leid und der Abscheu der ganzen Welt
vor den wahrhaft teuflischen Methoden der Vergewaltigung und
Ausrottung unzähliger unschuldiger Menschen durch die Gestapo
sind das traurige Erbe des Dritten Reiches, das ein tausendjähriges
sein wollte, aber schon nach zwölfjährigem Bestande zusammenbrach.“
Die Option wurde nicht ausdrücklich erwähnt, wohl aber
die „Weissagungen und Versprechungen falscher Propheten“. In
dieser „schicksalsschweren Stunde“ sollte die „freie Einheit und
Geschlossenheit der Südtiroler zu neuem Leben entstehen“.
Ende Mai 1945 betrachtete die AMG die „Normalisierungsmaßnahmen“
für abgeschlossen. Die Lage schien unter Kontrolle zu
sein. Während die Menschen in vielen Gebieten Europas, besonders
auch in Österreich und Deutschland Hunger litten, zog Südtirol
Nutzen von einer Rekordgetreideernte 1944 in der Poebene.
Einzig die Bombeneinschläge auf die Bahn- und Straßenverbindung
zwischen Brenner und Verona erschwerten die Versorgungsmaßnahmen.
Als die Trasse wieder einigermaßen instand gesetzt
war, gab es kaum noch Lebensmittelengpässe. Einzelne Waren wie
Fette, Salz und Zucker wurden zwar weiterhin rationiert, konnten
aber verhältnismäßig problemlos auf dem Schwarzmarkt erworben
werden. Die Instandsetzungsarbeiten schufen auch wieder
Arbeitsplätze.
So übergab Divisionskommandant Major General Paul W.
Kendall am 5. Juni 1945 vor dem Siegesdenkmal in Bozen formell
das Kommando über das Südtiroler Territorium an die italienische
Heeresgruppe Folgore. Einzelne Einheiten der Folgore, so
die Regimenter San Marco und Nembo, sorgten durch willkürliche
Übergriffe für Empörung und Protest in der deutsch- und
ladinisch sprachigen Bevölkerung. Um Feindseligkeiten zu verhindern,
erzwang der amerikanische Militärgouverneur Ende Mai
ein gegenseitiges Still halteabkommen zwischen CLN und SVP,
das im September noch einmal erneuert wurde. Auch die Chefredakteure
der Lokalzeitungen, Lino Ziller für den „Alto Adige“,
Rudolf Posch für die „Dolomiten“ und für das SVP-Parteiorgan
„Volksbote“, mussten die „militärbehördlich angeordnete Pazifizierung“
(Leopold Steurer) unterzeichnen. Beide Seiten bekann-
113
ten sich ausdrücklich zum friedlichen Zusammenleben der Volksgruppen
in Südtirol. Als vertrauensstiftende Maßnahme erfolgte
der Abzug der Folgore aus Südtirol und deren Ersatz durch andere
italienische Truppenverbände. Auch Präfekt De Angelis und reguläre
Carabinieri-Ein heiten wollten und konnten die vielen Provokationen
von Folgore-Truppen nicht mehr mittragen.
Trotz der Übergabe von immer mehr Aufgaben an italienische
Dienststellen zogen die Amerikaner zunächst noch nicht ab. Das
346. Infantry Regiment wurde in Südtirol belassen. Eine wichtige
Aufgabe war die Koordination und Betreuung der Flüchtlings- und
Heimkehrerströme. Zugleich diente die amerikanische Präsenz
als Puffer zwischen den ethnischen Lagern. Auch die AMG wurde
nicht unmittelbar aufgelassen. Ausdrücklich wurde versichert, dass
die militärischen Weichenstellungen die politische Lösung für Südtirol
nicht präjudizieren würden. Genau dies aber war die – nicht
unberechtigte – Sorge der SVP. Die unmittelbare Nachkriegszeit
unter amerikanischer Hoheit hatte für ihr Hauptziel, die Ausübung
des Selbstbestimmungsrechtes und die Rückkehr zu Österreich,
nicht zielführend genutzt werden können. Neue Hoffnungen taten
sich erst auf, als im Oktober die alliierte Militär regierung von den
amerikanischen an die britischen Einheiten überging. Diese zeigten
sich gegenüber den Südtiroler Anliegen ausgesprochen aufgeschlossen.
114
Hoffnung Selbstbestimmung
Eine Herzensfrage in Tirol und ganz Österreich –
Die Optanten als italienisches Druckmittel
Die Hoffnung auf Selbstbestimmung im Herbst 1945 scheint angesichts
der deprimierenden Lage geradezu verwegen. Trotzdem
beseelte sie alle politischen Anstrengungen zur Lösung der Südtirol-Frage
in Südtirol, in Tirol und auch in Wien. Der bürgerlichliberalen
SVP-Führung in Bozen war die Selbstbestimmung wohl
ebenso ein Anliegen, sie scheute aber zugleich jede Radikalisierung
der Bevölkerung.
Die stärksten Impulse für den Stimmungswandel kamen aus
Innsbruck. Am 4. September 1945 demonstrierten 25.000 Tirolerinnen
und Tiroler für die Wiedervereinigung Tirols. Die französische
Militärverwaltung, der Tirol unterstellt war, hatte die Kundgebung
genehmigt. Der französische Generaladministrator Pierre
Voizard saß während der Kundgebung unmittelbar neben Landeshauptmann
Karl Gruber auf dem Landhausbalkon. Auch Bischof
Geisler stellte sich hinter die Forderung. Schon am folgenden Tag,
dem 5. September, befasste sich in Wien die Regierung unter Staatskanzler
Karl Renner erstmals mit der Südtirol-Frage. In einem
Memorandum für die Friedensverhandlungen, das Renner mit
der Bitte um eine geschlossene Haltung allen Parteien vorlegte,
ersuchte er um eine Volksabstimmung über die künftige staatliche
Zugehörigkeit Südtirols.
Die Leidenschaft, mit der in Österreich für die Selbstbestimmung
gearbeitet wurde, war nicht selbstverständlich. Die unter
dem Schutz der Roten Armee am 27. April 1945 gebildete Provisorische
Staatsregierung stand vor unlösbar scheinenden Aufgaben.
In Österreich, besonders in Wien, litten viele Menschen an
Hunger und mangels Heizmaterials im folgenden Winter auch an
bitterer Kälte. Auch in Tirol war die Ernährungslage keineswegs
gesichert. Die Flüchtlingsströme hatten die Einwohnerzahl in manchen
Dörfern vervielfacht. Die westlichen Bundesländer hatten
zunächst kein Vertrauen in die Wiener Regierung. Sie hielten sie für
115
Eindrucksvolle Massenkundgebung für Südtirol am 22. April 1946 vor
dem Landhaus in Innsbruck; im Bild darunter Eduard Reut-Nicolussi als
Redner bei einer Kundgebung in Linz.
116
eine Marionette der Sowjets. Erst nach und nach – auch dank der
Wiederherstellung der Verkehrs- und der Verbindungsmöglichkeiten
– erwarb sich Renner das Vertrauen der einzelnen Länder.
Aber erst mit einer Konferenz der westlichen Bundes länder vom
24. bis 26. September in Wien wurde die Provisorische Staatsregierung
durch Vertreter der Bundesländer erweitert. Der Tiroler
Landeshauptmann Karl Gruber trat als Unterstaatssekretär für
Auswärtige Angelegenheiten in das Kabinett ein, im Dezember 1945
wurde er erster Außenminister Österreichs; Leopold Figl wurde
erster Bundeskanzler der Zweiten Republik.
Die Tiroler Landesregierung war aus dem von Karl Gruber
geleiteten „Ordnungsausschuss“ der Widerstandsgruppen gegen
den Nationalsozialismus hervorgegangen. Weitere maßgebliche
Persönlichkeiten waren der aus Südtirol emigrierte Eduard Reut-
Nicolussi, Hans Gamper und Alfons Weißgatterer, der Stellvertreter
und dann Nachfolger Grubers als Landeshauptmann wurde. Dass
die Tiroler Widerstandsbewegung in den letzten Kriegswochen
Innsbruck aus eigener Kraft befreit hatte, verschaffte der politischen
Repräsentanz in Tirol einen erweiterten Handlungsspielraum
und erhöhtes Selbstbewusstsein.
Genährt worden war die Hoffnung auf Selbstbestimmung auch
durch frühere und noch nicht verklungene politische Signale. Schon
am 1. November 1943 hatten die Alliierten in der „Moskauer Deklaration“
ihren Willen zur Wiedererrichtung eines demokratischen
Österreich kundgetan und Österreich zum Opfer Hitlers erklärt.
Dahinter stand die Absicht, den Widerstand in Österreich zu stärken.
Für die Nachkriegsverhandlungen konnte dies von Vorteil sein.
Auch die amerikanische Haltung schien zunächst vielversprechend.
Am 8. Juni 1944 empfahl ein vom State Departement eingesetztes
Sondierungsgremium die Rückgabe Südtirols an Österreich. Am
12. August 1944 einigten sich der amerikanische Präsident Franklin
Delano Roosevelt und der britische Premier Winston Churchill an
Bord des US-Kriegsschiffes „Augusta“ vor Neufundland auf eine
gemeinsame Prinzipienerklärung für die Nachkriegszeit. In Punkt 2
der „Atlantik-Charta“ wird der frei geäußerte Wunsch der jeweiligen
Bevölkerung als Prinzip für etwaige territoriale Änderungen
festgehalten. Das rief das 1919 von US-Präsident Woodrow Wilson
117
feierlich verkündete (wenn auch nicht durchgesetzte) Selbstbestimmungsrecht
als künftiges internationales Ordnungsprinzip in
Erinnerung. Auf der Dreimächtekonferenz von Potsdam (17. Juli
bis 2. August 1945) führten Äußerungen des US-Außenministers
James Byrnes ebenfalls zu positiven Deutungen der amerikanischen
Haltung.
Die negativen Zeichen waren trotzdem nicht zu übersehen. In
London beendete die Labour Party im Juli 1945 die Ära des Konservativen
Winston Churchill. Hatte dieser noch auf einer Bestrafung
Italiens für den Faschismus beharrt, zeigte sich die neue Londoner
Elite als weitaus konzilianter gegenüber der italienischen Nachkriegsregierung.
In Potsdam wurde beschlossen, die Friedenspläne
für Deutschlands Verbündete auf einer Konferenz der Außenminister
von USA, Großbritannien, Frankreich, Sowjetunion und China
auszuhandeln. Italien sollte als Erstes drankommen, da es sich auch
als Erstes von Faschismus und Nationalsozialismus befreit habe
und sich auf gutem Weg zur Demokratisierung befinde. Gegenüber
Österreich erhoben die Westmächte dagegen Vorbehalte aufgrund
der sowjetischen Besatzung. Wohl gab es Sympathien für Südtirol.
Italien aber hatte den Vorteil seiner für die westliche Allianz strategisch
wichtigen Lage im Mittelmeerraum. Die günstige Haltung
der französischen Militärverwaltung in Tirol fiel dagegen kaum
ins Gewicht, da Frankreichs Interessen vorwiegend dem Aostatal
und umstrittenen Gebieten in den Westalpen galten.
Die Ausgangslage für die Außenministerkonferenz in London
vom 11. September bis 2. Oktober 1945 war deshalb für Italien weit
günstiger als für Österreich. Schon am 12. September trafen die
Außenminister die – lange geheim gehaltene – Vorentscheidung,
dass die Brennergrenze aufrechterhalten werden sollte; lediglich
die Möglichkeit kleinerer Grenzberichtigungen wurde offengelassen.
In Unkenntnis dieser Vorentscheidung begann die endlich
handlungsfähig gewordene Regierung Renner ihre Mobilisierung
für Südtirol zu einem Zeitpunkt, als es eigentlich schon zu spät war.
Die Bevölkerung machte begeistert mit. Am 3. Oktober fand eine
eindrucksvolle Großkundgebung für Südtirol in Wien statt, die
von allen Parteien – einschließlich der Kommunistischen Partei
KPÖ – mitgetragen wurde. Karl Renner appellierte mit eindring-
118
Demonstration für die Einheit Tirols in Klausen: Ähnliche Kundgebungen
fanden trotz des Argwohns der Behörden an vielen Orten im Lande statt,
heimlich wurden Unterschriften für die Selbstbestimmung gesammelt.
lichen Worten an die Alliierten: „Gebt den Südtirolern ihre Heimat,
gebt den Südtirolern ihr Vaterland Österreich wieder!“ Der
angehende Bundeskanzler Leopold Figl erklärte Südtirol zur „Herzensangelegenheit“
aller Österreicher.
Das richtete die Moral auch in Südtirol auf. Eine so kraftvolle
Fürsprache, glaubte man, würde international nicht überhört werden
können. Die Selbstbestimmung schien plötzlich doch erreichbar.
Dementsprechend begann die italienische Politik, nervös zu
reagieren. In einer Sitzung des Ministerrates der italienischen
Regierung (unter Ferruccio Parri) äußerte sich der sozialistische
Vizepremier Pietro Nenni besorgt darüber, dass der österreichische
Außenminister ein Tiroler sei und Südtirols Position dadurch
gestärkt werde. Alcide Degasperi, 1944 zum Außenminister der
ersten nachfaschistischen Allparteienregierung berufen, ab 1945
Ministerpräsident, stimmte dieser Sorge zu. Er wies darauf hin,
dass Italien – anders als etwa die Tschechoslowakei durch die
Vertreibung der Sudetendeutschen – gegen die deutschstämmigen
Einwohner auf italienischem Staatsgebiet keine Sanktionen
ergriffen habe.
Darin klang eine subtile Anspielung auf die Südtiroler Optanten
durch, der bald konkrete Drohungen folgen sollten. Kommunisten-
119
führer Palmiro Togliatti sprach es unverhohlener aus: „Wir sind ein
Land, das gegen Deutschland gekämpft hat, und müssen das Recht
beanspruchen, die Deutschen so zu behandeln wie die anderen
Völker, die sie bekämpft haben.“ Von den rund 75.000 Optanten, die
tatsächlich ausgewandert waren, befanden sich viele in einer prekären
Situation. In Österreich erkannten die Alliierten sie zunächst
nicht als Österreicher an. In Italien aber wurden ihnen wegen ihrer
Rechts- und Staatenlosigkeit Wohnung und Lebensmittelkarten
vorenthalten. Rückwanderer nach Südtirol wurden vom italienischen
Heer abgefangen und in Lagern gesammelt.
Mit den Schicksalen der Optanten hatte Italien einen starken
Trumpf für die Friedens- und auch für die künftigen Autonomieverhandlungen
in der Hand. Die italienische Regierung begann,
Gesetzeslösungen auszuarbeiten, die auch den fast 140.000 nicht
ausgewanderten Optanten die italienische Staatsbürgerschaft vorenthalten
hätten, was auf eine Ausweisung hinausgelaufen wäre.
Dies hätte den Vollzug der Optionslösung von Hitler und Mussolini
bedeutet, letztlich die Auslöschung der deutschen und ladinischen
Minderheit. Die Optanten wurden zu „Geißeln“ (Franz
Widmann) der italienischen Südtirol-Politik.
Ein zweiter Trumpf, den Degasperi geschickt ausspielte, war
paradoxerweise das von Jugoslawien besetzte Triest mit der
Halbinsel Istrien. Die langjährige Südtirol-Expertin der Tiroler
Landes regierung Viktoria Stadlmayer weist dem italienischen
Ministerpräsidenten in ihrem Buch „Kein Kleingeld im Länderschacher“
nach, dass er bewusst eine vorübergehende Verschlechterung
der italienischen Position in Triest hinnahm, um damit
den Anspruch auf die Brennergrenze zu verstärken. Der Hintergedanke
war: Wenn Italien in Triest von den Alliierten harte Friedensbedingungen
auferlegt bekomme, dürfe es nicht ein zweites Mal
an der Brennergrenze bestraft werden. Das gewagte Spiel ging
langfristig einigermaßen auf: Istrien wurde zwar definitiv unter
den jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien und Kroatien aufgeteilt,
Triest aber fiel, nach einem Intermezzo als „freies Territorium“,
unter die Hoheit der Vereinten Nationen und konnte so
1954 wieder in die uneingeschränkte Souveränität Italiens überführt
werden.
120
Die Selbstbestimmungseuphorie in Südtirol wurde zum Jahresende
jäh gedämpft. Mit 31. Dezember 1945 erhielt die italienische
Regierung die volle Souveränität über das offiziell immer noch
von der AMG kontrollierte Gebiet der Provinz Bozen zurück. Ein
wenig Hoffnung blieb: Die Moskauer Außenministerkonferenz vom
16. bis zum 26. Dezember 1945 erkannte Italien nicht als verbündeten
Kriegsteilnehmer an, sondern lediglich als befreites Land.
Die Wahlen zum ersten österreichischen Nationalrat am 25. November
1945 überzeugten auch die skeptischen Repräsentanten der
Siegermächte von der festen Verankerung Österreichs im Westen:
Die christlichsoziale Österreichische Volkspartei (ÖVP) erreichte
die Mehrheit, die Sozialdemokraten (SPÖ) wurden zur zweitstärksten
Kraft, gefolgt von den als „Unabhängige“ angetretenen Nationalliberalen,
den späteren Freiheitlichen. Die Kommunisten erlitten
eine schwere Niederlage. Die neue Regierung unter Leopold Figl
wurde vom Alliierten Rat anerkannt, Karl Gruber stieg vom Unterstaatssekretär
zum Außenminister auf. Gleichzeitig war durch die
gefestigte Position der italienischen Christdemokraten auch ein
Ausbruch Italiens aus dem Westbündnis kaum noch zu befürchten.
Das italienisch-österreichische Kräfteverhältnis schien wieder
so weit ausgewogen, dass die Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes
für Südtirol möglich schien. Anfang 1946 wurde sowohl
in Washington als auch in den USA gelegentlich die Möglichkeit
eines Plebiszits für Südtirol erwähnt.
Die italienische Politik in Südtirol schien in dieser Zeit nicht
nur irritiert, sondern auch gespalten. An den sozialistischen und
kommunistischen Kräften im CLN vorbei hatte die Democrazia
Cristiana ihre Vormachtposition ausgebaut. Dominanteste
Persön lichkeit war Lino Ziller als Bürgermeister von Bozen, Präsident
der Partisanenvereinigung und Direktor der CLN-Zeitung
„Alto Adige“. Als Ziller im CLN durch den Kommunisten Andrea
Mascagni abgesetzt wurde, fiel die Partisanenbewegung in die
Bedeutungslosigkeit. Auch der zu den Sozialisten gewechselte De
Angelis kam unter Druck. Der Präfekt hatte keinen guten Draht
zum DC-Führer Alcide Degasperi. Den Sozialisten wurde, ebenso
wie dem Partito d’Azione, sogar unterstellt, die italienische Position
in Südtirol preiszugeben, falls Italien von Österreich gut abgefun-
121
Präfekt Bruno De Angelis (links) mit dem amerikanischen Militärgouverneur
in Südtirol, William McBratney; De Angelis wurde vom Degasperi-Vertrauten
Silvio Innocenti abgelöst.
den und den Siegermächten mit Besserstellungen an der jugoslawischen
Grenze entlohnt werden würde. Der Partito d’Azione war
aus liberalen und sozialen Kräften in der Widerstandsbewegung
hervorgegangen, stellte mit Ferruccio Parri den ersten Ministerpräsidenten
der Nachkriegszeit, büßte aber nach der Wahlniederlage
1946 gegenüber der Democrazia Cristiana jede Bedeutung ein.
Degasperi, der als Trentiner mit der Brennergrenze auch die Stärkung
seines Heimatgebietes im Auge hatte, verfolgte die gegenteilige
Strategie. Kurzerhand ersetzte er Präfekt De Angelis durch
einen persönlichen Gewährsmann, Staatsrat Silvio Innocenti. De
Angelis, der Südtirols Stunde Null geprägt und in der Folge manchen
Lernprozess mitgemacht hatte, geriet ins Abseits, wenige
Jahre später verübte er Suizid.
Ab Frühjahr 1946 kam es in Südtirol zu einer – zunächst stillen –
Mobilmachung für die Selbstbestimmung. Mit der Unterstützung
der Kirche wurden von den SVP-Bezirken in allen Südtiroler Ortschaften
heimlich Unterschriften für die Selbstbestimmung und
die Rückkehr zu Österreich gesammelt. Obwohl der neue Präfekt
Innocenti Wind davon bekam und viele altfaschistische Gemeinde-
122
sekretäre den Verantwortlichen mit Anzeigen und Verhaftung
drohten, kamen 158.600 Unterschriften zusammen. Es war fast
die gesamte erwachsene deutsch- und ladinischsprachige Bevölkerung
– eine buchstäbliche Vorwegnahme des Plebiszits.
Ein britischer Verbindungsmann des amerikanischen Geheimdienstes
OSS (Office of Strategic Services), der Südtirol-Freund
Edgeworth Murray Leslie, schmuggelte die Mappen mit den Unterschriften
im April 1946 über den Brenner. Mit Blick auf die Außenministerkonferenz
in Paris (25. April bis 16. Mai) kam es erneut
zu großen Kundgebungen in Südtirol, Tirol und ganz Österreich.
Eindrucksvoll trugen bei einer Massenkundgebung am 22. April
Kinder in Tracht die Mappen mit den Unterschriften durch Innsbruck
und übergaben sie stoßweise Bundeskanzler Figl. Bei Demonstrationen
für das Selbstbestimmungsrecht in Südtirol kam
es zu schweren Zusammenstößen mit italienischen Einheiten, in
Bruneck gab es am 5. April 1946 einen Toten und mehrere Verletzte.
Über den Schlagabtausch zwischen den „Dolomiten“ und
dem „Alto Adige“, zu dessen Autoren auch ausgewiesene Faschisten
gehörten, kam es zunehmend zu Verhärtungen zwischen den
Sprachgruppen. Die italienische Bevölkerung konnte die Süd tiroler
Politik durch die Brille des „Alto Adige“ kaum anders wahrnehmen
denn als nationalsozialistisch inspirierte Agitation und Bedrohung
ihres Existenzrechtes. Für Zwischentöne war auf beiden Seiten
wenig Platz.
Eine Serie von Sprengstoffanschlägen heizte die Stimmung an.
Ein erster Anschlag am 20. Februar 1946 auf das Andreas-Hofer-
Denkmal in Meran schien ein italienischer Einschüchterungsversuch
gegen die Südtiroler Forderungen zu sein. Entsprechend
kommentierten die „Dolomiten“: „Die Wirkung des Anschlages
dürfte allerdings eine ganz andere sein, als seine Urheber in ihrem
kurzsichtigen nationalistischen Wahn sich erwarten mögen: Die
Detonation von Meran hört man voraussichtlich wohl auch in
London.“ Erst Jahrzehnte später konnte der Historiker Michael
Gehler anhand von Aufzeichnungen aus dem Archiv von Ludwig
Steiner nachweisen, dass die Innsbrucker Gruppe der Widerstandsbewegung
O5 hinter dem Anschlag stand (die 5 stand für E als fünftem
Buchstaben im Alphabet: OE stand für Österreich). Steiner
123
– später ein vehementer Gegner von Attentaten – bekannte sich
nach Gehlers Publikation offen zu den Aktionen. Man habe – noch
in der Logik des Krieges – gehofft, durch die Anschläge Stimmung
für Südtirol zu machen. Der Anschlag auf das Andreas-Hofer-Denkmal
sollte den Siegermächten den Eindruck vermitteln, dass italienische
Faschisten alles Tirolerische ausmerzen würden, falls
Südtirol bei Italien bleibe. Der Anschlag fiel behutsam aus, das
Denkmal wurde kaum beschädigt.
Im Vorfeld der internationalen Entscheidung versuchte Außenminister
Karl Gruber die italienischen Argumente durch taktisch
zum Teil kluge, zum Teil aber auch unkoordinierte Gegenvorschläge
abzufangen. Der damit beginnende „Zickzackweg“ (Viktoria
Stadlmayer) könnte sich dadurch erklären, dass Gruber ungefähr
ab Ende Jänner 1946 vom Londoner Beschluss Wind bekam
und die große Lösung – möglicherweise zu früh – für verloren hielt.
Am 21. Jänner übergab Gruber dem Alliierten Rat in Wien noch
ein Memorandum, das ganz von der Hoffnung auf Selbstbestimmung
getragen war. Gruber ging darin gezielt auf Italiens Hauptargumente
gegen die Selbstbestimmung ein – die für die oberitalienische
Industrie wichtige Wasserkraft und die Zukunft der
italienischen Bevölkerung vor allem in Bozen und im Südtiroler
Unterland. Gruber machte das wirtschaftliche Angebot, die Wasserkraftwerke
bei Italien zu belassen; zukünftige Wasserkraftwerke
sollten durch italienisch-österreichische Gesellschaften
geführt werden; Italien würden an der Donau Freihandelsrechte
eingeräumt. Der italienischen Bevölkerung Südtirols wurde weitgehendes
Entgegenkommen zugesichert. Die in Südtirol lebenden
Italiener sollten zwischen der österreichischen und der italienischen
Staatsbürgerschaft entscheiden können, im ersten Fall würde
ihnen kultureller Schutz gewährt, im zweiten Fall ein privilegierter
Sonderstatus zugesprochen. Südtirol sollte den Vereinten Nationen
unterstellt werden.
Im nächsten Memorandum vom 12. April 1946 leitete Gruber
dann schon jene Strategie von Teillösungen ein, mit der er auch
die Südtiroler verunsicherte: Im Falle einer Rückgabe Südtirols an
Österreich sollten die Bozner Industriezone und einige Gebiete
im Südtiroler Unterland ausgeklammert werden.
124
Mit der Eröffnung der Außenministerkonferenz am 25. April
begann eine Anschlagsserie, die nun eine eindeutige Bekennerbotschaft
enthielt. Schon am 16. April wurde mit Gewehrkugeln
auf die Eisenbahn-Stromleitung zwischen Bozen und Meran und
zwischen Trient und Bozen geschossen. Am 1. Mai, für den die Entscheidung
der Außenminister über Südtirol erwartet wurde, kam
es zu einem Anschlag auf das faschistische Reiterstandbild in Waidbruck.
Als die Entscheidung der Außenminister bekannt wurde,
war die Enttäuschung in Südtirol für viele niederschmetternd: Die
Außenminister entschieden für den Verbleib Süd tirols bei Italien
und ließen lediglich die Möglichkeit geringfügiger Grenzberichtigungen
(minor rectifications) offen. Noch am 2. Mai wurde in
Kampenn bei Bozen ein Strommast gesprengt, am 3. Mai wurde
ein Anschlag auf die Quästur in Bozen verübt. Es folgten Anschläge
im Juni und Juli auf die Bahnlinie Trient-Bozen und im August auf
einen Hochspannungsmast in Kaltern.
Eindrucksvoll waren die Zeichen des friedlichen Protestes. In
Südtirol, Tirol und in ganz Österreich kam es zu Kundgebungen
mit breiter Beteiligung der Bevölkerung. Tirol stand still: Spontan
legten Arbeiter und Angestellte, aber auch Bauern die Arbeit nieder,
die Geschäfte blieben geschlossen, die öffentlichen Dienste
wie Post-, Telegraphen- und Telefonverkehr, Strom und Gasversorgung
wurden eingestellt. Am 5. Mai demonstrierten 15.000 Südtiroler
in Brixen, 16.000 in Meran, 20.000 auf Schloss Sigmundskron.
Erich Amonn rief am Schluss seiner Rede mit zum Himmel
gehobenen Händen einen historisch gewordenen Satz aus: „Wir
alle richten heute zu dem, der die Geschicke der Völker lenkt, die
heiße Bitte: Herr, mach uns frei.“ Bei der Kundgebung in Wien
am 14. Mai füllte die Menschenmenge den Rathausplatz bis in die
angrenzenden Straßen.
In extremis versuchte Gruber noch einmal eine Teillösung.
Italien sollte wenigstens das Pustertal mit Brixen und Wipptal an
Österreich abtreten. Dieser Vorschlag trug Gruber auch von Südtiroler
Seite heftige Kritik ein, da auf diese Weise das Land noch
einmal geteilt und der bei Italien verbleibende Großteil Südtirols
geschwächt und schutzlos Italien überlassen werde. Auch wurde
die Preisgabe einer klaren Linie durch wechselnde Kompromiss-
125
modelle als Schwächung der Selbstbestimmungsforderung empfunden.
Gruber rechtfertigte sich damit, dass er mit seinem Vorschlag
das Prinzip der Brennergrenze aushebeln wollte. Sei dieses
erst einmal gefallen, wären in der Folge weitere Fortschritte eher
möglich geworden. Mit der Brennergrenze hätte Österreich ein
starkes Pfand in die Hand bekommen und sich von Italien für die
Anerkennung militärischer Rechte am Brenner eine umfassende
Autonomie für ganz Südtirol einhandeln können. Der Streit erwies
sich als müßig. Die Außenminister lehnten am 24. Juni 1946 auch
die „kleine Lösung“ ab. Für die Pariser Friedenskonferenz (29. Juli
bis 15. Oktober 1946) wichen alle Hoffnungen der Ernüchterung.
Außenminister Gruber und die SVP bereiteten sich auf eine möglichst
umfassende Autonomielösung vor. Von einer „Alles-oder-
Nichts“-Haltung rückte man sowohl in Bozen als auch in Innsbruck
und Wien notgedrungen ab.
126
Pokerpartie um die „Provinz“
Der Pariser Vertrag von 1946 –
ein mühseliger Aufbruch zur ersten Autonomie
Bei den Friedensverhandlungen in Paris standen sich Italien und
Österreich mit schier unversöhnlich scheinenden Positionen gegenüber.
Karl Gruber stand unter einem enormen moralischen Druck
und sein Rahmen war eng gesteckt: Es konnte nur noch um eine
umfassende Autonomie für das ganze Land gehen. Doch wie groß
war Südtirol? Aufgrund der unter dem Faschismus vorgenommenen
Neuordnung waren ganze Talschaften von Südtirol abgetrennt:
das Südtiroler Unterland, die vier Gemeinden des Deutschnonstales
und das ladinische Fassatal gehörten administrativ zur Provinz
Trient, die ladinischen Gebiete von Ampezzo und Buchenstein
mit Colle Santa Lucia (Fodom/Col) zur Veneto-Provinz Belluno.
Eindrucksvoll demonstrierten Bevölkerung und politische
Repräsentanz in diesen Gebieten im Vorfeld der Pariser Verhandlungen
ihre Zugehörigkeit zu Südtirol. Auf Castelfeder bei Neumarkt
versammelten sich im Juni 1946 trotz strömenden Regens
3500 Menschen. Am Sellajoch hissten einen Monat später Ladiner
aus allen Dolomiten-Tälern – ähnlich wie 1920 am Grödner Joch –
die ladinische Fahne und forderten den Zusammenschluss aller
ladinischen Täler im Gebiet der Provinz Bozen und die Gleichstellung
mit der deutschen und der italienischen Sprachgruppe.
Degasperi verfolgte ein anderes Ziel. Die ladinischen Täler
betrachtete die italienische Regierung – in ungebrochener Fortsetzung
der faschistischen Politik – als das am leichtesten zu assimilierende
Gebiet, Ladinisch galt weiterhin nur als minderer italienischer
Dialekt. Degasperi wies alle Forderungen zurück, auch
den untergeordneten Antrag der bellunesischen Täler, wenigstens
der Provinz Trient angegliedert zu werden (deren Gebiet ja ebenfalls
zum alten Tirol gehört hatte). Für ganz Südtirol galt, dass
klare Gebietszusagen bei den Pariser Verhandlungen möglichst
ver mieden wurden, meist war nur von einer vage definierten „Provinzautonomie“
ohne sichere territoriale Zuordnung die Rede. Der
127
Kundgebung der Ladiner am Grödner Joch: Die Ladiner strebten
vergeblich eine Einheit innerhalb Südtirols an, Maximalforderung war
die Rückkehr zu Österreich.
sybillinischen Formulierung über eine „verwaltungsmäßige Erweiterung
von Grenzen“ im italienischen Vertragsentwurf lag eine
verschleierte Absicht Degasperis zugrunde: die Autonomie auf das
Trentino auszudehnen und der Provinzautonomie eine Regionalautonomie
mit italienischer Mehrheit überzustülpen.
Die Südtiroler Delegierten Friedl Volgger und Otto von Guggenberg
durften an den Verhandlungen offiziell gar nicht teilnehmen,
waren aber hinter den Kulissen sehr aktiv. Über einen Monat lang
wurde in Paris um jeden Satz gefeilscht, bis es am 5. September 1946
zu einer Einigung kam. Das Ergebnis war das 40 Zeilen knappe
Gruber- Degasperi-Abkommen. Den „deutschsprachigen Einwohnern
der Provinz Bozen und der benachbarten zweisprachigen
Gebiete der Provinz Trient“ wurden „volle Gleichberechtigung“ und
„Maßnahmen zum Schutze der volklichen Eigenart und der kulturellen
und wirtschaftlichen Entwicklung der deutschen Sprachgruppe“
zugesichert. Es sollte sich herausstellen, dass Degasperi
mit dem Hinweis auf die „benachbarten zweisprachigen Gebiete
der Provinz Trient“ nicht – wie von der SVP gefordert und erhofft –
eine Angliederung des Unterlandes und des Deutschnonsberges an
128
Ein lange als fragwürdig empfundener Handschlag: Österreichs Außenminister
Karl Gruber und Italiens Ministerpräsident Alcide Degasperi einigen
sich auf den „Pariser Vertrag“.
Südtirol im Blick hatte, sondern die Ausdehnung der Autonomie
ins Trentino bezweckte. Eine Erwähnung der ladinischen Gemeinden
und Bevölkerungsgruppen war abgelehnt worden, die von den
Faschisten vorgenommene Dreiteilung des ladinischen Gebietes
wurde aufrechterhalten.
Auch nach dieser Einigung blieben die Verhandlungen ein Krimi:
Degasperi lehnte es ab, dass dem Abkommen eine Landkarte beigelegt
werde. Und am Tag nach Vertragsschluss erklärte er, er sehe
sich nach einer schlaflosen Nacht außerstande, die Aufnahme des
Abkommens in den italienischen Friedensvertrag vorzuschlagen;
alles, was er tun könne, sei diese passiv hinzunehmen, falls die
Konferenz die Aufnahme beschließe. Degasperi konnte darauf hoffen,
dass sich die Sowjetunion dagegen aussprechen würde. Ohne
Anbindung des Abkommens an den Friedensvertrag aber wäre es
beinahe ohne Wert gewesen.
Die österreichische Delegation unter der Leitung von Karl Gruber
suchte einen Ausweg darin, das Abkommen dem Friedensvertrag
wenigstens als Anhang beizulegen. Erst im Dezember, nach
weiteren monatelangen Verhandlungen, stimmte die Sowjetunion
129
diesem Vorschlag zu. Gruber erwirkte dazu noch eine Erklärung,
dass alle Anhänge „wesentliche Bestandteile des vorliegenden Vertrages“
seien. Am 10. Februar 1947 unterzeichneten die „alliierten
und assoziierten“ Mächte den Friedensvertrag mit Italien. Das
Gruber-Degasperi-Abkommen wurde als Annex IV genehmigt. Der
Vertrag wurde vom italienischen Parlament ratifiziert und trat am
16. September 1947 in Kraft. Österreich verzichtete bewusst auf
eine Ratifizierung des Abkommens durch den Nationalrat, damit
dies nicht als Verzicht auf die aufrechterhaltene Forderung nach
Selbstbestimmung ausgelegt werden konnte.
Der „Pariser Vertrag“, wie das Gruber-Degasperi-Abkommen
auch genannt wird, entzieht sich einer sicheren historischen
Wertung. Bei seiner Rückkehr aus Paris erhielt Gruber von einem
erbosten Landsmann eine schallende Ohrfeige. Der Vorwurf, er
habe Südtirol in Paris durch eine unsichere Strategie schlecht
vertreten oder gar „verraten“, erfuhr immer wieder Neuauflagen.
Die Ausgangslage war ungleich: Italien stand als Land, das den
Faschismus früh abgeschüttelt und gegen den Nationalsozialismus
aufgestanden war, weit besser da als Österreich. Degasperi
vertrat eine international anerkannte, mittlerweile auch demokratisch
legitimierte Regierung, Gruber vertrat ein Land, das noch
in vier Besatzungszonen aufgeteilt war und erst zehn Jahre nach
Kriegsende einen Staatsvertrag erhalten sollte. Gruber benötigte zur
Anfahrt nach Paris eine Genehmigung der Besatzungsbehörde.
300.000 Österreicher befanden sich noch in Kriegsgefangenschaft,
fast 1,5 Millionen Flüchtlinge stellten die Zweite Republik vor eine
existenzielle Herausforderung.
So dürfte Grubers Leistung weniger an der einen oder anderen
Formulierung des Vertrages gemessen werden, sondern daran, dass
dieser überhaupt zustande gekommen war. Die Südtiroler Beobachter
in Paris, Volgger und von Guggenberg, versicherten später
immer wieder, dass Gruber das maximal Mögliche erreicht habe.
Gerade die Knappheit des Abkommens betone dessen Grundsätzlichkeit
und habe den Vorteil gehabt, spätere Entwicklungen und
Verbesserungen nicht zu blockieren. So war sich Gruber bewusst,
dass es vor allem auf die Umsetzung des Vertrages ankommen
würde. Degasperi hatte mit einem Schreiben zugestanden, die dies-
130
bezüglichen Vorschläge der österreichischen Regierung für „die
beste Lösung“ zu prüfen. Allein das Schreiben war de facto ein Einbekenntnis,
dass der Vertrag internationale Tragweite und Österreich
ein Mitspracherecht hatte. Gruber hoffte, dass Österreich
schon bald einen Staatsvertrag bekommen und dann als gleichberechtigter
Partner Besserstellungen erwirken könne – eine Vision,
die erst mit großer Verspätung Wirklichkeit wurde.
Die Südtiroler Politik war 1946/1947 noch von wesentlichen
demokratischen Grundrechten ausgeschlossen. Bei der Abstimmung
über die künftige Staatsform Italiens und den zeitgleich stattfindenden
Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung (Costituente)
am 2. Juni 1946 durften erstmals in der Geschichte Italiens
die Frauen wählen, die meisten Südtirolerinnen und Südtiroler aber
nicht. Das Gebiet Südtirols war, mit Ausnahme der zum Trentino
gehörenden Grenzgebiete und der ladinischen Gebiete im Trentino
und im Bellunesischen, von der Wahlbeteiligung ausgeschlossen.
Der formale Grund dafür bestand darin, dass Südtirols staatliche
Zugehörigkeit vor Inkrafttreten des Pariser Abkommens nicht offiziell
geklärt war. Für die Südtiroler Volkspartei bedeutete dies den
letzten Funken Hoffnung auf die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes
und die Rückkehr zu Österreich. Es hatte aber auch
den Preis eingeschränkter demokratischer Möglichkeiten. Auch in
den deutschsprachigen Gemeinden blieben noch jahrelang italienische,
zum Teil altfaschistische Bürgermeister im Amt.
So ging die Rückkehr der Demokratie nach Diktatur und Krieg
ausgerechnet dort am zähesten, wo Eigenverantwortlichkeit seine
Wurzeln hat – in den Gemeinden. Unter dem Faschismus war
die stark ausgebildete Südtiroler Gemeindenlandschaft radikal
zusammen gestutzt worden, die 233 Gemeinden wurden 1928 so
zusammengelegt, dass nur mehr 104 übrig blieben. Nach dem Krieg
wurden die Gemeinderäte zunächst gar nicht gewählt, sondern von
den Präfekten eingesetzt. Die unter dem Faschismus eingeführten
Gemeindenamen blieben, ebenso wie alle anderen Orts- und
Flurnamen, erhalten, der Pariser Vertrag sieht eine „zwei sprachige“
Ortsnamensgebung, aber keine Tilgung der Tolomei’schen „Übersetzungen“
vor. 1950 ermöglichte ein Gesetz die Neubildung von
1928 aufgelösten Gemeinden, aber nur die wenigsten machten da von
131
Gebrauch. Zum einen erwies sich die Zusammenlegung da und
dort als sinnvoll, zum anderen fehlten meist die finanziellen Voraussetzungen.
So erwirkten zunächst nur sechs Gemeinden die
Selbstständigkeit, etwa Kurtinig im Unterland, das mit eigenen
Gemeindegründen eine solide wirtschaftliche Grundlage hatte. In
den folgenden Jahren folgten weitere Gemeinden diesem Beispiel,
so dass die Anzahl der Gemeinden auf 117 anstieg, bis 1974 zwei
Kleinstgemeinden – St. Felix und Unsere liebe Frau im Walde –
aus Gründen der Rationalisierung zusammengeschlossen wurden.
Ein wichtiger Schritt für das Wiedererlangen kommunalen Selbstbewusstseins
war 1954 die Gründung des Südtiroler Gemeindenverbandes.
Auf römischer Ebene hatte Südtirol in der ersten Nachkriegszeit
einen einzigen politischen Vertreter. Es war der aus dem Unterlandler
Dorf Branzoll stammende Rechtsanwalt August Pichler. Dieser
hatte sich ursprünglich ebenfalls für das Selbstbestimmungsrecht
eingesetzt, ging aber zunehmend auf Abstand zur SVP, weil
diese von ehemaligen Nationalsozialisten unterwandert worden
sei. Auf Vorschlag des Bozner DC-Bürgermeisters Ziller wurde er
in die Consulta berufen, der Vorgängerinstitution der Costituente.
Trotz der grundsätzlichen Distanz zur SVP, die er um den Preis
eines frühen Rückzugs aus der Politik aufrecht hielt, war er für
diese ein wertvoller Vermittler.
Die SVP selbst verweigerte jede Form von institutioneller Mitarbeit.
Im Unterland, das aufgrund der Zugehörigkeit zum Trentino
wählen durfte, setzte die SVP eine nahezu hundertprozentige
Wahlverweigerung der deutschsprachigen Bevölkerung durch. Es
sollte verhindert werden, dass die Beteiligung an den Wahlen als
Zustimmung zur administrativen Zugehörigkeit zum Trentino ausgelegt
werden könnte. Der Aufruf zur Wahlenthaltung reichte über
das Südtiroler Gebiet hinaus bis in die ladinischen Täler Ampezzo
und Buchenstein. Obwohl hier nicht einmal der Verkauf der Tageszeitung
„Dolomiten“ erlaubt war, betrug die Wahlbeteiligung nur
50 Prozent.
Für die SVP hatte der Ausschluss von den Wahlen den Nachteil
einer fehlenden demokratischen Legitimierung, was sich wohl
auch auf die Ausarbeitung des vom Pariser Vertrag vorgesehenen
132
Autonomiestatutes niederschlug. Eine von Degasperi eingesetzte
Siebener-Kommission verwarf kurzerhand den Autonomieentwurf,
den Karl Tinzl für die SVP ausgearbeitet hatte. Für den Historiker
Claus Gatterer war dies eine versäumte Chance auf frühe
Versöhnung zwischen Minderheit und Staat, auch mit Blick auf
das Verhältnis der Sprachgruppen in Südtirol: „Keine Spur von
Arbeiter feindlichkeit, keine Spur von Feindseligkeit gegenüber den
Italienern. Man darf sich mit vollem Recht die Frage vorlegen, ob
die Südtiroler Entwürfe nicht in der Tat eine auch für Italien und
die Italiener Südtirols bessere Lösung dargestellt hätten als das
schließlich von der Costituente beschlossene Statut.“
In der Autonomiekommission gab Degasperis Vertrauter Silvio
Innocenti den Ton an. Dessen Entwurf sah den Zusammenschluss
der beiden Provinzen Bozen und Trient in der Region „Trentino-
Alto Adige“ vor. Die Provinzen blieben zwar aufrecht, die wichtigsten
Verwaltungszuständigkeiten wurden aber der Region
zuge sprochen, in der eine italienische Mehrheit garantiert war.
Die Schule blieb staatliche Domäne. Die vier Deutschnonsberger
Gemeinden sollten der Provinz Bozen angegliedert werden, vom
Unterland sollten die Berggemeinden Truden und Altrei an Südtirol
angeschlossen werden, Neumarkt und Salurn aber beim Trentino
bleiben. Auf der außerordentlichen Landesversammlung am
9. Dezember 1947 wies die SVP den Entwurf zurück, am 16. Dezember
stürmten rund 700 SVP-Funktionäre mit einer Protestadresse
die Bozner Präfektur. Im Unterland kam es am 28. Dezember 1947
– nach der ersten Kundgebung 1946 auf Castelfeder – zu einer zweiten
Demonstration in Neumarkt.
Für Nachbesserungen war der Spielraum zeitlich und politisch
äußerst eng. Spätestens am 31. Jänner 1948 sollte der Entwurf im
Plenum der Verfassungsgebenden Versammlung behandelt werden,
und zwar ausdrücklich auch ohne Zustimmung der Südtiroler.
Deren wesentliche Forderungen waren die Einführung des Landesnamens
„Südtirol“, die Einbeziehung von Salurn und Neumarkt in
das Gebiet der Provinz Bozen, die administrative Abgrenzung zwischen
Trient und Bozen und eine finanzielle Absicherung der Provinzautonomie.
Erst unmittelbar vor dem Stichtag signalisierte der
Vertreter der Regierung und Verfassungsrechtler Tomaso Perassi
133
ein gewisses Entgegenkommen, falls die SVP bereit sei, in einem
an ihn zu richtenden Schreiben ihre Forderungen und den Pariser
Vertrag für erfüllt zu bezeichnen. Erich Amonn notierte dazu in
seinen persönlichen Aufzeichnungen: „Wenn wir dies täten, dann
würden wir bald zu einem für uns vorteilhaften Ergebnis kommen,
ansonsten sollten wir lieber ... unsere Koffer packen.“
Praktisch hieß es „friss oder stirb“. Über den Verhandlungen
schwebte zudem das Damoklesschwert der noch ausstehenden
Optantenregelung. Schon im November 1947 hatten Italien und
Österreich ein Optantengesetz vereinbart, doch zögerte die italienische
Regierung den Erlass während der Autonomieverhandlungen
gezielt hinaus. An der Zustimmung zur Autonomielösung hing
somit auch das Schicksal der Optanten. Resigniert unterzeichneten
Erich Amonn und Generalsekretär Otto von Guggenberg am
28. Jänner 1948 das im Wortlaut vorgefertigte Schreiben an Perassi.
Der Sekretär der Sozialdemokratischen Partei Südtirols Anton Foglietti
unterzeichnete einen separaten, gleichlautenden Brief.
Am Tag nach der Unterzeichnung der Briefe, am 29. Jänner 1948,
genehmigte die Verfassungsgebende Versammlung das Autonomiestatut
für die Region „Trentino-Alto Adige“. Die deutsche Bezeichnung
der Region lautete nicht, wie gefordert, „Trentino/Südtirol“
sondern „Trentino/Tiroler Etschland“. Erst nach und nach wurde
„Südtirol“ als Markenname für die Tourismuswerbung erlaubt, die
ersten Südtiroler Fremdenverkehrsprospekte aber erschienen noch
mit der Bezeichnung „Tiroler Etschland/Dolomiten“.
Die von der Regierung gewährten Verbesserungen am Autonomiestatut
waren der Anschluss des gesamten Unterlandes mit
Neumarkt und Salurn an die Provinz Bozen, die Ausweisung eines
eigenen Südtiroler Wahlkreises, der Übergang der (dünnen) regionalen
Schulkompetenzen auf die Provinz, eine Art Vetorecht der
Mehrheit der Südtiroler Abgeordneten in der Region bei Haushaltsabstimmungen
(aber mit der Letztentscheidung im Innenministerium)
sowie die schrittweise Übertragung von Verwaltungszuständigkeiten
von der Region auf die Provinz Bozen. Dieser „Artikel 14“
wurde in den folgenden Jahrzehnten zum Schlüsselbegriff für den
politischen Kampf um eine reale Umsetzung des ohnehin schwachen
Autonomiestatuts.
134
Entgegen der zugesicherten Vertraulichkeit erwähnte Perassi
in der Verfassungsgebenden Versammlung die Dankesbriefe der
Vorsitzenden der Südtiroler Parteien, was für die Unterzeichner
peinlich war: Amonn und von Guggenberg hatten zwar im Namen
ihrer Partei, aber ohne Rücksprache in den Parteigremien unterschrieben.
Trotz der widrigen Umstände wurde das neue Autonomiestatut
wie ein Strohhalm betrachtet. So zerbrechlich dieser auch war, so
sehr klammerte man sich mangels Alternative daran: Endlich hatte
die Südtiroler Politik wenigstens etwas in der Hand. So überwog
auf Seiten der SVP eine Mischung aus Katerstimmung und Zweckoptimismus.
Die meisten italienischen Parteien rühmten das italienische
Entgegenkommen, meldeten aber auch schon Bedenken
an, ob Italien nicht zu großzügig gewesen sei.
Am 25. Februar 1948 stimmte die SVP-Landesversammlung
dem Autonomiestatut zu. Als wichtigste Errungenschaft nannte
Obmann Erich Amonn die Lösung der Optantenfrage, die ebenfalls
wenige Tage nach der Unterzeichnung der Perassi-Briefe erlassen
worden war. Die erhoffte Aufhebung des Hitler-Mussolini-Abkommens
von 1939 war nicht erfolgt, wohl aber wurde ausgewanderten
Südtirolern die Möglichkeit eingeräumt, um die Wiedererlangung
der italienischen Staatsbürgerschaft anzusuchen. Die Möglichkeit,
Antragstellern die Staatsbürgerschaft zu verweigern, war auf Druck
der SVP stark eingeschränkt worden. Bei drohendem Ausschluss
konnten vor einer eigenen Kommission, der sogenannten „Optionskommission“,
Rechtfertigungsgründe angeführt werden. Amonns
Hoffnung, dass alles vom Geist abhänge, mit dem die Regelung
durchgeführt werde, sollte sich in vielerlei Hinsicht bewahrheiten.
Das Optantengesetz betraf 80.000 Südtiroler, die im Zuge der
Option ausgewandert waren. Viele waren schon zwischen 1943
und 1945 zurückgekehrt, als Südtirol durch den Einmarsch der
Hitler-Truppen unter deutsche Verwaltung kam. Für jene, die auf
das Gesetz warten mussten, war viel Zeit vergangen, die meisten
hatten den Wunsch nach Rückkehr schweren Herzens aufgegeben
und sich auf den Verbleib in Österreich und Deutschland eingerichtet.
Die Zahl der Rückwanderer wird auf 25.000 bis 30.000
geschätzt. Die Verweigerung der Staatsbürgerschaft wurde in vielen
135
Fällen zu einem Instrument gegen politisch missliebige Südtiroler.
So musste auch der vor Kriegsende heimgekehrte Vinschger SVP-
Politiker Hans Dietl seine Staatsbürgerschaft erst über die Optionskommission
erkämpfen. Bis zur glücklichen Klärung musste er
auf die Landtagskandidatur 1948 verzichten, die ihm ein sicheres
Mandat eingebracht hätte.
Rückwanderern schlug vielfach auch von Südtiroler Seite
Geringschätzung entgegen. Sie mussten in Auffanglagern und
Kasernen unter oft unwürdigen Umständen auf ihre endgültige
Beheimatung warten. Manche Bürgermeister gaben den Rücksiedlern
zu verstehen, dass sie nicht erwünscht waren, andere empfahlen
den Hausbesitzern ihrer Gemeinde unter der Hand, ihnen
keine Wohnungen zu vermieten oder nur solche Rücksiedler aufzunehmen,
die eine sichere Existenzgrundlage vorzuweisen hatten.
Den heimgekehrten Optanten hing nun der Vorwurf des „Landesverrates“
nach. Wenn bedacht wird, dass ja nicht nur sie, sondern
nahezu 90 Prozent für die Auswanderung „optiert“ hatten, wurden
die Rücksiedler wohl zu Sündenböcken für das politisch ansonsten
eher verdrängte Drama der Option. In den neu ausgewiesenen
Rücksiedlerzonen in mehreren Südtiroler Gemeinden (die meisten
davon in Rentsch und Haslach in Bozen, andere in Bruneck,
Brixen und Sterzing) waren sie zunächst häufig sozialer Kälte und
Isolation ausgesetzt.
Zugleich brachte das Jahr 1948 mit dem Autonomiestatut, der
Optantenregelung und den ersten demokratischen Wahlen etwas
Normalisierung in die bewegte Nachkriegszeit. Zu den ersten
Parlamentswahlen am 18. April 1948 trat nun auch die Südtiroler
Volkspartei an. Eindrucksvoll unterstrich die SVP mit 62,7 Prozent
der Stimmen für die Abgeordnetenkammer ihren Alleinvertretungsanspruch
für die deutschen und ladinischen Südtiroler. Im
vorwiegend deutschen Senatswahlkreis Brixen kam die SVP auf
82,55 Prozent. Unter den italienischen Parteien setzte sich die
Democrazia Cristiana mit 21,8 Prozent der Stimmen deutlich vor
den Linksparteien durch, der „Blocco Nazionalista“ kam nur auf
1,9 Prozent. Im Trentino etablierte sich die DC mit über 70 Prozent
der Stimmen eindrucksvoll als italienische Volkspartei. Eine
Hoffnung für die SVP war die starke Trentiner Autonomiebewe-
136
Eine starke Autonomiebewegung gab es auch im Trentino. In Opposition
zu Degasperis Democrazia Cristiana mobilisierte die ASAR Tausende
begeisterter Menschen, schlussendlich aber setzte sich die DC durch.
gung ASAR mit ihrem legendären Wortführer Enrico Pruner aus
der altbairischen Sprachinsel der „Mocheni“ im Fersental. Bei den
Regional- und Provinzialratswahlen kam der aus dem ASAR hervorgegangene
Partito Popolare Trentino Tirolese auf 16,83 Prozent,
die DC konnte aber mit 57 Prozent ihre Dominanz wahren.
Auch in Südtirol stimmten bei den Regional- und Landtagswahlen
am 28. November 1948 die italienischen Wählerinnen und
Wähler differenzierter ab: Die DC erreichte mit 10,78 Prozent als
einzige der italienischen Parteien zwei Mandate, Sozialisten, Kommunisten,
Unabhängige, eine linke Arbeiterpartei und der neofaschistische
„Movimento Sociale Italiano“ (MSI) kamen auf je
einen Sitz. Diese Zersplitterung der italienischen Stimmen, die
sich von da an fortsetzte, erschwerte es der italienischen Politik
in Südtirol, eine gemeinsame Haltung zur Autonomie einzunehmen
und eine auch von der übermächtigen Trentiner DC unabhängige
Richtung einzuschlagen. Die SVP konnte mit 67,6 Prozent
ihre Position sogar noch festigen. Die Sozialdemokratische
Partei ging leer aus und löste sich auf. Ebenso scheiterten die Versuche
ladinischer Gruppen, eine eigene Partei zu gründen. Bis 1964
137
Die ersten beiden Landeshauptleute Südtirols: Karl Erckert (1948–1955)
und Alois Pupp (1956–1960); rechts August Pichler, zunächst einziger Südtiroler
Vertreter in Rom.
blieb die SVP einzige Partei der deutsch- und ladinischsprachigen
Minder heit im Südtiroler Landtag.
An die Spitze der Landesregierung wurde als erster Landeshauptmann
Südtirols der Meraner Rechtsanwalt Karl Erckert
gewählt. Erckert hatte für Deutschland optiert und war während
der NS-Zeit als kommissarischer Verwalter seiner Stadt auserkoren
worden, erhielt aber nach Kriegsende dank wohlwollender italienischer
Fürsprecher sofort seine Staatsbürgerschaft zurück. Auch
zu den Dableiber-Kreisen um Erich Amonn hatte er, wie übrigens
auch Karl Tinzl, gute Beziehungen. Dadurch fiel ihm die Rolle
eines Vermittlers und Ausgleichers zu. Erckert verstarb 1955 während
einer Sitzung der Landesregierung. Sein Nachfolger wurde
der aus dem Gadertal stammende Alois Pupp, dem seitdem einzigen
Ladiner in diesem Amt. Obwohl er von 1958 bis 1961 erster
Landes kommandant der Südtiroler Schützen war, galt er als Repräsentant
einer gegenüber Rom und Trient zu nachgiebigen Politik.
Nach der Wahl von Silvius Magnago zum SVP-Obmann 1957 wurde
er 1960 von diesem auch im Amt des Landeshauptmannes ab gelöst.
Bis 1968, einem Jahr vor seinem Tod, blieb er – zwischen Präsident-
138
schaft und Vizepräsidentschaft rotierend – Mitglied des Südtiroler
Landtages.
Landtag und Landesregierung hatten in der ersten Autonomiephase
mangels Kompetenzen und Geldmittel kaum Möglich keiten
der politischen Gestaltung. Von der im Autonomiestatut vorgesehenen
schrittweisen Übertragung von Zuständigkeiten von der
Region auf die Provinz war jahrelang keine Rede. So musste Karl
Erckert in seiner ersten Haushaltsrede 1948 von kümmerlichen
Zuständigkeiten berichten, die „Provinz“ verfüge nicht einmal über
genügend Räumlichkeiten für die bestehenden, geschweige denn
für weitere Kompetenzen: Dadurch sei „eine weitere Entwicklung
sehr erschwert“. Alle wichtigen Zuständigkeiten blieben auf die
Region in Trient konzentriert, wo die Südtiroler Vertreter sowohl
im Regionalrat als auch in der Regionalregierung chronisch überstimmt
wurden. Die Personalaufnahme auch für Regionalstellen
in Südtirol wurde an den deutschen Assessoren vorbei durchgeführt,
Förderungsmittel gingen in höherem Maße an Beitragsempfänger
im Trentino.
139
Aufbruchsstimmung
und „Todesmarsch“
Südtirol auf dem Weg in die 1950er Jahre –
zwischen Wirtschaftsaufschwung und Zukunftsangst
In Zeittafeln zur Geschichte in Südtirol gibt es meist einen chronologischen
Sprung: 1948 – Genehmigung des Autonomiestatutes,
1956/1957 – Beginn des Autonomiekampfes. Auch bei feineren
Rastern klafft zwischen dem Inkrafttreten des ersten Autonomiestatutes
und der sich schon früh ankündigenden politischen Krise
in der Regel eine Lücke. Möglicherweise hat dies auch damit zu
tun, dass Lebensgefühl und politische Wahrnehmung in der frühen
Autonomiezeit auseinanderdriften.
Noch vor dem Abschluss des Pariser Vertrages und dem Erlass
des Autonomiestatuts hatte es für die kulturelle Absicherung der
deutschen Sprachgruppe eine außerordentliche Leistung gegeben –
den Wiederaufbau der deutschen Schule. Die unter der NS-Besatzung
eingerichteten deutschen Schulen wurden nach der Kapitulation
im Frühjahr 1945 vorübergehend geschlossen. Schon Ende
Juni 1945 aber sicherte die italienische Regierung der deutschen
Bevölkerung einen Unterricht in ihrer Muttersprache zu. Die Alliierten
sollten davon überzeugt werden, dass Italien den kulturellen
und sprachlichen Schutz der deutschen Minderheit ernst nehme.
Gegenüber der ladinischen Sprachgruppe gab es ein solches Entgegenkommen
nicht, die ladinische Sprache wurde schulpolitisch
weiterhin wie ein Dialekt behandelt.
Das erste Volksschuldekret vom Oktober 1945 sah eine muttersprachlich
ausgerichtete deutsche Schule vor. Für das zum Trentino
gehörende Unterland erließ der Trentiner Schulamtsleiter
Giovanni Gozzer in Absprache mit den Alliierten eine Verordnung,
mit der ebenfalls ab Herbst 1945 der deutsche Schulbetrieb aufgenommen
werden konnte. Gozzers Initiative war vor allem deshalb
beachtlich, weil er sie ohne Zustimmung der provisorischen
italienischen Regierung in Angriff nahm.
140
Noch gegen 1950 waren
in Bozen die Kriegsschäden
sichtbar.
In Südtirol tat sich der Geistliche Josef Ferrari durch beherztes
Zupacken hervor. Formal war Ferrari als deutscher Vizeschulamtsleiter
ohne genau definierte Zuständigkeiten dem italienischen
Schulamtsleiter für Südtirol Erminio Mattedi unterstellt, praktisch
aber nahm Ferrari den Aufbau der deutschen Schule selbst
in die Hand. Ohne Genehmigung des Unterrichtsministeriums
und trotz mancher Widerstände eröffnete er ab November 1945
auch deutsche Mittel- und Oberschulen. Durch eine nachträgliche
Ermächtigung von Seiten der alliierten Behörde sicherte er
die Sekundarschulen auch nach der Übergabe des Landes an die
italienische Verwaltung ab. Freilich dauerte es noch Jahre, bis es
in allen Südtiroler Tal- und Ortschaften ein ausreichendes Angebot
auf allen Schulstufen gab, aber grundsätzlich war der Unterricht
in deutscher Sprache von der ersten Volksschulklasse bis zur
Matura gesichert. Pariser Vertrag und Autonomiestatut brachten
– außer der institutionellen Absicherung – keine zusätzlichen Fortschritte,
die primären Schulkompetenzen blieben in Rom.
141
Während die Südtiroler aus der öffentlichen Verwaltung konsequent
vertrieben wurden, konnte für die deutsche Schule auch
das Personal weitgehend gerettet werden. Eine großzügige Entnazifizierung
hielt sich mit einer ebenso nachsichtigen Entfaschisierung
auch in der Schule die Waage. Nationalsozialistische Lehrer
wurden kaum behelligt oder schnell wieder rehabilitiert, faschistische
Lehrer meist ohne Beanstandung im Amt belassen. So wie die
SVP einer möglichst einheitlichen politischen Vertretung zuliebe
auch ehemalige Nazis aufnahm, bot sich auch ihr italienisches Pendant,
die Democrazia Cristiana, als Auffangbecken für alle Italiener
an. Viele Faschisten sahen in der DC die aussichtsreichere politische
Heimat als im neofaschistischen Movimento Sociale Italiano.
Für die Parlamentswahlen 1948 traf die DC sogar eine Absprache
mit dem MSI, um dessen Stimmen auf ihren Kandidaten Angelo
Facchin umzulenken, einem ehedem glühenden Faschisten.
Waren die Neofaschisten auch bei den Wahlen mäßig erfolgreich,
so trugen sie doch viel zur Stimmung in der italienischen Bevölkerung
bei. 1947 gründeten die Brüder Andrea und Pietro Mitolo
auch in Bozen den MSI, bei den Landtagswahlen 1948 erreichten
sie mit 2,7 Prozent der Stimmen prompt ein Mandat. Von den frühen
50er Jahren an traten der MSI und seine Jugendbewegung „Fronte
della Gioventù“ mit Protesten gegen die Autonomie und provokanten
Veranstaltungen wie der „Festa Tricolore“ auf. Damit gab der
MSI einem diffusen Lebensgefühl vieler Italiener in Bozen und
Meran Ausdruck, die nicht einsehen wollten, warum das eroberte
Land nicht ein ganz normales Stück Italien sein sollte. Der Vater
der Brüder Mitolo hatte zu den Offizieren gehört, die 1918 triumphierend
in Bozen einmarschiert waren. Von diesem Erlebnis bezogen
viele der zugewanderten italienischen Familien ihre politische
Identität. Wer nicht mit dem Heer gekommen war, hatte sich
vom Stellenangebot durch die staatlich geförderte Industrialisierung
zur Migration in den Norden verlocken lassen, viele waren
einfache Arbeiterfamilien, die sich an ihre neue Existenz klammerten.
Für ein größeres Verständnis gegenüber der deutschen und
ladinischen Minderheit, die sich durch die Zuwanderung bedroht
und wirtschaftlich an den Rand gedrängt fühlte, fehlten die politischen,
kulturellen und sozialen Voraussetzungen.
142
Die Südtiroler klagten über Schikanen und Benachteiligungen
durch die vorwiegend italienisch besetzte Staatsverwaltung, vom
öffentlichen Dienst bis hin zur Sozialfürsorge. Wohnbau, Staatsdienst
und Industrie waren die wichtigsten Steuerungsinstrumente
der Regierung, um die Zuwanderung italienischer Arbeitskräfte
weiter zu forcieren – und für diese bedeuteten sie Lebens- und
Zukunftschancen. Die deutschen und ladinischen Südtiroler
dagegen blieben weitgehend davon ausgeschlossen.
Auf dem Höhepunkt der faschistischen Zuwanderungspolitik
unmittelbar vor dem deutschen Einmarsch 1943 hatten in Süd tirol
176.000 Deutsche, 104.766 Italiener und 10.635 Ladiner gelebt. 1951
war die italienische Bevölkerung um weitere 10.000 Personen angewachsen,
bis 1961 kamen noch einmal rund 15.000 Italiener dazu.
In einem italienischen Regierungspapier von 1954 war unverhohlen
von der „politica del 51 per cento“ die Rede: Sobald die Italiener
in Südtirol einen Bevölkerungsanteil von 51 Prozent erreicht
haben würden, ließe sich das Südtirol-Problem vom Tisch wischen.
In dieser Stimmung prägte Kanonikus Michael Gamper 1953 den
legendären Satz vom „Todesmarsch“ der Südtiroler.
Die düstere politische Stimmung stand im Gegensatz zum allgemeinen
Lebensgefühl Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre.
Denn es war auch eine Zeit des Wiederaufbaus, der Pionierleistungen,
des Aufbruchs. Technische Errungenschaften wie Waschmaschine,
Kühlschrank, Tiefkühltruhe, Elektroherd, Staubsauger,
Grammophon, Radio und – noch selten – Fernsehapparate veränderten
allmählich, aber nachhaltig die Alltagswelt. Zeitungsinserate
priesen die neuen Errungenschaften an, mit dem Import
von Kühlschränken und Küchengeräten mauserten sich Südtiroler
Kleinbetriebe wie der Ladenhersteller Schweitzer zu national
und bald auch international operierenden Unternehmen. Motorrad
und etwas verzögert auch das Auto wurden zum Symbol für
eine neue, individuelle Beweglichkeit. Von knapp 2500 Motorrädern,
die 1952 in Südtirol gemeldet waren, schnellte die Zahl binnen
dreier Jahre auf über 15.000 hoch. Die Zahl der Autos verdoppelte
sich von 1952 bis 1956 auf 8000. Vespa-Ausflüge traten an die
Stelle der Radlausflüge, mit denen sich noch die Zwischenkriegsgeneration
vergnügt hatte. Kino, Tanzabende und Bälle wurden
143
Modernisierung erfasste und faszinierte in den urbanen Zentren vor
allem die italienische Jugend (im Bild Circolo Universitario Cittadino, 1951),
die Vespa eroberte aber auch die deutsche Bevölkerung.
zu beliebten Freizeitveranstaltungen. In Meran kam es 1952 zur
Miss-Italia-Wahl, 1958 nahm schon die erste Südtirolerin (Erika
Haller) daran teil, im selben Jahr konkurrierte Helene Steinbacher
um die „Miss Cinema Bolzano“. Südtiroler Sportvereine blühten
auf, der FC Bozen spielte in der zweiten italienischen Fußballliga,
Südtiroler Hockeyclubs beherrschten die A-Meisterschaft. Italienische
Sportgrößen wie die Radlegende Fausto Coppi begeisterten
auch viele Südtiroler.
Die Wirtschaft erhielt nach der Stagnation neuen Auftrieb.
Die Ausfuhr von Wein etwa in die Schweiz, nach Österreich und
Deutschland, die bei Kriegsende fast zum Erliegen gekommen war,
erholte sich ab 1948 wieder, ebenso der Export von Obst, Gemüse,
Wolle, Grödner Schnitzwaren und chemischen Produkten. Mit
Kriegsende war die Handels-, Industrie- und Landwirtschaftskammer
Bozen wieder aktiviert worden. Am 12. September 1948 fand
erstmals wieder die Bozner Messe statt, italienische und überregionale
Wirtschaftsinteressen trafen sich hier – etwa bei der Viehzuchtschau
oder dem großen Trachtenumzug – mit Bekundungen
des Südtiroler Wirtschaftslebens und Volkstums. 1949 schlossen
Italien und Österreich – in Durchführung einer Bestimmung des
Pariser Vertrages – das „Accordino“ („kleines Abkommen“) zur
Erleichterung des Warenaustausches. Der Tourismus blühte wie-
144
der auf, 1949 waren die Nächtigungszahlen der Vorkriegsjahre
wieder erreicht. Die Gäste waren zunächst zu 80 Prozent Italiener,
die Urlaub im Gebirge suchten, ab 1950 nahmen aber auch die
Touristenströme aus Österreich und Deutschland wieder stark zu.
Der Brenner wurde an besonderen Reisetagen zum Nadelöhr, am
Mitsommertag 1955 passierten 20.000 Autos den Alpenpass Richtung
Süden. Schrittweise wurde das Straßennetz ausgebaut. Wie
in Innsbruck, wo schon 1948 der Flughafen am heutigen Standort
eröffnet wurde, gab es auch für den Bozner Flughafen frühe,
wenn auch nicht verwirklichte Ausbaupläne. Südtiroler wurden
zunehmend auch selbst zu Touristen, die adriatischen Badeorte
wie Caorle, Jesolo und Rimini wurden zum Sommerziel von immer
mehr Badeurlaubern.
Erst auf den zweiten Blick zeigt sich im beschwingten Stimmungsbild
der 50er Jahre ein brüchiger Untergrund. Die Südtiroler
Landwirtschaft schien nach dem Krieg im Vergleich zu
anderen Alpenländern einigermaßen krisenfest zu sein. Während
der Beschäftigungsstand in der Landwirtschaft in den österreichischen
Alpengebieten zwischen 1934 und 1951 um mehr als
15 Prozent zurückgegangen war, betrug der Rückgang in Südtirol
gerade zwei Prozent. Dagegen hatte der Arbeitsplatzanteil der
Industrie in Südtirol stärker abgenommen als etwa in Tirol und
im Trentino. Darin zeigen sich aber gegenläufige Entwicklungen:
Die bäuerlichen Arbeitsplätze waren in Südtirol angesichts des
realen Bedeutungsverlustes der Landwirtschaft unnatürlich viele,
weil Bauernkinder kaum Ausweichmöglichkeiten in der Industrie
und im öffentlichen Dienstleistungssektor fanden. So blieben
viele trotz wirtschaftlicher Verschlechterungen notgedrungen in
der Landwirtschaft tätig, auch wenn diese sie nur mehr schlecht
ernähren konnte. In den Industriebetrieben nahmen die Arbeitsplätze
ab, weil die künstliche Anheizung durch den Faschismus
nicht durchgehalten werden konnte. Das Ungleichgewicht in den
wirtschaftlichen Perspektiven zeigte sich schon wenige Jahre später,
als sich den Südtirolern das verlockende Angebot von Arbeitsmöglichkeiten
im Wirtschaftswunderland Deutschland bot. Viele
verließen ihre Höfe. Nicht wenige nahmen auch Chancen in den
oberitalienischen Wirtschaftshochburgen wahr.
145
Wohlstand und Modernisierung wurden erst verspätet zum
Allgemeingut. Noch 1961 hatten 2300 Südtiroler Haushalte keinen
Stromanschluss, 32.600 diente er nur für das elektrische Licht.
Fernseher wurden für viele erst Ende der 60er Jahre zur erschwinglichen
Errungenschaft, die erste Mondlandung 1969 erlebten die
meisten Menschen in öffentlichen Lokalen, die sich für das Ereignis
ein Fernsehgerät zugelegt hatten. 1950 besaßen erst 41 Südtiroler
Bauern einen Traktor. Der Aufschwung war sichtbar geworden,
aber noch war er eine Verheißung, die vielleicht dem bessergestellten
Nachbarn vergönnt war, für die meisten in Südtirol aber
außer Reichweite schien.
Das könnte erklären, warum die Stimmung drückend blieb
und die politische Konfrontation zunehmend schärfer wurde. Die
Volk-in-Not-Stimmung band im Kulturleben auch nach 1945 viele
kreative Kräfte an konservative Grundhaltungen. Exemplarisch
zeigte sich dies in den – von den Nazis hochgeschätzten – Werken
des Malers Rudolf Stolz und des Autors Hubert Mumelter. Trotzdem
zeigten sich gerade in der Kunst Versuche, eine Kontinuität
zum Nationalsozialismus zu vermeiden, wenngleich auf eine nicht
minder fragwürdige Weise. Als sich nach dem Krieg 140 Süd tiroler
Künstler, Bildhauer und Architekten zum „Südtiroler Künstlerbund“
zusammenschlossen, war nicht Rudolf Stolz führend, sondern
sein Bruder Albert, der Aufträge und Anerkennung von den
Faschisten bekommen hatte. Als Albert Stolz 1947 verstarb, wurde
der Bildhauer Hans Piffrader sein Nachfolger, dessen Mussolini-
Relief am heutigen Gerichtsplatz bis in die Gegenwart für Anstoß
sorgt. Piffrader orientierte sich in seinem Schaffen an der Wiener
Secession, nun wandte er sich – wohl zur Verarbeitung seiner
Kriegserlebnisse und seiner Kollaboration mit dem Faschismus –
dem Makaberen zu. Von den Ideologien und Regimen ihrer Zeit
waren die allermeisten Künstler teils gebannt, teils gefangen
gewesen, in ihren Werken versuchten viele aber doch einen Neuanfang.
Symbolträchtig war der Kunstskandal 1945 um Max Weilers
Fresko „Lanzenstich“ aus dem Zyklus für die Theresienkirche auf
der Hungerburg in Innsbruck. Die Darstellung eines Söldners in
Bauerntracht, der den Gekreuzigten durchbohrt, sorgte für der-
146
art heftige Reaktionen, dass Weiler für Jahre aus Innsbruck verschwand
und das Fresko verhüllt wurde. Der Lanzenstich stellte
eine Verletzung des Grundkonsenses dar, auf den sich Tirol – diesseits
und jenseits des Brenners – nach 1945 geeinigt hatte: Opfer
von Unrecht, nicht Täter gewesen zu sein.
Erst 1954 traten Künstler mit der Meraner Gruppe um Peter
Fellin, Karl Plattner und Oswald Kofler mit einem Manifest gegen
das unreflektierte Heimatpathos ihrer Zeit auf. Eine neue Formensprache
suchten auch Bildhauer, die Faschismus, Nationalsozialismus
und Krieg zumindest als Kinder miterlebt hatten. Die
meisten gingen durch die Grödner Schule, so die Grödner Martin
Demetz und David Moroder, aber auch die Schnalser Martin Rainer
und Friedrich Gurschler. In Wien nahm Oswald Ober huber
eine kritische künstlerische Haltung ein, in Innsbruck begann
der aus Glurns stammende Karikaturist und Zeichner Paul Flora
liebevoll-ironisch am Tiroler Wesen zu sticheln.
In der politischen Debatte war für solche Zwischen- und Gegenstimmen
kein Platz, sie stand im Zeichen des Überlebenskampfes
der Südtiroler Minderheit im italienischen Staat. Dies wirkte
sich auch auf die Entwicklung des Medienwesens aus. „Dolomiten“
und „Alto Adige“ verstanden sich als politische Leitmedien ihrer
Bevölkerungsgruppe. Die Gründung weiterer deutsch sprachiger
Zeitungen erfolgte weniger aus dem Bedürfnis nach Meinungsvielfalt
als vielmehr aufgrund staatlicher Lenkung: So versuchte schon
1946 die „Alto-Adige“-Gruppe Seta, mit dem „Bozner Tagblatt“ auch
die deutschsprachige Bevölkerung zu erreichen und regierungsfreundlicher
zu stimmen. Der Versuch scheiterte am Misstrauen
der Südtiroler Leserschaft gegenüber einer deutschen Zeitung mit
italienischem Herausgeber. Ein ähnliches Projekt war 1947 die
Gründung der Wochenzeitung „Der Standpunkt“. Sie konnte auf
einige hervorragende Journalisten zurückgreifen, die zum Teil
schon in der NS-Zeit nach Südtirol gekommen waren. Auch der
Südtiroler Industrielle Hans Fuchs trug das Blatt mit. „Der Standpunkt“
wollte sich durch gediegene Kulturberichterstattung vom
ethnischen Konfrontationskurs der „Dolomiten“ abheben, das Autonomiestatut
von 1948 wurde positiv bewertet. Die Mittel kamen
weitgehend aus dem „Grenzzonenamt“, das von Alcide Degasperi
147
Graun versinkt im Reschenstausee: die Vollendung eines faschistischen
Projektes im demokratischen Italien (1950).
für Südtirol eingerichtet worden war und von Silvio Innocenti
ge leitet wurde. Von 1951 bis 1957 erschien bei der „Alto-Adige“-
Gesellschaft Seta schließlich die „Alpenpost“, offiziell herausgegeben
von Obst- und Weinhändlern, die aufgrund der staatlichen
Ausfuhrkontrolle auf einen guten Draht zur Regierung in Rom
angewiesen waren. Die „Alpenpost“ versuchte die Südtiroler
Leserschaft durch boulevardartige Aufmachung zu erreichen, auch
einige glaubwürdige Südtiroler Journalisten ließen sich dafür gewinnen.
Finanziert wurde die Zeitschrift ebenfalls über Mittel des
Innen ministeriums, Erfolg war auch ihr keiner beschieden. „Alpenpost“
und „Standpunkt“ gingen mit der Zuspitzung des Autonomiekampfes
ein. Der kulturelle und ethnische „Überlebenskampf“,
von dem die Südtiroler Politik geprägt war, ließ auf deutscher und
ladinischer Seite keinen Platz für Pluralismus, sondern forderte
Geschlossenheit.
In der demographischen Entwicklung bestätigten sich die Südtiroler
„Todesmarsch“-Ängste rein statistisch nicht. Letztlich blieb
das Verhältnis der Sprachgruppen konstant: Was an Italienern
zuwanderte, machten die Deutschen und Ladiner durch höhere
Geburtenraten wett. Wohl aber erschwerten die fehlenden Aus- und
148
Aufstiegsmöglichkeiten aus dem traditionellen Wirtschaftsgefüge
die Lebensbedingungen der Südtiroler Familien. Das Gefühl und
vielfach auch reale Erleben, dass vor allem den deutschsprachigen
Südtirolern die Existenzgrundlagen entzogen wurden, während
den Italienern Staatsstellen und Wohnbauförderung vorbehalten
waren, überlagerte den Aufbruchsgeist der Nachkriegszeit.
Ein eindrückliches Symbol dafür war die Vollendung des unter
dem Faschismus geplanten Staubeckens am Reschen für das Kraftwerk
der Montecatini: Am 26. Juli 1950 versank das geräumte Dorf
Graun im Stausee. Lediglich der herausragende Kirchturm erinnerte
noch an das Opfer, das Südtirol für die staatliche Energiegewinnung
leisten musste, im Namen eines Fortschritts, von dem
sich die meisten ausgeschlossen fühlten.
149
Wende in der Volkspartei
Umkämpfter Generationswechsel – Von Dietls Protesthaltung
zur „Palastrevolte“ – Magnagos Wahl zum SVP-Obmann
Die lange verdeckten Brüche in der Südtiroler Gesellschaft sorgten
Mitte der 50er Jahre auch innerhalb der Südtiroler Volkspartei für
Reibungen und Spannungen. Die liberal-städtischen Gründer väter
begannen den Druck nachdrängender Generationen, aber auch
aufbegehrender sozialer Gruppen zu spüren, die bis dahin kaum
Möglichkeiten der politischen Mitgestaltung hatten.
Mit Silvius Magnago und Alfons Benedikter wurden schon bei
den Landtagswahlen von 1948 zwei Politiker gewählt, die sich als
Hoffnungsträger einer neuen Generation profilierten. Magnago kam
aus einer Bozner Richterfamilie, war eher von strenger altösterreichischer
Beamtenmentalität denn von liberaler Bürgerlichkeit
geprägt, Glanz und Glamour waren ihm nicht nur fremd, sondern
auch suspekt. Alfons Benedikter stammte aus einem politischen und
wirtschaftlichen Randgebiet, dem Vinschgau, von der Ausbildung
her ein Jurist wie Magnago. In Schlanders, wo Benedikter herkam,
war der noch vom CLN eingesetzte altfaschistische Bürgermeister
bis 1947 im Amt geblieben. Maßgeblich beteiligt am Sturz des
italienischen Bürgermeisters war der junge Göflaner SVP-Ortsobmann
Hans Dietl. Alfons Benedikters Vater wurde erster deutscher
Bürgermeister des Vinschgauer Hauptortes.
In der SVP verkörperten Magnago und Benedikter einen Politikertypus
neuen Stils. Sie gehörten einer jüngeren Generation an,
beide waren Optanten und Wehrmachtsoldaten gewesen, der beinamputierte
Magnago Kriegsinvalide, Benedikter Russland-Heimkehrer
nach schwerer Gefangenschaft. Und beide waren in der
von Bozens Bürgertum gegründeten „Honoratiorenpartei“ (Anton
Holzner) zunächst eher Außenseiter. Magnago fiel bei seiner ersten
Kandidatur, den Parlamentswahlen 1948, als erster Nichtgewählter
durch: Weder die volkstumspolitisch orientierte Gruppe
um Kanonikus Michael Gamper, noch die liberalen Parteigranden
stützten ihn. Aber schon bei den im selben Jahr folgenden Bozner
150
Protagonisten der politischen Wende: Alfons Benedikter und Silvius Magnago
nach ihrer Wahl in den Landtag 1948 (um 1952), im Bild darunter Hans Dietl
und Peter Brugger (links von Karl Tinzl und Magnago).
151
Gemeinde- und Landtagswahlen bestach er durch seine Vorzugsstimmenergebnisse.
Er wurde deutscher Vizebürgermeister in der
italienisch verwalteten Landeshauptstadt und erster Landtagspräsident.
1951 übertrumpfte er bei den internen Parteileitungswahlen
den Parteigründer Erich Amonn.
Die erste Amtsperiode von Regionalrat und Landtag verlief enttäuschend.
Von einer Umsetzung der versprochenen Autonomie
konnte keine Rede sein. Das von Degasperi ins Leben gerufene „Spezialamt
für die Grenzregionen“, geleitet vom früheren Präfekten
Silvio Innocenti, vereitelte konsequent einen konstruktiven Dialog
zwischen Bozen und Rom. Die Lösung der Optantenfrage wurde
weiter verzögert, mit dem Ergebnis, dass viele, die gern rückgewandert
wären, diesen Wunsch schließlich aufgaben. Die schon vom
Autonomiestatut vorgesehene Zweisprachigkeit im öffentlichen
Dienst wurde systematisch unterlaufen. Das Postministerium etwa
widersetzte sich der Aufnahme zweisprachigen Personals. An den
meisten Bahnhöfen war es unmöglich, auf Deutsch eine Fahrkarte
zu erwerben. Der Zugang zum öffentlichen Dienst wurde Südtiroler
Bewerbern durch Benachteiligung bei den Wettbewerben versperrt,
bei vielen Ausschreibungen kam kein einziger Südtiroler
zum Zug. In der Region wehrte sich die DC gegen die Anwendung
des Artikels 14, der so wichtige Bereiche wie die Wirtschaftsförderung,
die Landwirtschaftsinspektorate, die Arbeitsämter und den
Wohnbau dem Land übertragen sollte. Durch gezielte Wohnbaupolitik
wurde im Zusammenspiel zwischen Rom und Trient die
italienische Zuwanderung nach Bozen weiter forciert.
Bei den Landtagswahlen 1952 wurde der Erneuerungsschub
innerhalb der SVP unübersehbar. Eine Reihe von Kandidaten der
Gründergeneration trat nicht mehr an, unter ihnen Gründungsobmann
Erich Amonn. Magnago und Benedikter schnitten hervorragend
ab. Von den neuen Kandidaten erhielt Hans Dietl, 1948 wegen
der Anfechtung seiner Staatsbürgerschaft noch von der Liste gestrichen,
die meisten Stimmen. Ein neues Gesicht war der Bauernkandidat
Peter Brugger aus dem Ahrntal. Dietl und Brugger waren
ebenfalls Optanten, Wehrmachtsoldaten und Juristen. Während
Magnago wieder Landtagspräsident wurde, besetzten Benedikter
und Dietl gegen den Widerstand der Parteiführung die wichtigsten
152
Die Zuwanderung zwischen menschlichen Bedürfnissen und staatlicher
Strategie: Die Arbeitskräfte für die Industriebetriebe mussten zunächst
in Baracken hausen, womit die Regierung in der Folge den zusätzlichen
Baubedarf in Bozen begründete.
zwei Ämter in der Regionalregierung, Brugger wurde Regionalratssprecher
der SVP und Landwirtschaftsassessor in Bozen. Der
Hausfrieden in der Region, um den sich die SVP-Gründer zähneknirschend
bemüht hatten, war damit praktisch aufgekündigt.
Treibende Kraft des Kurswechsels war Dietl. Die Trentiner
DC hatte in der Region weitgehend freie Hand gehabt, besetzte
wichtige Stellen auch in Südtirol mit ihren Leuten, schleuste bedeutende
Geldmittel an den Südtirolern vorbei. Dietl begann Statistiken
über die ungleiche Förderung der Landwirtschaft in Trient
und Bozen zu erstellen, vereitelte Gefälligkeitsentscheidungen bei
Personalaufnahmen und begann auf die bis dahin verschleppte
Durchführung des Artikels 14 des Autonomiestatutes zu pochen.
Als die DC die Verwaltungsübertragungen von Trient nach Bozen
weiter verzögerte, begann Dietl für einen Rücktritt aller SVP-
Assessoren in der Region zu werben.
Die SVP reagierte zögerlich. Die Sammelpartei tat sich schwer,
die vielen politischen Kräfte zu bündeln, die in ihr vereinigt waren.
Allein die schnellen Obmannwechsel nach dem freiwilligen Ver-
153
zicht von Erich Amonn 1948 zeugen von der Schwierigkeit der
SVP, personelle und inhaltliche Orientierung zu finden: Der Burggräfler
Josef Menz Popp blieb drei Jahre im Amt, sein Nachfolger
Toni Ebner nur ein Jahr, gefolgt von Otto von Guggenberg, der nur
zwei Jahre blieb.
Einer der einflussreichsten SVP-Politiker der Nachkriegszeit
war Karl Tinzl, der aber erst nach Erhalt der lange nicht gewährten
Staatsbürgerschaft offiziell auftreten durfte: 1953 wurde er erstmals
ins Parlament gewählt, 1954 übernahm er die SVP-Führung.
1956 folgte ihm erneut Toni Ebner ins Amt, der als junger Protegé
von Kanonikus Michael Gamper einerseits das patriotische
Lager vertrat, andererseits auch in den bürgerlichen Kreisen gut
eingeführt war. Unmittelbar darauf verstarb am 15. April 1956 mit
Gamper die überragende Persönlichkeit des friedlichen Südtiroler
Widerstandes unter dem Faschismus und auch der Aufbauarbeit
nach dem Krieg. Für Ebner tat sich durch seine Ehe mit der
Kanonikus-Nichte Martha Flies das Erbe der Athesia auf. Er wurde
durch die direkte Kontrolle über die Tageszeitung „Dolo miten“
zu einem der mächtigsten Männer Südtirols. Zugleich rückte er
– politisch offenbar sich freier fühlend – weiter an das bürger liche
Lager heran.
Einen Einheitsblock bildete auch die Gruppe um Benedikter,
Dietl und Brugger nicht. Der Konflikt in der Region war aufreibend,
die Widerstände in der eigenen Partei wirkten zermürbend.
Benedikter und Brugger scheuten vor dem von Dietl geforderten
demonstrativen Amtsverzicht zurück. Silvius Magnago warnte
vor dem totalen Bruch mit der DC in der Region, weil die SVP
dann möglicherweise erst recht von jeder Mitsprache ausgeschlossen
sei. Auch müsse sich die SVP vor drastischen Schritten vergewissern,
dass sie damit nicht Österreich als Vertragsmacht des
Gruber- Degasperi-Abkommens überfordere. Nach jahrelangem
vergeblichen internen Druck trat Dietl schließlich am 6. Mai 1955
im Alleingang als Regionalassessor zurück und setzte seine Partei
unter Zugzwang.
Für die politische Stimmung war es ein zündender Funke.
Dietl wurde zum Hoffnungsträger einer Generation, die sich nicht
mehr alles gefallen lassen wollte. Die SVP ließ ihn zwar noch ein-
154
mal im Regen stehen: Anders als von Dietl erhofft, kam es nicht
zum Auszug der SVP aus der Region. Aber um Dietl herum kristallisierte
sich der Wunsch nach einer offensiveren politischen Strategie.
Vor allem der Bozner Franz Widmann, ein damals nahezu
unbekannter, aber gewiefter Stratege im Hintergrund, begann mit
Dietl den Führungswechsel in der SVP vorzubereiten. Da die Wahlen
der Parteispitze bis dahin praktisch mit vorgefertigten Listen
vorgegeben waren, bedurfte es einer mehrmonatigen Vorarbeit im
Stillen. Von Ortsgruppe zu Ortsgruppe wurden Vertrauensleute
aufgebaut, um für die nächsten Parteiwahlen die Wende herbeizuführen.
Die Zeit arbeitete für einen Richtungswechsel. 1955 erhielt
Österreich den Staatsvertrag und damit neue Handlungsfähigkeit.
Die Augen vieler Südtiroler richteten sich nach Wien, wo
mit dem Tiroler Franz Gschnitzer als Staatssekretär ein kräftiger
Fürsprecher gefunden worden war. Der hochrangige Jurist, Universitätsprofessor
und Abgeordnete zum österreichischen Nationalrat
wurde zu einer der wichtigsten Persönlichkeiten in den
Südtirol-Verhandlungen, zuerst im Bundeskanzleramt, später im
Außenministerium. Die Tiroler Landespolitik hatte sich nach der
Enttäuschung über die gescheiterte Wiedervereinigung, ähnlich
wie jene in Südtirol, auf den notwendigen Wiederaufbau des Landes
konzentriert. Die Landeshauptleute jener Zeit haben sich in der
Erinnerung der Südtiroler keinen Platz gesichert: Alfons Weißgatterer,
auf Karl Gruber nachgerückt, stand im Schatten des Tiroler
Außenministers. Nach Weißgatterers Tod 1951 wurde Alois Grauß
Landeshauptmann, der 1957 – knapp vor dem politischen Aufbruch
in Südtirol – wieder abtrat. In der nächsten Landesregierung
unter Karl Tschiggfrey nahm zwar nicht der Landeshauptmann
selbst, wohl aber dessen Stellvertreter Aloys Oberhammer
eine aktive Rolle im neuen Autonomiekampf ein.
Abgerissen war der Faden zwischen Bozen und Innsbruck nie,
ab Mitte der 50er Jahre wurden die Verbindungen wieder fester
geknüpft. Kanonikus Michael Gamper hatte 1953 am Rande einer
Südtirol-Kundgebung die Gründung eines „Schutzverbandes für
Südtirol“ angeregt, wohl spürend, dass der erstaunlicherweise nie
erloschenen Solidarität für Südtirol auf Dauer institutionell nach-
155
Silvius Magnago prägte über die Jahrzehnte die Südtirol-Politik: Im Bild bei
einer 1809-Gedenkfeier 1959 mit SVP-Generalsekretär Hans Stanek, dahinter
Landeshauptmannstellvertreter Robert von Fioreschy.
geholfen werden müsse. Am 5. März 1954 wurde der „Bergisel-
Bund – Schutzverband für Südtirol“ gegründet. An einem der ersten
größeren Treffen im Dezember desselben Jahres nahm Friedl
Volgger teil, wie Toni Ebner ein Schützling des Kanonikus, nach
dessen Tod aber bei Athesia ins Abseits geraten. Franz Gschnitzer
gab den Ton an: „Wir müssen Wien vorwärtstreiben.“ Dass Karl Gruber
im Zuge des Regierungswechsels (von Leopold Figl zu Julius
Raab) aus dem Außenministerium schied, wurde als Erleichterung
aufgenommen. Da der neue Außenminister Figl kein Tiroler war,
fühlte sich die Tiroler Politik freier. Gschnitzer rückte zum Staatssekretär
im Außenamt auf.
Zunehmender polizeilicher und gerichtlicher Druck verstärkte
in Südtirol die Bereitschaft zu einem härteren Kurs. Die italienischen
Behörden gingen völlig unsensibel gegen patriotische Äußerungen
der Südtiroler Jugend vor, das Singen deutscher Lieder
wurde ebenso geahndet wie das Hissen der Tiroler Fahne. Es kam
zu lächerlichen Strafprozessen wegen weiß-rot gestrichener Fensterläden
und eines mit dem Mund vorgetäuschten Furzes eines
Südtirolers in der Nähe einer Polizeistreife. Der Linzer Egon Mayr
156
Die Vorgangsweise der Justiz gegen die „Pfunderer Buam“ wurde
zum zündenden Funken in bereits explosiver Stimmung.
wurde neun Monate in Untersuchungshaft gehalten, weil er bei
Brixen Kopien eines Zeitungsartikels über Italiens Unrecht an Südtirol
aus dem fahrenden Zug geworfen hatte. Der leitende Bozner
Staatsanwalt Faustino Dell’Antonio hatte seine Karriere unter dem
Faschismus begonnen. Er ging mit aller Härte vor, für Egon Mayr
forderte er 14 Jahre Haft; das Gericht erteilte immer noch drei
Jahre Gefängnis. Der traditionelle Trachtenumzug zur Eröffnung
der Bozner Messe wurde 1956 abgesagt, nachdem neofaschistische
Gruppen Störungen angekündigt hatten. Statt Musikkapelle und
Feuerwehr marschierte eine „banda musicale“ vom Comer See
durch Bozen. Innenminister Fernando Tambroni bestritt in seiner
Eröffnungsrede, dass es ein Südtirol-Problem gebe. Eine Kundgebung
der SVP zum zehnjährigen Jahrestag des Pariser Vertrages
auf dem Landhausplatz wurde verboten, den Schützen ein Protestmarsch
durch Bozen untersagt.
Solche Nachrichten stachelten auch das Interesse vieler Südtirol-Freunde
in Tirol an. Empörung löste die Verhaftung und vor
allem die drakonische Bestrafung der Pfunderer Burschen aus,
denen die Ermordung des Finanzbeamten Raimondo Falqui am
16. August 1956 zur Last gelegt wurde. Falqui und seine Kollegen
157
hatten mit den Burschen im Gasthaus lange gezecht, über die Anmahnung
der Sperrstunde war es dann zum Streit gekommen. Am
nächsten Tag wurde der Finanzer tot im Bachbett gefunden. Wie
genau Falqui zu Tode gekommen ist, ließ sich nie restlos aufklären,
möglicherweise war es ein Totschlag infolge eines Handgemenges
auf dem Heimweg, möglicherweise war er in der Dunkelheit
unglücklich in den Abgrund gestürzt. Verurteilt wurden Luis Ebner,
Bernhard Ebner, Isidor Unterkircher, Florian Weißsteiner, Georg
Knosseisen, Johann Huber und Paul Unterkircher am 16. Juli 1957
wegen Mordes zu Haftstrafen von zehn bis 24 Jahren.
Die in schweren Ketten abgeführten „Pfunderer Buam“ wurden,
obwohl nie politisch aufgetreten, zu Symbolfiguren des aufflammenden
Autonomiekampfes. Das gerichtliche Vorgehen wurde als
Willkür empfunden. Für eine Gruppe um den Bozner Buchdrucker
Hans Stieler war dies einer der Anlässe für die ersten Sprengstoffanschläge
im Herbst 1956. Stieler kontaktierte vorher in Innsbruck
Franz Gschnitzer und Aloys Oberhammer und fühlte sich zum Handeln
ermutigt. Die Stieler-Gruppe, von der einzelne Aktivisten auch
schon Kontakte zu den späteren Leitfiguren Sepp Kerschbaumer
und Luis Amplatz hatten, führte zwischen Herbst 1956 und Jänner
1957 sechs Anschläge aus. Die Anschlagwelle, die nur geringe
Schäden anrichtete, endete mit der Verhaftung von 14 Südtirolern.
Beweise gab es nur gegen eine kleine Gruppe um Stieler.
Ihre eigentliche Brisanz erhielten die Attentate erst nachträglich,
als am 1. Februar 1957 Friedl Volgger als mutmaßlicher Drahtzieher
verhaftet wurde. Als Redakteur der „Dolomiten“ kannte
Volgger den Zeitungssetzer Stieler gut, der oft auch den Kanonikus
chauffierte. Dass er mit der Stieler-Gruppe tatsächlich unter einer
Decke steckte, ist nicht gesichert, wohl aber pflegte er, wie in weit
aktiverem Ausmaß auch Hans Dietl, tatsächlich Kontakte zur Attentäterszene.
Mangels Beweisen musste er wieder enthaftet werden.
Volggers Verhaftung und Freilassung unmittelbar vor der Neuwahl
der SVP-Spitze machten ihn zum Mann der Stunde auch
für die Dietl-Gruppe. Als Obmannkandidat lief alles auf Silvius
Magnago zu, der einerseits das Vertrauen der alten Garde genoss,
aufgrund seines Charismas aber auch Dietl als der richtige Mann
für die politische Wende schien. Anders als die Amonn-Gruppe,
158
die vorwiegend die Obmannfrage im Auge hatte, zielte Dietl auf
eine neue Mehrheit in den Leitungsgremien. Der Plan ging auf:
Drei von vier Obmannstellvertretern gingen mit Dietl, Benedikter
und Volgger an die Herausforderer. Einzig Karl Tinzl, auch
von der Dietl-Gruppe geschätzt, konnte sich von der „alten Garde“
als Stellvertreter durchsetzen, Gründungsobmann Erich Amonn
fiel als sicher geglaubter Vizeobmannkandidat dagegen durch. Im
Partei ausschuss sicherte sich die Dietl-Gruppe eine breite Mehrheit.
Mit der „Palastrevolte“ war der erste Schritt zur Aufkündigung
des unbefriedigenden Autonomiefriedens getan.
159
Glanz und Schatten
von Sigmundskron
Sternstunde am Rande eines Scherbenhaufens – Schwere Konflikte
in der SVP – Das belastete Verhältnis zur Kirche
„Mander, es ist Zeit“, schrieb Sepp Kerschbaumer in einem Rundschreiben
zu Neujahr 1957. Der Frangarter Kaufmann und SVP-
Ortsobmann war zu diesem Zeitpunkt landesweit bekannt. Bei
SVP-Landesversammlungen trat er mit mahnenden Stellungnahmen
regelmäßig ans Rednerpult. In Vorsprachen bei Politikern
redete er ihnen ins Gewissen, dass es einen schärferen Kurs brauche.
Allmählich versammelte Kerschbaumer eine Bewegung um
sich, die einer politischen Wende auch gewaltsam nachzuhelfen
gewillt war. Aus einer kleinen Kerngruppe entwickelte sich der
Befreiungsausschuss Südtirol (BAS). Kerschbaumer war kein fanatischer
Hetzer, sondern ein tief religiöser und von seinem Anliegen
überzeugter Mensch. Seine ersten Aktionen waren noch fried licher
Art. Aus Protest gegen die hohen Haftstrafen für die Pfunderer
Buam begab er sich etwa nach Pfunders und trat im dortigen Pfarrhaus
einen Hungerstreik an. Am Andreas-Hofer-Tag 1957 hisste er
die verbotene Tiroler Fahne demonstrativ am helllichten Tag, um
seine Verhaftung zu provozieren. Als er 1958 dafür tatsächlich verurteilt
und eingesperrt wurde, trat er wieder in den Hungerstreik.
1957 wäre die Eskalation des Südtirol-Konflikts durch politisches
Einlenken vermutlich noch zu stoppen gewesen. Kerschbaumer
entschied sich erst Ende des Jahres für den gewaltsamen
Aufstand. Bis dahin zeichnete er seine Flugschriften noch mit vollem
Namen, danach verwendete er das Kürzel „BAS“. Auch andere
Attentätergruppen, vor allem um den Passeirer Schützenhauptmann
Jörg Klotz, warteten noch zu. Die Hoffnungen richteten
sich vor allem auf die Wende in der Volkspartei.
Silvius Magnago hatte nach seiner Wahl einen schweren Stand.
Die abgewählte Führung wollte ihn unmittelbar nach der Wahl wieder
zum Rücktritt zwingen, um ihre Abwahl rückgängig machen
160
Die Kundgebung von Sigmundskron ist im Rückblick ein Highlight der
Autonomiegeschichte: Die Stimmung war geladen, eine Eskalation drohte.
zu können. Von der anderen Seite drängte die Dietl-Gruppe auf
eine energischere Kurskorrektur. In Österreich und auch in Tirol
war man irritiert und besorgt, stärkte aber – nach intensiven Beratungen
– schließlich eindeutig der neuen Führung um Magnago
den Rücken.
Dass die italienische Regierung ihre Zuwanderungspolitik noch
weiter auf die Spitze trieb, klärte zumindest vorübergehend die
Situation. Im Oktober 1957 schreckte ein Wohnbauprojekt der
Regierung für Bozen die SVP auf. Der nach dem Minister für öffentliche
Arbeiten benannte „Togni-Plan“ sah 2,5 Milliarden Lire für
den Bau eines neuen Stadtteiles mit 5000 Wohnungen, Kirchen,
öffentlichen und sozialen Diensten vor. Eine Protestkundgebung
der SVP wurde zunächst von der Quästur untersagt, was die Stimmung
noch mehr anheizte. In Bozen demonstrierten italienische
Oberschüler gegen die Autonomie und die Südtiroler Forderungen.
Am 9. November wurde ein Anschlag auf das Grabmal des faschistischen
Senators Ettore Tolomei in Montan verübt.
Während die bürgerlichen Kreise in der SVP davon abrieten,
machte vor allem Hans Dietl Druck für eine mächtige Demonstration.
Schließlich setzte er sich mit Magnagos Unterstützung durch.
161
Die Kundgebung auf Schloss Sigmundskron am 17. November 1957
wurde zu einer eindrucksvollen Willensäußerung der Südtiroler
Bevölkerung. Die offizielle Forderung lautete „Los von Trient“ als
erster Schritt zu einer eigenen Landesautonomie. Damit verbunden
war für viele auch die Hoffnung auf das Selbstbestimmungsrecht.
Die Veranstaltung auf Sigmundskron war – nach mehrmaligem
Verbot von Versammlungen in Bozen – nur genehmigt worden, weil
sich Magnago gegenüber dem Quästor persönlich und schriftlich
dafür verbürgt hatte, dass es keine Ausschreitungen geben würde.
Zu befürchten war ein – von radikaleren BAS-Aktivisten tatsächlich
geplanter – Aufruf zum demonstrativen Marsch auf Bozen mit
der Gefahr gewaltsamer Zusammenstöße mit Neofaschisten und
dem enormen Polizeiaufgebot in der Stadt. Einzelne BAS-Aktivisten
trugen Schusswaffen bei sich.
In Autos, die mehrfach hin- und herfuhren, mit Motorrädern,
mit Rad, Bus und Zug, aber auch zu Fuß strömten am Morgen des
17. November 35.000 Menschen auf den Burghügel über Bozen.
Einzelne BAS-Aktivisten trugen Schusswaffen bei sich. Unter dem
enormen Druck hielt Magnago, aufgrund des Verkehrsandranges
auch noch zu spät gekommen, in dem brodelnden Kessel des
Schlosshofes eine eher dämpfende, besonders für viele BAS-Aktivisten
enttäuschende Rede. Mit dem legendär gewordenen Ausruf,
er habe nicht nur sein Wort, sondern auch sein „deutsches Wort“
gegeben, dass es keine Ausschreitungen geben würde, konnte er
die Menge im Zaum halten. Karl Tinzl hatte ihm noch auf dem
Weg zum Rednerpult zugeraunt, ja nicht die Forderung nach einer
„Landesautonomie“ zu erheben, da dies politisch zu brisant sei. So
beließ es Magnago, dafür heftig von Dietl kritisiert, beim negativ
formulierten Ziel des „Los von Trient“. Erich Amonn und sein
Bruder Walter sowie die SVP-Senatoren Carl von Braitenberg und
Josef Raffeiner waren der Veranstaltung demonstrativ ferngeblieben.
In maßgeblichen politischen Kreisen in Österreich wurde
durch verzerrte Informationen von Seiten der abgesetzten SVP-
Führung der Eindruck erweckt, als wäre Sigmundskron ein Schlag
ins Wasser gewesen.
Erst nachträglich zeigte sich die Strahlkraft des Tages von Sigmundskron.
Der Aufmarsch so vieler Menschen, die friedlich und
162
geordnet wieder heimzogen, vermittelte das Bild einer ernsten,
tief besorgten, aber auch verantwortungsbewussten Bevölkerung,
die um ein existenzielles Anliegen kämpft. Magnago hatte sich
vor der breiten Bevölkerung als verlässliche und vertrauensbildende
Führungspersönlichkeit bewährt. Die Fähigkeit, schwierigste
Momente notfalls auch allein durchzustehen und das Ziel
nicht aus den Augen zu verlieren, wurde zum Erfolgsgeheimnis
des hageren, asketisch wirkenden Parteiobmannes und angehenden
Landeshauptmannes.
Innerhalb der SVP hatte Magnago weiter mit Opposition zu
rechnen, setzte aber mit Nachdruck und oft eisernen Nerven seine
politische Strategie durch. Dietl, Benedikter und Brugger unterstützten
einerseits Magnago, reagierten aber argwöhnisch auf jedes
vermutete Abweichen von einem schärferen Kurs. Die abgewählte
Führung versagte lange ihre Mitarbeit. Karl Tinzl musste vom Parteiausschuss
mit Mehrheitsbeschluss geradezu genötigt werden,
den Entwurf für eine neue Landesautonomie auszuarbeiten. Als
er nach anfänglichem Widerstand tatsächlich ein „faszinierendes
Autonomieprojekt“ (Franz Widmann) vorlegte, weigerten sich die
anderen SVP-Parlamentarier hartnäckig, den Gesetzentwurf im
Parlament einzubringen. Erst nach einem neuerlichen Beschluss
des Parteiausschusses, den Magnago mit einem Machtwort durchsetzte,
reichten die SVP-Kammerabgeordneten Tinzl, Ebner und
Guggenberg am 4. Februar 1958 den Entwurf für ein neues Autonomiestatut
ein. Der Tinzl-Entwurf wurde erwartungsgemäß nie
behandelt, stellte aber einen ersten formellen Akt für die Forderung
nach einer Landesautonomie dar, der auch Österreich eine
Handhabe für diplomatische Interventionen gab. Noch im selben
Frühjahr stimmte die SVP zusammen mit den Trentiner Autonomisten
und der Linksopposition gegen den Haushaltsentwurf
der Regionalregierung. Damit war der Bruch mit der DC vollzogen.
Zugleich stand die SVP selbst am Rand einer Parteispaltung.
Im Versuch, ihren Einfluss auf die Parteilinie zurückzugewinnen,
erhielt die abgewählte Führung Unterstützung von den
katholischen Verbänden. Der Richtungswechsel in der Südtiroler
Kirche hatte schon 1952 begonnen, als Joseph Gargitter auf Bischof
Johannes Geisler folgte. Geisler trat am 5. April 1952 zurück, am
163
Bischofswechsel: Der scheidende Bischof Johannes Geisler (rechts) erhält
die Urkunde zum Ehrenbürger von Brixen, neben ihm Joseph Gargitter als
bereits designierter Nachfolger.
5. September desselben Jahres verstarb er. Hatte Geisler die Südtiroler
Selbstbestimmungsforderung nicht nur massiv gestützt,
sondern immer wieder auch aktiv vorangetrieben, setzte Gargitter
von Anfang an einen anderen Schwerpunkt. Besorgt um das
politische Klima in Südtirol, trat er für einen Ausgleich zwischen
den Sprachgruppen und zwischen Minderheit und Staat ein. Wohl
stand Gargitter – hinter einer Fassade von Unnahbarkeit – den
Belangen der Südtiroler Minderheit aufgeschlossen gegenüber, er
sah aber auch die Bedürfnisse der zugewanderten Italiener und
die Gefahr zweier Parallelgesellschaften in ständiger Konfrontationsstellung.
Vor allem die linkskatholischen Kräfte der DC, der
Arbeiterbewegung Acli und die deutschen katholischen Vereine
versuchten eine Brücke der Verständigung zu bilden.
Von der Versöhnungsbotschaft des Bischofs zur direkten Einflussnahme
auf die Tagespolitik war es aufgrund der politischen
Verhärtung zwischen den Lagern oft nur ein kleiner Schritt. Wiederholt
musste Magnago beim Bischof vorsprechen, um diesen von
einer offenen Torpedierung seiner Politik abzuhalten oder Attacken
der – unter kirchlichem Einfluss stehenden – „Dolomiten“ vor-
164
zubeugen. Zum offenen Machtkampf kam es bei den Parlamentswahlen
im Mai 1958. Die Dietl-Gruppe setzte den Generalsekretär
der SVP Hans Stanek als Kandidaten für den sicheren Senatswahlkreis
Brixen durch. Ein Veto Gargitters zwang Stanek, auf diesen
Listenplatz zu verzichten und auf die Liste für die Abgeordnetenkammer
auszuweichen, bei der aber die persönlichen Vorzugsstimmen
über Wahl oder Nichtwahl entschieden. Mit einer massiven
Propaganda vereitelten die katholischen Verbände schließlich
Staneks Wahl.
Im „Fall Stanek“ spielten alte Wunden und neue Verunsicherungen
zusammen. Gegen Stanek wurde seine Vergangenheit als
Bürgermeister von Brixen in der NS-Ära vorgebracht. Diese hatte
bei der Gründung der SVP ebenso wenig wie bei Fritz Führer und
Karl Tinzl eine Rolle gespielt, aber damals war die Haltung der
Kirche noch von Geisler und Pompanin geprägt, die beide mit der
Mehrheit ihrer Bevölkerung für Deutschland optiert hatten. Und
während vor allem Tinzl in der Folge durch seine ausgleichende
Art zu einer Integrationsfigur für Liberale und Klerikale wurde,
galt Stanek durch seine Nähe zur Dietl-Gruppe diesen als Feindbild.
Dass sich der verschärfte Kurs der SVP in erster Linie gegen
die Democrazia Cristiana mit ihren Verbindungen bis in den Vatikan
hinein richtete, trug zur Skepsis des Bischofs bei. Für den in
Rom geschulten Gargitter stand die große Auseinandersetzung
zwischen Katholizismus und Kommunismus in Italien im Vordergrund
seines politischen Denkens. Im Kampf der SVP-Spitze
gegen die DC sah er eine Schwächung der katholischen Position.
Dies erklärt auch so manche mitunter geradezu schräge Warnung
Gargitters, dass hinter den patriotischen Kreisen der Kommunismus
lauere. Für diese wurde er zum „walschen Seppl“.
Sorge bereitete der Kirche auch ihr schwindender Einfluss
auf breite Gesellschaftskreise und vor allem die Jugend. Die von
der Kirche kontrollierten „Dolomiten“ behaupteten sich zwar als
politisches Leitmedium. Aber die gesellschaftlich ausgerichteten
Athesia- Blätter wie „Die Frau“ und „Jugendwacht“ sowie das kirchliche
„Katholische Sonntagsblatt“ bestimmten nicht länger die
Wertebildung in der Bevölkerung. In vielen Südtiroler Familien
165
und in Dorfgasthäusern lagen Illustrierte aus Deutschland auf, in
denen Sexsymbole wie Brigitte Bardot und das laszive Leben der
High Society dargestellt wurden. Wie sehr freiere Stil- und Lebensvorstellungen
auf strenge Moralvorschriften prallten, zeigte sich
am allmählichen Siegeszug des 1946 von einem französischen
Modeschöpfer entworfenen Bikini. Noch 1960 war das Tragen
des Zweiteilers im Brixner Schwimmbad verboten.
Zur Lockerung von Geschmack und Lebensstil trug auch das
italienische Fernsehen bei. Filme mit Sophia Loren und Gina Lollobrigida
oder auch Übertragungen des „Festival di Sanremo“ be geisterten
auch viele Südtirolerinnen und Südtiroler. Die Sendungen der
staatlichen Rundfunkanstalt RAI fanden aufgrund der Monopolsituation
dankbare Aufnahme auch in bäuerlichen und einfachen
Gesellschaftsschichten. Die deutschsprachigen RAI-Programme
des „Senders Bozen“ wurden zunächst politisch skeptisch betrachtet,
da sie nicht – wie die „Dolomiten“ – dem Volkstumskampf verpflichtet
waren. Wohl aber erreichten die Dokumentationen, Hörspiele,
Sendungen „aus Berg und Tal“ und „auf dem Dorfplatz“
immer höhere Beachtung. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des
Senders Bozen begannen sich hoher Popularität zu erfreuen, eine
von ihnen war Sofia Magnago, aus dem Rheinland stammende Ehefrau
des Parteiobmannes und Landeshauptmannes.
Argwöhnisch reagierte die Kirche auf das Bedürfnis der politischen
und vorpolitischen Organisationen nach einem eigenen Vereins-
und Gesellschaftsleben. Sowohl vom Bauernbund als auch
von der SVP wurden immer wieder Versuche unternommen, eine
Jugendorganisation auf die Beine zu stellen. Gargitter verhinderte
dies mehrmals mit einem Veto, das Magnago – um den Ausgleich
mit der Kirche bemüht – lange beherzigte. Dass aus kirchlicher
Sicht sowohl in der SVP als auch im Bauernbund die „radikalen“
Kräfte an die Macht gekommen waren, dürfte neben der Sorge um
die Jugend wohl ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Dietl war 1956
zum Obmann des Bauernbundes gewählt worden, Peter Brugger
war einer der populärsten Landwirtschaftspolitiker.
Wie delikat das Verhältnis zwischen Politik und Kirche war, zeigt
sich an einem Versuch von Peter Brugger, wenigstens in Zusammenarbeit
mit der Kirche eigene Jugend- und Bildungsinitiativen
166
der Landesverwaltung durchzuführen. Die Generalvikare Josef
Kögl für den deutschsprachigen Anteil der Erzdiözese Trient und
Johann Untergasser für die Diözese Brixen stellten dafür die Forderung,
dass ausschließlich Jugendliche zu solchen Kursen zugelassen
werden dürften, die „von Pfarrämtern oder Jugendseelsorgern
und besonders auch von den Katecheten der landwirtschaftlichen
Berufsschulen [...] entsandt werden“. Teilnehmer, die nicht von der
Diözese bestimmt worden seien, müssten dieser mitgeteilt werden.
Ebenso musste sich die Landesverwaltung verpflichten, der
Diözese sämtliche Lehrmaterialien vorzulegen.
Noch anlässlich der Landtagswahlen von 1956 schickte die Diözesanstelle
der katholischen Laienbewegung den SVP-Kandidaten
ein Merkblatt zu, in dem die moralischen und religiösen Pflichten
der Mandatare aufgelistet waren. Punkt 1: „Der katholische Volksvertreter
muss willens sein, als Amtsträger nur für Maßnahmen
einzutreten, in denen die Hoheitsrechte Gottes und der Kirche
nicht angetastet werden.“ Punkt 5: „Das katholische Volk erwartet
von seinen Vertretern, dass sie in Treue zu den Bischöfen stehen
und in Treue sich an die Weisungen halten, welche die Bischöfe in
ihrer Sorge für das Wohl des Volkes als gottgesetzte Hirten erlassen.“
Ohne Umschweife wurde deklariert, dass „die Zuständigkeit
der Kirche für weltanschauliche Belange […] auch auf den Gebieten
des kulturellen, sozialen, politischen und wirtschaft lichen Lebens
anzuerkennen“ sei.
Als Magnago SVP-Obmann wurde, ersuchte er Bischof Joseph
Gargitter um Audienz. Dieser verabschiedete ihn mit dem Hinweis,
er werde ihm eine „Liste dessen, was er nicht tun dürfe, zustellen“.
Magnago antwortete – laut den Aufzeichnungen von Hans
Dietl – zwar keck, er hätte „lieber ein Verzeichnis dessen, was ihm
bewilligt sei“. Aber der neue Parteiobmann und künftige Landeshauptmann
achtete bei allen seinen Schritten sehr genau darauf,
die Kirche und ihren Bischof nicht gegen sich aufzubringen. So
gab er schließlich nach mehreren Vorstößen vorerst auch die Idee
auf, eine Jugendorganisation der SVP zu gründen. Gargitter hatte
kategorisch dagegen Stellung genommen: „Es wird deshalb dringend
ersucht, vom Versuche der Gründung einer Parteijugend
abzusehen.“
167
Eine noch friedliche Aktion
von Sepp Kerschbaumer:
Er hisste am helllichten
Tag in Frangart die Tiroler
Fahne und provozierte
seine Inhaftierung.
Die Angst vor einer politisch organisierten Jugend mochte teilweise
noch von der Erfahrung mit der Hitler-Jugend herrühren. In
den 50er Jahren ging es neben der Hoheit in Moral- und Sittenfragen
aber auch um die Möglichkeit einer direkten Einflussnahme
auf die Politik durch die Erteilung oder Vorenthaltung bischöflichen
Segens. Als Dietl Bauernbund-Obmann wurde, war es ihm
trotz wiederholter Anläufe nicht möglich, zu einer Audienz beim
Bischof vorgelassen zu werden. Ein Ansuchen von Peter Brugger
um eine Audienz zusammen mit Dietl wurde von der Diözese mit
einer Einladung an Brugger allein beantwortet. Ebenso verweigerte
der Bischof dem Tiroler ÖVP-Obmann Aloys Oberhammer
eine Aussprache.
Dietl bestärkte die kirchliche Haltung darin, dass es zur Veränderung
der politischen Verhältnisse in Südtirol eines Kampfes auf
allen Ebenen bedürfe. Schon gegen die Anti-Stanek-Propaganda
der katholischen Verbände von 1958 griff er zusammen mit Franz
168
Widmann auf die Hilfe des BAS um Sepp Kerschbaumer zurück.
Gemeinsam mit Kerschbaumer wurde eine anonyme Flugblattaktion
gegen die katholischen Verbände durchgeführt. Nach und
nach wurden Dietl und Widmann zu den wichtigsten politischen
Verbindungsmännern des BAS und dessen Tiroler Sympathisanten
wie Aloys Oberhammer, Wolfgang Pfaundler, später auch Eduard
Wallnöfer und Felix Ermacora. Der als lose Bewegung entstandene
BAS entwickelte sich zu einer kampfbereiten Organisation.
Der entscheidende Funke kam einmal mehr von der Härte der
Justiz in Südtirol. Am 27. März 1958 wurde das Berufungsurteil
gegen die Pfunderer bekanntgegeben. Statt der erhofften Milderung
sah es für die meisten Angeklagten eine Strafverschärfung
vor. Die SVP-Landesversammlung verabschiedete am 1. April 1958
eine Resolution, in der sie – die Bluttat bedauernd – das Urteil
mit den Worten kritisierte, es erinnere „an die dunkelsten Zeiten
unmenschlicher Strafjustiz“. In Tirol wurde am 2. April für fünf
Minuten landesweit die Arbeit eingestellt, im Radio sprach Landeshauptmann
Hans Tschiggfrey: „Das Tiroler Volk denkt, von tiefstem
Leid erfasst, an jene sechs jungen Bauernsöhne eines entlegenen
Südtiroler Bergdorfes, deren Leben durch einen Richterspruch ganz
oder teilweise vernichtet wird.“ Renommierte deutsche und österreichische
Medien kommentierten das Urteil, einer der Berichterstatter
war der Tiroler Journalist und Fotograf Wolfgang Pfaundler,
der seinen Chefredakteur Gerd Bacher und den Ver leger Fritz
Molden zu Ostern 1958 mit Sepp Kerschbaumer zusammenbrachte.
Es war der Beginn der Tiroler und österreichischen Unterstützung
für die Finanzierung, Vorbereitung und Durchführung der Attentate
mit dem Ziel der Selbstbestimmung für Südtirol. Die Mahnung des
Bischofs an den Frieden fand in diesen Kreisen kein Gehör mehr.
169
Ein Land brennt
Die Feuernacht 1961 –
Verhaftungen, Folter, neue Verhandlungen
Das Jahr 1959 stand als Tiroler Gedenkjahr im Zeichen der Erinnerung
an die Freiheitskämpfe von 1809. Im ganzen Land fanden
mit breiter Teilnahme der Bevölkerung Andreas-Hofer-Spiele statt,
gipfelnd in der Aufführung des Heldendramas von Carl Wolf bei
den Meraner Volksfestspielen. Selten dürfte die Verdichtung von
politischem Alltag und dem Empfinden vieler Menschen so stark
gewesen sein. Manche der späteren Attentäter waren auf der Bühne
dabei, einer von ihnen, Sepp Innerhofer, bekannte später, dass das
Spiel zur Wirklichkeit wurde, man habe Andreas Hofer „nicht nur
gespielt, sondern gelebt“.
Der Befreiungsausschuss Südtirol (BAS) begann 1959 mit der
Vorbereitung der Anschläge. Die genaue Strategie war noch offen,
aber die Kontakte zwischen Südtirol und der Innsbrucker Unterstützerszene
wurden intensiviert. Der Landesfestumzug am
13. September 1959 mit der von Schützen durch Innsbruck getragenen
Dornenkrone wurde zu einem ergreifenden Bekenntnis vieler
Tirolerinnen und Tiroler aus allen drei Landesteilen zur Landeseinheit.
Direkt gegenüber der Ehrentribüne entrollten Kurt Welser,
Herlinde und Klaudius Molling mit einem Böllerknall ein Spruchband
mit der Aufschrift „Freiheit für Südtirol“. Am Rande der Veranstaltung
wurden Gespräche geführt und Kontakte geknüpft.
Siegfried Steger etwa, einer der Pusterer Attentäter, wurde beim
Landesfestumzug „angeworben“.
Kurz vorher, Mitte Juli 1959, war in Österreich nach dem Wahlsieg
der SPÖ bei den Nationalratswahlen Bruno Kreisky zum
Außenminister der neuen ÖVP-SPÖ-Koalition geworden. Schon
zum Amtsantritt erklärte er Südtirol zum „Thema Nr. 1 der österreichischen
Außenpolitik“, am 1. August traf er sich in Innsbruck
mit den ranghöchsten Landespolitikern von Süd und Nord zu einer
Lagebesprechung. Obwohl Kreisky die Hoffnung auf eine Selbstbestimmungsoffensive
dämpfte, gewann er prompt das Vertrauen
170
Flammenschrift und Dornenkrone: Die 1809-Gedenkfeiern 1959 lösten einen
politischen Stimmungsumschwung aus.
171
der einem „Roten“ gegenüber doch skeptischen Südtiroler Delegation.
Magnago wertete es sogar ausdrücklich positiv, dass Kreisky
als Sozialdemokrat gegenüber den italienischen Christdemokraten
weniger Verhandlungsscheu haben würde als die ebenfalls christlich
ausgerichtete ÖVP. Mehr als ein Bonmot am Rande dürfte es
sein, dass Kreisky – zu dem auch der Verleger Molden einen guten
Draht hatte – sich auf der Rückfahrt von Innsbruck nach Wien von
Wolfgang Pfaundler begleiten ließ.
Über Kreiskys Haltung zu den Anschlägen ist viel spekuliert
worden. Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass er mit den Attentätern
erstaunlich unbefangene Kontakte pflegte und diese in keiner
Weise von ihrem Vorhaben abbrachte. Kreiskys Ziel war es, den
Fall Südtirol vor die UNO zu bringen. Im September 1959 hielt
er den ersten Erfolg in der Hand: Gegen den Widerstand Italiens
nahm der Leitungsausschuss der UN-Generalversammlung die
Südtirol-Frage auf die Tagesordnung für die Debatte im Oktober
des darauffolgenden Jahres 1960. Die Anschläge wurden zum strategischen
Mittel, den nötigen internationalen Druck aufzubauen.
Schon am 27. Jänner 1960 sprach Jörg Klotz in Begleitung von Wolfgang
Pfaundler bei Kreisky in Wien vor. Pfaundler hatte eine klare
Vorliebe für den draufgängerischen Klotz, da ihm Kerschbaumer für
einen gewaltsamen Aufstand zu konfus und zögerlich vorkam. Auch
befürwortete Pfaundler in den Strategiedebatten des BAS einen
Partisanenkampf, für den Kerschbaumer im Unterschied zu Klotz
nicht zu begeistern war. Kerschbaumer fand Zugang zu Kreisky
über den Tiroler SPÖ-Politiker Rupert Zechtl. Ein erstes Mal kehrte
Kerschbaumer noch auf dem Ballhausplatz um, ein zweites Mal war
er in Begleitung, aber der Portier ließ die Südtiroler nicht durch.
Schließlich schrieb Kreisky an Zechtl, dessen Freunde mögen am
besten zu ihm in seine Privatwohnung in die Armbrustgasse 15 kommen.
Dort empfing er am 27. November 1959 die BAS-Aktivisten Sepp
Kerschbaumer, Karl Tietscher und Jörg Pircher, Luis Amplatz konnte
diesmal nicht mitkommen, weil ihm der Pass gesperrt worden war.
Überliefert sind von diesem Treffen unterschiedliche Aussagen
Kreiskys, so zum Beispiel „Wenn ihr was macht’s, dann gefälligst
was Ordentliches“ oder „Ich sage euch nicht, tut’s etwas, ich sage
aber auch nicht, tut’s nix“. Kontaktmann Rupert Zechtl, selbst bes-
172
Österreichs neuer Außenminister Bruno Kreisky (rechts) mit einem der
profiliertesten Südtirol-Politiker Österreichs, dem Tiroler Staatssekretär
Franz Gschnitzer (Mitte).
tens in die Vorbereitungen des BAS eingeweiht, bestätigte wiederholt,
dass Kreisky selbstverständlich über die Attentate informiert
gewesen sei. Laut Fritz Molden habe Kreisky auch unmissverständlich
seine Zustimmung erteilt, „dass es ein bisschen tuschen
muss, aber nicht zu viel“ und „auf ein paar Masten mehr oder weniger
soll’s mir net ankommen“. Zu den Toten habe Kreisky gesagt:
„Die Zyprioten haben auch Tote gehabt und die Algerier.“ Der
algerische Unabhängigkeitskrieg (1954–1962) und die Befreiung
Zyperns 1959 waren ermutigende Ereignisse, die sowohl unter den
Attentätern als auch am Diplomatentisch gern zitiert wurden.
Dass etwas in der Luft lag, war spürbar. Am 2. Februar 1960 rief
Bischof Joseph Gargitter in einem Hirtenbrief zu Mäßigung und
Ablehnung von Gewalt auf. Doch die Eskalation war nicht mehr
aufzuhalten. Am 18. Februar wurde auf einen noch unbewohnten
Neubau für italienische Zuwanderer in Meran ein Anschlag verübt.
Die Polizei verhängte ein Versammlungsverbot für die Dauer
von 30 Tagen, so dass auch alle für 20. und 21. Februar geplanten
Andreas-Hofer-Feiern untersagt waren. Als am 21. Februar Kirch-
173
Bozner „Knüppelsonntag“
1960: Die italienische
Südtirol-Politik war
lange weitgehend den
Justiz- und Polizeibehörden
überlassen.
gänger nach dem Verlassen des Bozner Domes trotzdem das Andreas-Hofer-Lied
anstimmten, ging die Polizei mit Knüppeln auf
sie los, viele der 2000 Messbesucher wurden wahllos verhaftet.
Der „Bozner Knüppelsonntag“ wurde zum Symbol für die staatlichen
Willkürakte in Südtirol. Die letzten, längst gespannten Verbindungen
zwischen SVP und DC rissen. Am 10. Mai 1960 brachte
die SVP mit einem Misstrauensantrag den Präsidenten des Regionalausschusses
Tullio Odorizzi zu Fall. Hans Dietl schrieb in sein
Tagebuch: „Seit sechs Jahren diesen Augenblick ersehnt.“ Als Odorizzi
sich demonstrativ wieder der Wahl stellte und mit Hilfe der
Neofaschisten gewählt wurde, erzwang die SVP durch systematisches
Fernbleiben an den Sitzungen des Regionalrates erneut
seinen Rücktritt.
Der BAS löste sich nicht nur strategisch, sondern auch inhaltlich
immer stärker von der Südtiroler Volkspartei. Auf der Landesversammlung
am 7. Mai 1960 versuchten BAS-Aktivisten in der
SVP, allen voran Sepp Kerschbaumer und Luis Amplatz, mit Flugblättern
und Stellungnahmen am Rednerpult eine Resolution mit
174
Sepp Kerschbaumer und Jörg Klotz hatten unterschiedliche Vorstellungen
vom „Freiheitskampf“. Der Großteil der Bewegung stellte
sich hinter Kerschbaumer.
der Forderung nach Selbstbestimmung durchzusetzen. Magnago
brachte sie durch Rücktrittsdrohung zu Fall, worauf Kerschbaumer
aus der SVP austrat. Auf eine Wiederkandidatur als SVP-Ortsobmann
hatte er schon 1958 verzichtet, nachdem ihm Magnago bei
einer vertraulichen Aussprache ins Gewissen redete, er könne ihn
wohl nicht von seinen Ideen abhalten, aber er bitte ihn, wenigstens
nicht die Partei zu belasten. Im Ziel, Südtirols Lage zu verbessern,
waren sich Magnago und Kerschbaumer wohl einig, in der Wahl
der Mittel und in der strategischen Vorgangsweise nicht. Kerschbaumer
und seine Aktivisten glaubten nicht mehr an politische
Fortschritte durch Vernunft und Geduld allein.
Am 31. Oktober 1960 prägte Bruno Kreisky vor der UNO eine
Sternstunde für Südtirol. Zunächst der Politische Ausschuss, dann
die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten
auf Antrag Österreichs eine Resolution, in der Italien und Österreich
zu Verhandlungen aufgefordert wurden. Das war weniger,
als viele sich erhofft hatten, aber es war viel mehr, als Skeptiker befürchtet
hatten. Ursprünglich hätte der BAS vor der UNO-Debatte
zuschlagen sollen, um international für Druck zu sorgen. Doch
175
waren die Vorbereitungen dafür schlichtweg noch nicht weit genug
gediehen. Ein Führungs- und Strategiestreit zwischen Bozen
und Innsbruck, zwischen Kerschbaumer und Klotz, zwischen
Kerschbaumer- Unterstützern und Klotz-Unterstützern in Tirol,
zwischen Befürwortern einer Schonung von Menschen leben um
jeden Preis und Theoretikern des Partisanenkampfes hatte viel
Kraft und Zeit geraubt.
Der Streit nahm regelrecht skurrile Ausmaße an. Verletzte Eitelkeiten
und Geldfragen belasteten die BAS-Führung. Im Dezember
1960 kam es zum Krach – und zu einer Klärung: In Innsbruck zog
sich Pfaundler in die zweite Reihe zurück, im Tiroler BAS übernahm
Heinrich Klier die Führung. Für ihn und den neu dazugekommenen
Helmut Heuberger war Kerschbaumer der einzige
Ansprechpartner in Südtirol, Klotz hielten sie für einen idealistischen,
aber unberechenbaren Abenteurer. Als im März 1961 ein
von Pfaundler angelegtes Munitionsdepot des BAS in Innsbruck
aufflog, weil dieser den Mietvertrag vor der Räumung des Lokals
gekündigt hatte, war Pfaundler zunächst ganz ausgeschaltet. Der
Szene blieb er gewogen und half als Verbindungsmann zur Tiroler
Politik in vielen menschlich schwierigen Situationen. Mit Pfaundler
zogen sich aber schon im Dezember 1960 Molden und Bacher
zurück. Bemerkenswert ist, dass Kreisky jetzt, da die Wiener Verbindung
abgerissen war, Kerschbaumer und seine Leute zu sich
nach Hause einlud. Die UN-Resolution hatte Kreisky ohne Bomben
erzielt. Ging es jetzt darum, den Druck hochzuhalten, damit die
von der UNO angeregten Verhandlungen nicht wieder im Sande
verlaufen würden?
Für 27. und 28. Jänner 1961 war – im Sinne der UNO-Resolution
– in Mailand die erste neue Verhandlungsrunde zwischen
Österreich und Italien anberaumt. Viel war nicht zu erwarten, da
die italienische Regierung im Vorfeld der Verhandlungen eine noch
härtere Haltung gegenüber Österreich einnahm. Am 24. Jänner
verhängte die italienische Regierung ein Einreiseverbot für Franz
Gschnitzer, Aloys Oberhammer und den Obmann des Bergisel-
Bundes Eduard Widmoser. Dies war vor allem deshalb ein Affront,
weil Gschnitzer und Oberhammer als österreichische Delegierte
an der Mailänder Konferenz teilnehmen hätten sollen.
176
Die Konferenz endete ohne Verhandlungsfortschritt, aber auch
in verfahrener Stimmung. Laut Erinnerungen von Viktoria Stadlmayer
hatte die italienische Delegation selbst Kreisky respektlos
behandelt. Eine direkte Verbindung zur österreichischen Verhandlungsdelegation
hatte der BAS über den Völkerrechtler und
Diplomaten Felix Ermacora, der oft sogar in Verhandlungspausen
seine Innsbrucker Kontaktleute anrief, um die Opportunität
von Anschlägen zu besprechen. Unmittelbar nach dem Scheitern
der Konferenz wurde in der Nacht vom 29. auf den 30. Jänner 1961
in Waidbruck das zu Ehren Mussolinis als „Genio del Fascismo“
errichtete Reiterstandbild gesprengt, der sogenannte „Aluminium-
Duce“. Maßgeblicher Täter war Heinrich Klier. Den ganzen Frühling
über hielt die zwischen Bozen und Innsbruck vereinbarte „Strategie
der feinen Nadelstiche“ an. Die spektakulärsten Anschläge
trafen das Tolomei-Haus in Montan (verübt von Josef Fontana an
einem nicht bewohnten Trakt), die von einem Italiener geführte
Ferrari-Bar in Tramin und Rohbauten für Arbeitersiedlungen.
Die Polizei ging zunächst ziellos und willkürlich vor. In Tramin
wurde das Gasthaus „Zum Löwen“ beschlagnahmt und in einen
Polizeisitz umfunktioniert, Ähnliches geschah später an anderen
Orten. Ein Attentat auf die Kaserne in Schlanders war Anlass, das
Tragen der Schützentrachten zu verbieten. Ein Anschlag in Bundschen
im Sarntal, von Luis Amplatz verübt, führte zur Verhaftung
des Sarner SVP-Obmannes Helmut Kritzinger. Ein Brief von Viktoria
Stadlmayer, der bei Kritzinger gefunden wurde, führte am
30. April zu Stadlmayers Festnahme, als sie nach Südtirol fahren
wollte. Der Brief war unverfänglichen Inhalts, Stadlmayer gehörte
zu den Gegnern eines gewaltsamen Aufstandes. Demonstrativ ließ
Bruno Kreisky beim nächsten bilateralen Außenministertreffen in
Klagenfurt (24./25. Mai) einen Stuhl für die einsitzende Leiterin
des Südtirol-Referates der Tiroler Landesregierung frei. Stadlmayer
wurde am 10. Juni wegen erwiesener Haltlosigkeit der Anklage
nach 42 Tagen Haft freigelassen. Helmut Kritzinger gehörte
nach Aufzeichnungen von Hans Dietl zum politischen Unterstützerkreis
des BAS, Beweise konnten aber auch gegen ihn keine
gefunden werden, so dass auch er schließlich – wenn auch erst am
25. November 1961 – freigelassen wurde.
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Anschläge auf das faschistische Reiterstandbild in Waidbruck und auf
Rohbauten für Arbeitersiedlungen läuteten das Bombenjahr 1961 ein.
Obwohl die italienischen Behörden durch die ersten Attentate
alarmiert waren, konnte der BAS seine Aktionen beinahe ungestört
fortsetzen. Das Sprengmaterial kam – ebenso wie die Flugblätter –
vorwiegend aus Österreich und Deutschland, die Uhren für die
in der Regel selbstgebastelten Zeitzünder waren in der Schweiz
gekauft worden. Vor allem die Tiroler BAS-Aktivisten betrieben
– meist getarnt als Wochenend- und Osterausflügler mit hübschen
Blondinen im Auto – über Monate hinweg einen regen Grenzverkehr
mit Sprengstoff und zum Teil auch Waffen im Auto. Manche Lieferung
wurde im Kinderwagen zu Fuß über den Brenner geschoben.
Treibende Kraft der Vorbereitungen auf die Feuernacht war
der Innsbrucker Kaufmann Kurt Welser, der 1965 beim Bergsteigen
mit Heinrich Klier tödlich abstürzte. Unterstützt wurden die
Innsbrucker BAS-Aktivisten von ihren Frauen, die Botendienste
verrichteten, bei Sprengstofflieferungen nach Italien zur Ablenkung
der Grenzbeamten am Nebensitz saßen und im Kinder wagen
„Material“ über den Brenner schoben. Besonders aktiv waren Henriette
Klier, die beste Freundin einer Tochter des legendären Josef
Noldin, Adelheid Heuberger, Elisabeth „Lilo“ Welser und auch
Pfaundlers Ehefrau Gertrut Spat. Herlinde Molling war mit ihrem
178
Mann Klaudius von Anfang an dabeigewesen und verübte noch
über die Feuernacht hinaus Anschläge im Alleingang. Von 1960
an gab es Ausbildungstreffen in Österreich und Bayern, getarnt als
Ausflugsfahrten der Bauern- und Alpenvereinsjugend. Das Bergsteigen
war zwischen Südtiroler und Tiroler Aktivisten eine verbindende
Leidenschaft und gute Gelegenheit, sich auf unverdächtige
Weise zu treffen.
Aufgrund unvorsichtiger Überweisungen von Fahrtgeld des
Bergisel-Bundes an einzelne Attentäter gelang der Bozner Staatsanwaltschaft
im Mai ein Glücksgriff, dessen sie sich gar nicht
bewusst war. Sie ließ am 20. und 21. Mai die Empfänger der Rückvergütungen
wegen der Kontakte zum Bergisel-Bund verhaften.
Unter ihnen befanden sich auch mehrere BAS-Aktivisten, so der
Brixner Anton Gostner und der Unterlandler Josef Fontana, der
schon eine Reihe von Anschlägen durchgeführt hatte. Luis Amplatz,
der ebenfalls verhaftet werden sollte, konnte flüchten.
Der BAS ließ sich auch durch diese Verhaftungen, die zunächst
keine weiteren Folgen hatten, nicht aufhalten. Schon am 6. Mai
hatten sich am Goyenhof des Sepp Innerhofer in Schenna die Südtiroler
und Tiroler BAS-Gruppen auf die Durchführung eines „großen
Schlages“ geeinigt, am 1. Juni wurden in Zernez in der Schweiz
die konkreten Absprachen für die „Feuernacht“ getroffen.
In der Nacht vom 11. auf den 12. Juni 1961, der Nacht des Herz-Jesu-
Sonntags, verübte der BAS über 40 Anschläge, 37 Strommasten wurden
zerstört, mehrere beschädigt. Die ersten Anschläge begannen
gegen 1 Uhr. Die Einstellung der Zeitzünder war so gestaffelt, dass
noch über zwei Stunden lang immer neue Detonationen ertönten.
Im Sarntal und in Völlan wurden Anschläge auf Kraftwerke verübt,
in Eppan brannte das militärische Munitions depot. Acht Kraftwerke
standen am Morgen nach der Feuernacht still, sieben von neun Überlandleitungen
waren unterbrochen. Die Stromversorgung brach
für einige Gebiete Südtirols völlig zusammen, auch die Versorgung
der Industriegebiete Oberitaliens wurde empfindlich getroffen.
Das eigentliche Ziel, die Stromversorgung so lange lahmzulegen,
bis auch die Notstromaggregate versagen und die Hochöfen durch
Erkaltung unbrauchbar werden, wurde knapp verfehlt. Einige
entscheidende Masten waren nicht gekippt. Mehrere Attentäter-
179
Die Anschläge auf die Strommasten sollten den Staat symbolisch und
wirtschaftlich treffen: im Bild oben ein Anschlag in Bozen-Haslach und
unten links auf eine Wasserbrücke im Sarntal.
Rechts: Schutzmaßnahmen für Strommasten nach der Feuernacht.
180
gruppen – vor allem im Vinschgau – waren nicht ausgerückt. Im
Eisacktal hatten sich die meisten BAS-Aktivisten wegen der Fahndungen
nach dem Anschlag auf den „Aluminium-Duce“ zurückhalten
müssen, auch war die vorzeitige Verhaftung Gostners wohl
ein schwerer Rückschlag. Im Pustertal führte eine Kommunikationspanne
dazu, dass die Gruppe um Siegfried Steger zu spät informiert
wurde und nur wenige Anschläge verüben konnte. In einem
Flugblatt bekannte sich der BAS zu den Attentaten: „Landsleute!
Die Stunde der Bewährung ist da!“ Das Bekennerschreiben endete
mit einem Zitat von Kanonikus Michael Gamper: „Ein Volk, das
um nichts anderes kämpft als um sein natürliches und verbrieftes
Recht, wird den Herrgott zum Bundesgenossen haben.“
Die Feuernacht konnte jene Hoffnungen, die sich Sepp Kerschbaumer
und seine Leute gemacht hatten, nicht erfüllen. Von einem
Volksaufstand, der in den kühnsten Träumen erwartet worden war,
war keine Rede. Die italienische Bevölkerung reagierte mit Schrecken
auf die Feuernacht, viele fühlten sich durch die Anschläge
auch persönlich physisch bedroht. Es kam zu empörten Kundgebungen
und dabei auch zu nationalistischen Entgleisungen, aber
die vom BAS angestrebte Eskalation durch Lahmlegung der Industriezone
und entsprechende Gefährdung der dortigen Arbeitsplätze
blieb aus. Sympathiebekundungen von Seiten der deutschsprachigen
Bevölkerung gab es umgekehrt ebenfalls keine. Die politischen
Parteien einschließlich der SVP verurteilten erwartungsgemäß
die Gewaltanwendung aufs Schärfste. Von den prominenten Südtiroler
Politikern erhob auf der außerordentlichen Landesversammlung
der SVP vom 19. Juni lediglich Hans Dietl die Forderung
nach Selbstbestimmung. Dies stellte den ersten offenen Bruch mit
Silvius Magnago dar, wenngleich die Allianz noch einige Zeit halten
würde. In Innsbruck scherte Aloys Oberhammer, der in der Feuernacht
die heimkehrenden Tiroler Attentäter am Brenner erwartet
hatte, aus dem Verurteilungschor aus. Am 10. August musste der
politische Gewährsmann des BAS in der Tiroler Landes regierung
deshalb zurücktreten. Allerdings bekam der BAS mit der Wahl des
gebürtigen Südtirolers Eduard Wallnöfer zum Landes hauptmann
bald darauf einen privilegierten Zugang zur Tiroler Landespolitik.
181
Dass es trotz aller Vorsätze, Blutvergießen zu vermeiden, schon
am Morgen nach der Feuernacht einen Toten gab, mag die Wahrnehmung
der Anschläge beeinträchtigt haben. Der Straßenarbeiter
Giovanni Postal entdeckte direkt an der südlichen Provinzgrenze
bei Salurn eine nicht gezündete Sprengladung an einem
Baum. Dessen Sprengung hätte symbolisch die Abtrennung Südtirols
von Italien darstellen sollen. Im April hatte es an derselben
Stelle ebenfalls einen Anschlag gegeben, schon damals hatte Postal
die Ladung entdeckt, die in der Folge von der Polizei entschärft
wurde. Diesmal machte er sich selbst an der Vorrichtung zu schaffen
und löste die für ihn tödliche Explosion aus.
Auch das internationale Echo war nicht so weitreichend, wie es
in der mythologischen Verklärung der Feuernacht angenommen
wird. Wohl aber war die Feuernacht ein Schock für die italienische
Politik. Unmittelbar nach den Anschlägen wurde in Rom eine Krisensitzung
der Sicherheitsbehörden einberufen, am 18. Juni kam
Innenminister Mario Scelba zu einem Sicherheitsgipfel nach Bozen.
Scelba ging nach der Strategie von Zuckerbrot und Peitsche vor:
hartes Durchgreifen gegenüber den Attentätern einerseits, erstes
ernsthaftes Verhandlungsangebot an Silvius Magnago andererseits.
So kam es am 1. September zur Einsetzung der Neunzehnerkommission,
in der Vertreter der Regierung und der SVP gemeinsam
Vorschläge für eine Lösung des Südtirol-Problems erarbeiten
sollten. Gewiss beabsichtigte Scelba damit auch, eine Internationalisierung
des Südtirol-Problems zu verhindern und Österreich
möglichst auszuschalten, was aber weiterhin nicht gelang. Gegenüber
Österreich war das Auftreten Italiens nach der Feuernacht so
schroff wie vorher. Für den 13. Juni waren – als einziges Ergebnis
der Konferenz von Klagenfurt im Mai 1961 – Expertengespräche
zur Vorbereitung einer neuen Außenministerkonferenz anberaumt.
Sie fanden trotz der Anschläge planmäßig statt. Beim folgenden
Außenministertreffen in Zürich brach Italien die Verhandlungen
ab, als die österreichische Delegation die Forderung nach einer
Landesautonomie erhob. Die Forderung nach Selbstbestimmung
kam für die politischen Verantwortungsträger weder vor noch nach
der Feuernacht in Betracht.
182
Die Fahndung nach den Tätern bot ein Bild der Verunsicherung
und Panik. Wohl wurde Südtirol durch die Entsendung von Truppen
und Spezialeinheiten in ein Militärlager verwandelt, die meisten
Soldaten aber waren unerfahren, des Landes und der Sprache
unkundig, viele hatten Angst und gerieten bei realer oder vermeintlicher
Gefahr in Panik. Ein nächtlicher Schießbefehl für Personen,
die sich in der Nähe möglicher Attentatsziele bewegten (Strommasten,
Kasernen, Seilbahnen), kostete Sepp Locher im Sarntal
und Hubert Sprenger in Mals das Leben. Am Sarntaler Weißhorn
wurde der Jagdaufseher Walter Haller vom Hubschrauber aus beschossen,
die Verletzungen kosteten ihn ein Bein. Er konnte seinen
Beruf nicht mehr ausüben und erholte sich nie mehr von diesem
Schlag. Mehrere Soldaten wurden aus Versehen von Kommilitonen
getötet. Jörg Klotz, der aufgrund seiner Entzweiung mit Kerschbaumer
von der Feuernacht nicht einmal informiert worden war,
wurde zwar verhaftet, nach vier Tagen aber wieder freigelassen.
Eine Wende in den Ermittlungen brachte erst der auch im BAS
umstrittene Mordanschlag auf den Journalisten Benno Steiner.
Der Redakteur des „Deutschen Blattes“ in der italienischen Tageszeitung
„Alto Adige“ hatte Jahre zuvor mit Jörg Klotz und Franz
Muther an der 1958 gegründeten, aber erfolglosen Oppositionsliste
„Roter Adler“ mitgearbeitet. Danach wandte sich Steiner von
den patriotischen Kreisen ab. Seine spöttischen Kommentare über
die „Fuierlemacher“ empörten viele Attentäter. Betrachteten sie
Attacken in den italienischen Medien letztlich als unvermeidbar,
reagierten sie gekränkt und gereizt auf Kritik von deutschsprachiger
Seite. So gab es sogar einen Mordplan gegen den „Dolomiten“-
Chefredakteur Toni Ebner, der seinen ersten Kommentar nach der
Feuernacht mit „Geschändetes Herz-Jesu-Fest“ übertitelte und in
einem zweiten Leitartikel dem BAS das Recht absprach, sich auf
Kanonikus Gamper zu berufen. Dass die Racheakte, abgesehen von
Einschüchterungsversuchen und Auflauerungen, nicht ausgeführt
wurden, ist vor allem auf Kerschbaumers Einspruch zurückzuführen,
aber auch Dietl und Widmann legten ein Veto ein.
Dessen ungeachtet wurde am Auto von Benno Steiner in der
Nacht auf den 9. Juli eine Sprengladung angebracht, die dieser nur
durch die Vorsicht seiner von Morddrohungen verängstigten Frau
183
entdeckte. Er erstattete Anzeige und erzählte den Ermittlungsbehörden,
dass in der Roten Adler-Partei zwischen Klotz und Muther
auch von Anschlägen die Rede gewesen sei. Am nächsten Tag,
dem 10. Juli, wurde Muther verhaftet. Unter schweren körperlichen
Misshandlungen gab er die Namen der ihm namentlich bekannten
BAS-Aktivisten preis.
Die Geheimhaltung war im Südtiroler BAS zu locker gehandhabt
worden. Unter Folter erzwangen die Ermittler Aussagen über
Aussagen. So wurden binnen zehn Tagen rund 70 mutmaßliche
Attentäter festgenommen. Die zwischen dem Südtiroler und dem
Tiroler BAS getroffene Vereinbarung, dass alle wichtigen Verantwortungs-
und Geheimnisträger fliehen sollten, war in den Wind
geschlagen worden. Die meisten – allen voran Sepp Kerschbaumer
– harrten in ihren Wohnungen aus. Wenigen gelang noch in
extremis die Flucht, so den „Pusterer Buam“ Siegfried Steger und
Sepp Forer, aber auch Jörg Klotz bei einem weiteren Festnahmeversuch.
Die Meraner Attentäter Siegfried Carli und Sepp Mitterhofer
vereinbarten, sich gemeinsam über die Berge nach Österreich
durchzuschlagen, Mitterhofer besuchte noch einmal seine
Familie und wurde verhaftet, Carli dagegen gelang die Flucht. Die
Verhaftungswelle traf den BAS mitten in einer zweiten Offensive.
In der Nacht auf den 11. Juli verübten Tiroler BAS-Leute um Helmut
Heuberger, Günther Andergassen, Herlinde und Klaudius
Molling Anschläge auf Überlandleitungen der italienischen Bahn
an den oberitalienischen Strecken Verona-Trient, Mailand-Chiasso,
Domodossola-Brig und Luino-Pino. In der Nacht auf den 12. und
13. Juli wurden bei der „Kleinen Feuernacht“ sieben Hochspannungsmasten
in Südtirol gesprengt.
Am 12. Juli führte Italien die Visumpflicht für Österreicher ein.
Zugleich wurde erneut auf das Druckmittel der Optantenregelung
zurückgegriffen. Schon im April 1961 war – unter dem Druck der
„Nadelstiche“ – im italienischen Parlament ein Gesetzentwurf eingebracht
worden, der die Staatsbürgerschaft auch von Rückwanderern
in Frage stellte. Unmittelbar nach der Feuernacht urgierte die
sozialdemokratische Partei (PSDI) die Behandlung des Gesetzentwurfes,
nach den Anschlägen in Oberitalien wurde ein Schnellverfahren
beantragt. Dass das Gesetz letztlich doch in der Schublade
184
blieb, ist ein weiteres Zeichen dafür, dass die italienische Regierung
unter dem Schock der Feuernacht zwar zu politischen Drohgebärden
gegenüber Österreich und der SVP griff, letztlich aber
den von Scelba offiziell eingeschlagenen Weg der Verhandlung
und Vernunftlösung nicht mehr verlassen wollte.
Gegen die Attentäter aber wurde mit enthemmter Härte vorgegangen.
Schon im Juni war der Trentiner Livio Pergol im Verhör
brutal misshandelt worden. Er hatte dem BAS in dessen Frühzeit
Sprengstoff vermittelt, den die Bauern vom Entwurzeln der
Bäume übrig hatten. Er erwies sich als nahezu unbrauchbar, weshalb
die Lieferungen aus Nord- und Osttirol organisiert wurden. Mit
Pergol wurden auch die Kurtatscher Brüder Jakob und Karl Peer
bereits im Juni „schwer angefasst“. Nach der Verhaftung Muthers
erreichten die Verhörmethoden eine neue Ebene der Grausamkeit:
Den Häftlingen wurde Salzwasser eingeflößt, sie wurden in alle
Körperteile geschlagen und getreten, manchen wurden die Hoden
angesengt oder mit Gewichten behängt, viele mussten stundenlang
stehen und bekamen bei jeder Bewegung Schläge mit dem
Gewehrkolben. Seelisch und körperlich gebrochen wurden einige
zwecks Demütigung zu Lokalaugenscheinen auf ihre Höfe gebracht
oder, wie Sepp Innerhofer und Sepp Mitterhofer, ihren Frauen
vorgeführt: Diese erkannten ihre Männer kaum wieder. Manchen
Angehörigen, so der Familie Gutmann in Tramin, wurde die blutige
Wäsche der Häftlinge übergeben.
Berüchtigte Folterkasernen waren jene in Eppan, Neumarkt
und Meran, aber auch Brixen. Manche Häftlinge – wie Sepp Innerhofer
und Luis Steinegger – wurden aus dem Gefängnis wieder in
die Kaserne zurückgebracht und erneut der Folter unterzogen, in
der Hoffnung, doch noch ein Geständnis erzwingen zu können. In
einigen Kasernen, so vor allem in Neumarkt, konnten die Dorfbewohner
die Schreie der Häftlinge auf die Straße hinaushören,
trotzdem kam es kaum zu Protesten. Eine Ausnahme war erst 1962
der Aufmarsch von Frauen vor der Hofburg in Brixen nach dem
Tod des gefolterten Häftlings Anton Gostner.
Offiziell gab es lange keine politischen Reaktionen. Für die
Häftlinge in den Gefängnissen entstand der Eindruck, als würde
ihr Schicksal niemanden kümmern. Diese Verbitterung über die
185
Bischof Gargitter mit Innenminister Scelba nach
einer Auseinandersetzung über die Folterungen.
Der aufgebahrte Franz Höfler.
186
schweigenden Politiker und Kirchenoberen heilte bei manchen
Attentätern nie mehr aus. Der SVP waren mehrere Dutzend Folterbriefe
zugegangen, zum Teil unter Gefahren aus dem Gefängnis
geschmuggelt, manche auf Toilettenpapier geschrieben. Magnago
aber war – wie er in internen Gesprächen bekundete – der
Ansicht, dass ein offensiver Umgang mit den Folterbriefen wenig
Sinn habe. Gerichtliche Nachforschungen würden letztlich niedergeschlagen
und den Häftlingen nur Erschwernisse einbringen.
Bei einem Südtirol-Gipfel am 5. September in Innsbruck stimmte
auch Kreisky diesen Bedenken zu, ein öffentliches Ausschlachten
der Folterbriefe würde schnell verpuffen. „Andererseits könnte
das Material, im richtigen Moment verwendet von besonderem
Nutzen sein. Es müsse daher alles zuerst gesammelt und dann gut
überlegt werden, wie man es verwendet. [...] Diese Verwendung
sei vielleicht besser als durch die Presse.“
Untätig blieb Magnago trotzdem nicht. Von Anwalt Luis Sand
auf die Folterungen aufmerksam gemacht, schrieb er schon am
20. Juli einen Brief an Vizeregierungskommissär Francesco Puglisi,
er habe Kenntnis von Misshandlungen der Südtiroler Häftlinge.
Am 21. Juli folgte ein Telegramm an Ministerpräsident Amintore
Fanfani, an den Justizminister und an die Präsidenten von Kammer
und Senat. Die kaltschnäuzigen Antworten von Scelba („Was
wollen Sie, alle Polizisten der Welt schlagen …“) und von Fanfani
(Magnago solle sich besser dafür einsetzen, dass die Attentate aufhören)
empörten Magnago. Er hielt es aber weiterhin für sinnvoller,
auf den richtigen Moment zu warten.
Am 15. November begann vor dem Politischen Sonderausschuss
der UNO die zweite Südtirol-Debatte. Italien widersetzte
sich erneut vehement einer Resolution, der Ausgang war ungewiss.
Ein Resolutionsentwurf der Außenseiterstaaten Zypern, Indien
und Indonesien zugunsten Südtirols schien chancenlos. Die meisten
arabischen, afrikanischen und kommunistisch kontrollierten
Länder signalisierten eine neutrale Position, alle NATO-Staaten
und fast alle lateinamerikanischen Staaten standen mit den USA
auf der Seite Italiens. Mit einer Kompromissformel, dass beide
Staaten zu „weiteren Anstrengungen“ aufgefordert werden sollten,
konnte Kreisky die amerikanische Haltung noch einmal auf-
187
brechen, Italien aber widersetzte sich weiterhin jeder Resolution.
Mitten in den Verhandlungen verstarb, am 22. November 1961, der
Häftling Franz Höfler aus Lana an den Folgen der Misshandlungen.
Kreisky verwies nun auf „Dokumente, die Zeugnis ablegen von den
grässlichen Folterungen, wie wir sie nur aus der nazistischen und
faschistischen Ära kennen. Die Zeugnisse stammen von Priestern
und Ärzten“. Damit brach das Eis. Die Folterungen wurden zwar
nicht diskutiert, die USA erhöhten aber ihren Druck auf Italien.
So hielt Kreisky innerhalb eines Jahres – und trotz der mittlerweile
angelaufenen internen Verhandlungen zwischen SVP und
Regierung im Rahmen der Neunzehnerkommission – die zweite
Südtirol-Resolution als diplomatisches Druckmittel in der Hand.
Als am 7. Jänner 1962 auch Anton Gostner, Vater von fünf Kindern,
an den Folgen der Folterungen starb, brach das öffentliche
Schweigen. Während nach dem Tode Höflers „Dolomiten“-Redakteur
und BAS-Mitglied Franz Berger seinen Artikel in der „Tiroler
Tageszeitung“ veröffentlichen musste, berichteten diesmal die
„Dolomiten“ offensiv über die Misshandlungen. Bischof Gargitter,
der Distanz zu den Häftlingen wahrte und auch menschliche Kontakte
an Weihbischof Heinrich Forer delegierte, forderte in einer
ausführlichen Stellungnahme die Achtung und Wahrung der Menschenrechte.
In einem Vieraugengespräch mit Scelba hatte er diesen
bei Bekanntwerden der Folterungen eindringlich an seine Verantwortung
als christlicher Politiker gemahnt. Im Landtag verlas
Hans Dietl – nun mit der Zustimmung Magnagos – einen Folterbericht
von Sepp Innerhofer. Im Regionalrat zitierte der Anwalt
und Links-Abgeordnete Sandro Canestrini aus Briefen von Unterlandler
Häftlingen. Die SVP-Parlamentarier in Kammer und Senat
forderten die Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission.
Die Folterungen brachten nachträglich das, was der
Feuernacht misslungen war – menschliche Solidarität und Sympathie
für die Attentäter, sie mobilisierten humane Hilfsaktionen
und finanzielle Unterstützung für die Familien. In der politischen
Wirkung waren sie möglicherweise weittragender als zuvor die
Dynamitladungen.
188
Von der Feuernacht
zum Mailänder Prozess
Folter, „Tränenbus“ und Häftlingshilfe – Magnagos Kraftprobe
mit dem „Aufbau“ – Erste Anzeichen einer politischen Lösung
Mit der Verhaftungswelle im Juli 1961 war der BAS weitgehend zerschlagen.
Von den rund 200 Aktivisten in Südtirol war die Hälfte
verhaftet oder enttarnt worden. Die meisten, die unentdeckt waren
oder sich rechtzeitig nach Österreich absetzen konnten, zogen sich
zurück. Nur einzelne Täter und kleine Gruppen führten vorwiegend
von Österreich aus den Kampf weiter. Einer von ihnen war
Luis Amplatz, der mit wechselnden Begleitern, häufig aber auch
allein Anschläge vor allem im Bozner Raum verübte. In den Bergen
um den Bozner Talkessel daheim, legte er dort Verstecke an
und schlug aus dem Untergrund heraus zu. Als Priester oder als
Frau verkleidet, wagte er sich bis in die Altstadt und sogar so weit
in die Nähe seines Wohnhauses, dass er seine Kinder beim Spielen
beobachten konnte. Um Jörg Klotz bildete sich eine Gruppe
von Exilsüdtirolern, die von Österreich aus vor allem im Westen
operierte. Im Pustertal sorgten die „Pusterer Buam“, aber auch
andere nie enttarnte Gruppen für nahezu permanenten Alarmzustand.
Wohl zogen sie sich immer wieder nach Österreich zurück,
hielten aber auch über längere Zeit die Stellung in Felsverstecken
und Höhlen, unterstützt und verpflegt von Sennern, Bauern und
Dorfleuten. In der Gruppe um den rechtsnationalen Universitätsdozenten
Norbert Burger, der mit seinem Anhang von Studentinnen
und Studenten der Uni Innsbruck schon an der Feuernacht
beteiligt gewesen war, wurde der Gmundener Radiotechniker Peter
Kienesberger zum Frontmann mit Überraschungsangriffen auch
im Hochgebirge. Immer wieder überlappten sich die Gruppen,
schlugen gemeinsam zu oder trennten sich wieder. Der Plumeshof
der Mutter von Kurt Welser bei Wilten/Natters war für viele
Zufluchtsstätte und zweite Heimat.
189
Die Häftlinge warteten eineinhalb Jahre auf ihren Prozess und wurden immer
wieder von Gefängnis zu Gefängnis verlegt: im Bild Sepp Kerschbaumer bei
einem Abtransport.
Die Dezimierung der Bewegung, die Erfahrung von Exil und
Entfremdung, die Nachricht von den Folterungen, die Enttäuschung
über die Haltung von Politikern und Diplomaten führte
zu einer Radikalisierung und einer Verschärfung in der Wahl der
Mittel. Am 22. August unternahm Jörg Klotz zusammen mit Peter
Kienes berger den ersten Feuerüberfall. Nach der Sprengung eines
Mastes wurde – zunächst noch zur Einschüchterung – von einer
sicheren Anhöhe herab auf die herbeieilenden italienischen Soldaten
geschossen. Beim „Kinderkreuzzug“, auch „Aktion Panik“
oder „Zizi“-Aktion genannt, zündeten deutsche und österreichische
Studenten am 8. und 9. September in Rom, Rimini, Monza,
Verona, Rovereto und Trient Brandbomben auf öffentlichen Plätzen,
in Bussen und Bahnhöfen. Es war der Beginn einer fortschreitenden
Eskalation, die mit dem Auf und Ab der Verhandlungen um
eine neue Südtirol-Lösung einherging.
In der SVP verschaffte sich Ende September 1961 eine Gegenbewegung
zur Mehrheit um Magnago Luft und Gehör. In aller
Stille wurden Unterschriften namhafter Exponenten und zahl-
190
reicher Bürgermeister für eine Deklaration gesammelt, in der die
Entschärfung der Volkstumspolitik zugunsten eines stärker wirtschaftlich
ausgerichteten „Aufbau“-Programms gefordert wurde.
Die Veröffentlichung auf einer ganzen Seite in den „Dolomiten“ war
für den 30. September 1961 geplant. Magnago wurde sie unmittelbar
vorher von Roland Riz unterbreitet, wohl in der Annahme, ihn
damit auf die eigene Seite ziehen zu können. Der SVP-Obmann
aber sah in der Aktion einen Angriff auf seine Führungsposition
und auf den eingeschlagenen politischen Kurs. Er forderte von
Riz, die Veröffentlichung zu stoppen, andernfalls müsse er ihm
die Freundschaft aufkündigen. Als das „Aufbau“-Programm dennoch
erschien, begann in der SVP eine mehrwöchige politische
Krise, an deren Ende Magnago – gestützt von den volkstumspolitischen
Exponenten Dietl, Benedikter, Brugger – als eindeutiger
Sieger hervorging. Viele Unterzeichner zogen ihre Unterschrift
zurück, weil sie diese nur in der Annahme geleistet hätten, Magnago
stünde hinter dem neuen Programm.
Rein machtpolitisch war der „Aufbau“ ein Gegenputsch der alten
Führung mit verjüngtem Personal. Die maßgeblichen Exponenten
waren, neben den abgesetzten Granden, Roland Riz und Toni
Ebner. Für die SVP stellte der Konflikt just zu Beginn der Autonomieverhandlungen
eine „Schwächestunde“ (Franz Widmann)
dar, die Innenminister Scelba zu nützen versuchte. Seine privilegierten
Ansprechpartner waren die im „Aufbau“ engagierten
Parlamentarier, während er Magnago von der Neunzehnerkommission
ausschließen wollte. Dieser konnte sich zwar sein Sitzund
Stimmrecht erkämpfen, saß aber bei den Fahrten nach Rom
für lange Zeit allein in seinem Abteil, da sich die SVP-Parlamentarier
von ihm absonderten.
Im Riss, der durch die SVP ging, zeigten sich aber auch Interessenkonflikte
und gesellschaftliche Brüche. Die sachpolitische
Forderung der „Aufbau“-Bewegung, den vom Volkstumskampf verengten
Blick zugunsten einer wirtschafts- und gesellschaftspolitischen
Modernisierung zu öffnen, entsprach durchaus sozialen und
ökonomischen Notwendigkeiten. Die in ihrem sozialen Gefüge und
in ihrer technischen Ausstattung veraltete Landwirtschaft konnte
ihren hohen Beschäftigungsanteil nicht halten, vielen jungen Leu-
191
ten fehlten schlicht die Perspektiven. Im „Freiheitskampf“ fanden
auch Existenzängste ein Ventil, die einer sozial- und wirtschaftspolitischen
Antwort bedurften. Da biss sich freilich die Katze in
den Schwanz: Für einen wirtschaftspolitischen Aufbau bedurfte
die geradezu mittel- und rechtlose Südtiroler Landesverwaltung
einer Ausstattung mit neuen Gestaltungsmöglichkeiten.
Die Verhandlungen waren zäh. Mehrmals erwog Kreisky, erneut
die UNO anzurufen, um den Druck auf die italienische Regierung
zu erhöhen, sah dann aber – trotz eindringlichen Ersuchens Magnagos
– davon ab. Umgekehrt musste Kreisky den mitunter resignierenden
Magnago bitten, ja nicht die Neunzehnerkommission für
gescheitert zu erklären. Die mit großer Geste einberufene Autonomiekommission
war schon bald eingeschlafen. Dass sie ihre Arbeit
nicht ganz einstellte, lag – wie Magnago anerkannte – an ihrem
sozialdemokratischen Vorsitzenden Paolo Rossi. Die italienische
Politik schien auf ihren alten Kurs einzuschwenken: 1962 wurden,
im Gedenken an die Feuernacht, die Herz-Jesu-Feuer verboten,
die Einreiseverbote für auch nur vage verdächtige österreichische
Staatsbürger wurden aufrechterhalten, die „Schwarzen
Listen“ immer länger. Zu Herz Jesu 1962 knotete Sepp Kerschbaumer
im Bozner Gefängnis ein weißes und ein rotes Taschentuch
an sein Gitterfenster, im ganzen Land wehten wieder die verbotenen
Tiroler Fahnen. Die Neunzehnerkommission traf sich erst
nach drei Monaten Stillstand wieder, eine in Salzburg geplante
österreichisch-italienische Konferenz wurde von Italien ganz abgesagt.
Bis zum nächsten Außenministertreffen sollte wieder ein
Jahr vergehen.
Das war Nährboden für den Terror. Die versprengten BAS-
Gruppen schlugen immer wieder überraschend zu, in einer Bahnhofstoilette
in Bozen (8. Juli 1962), trotz einer acht Meter hohen
Schneedecke am Stilfser Joch (20. März 1962), mit einem Brandanschlag
in derselben Nacht auf die Kaserne in Toblach. Bei einem
Anschlag auf dem Bahnhof von Verona am 20. Oktober 1962 wurde
der Bahnarbeiter Gaspare Enzen getötet, 20 Menschen verletzt.
Der BAS distanzierte sich von diesem Anschlag. Eine Rolle dabei
spielte womöglich der deutsche Staatsbürger Hasso von Langen,
der sich bei seiner Festnahme mit der Pistole in den Mund schoss.
192
Faschistischer Gegenterror in Österreich: Markanteste Ereignisse
waren der Anschlag auf das Bergiseldenkmal (1961) und eine Attentatserie
in Ebensee (1963).
Es gab aber auch Hinweise auf die Beteiligung einer Kampfgruppe
um Peter Kienesberger.
Was in der Feuernacht noch klare Konturen hatte, wurde nun
undurchschaubar. Mit der Sprengung des Andreas-Hofer-Denkmals
am 1. Oktober 1961 in Innsbruck kündigte sich ein italienischer
Gegenterror an, der wohl schon am 24. Mai 1961 mit der Sprengung
des Andreas-Hofer-Denkmals in Mantua begonnen hatte.
Der italienische Geheimdienst begann Südtirol als Exerzierfeld
für die später in Italien bis zum Putschversuch getriebene „Strategie
der Spannung“ zu nutzen. Schlüsselfigur war Giovanni De
Lorenzo, der 1955 zum Chef des Geheimdienstes Sifar wurde und
maßgeblich am Aufbau des Sondergeheimdienstes Gladio beteiligt
war. Von 1962 bis 1966 war er oberster Kommandant der Carabinieri,
von 1966 bis 1967 Oberbefehlshaber des italienischen Heeres.
Die „Strategie der Spannung“ bestand darin, die Aufschaukelung
von Terror und Gegenterror durch gezielte Anschläge und eingeschleuste
Agent provocateurs so zu steuern, dass politische Gegner
kriminalisiert und harte Gegenmaßnahmen legitimiert wurden.
193
So stellte sich bei Blutbädern in den 70er und auch noch 80er Jahren
heraus, dass sie von neofaschistisch unterwanderten Geheimdienstzellen
verübt worden waren, um sie der italienischen Linken
in die Schuhe zu schieben.
Am 23. September 1963 wurden in Ebensee in Oberösterreich
mehrere Anschläge verübt. Zwei Sprengsätze an einer Kabine der
Feuerkogelseilbahn konnten entschärft werden. An der Saline
Ebensee waren an zwei Silos Sprengladungen angebracht worden,
ein Gendarmeriebeamter wurde getötet, ein Beamter verlor
das Augenlicht, vier Personen wurden verletzt. Als mutmaßlicher
Täter wurde am 24. Mai 1964 Kurt Welser verhaftet. Erst ein Jahr
später stellte sich heraus, dass die Täter italienische Neofaschisten
waren, beschlagnahmte Beweiselemente verweisen unzweifelhaft
auch auf den Anschlag am Bergisel im Oktober 1961. Wie
sich bei den Gladio-Ermittlungen um 1990 erwies, standen sie in
Verbindung mit dem Geheimdienst Sifar. Im 3. Grazer Prozess im
Mai 1965 konnte Kurt Welser moralisch rehabilitiert auftreten,
die Wiederaufnahme des Verfahrens im Herbst erlebte er nicht
mehr. Er stürzte am 15. August beim Klettern mit Heinrich Klier
am Zinalrothorn in der Schweiz tödlich ab. Der BAS verlor damit
einen der Sympathieträger aus der Feuernachtszeit.
Mit fortschreitender Eskalation wurde die Unterscheidung
zwischen „echten“ und „gesteuerten“ Attentaten immer schwieriger.
Immer mehr Attentate gaben Rätsel auf und nährten Verschwörungstheorien,
etwa der Anschlag von Friedrich Rainer aus
dem Passeiertal auf das Beinhaus in Reschen am 7. oder 8. Oktober.
Am Tatort wurde der zerfetzte Körper Rainers gefunden, für manche
war er in eine Falle gelockt und gezielt getötet worden. Wie
nah sich „autochthoner“ und „fehlgeleiteter“ Terrorismus sein
konnten, zeigt ein Anschlag am 15. November 1964 auf den Expresszug
E61 von München nach Rom. Im letzten Augenblick wurde
nach der Einfahrt des Zuges in Brixen der Grenzpolizei mitgeteilt,
dass sich im Zug eine Kofferbombe befinde. Der Gepäckwagen
konnte noch rechtzeitig abgekoppelt und auf ein Nebengeleis
gefahren werden, da ging schon die Sprengladung hoch. Täter war
zweifellos Heinrich Oberlechner, einer der vier „Pusterer Buam“.
194
Beteiligt an der Aktion war aber auch der in Innsbruck lebende
deutsche Innenarchitekt Carl Franz Joosten, ein Agent provocateur
des italienischen Geheimdienstes.
Ohnmächtig erlebten die Häftlinge von 1961 mit, wie die politische
Entwicklung einerseits, die Eskalation der Gewalt andererseits
einen ganz anderen Verlauf nahmen als ursprünglich angenommen.
Allein das Warten auf den Beginn ihres Prozesses war
zermürbend. Mit einem neuerlichen Hungerstreik versuchte Sepp
Kerschbaumer von der Justiz formale Korrektheit einzufordern.
Die Häftlinge wurden bei leisestem Protest versetzt, was für ihre
Angehörigen wegen der länger werdenden Anreise zu den Besuchen
erschwerend war. Die Hoffnung auf moralische Genugtuung
für die Folterungen zerstob im Trientner Prozess vom 20. bis zum
29. August 1963. Die meisten der 44 Häftlinge, die wegen Misshandlung
Anzeige erstattet hatten, zogen diese auf Anraten ihrer
Anwälte wieder zurück. Die angeklagten Carabinieri wurden, je
nach juristischer Opportunität, entweder freigesprochen oder
durch Bagatellisierung der Straftaten amnestiert.
Erst zweieinhalb Jahre nach den Verhaftungen begann am
9. November 1963 der Mailänder Prozess. Es wurde ein Mammutprozess,
für den der Schwurgerichtssaal in Mailand eigens umgebaut
wurde: 91 Angeklagte, davon 87 Südtiroler, einige flüchtig,
644 Seiten Anklageschrift, gestützt auf über 20.000 Aktenseiten,
470 geladene Zeugen, 94 Verhandlungstage.
Die vielen jungen Männer, die Familienväter in ihren schlichten
Anzügen machten in der italienischen Öffentlichkeit einen
unerwartet guten Eindruck. Die vermeintlich blindwütigen Terroristen
überraschten die Journalisten durch meist besonnene, von
großem Ernst begleitete Aussagen, wobei vor allem Sepp Kerschbaumer
hervorstach und beeindruckte. Der Kaufmann aus Frangart
verstand es, mit einfachen Worten die Anliegen der Südtiroler
darzulegen. Auch italienische Kunden seines Ladens in Eppan,
denen er immer großzügig die Einkäufe „aufgeschrieben“ hatte,
sagten zu seinen Gunsten aus. Die schlichte Art, mit der Kerschbaumer
die Verantwortung für die Anschläge übernahm und zugleich
jene des Staates ansprach, veränderte nachhaltig den Blick auf
die Süd tiroler Problematik. So wurde der Mailänder Prozess zu
195
einer durchschlagenden Aufklärung der italienischen Öffentlichkeit
über den „Fall Südtirol“, weitreichender als es auf der politischen
Ebene je gelungen war. Viele italienische Journalisten, Politiker,
Verantwortungsträger erlebten die Südtirol-Problematik erstmals
aus einer anderen, unerwarteten Perspektive. Wie auch immer an
der Wirkung der Feuernacht gezweifelt werden mag, ihre indirekten
Auswirkungen – der Schock über die Folterungen und der
nachhaltige Eindruck des Mailänder Prozesses – waren für das
Verständnis der Südtirol-Problematik in Italien ohne Zweifel bahnbrechend.
Der Mailänder Prozess stand politisch unter einem günstigen
Stern. In Italien kam es im Sommer 1963 zu einer Mitte-links-
Regierung, neuer Außenminister wurde der Sozialdemokrat und
spätere Staatspräsident Giuseppe Saragat. Er kündigte schon im
ersten Treffen mit Kreisky die Bereitschaft zum Entgegenkommen
„weit über das Pariser Abkommen hinaus“ an. Dazu aber sei
es nötig, dass Ruhe einkehre. Für den Mailänder Prozess werde er
beim Schwurgerichtspräsidenten Gustavo Simonetti intervenieren,
um eine weitere Eskalation zu vermeiden. Für die Bekämpfung
der noch aktiven Attentäter forderte Saragat die Mitarbeit
Österreichs ein.
Auch wenn es zur wirklichen Lösung noch Jahre brauchte, war
damit der Grundstein für ein neues Verhältnis zwischen Österreich
und Italien gelegt. Während Kreisky sich uneingeschränkt für die
Unterstützung der Häftlingsfamilien und für die volle Übernahme
der Prozess- und Anwaltskosten durch Österreich schlug, schloss er
die „zweite Woge“ davon aus. Die Familie von Siegfried Steger, der
zwar schon zur Feuernachtsgeneration gehörte, aber den Kampf
mit den „Pusterer Buam“ weiterführte, musste einen Kasten verkaufen,
um den Anwalt zahlen zu können, als Vater, Mutter und
Geschwister inhaftiert wurden.
Für die Mailänder Häftlinge band Österreich die Übernahme
der Anwaltskosten an eine zurückhaltende Verteidigungsstrategie.
So mussten sich manche Attentäter auf die Zunge beißen, um vor
Gericht zu deklarieren, sie hätten nicht für die Selbstbestimmung,
sondern für die Autonomie gekämpft. Dies sollte sie einerseits vor
einer Verurteilung wegen Hochverrats (mit dem Risiko lebens-
196
länglicher Haft) schützen, war aber auch ein politisch gewünschtes
Signal.
Gerichtsvorsitzender Simonetti, bei dem Saragat vorzusprechen
angekündigt hatte, sorgte für ein entspanntes, faires Prozessklima.
Die Anklage auf Hochverrat wurde fallengelassen, ebenso
die zunächst kollektiv erhobene Mordanklage wegen des Todes von
Giovanni Postal. Das Urteil wurde am 16. Juli 1964 gefällt: Von den
91 Angeklagten wurden 27 freigesprochen oder amnestiert, davon
waren 17 in Haft gewesen. 34 Angeklagte, darunter 29 Häftlinge,
erhielten Strafen bis zu vier Jahren, die sie durch die lange Untersuchungshaft
praktisch abgebüßt hatten. 46 der 68 inhaftierten
Südtiroler durften nach Hause, für 22 begann das Zählen der Tage.
Die letzten Häftlinge kamen erst im November 1969 nach Hause,
als die politische Lösung für Südtirol unmittelbar bevorstand.
Die höchsten Strafen erhielten die Flüchtigen: 25 Jahre und
sechs Monate für Luis Amplatz, 19 Jahre und elf Monate für Siegfried
Carli, 18 Jahre und zwei Monate für Jörg Klotz. Mit Ausnahme
von Amplatz wurden die Nordtiroler am schwersten verurteilt:
23 Jahre und zehn Monate für Kurt Welser, 22 Jahre und
zehn Monate für Wolfgang Pfaundler, ein Jahr weniger für Heinrich
Klier, 19 Jahre und vier Monate für Eduard Widmoser. Die
Leitungsfiguren des Tiroler BAS ab der Feuernacht, Helmut Heuberger
und Günther Andergassen, waren im Mailänder Verfahren
noch nicht aktenkundig, das Ehepaar Molling wurde überhaupt
nie belangt. Siegfried Steger und Sepp Forer, inzwischen als „Pusterer
Buam“ gefürchtet und gejagt, waren für die Mailänder Richter
noch Nebenfiguren, sie bekamen je ein Jahr und drei Monate
in Abwesenheit.
Von den Südtiroler Häftlingen erhielt Sepp Kerschbaumer mit
15 Jahren und elf Monaten Haft die schwerste Strafe. Jörg Pircher
wurde zu 14 Jahren und sieben Monaten, Sepp Mitterhofer
zu elf Jahren und elf Monaten, Oswald Kofler zu elf Jahren und
vier Monaten, Josef Fontana zu zehn Jahren und sechs Monaten
verurteilt. Für den Traminer Kofler schlug der Anschlag auf die
Ferrari-Bar ins Gewicht, für Fontana das Attentat auf die Tolomei-Villa
und eine polemische Äußerung über den faschistischen
Senator. Sepp Kerschbaumer zog sich im Gefängnis immer mehr
197
zurück, ließ sich im November 1964 nach Verona verlegen, wo er
in der Untersuchungshaft in einer Steigenwerkstatt eine erfüllende
Tätigkeit gefunden hatte. Er betete viel vor einem selbst erbauten
Altar. Neben der tief empfundenen Last der Verantwortung drückten
ihn auch familiäre Sorgen. Am 7. Dezember verstarb er, erst
51-jährig, an Herzversagen.
Für die Familien der inhaftierten Attentäter wurde mit viel Idealismus
und vorwiegend österreichischen Geldmitteln eine kapillare
Häftlingshilfe organisiert. Maßgebliche Kräfte waren Midl
von Sölder, Karl Masoner und Greta Koch, Ehefrau des inhaftierten
Attentäters Martl Koch. Die Caritas richtete ein Konto ein, die
Schützen erhoben den Bedarf der Familien, bei der SVP-Sekretärin
Maria Egger liefen die Fäden zusammen. Für die Besuche wurden
gemeinsame Fahrten im Bus organisiert, genannt der „Tränenbus“.
Der lange stillschweigende Schutz für die noch aktiven Attentäter
wurde, im Sinne von Kreiskys Ankündigung, dagegen aufgehoben.
Schon unmittelbar nach der Feuernacht hatte es zur Haltung
der österreichischen Justiz gegenüber den Attentaten unterschiedliche
Positionen gegeben. 1961 hatten die stellvertretenden Tiroler
Landeshauptleute Hans Gamper und Karl Kunst noch in einem
mit Wallnöfer abgesprochenen Brief an Bundeskanzler Alfons Gorbach
appelliert, von Gerichtsverhandlungen gegen die „Südtiroler
Freiheitskämpfer“ und ihre Unterstützer abzusehen. Justizminister
Christian Broda aber war Kreiskys ursprüngliche Strategie, die
Attentate für politischen Druck zu nutzen, von Anfang an fremd
gewesen. So ließ er den für Dezember 1961 angesetzten 1. Grazer
Prozess ungehindert durchführen. Der als einziger schon inhaftierte
Kurt Welser wurde bedingt zu einem Jahr Haft verurteilt,
seine Frau Lilo Welser, Ottokar Destaller und Ludwig Messerklinger
erhielten ebenso bedingt mehrere Monate schweren Kerker.
Im März 1962 wurde in Tirol Jörg Klotz zum ersten Mal wegen
Waffenbesitzes verhaftet, worauf ihn der stellvertretende Landeshauptmann
Gamper demonstrativ im Gefängnis besuchte. Den
stärksten Rückhalt bot den Südtirol-Attentätern der inzwischen
zum starken Mann in der Tiroler ÖVP aufgestiegene Eduard Wallnöfer.
1913 in Schluderns geboren, war er seit 1930 in der Tiroler
Landwirtschaftskammer tätig, saß seit 1957 in der Landesregierung
198
und wurde 1963 zum Landeshauptmann gewählt. „In Tirol“, erinnert
sich Herlinde Molling, „gab es auf der einen Seite das Gesetz
und auf der anderen Seite den Walli“. Innsbrucker Gendarmen
schauten auf Anweisung Wallnöfers regelrecht weg, wenn sie auf
offener Straße gesuchten Südtirol-Attentätern begegneten. Wallnöfers
Argument, dass österreichische Terrorprozesse auf keinen
Fall vor jenen in Italien durchgeführt werden dürfen, ließ sogar
Broda gelten, worauf alle verschiebbaren Verfahren vertagt wurden.
Lediglich der Prozess wegen des Innsbrucker Waffenlagers
von Wolfgang Pfaundler ließ sich nicht mehr verschieben. Dafür
wurde eine andere Strategie gewählt, die der Verteidigungslogik in
Italien diametral entgegenstand: Es wurde bewusst Anklage wegen
Hochverrats an einem ausländischen Staat erhoben, weshalb die
Verfahren vor das Schwurgericht kamen. Dort ließen sich die Laienrichter
für den Südtirol-Kampf begeistern, Pfaundler wurde beim
zweiten Grazer Prozess im Juni 1962 freigesprochen.
Die Bemühungen um eine politische Lösung wurden ab 1963
sichtbar ernsthafter, zugleich aber auch der Druck auf Österreich
stärker, gegen die Attentäter durchzugreifen. Unmittelbar vor dem
Amtsantritt der Mitte-links-Regierung hatte Italien im Juli 1963 das
Einvernehmen über Südtirol als Bedingung für die Zustimmung
zur Annäherung Österreichs an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
EWG gestellt. Nach seinem Amtsantritt forderte Saragat
ein Ende der Anschläge als Gegenleistung für das Entgegenkommen
der italienischen Regierung.
Ein Zeichen setzte die Kirche unter Papst Johannes XXIII.,
der als Patriarch von Venedig in Südtirol Urlaub gemacht und das
Land kennengelernt hatte. In der Enzyklika „Pacem in terris“ vom
11. April 1963 betonte er die Pflicht der Staaten gegenüber den Minderheiten.
Mit Bischof Gargitter pflegte er ein vertrautes Verhältnis.
Der Kirche lag ein Ausgleich zwischen Minderheitenschutz
und Versöhnung der Sprachgruppen am Herzen. So sehr sie die
Forderungen innerhalb der deutschen Sprachgruppe dämpfte, so
sehr wirkte sie gegenüber Rom mahnend im Sinne einer politischen
Lösung des Konflikts. Am 8. August 1964 gaben die Bischöfe der
Diözesen Trient und Brixen, Erzbischof Alexander Maria Gottardi
und Joseph Gargitter, in gleichzeitig abgehaltenen Presse-
199
konferenzen die Neuregelung der Bistumsgrenzen bekannt, die
jetzt mit den Landesgrenzen zusammenfielen. Bozen, Brixen und
Meran hatten – historisch bedingt – zum Bistum Trient gehört, der
nördliche Teil Südtirols zum Bistum Brixen, das offiziell immer
noch auch Nord- und Osttirol umfasste, wenngleich die österreichischen
Gebiete als „Apostolische Administratur“ einen eigenen
Bischof hatten. Die neu gezogenen Diözesangrenzen nahmen in
etwa die Autonomielösung vorweg: Das symbolische Festhalten
an der Tiroler Wiedervereinigung wurde aufgegeben zugunsten
einer Neuordnung und Aufwertung Südtirols.
200
Verhandlungen im Kugelhagel
Der lange Weg zum Südtirol-Paket –
Dramatische Stationen einer mühsamen Normalisierung
Am 2. April 1964 gelang der italienischen Terrorfahndung ein großer
Schlag. Sie verhaftete in Venedig den auf Wolfgang Pfaundler
und Heinrich Klier gefolgten Nordtiroler BAS-Chef. Der aus
Margreid im Südtiroler Unterland stammende Komponist Günther
Andergassen hatte mangels einer Führungsfigur in Südtirol
auch den Wiederaufbau von Kampfgruppen in Südtirol versucht.
Andergassen, der aufgrund der Auswanderung seiner Eltern in der
Optionszeit in Nordtirol aufgewachsen war, pflegte daher enge
Kontakte zur Südtiroler Attentäterszene. Seine wichtigste Bezugsperson
war Hans Dietl. Intensive Kontakte gab es auch mit dem
„Dolomiten“-Redakteur Franz Berger, dessen Bruder Heinrich Berger
– wie sich später herausstellte – ein Informant des italienischen
Geheimdienstes war. Franz Berger gehörte von Anfang an zum
engsten Kreis um Sepp Kerschbaumer. Er verwahrte auch einen
der BAS-Stempel, mit dem die Flugblätter gezeichnet wurden.
Andergassen war wohl schon länger aufgrund seiner verwegenen
Fahrten nach Südtirol ins Visier der Fahnder gekommen. Als
er im Frühjahr 1964 mit seinen Studenten eine Kulturreise nach
Italien plante, beantragte er beim italienischen Kulturinstitut in
Innsbruck eine Empfehlung für Gratiseintritte in den Museen und
Besichtigungsstätten. Im italienischen Kulturinstitut in Innsbruck
hatte sich damals der italienische Geheimdienst eingenistet. Zwar
ging Andergassen – begleitet von Franz Berger – aus Vorsicht bei
Winnebach zu Fuß über die Grenze von Osttirol nach Südtirol, trug
sich aber in Venedig mit vollem Namen ins Gästebuch des Hotels
ein, wo er am Tag darauf verhaftet wurde.
Eine politische Dimension erhielt der Fall Andergassen, als er
unter dem Druck der Verhöre Hans Dietl als politischen Verbindungsmann
nannte. Gegen Dietl wurde Anklage erhoben. Demonstrativ
verzichtete er auf seine Immunität als Parlamentarier. Zu gute
kam ihm, dass Andergassen seine Aussage einmal zurückgezogen,
201
dann wieder bestätigt und schließlich erneut zurückgezogen hatte.
Am Tag vor der Urteilsverkündigung im Verfahren gegen Hans
Dietl am 29. April 1966 entband dessen Ehefrau Martha Lechner
ihr 13. Kind. Das Verfahren endete mit Freispruch. Damit war Dietl,
der angesichts seiner intensiven Kontakte zum BAS hoch gepokert
hatte, wieder handlungsfähig für den Kampf gegen das Paket.
Der zweite Mailänder Prozess mit dem Hauptangeklagten
Andergassen dauerte vom 12. Jänner bis zum 20. April 1966. Mit
angeklagt waren 37 Südtiroler, zwölf Österreicher und neun Deutsche.
Davon waren 32 flüchtig. Das Verfahren entbehrte der politischen
Strahlkraft des ersten Mailänder Prozesses. Die Anwälte
der Mitangeklagten versuchten so gut es ging, die Taten abzustreiten,
oder aber Andergassen als Verführer darzustellen. Andergassen
wurde zu 30 Jahren Haft verurteilt, ebenso hohe Haftstrafen
erhielten in Abwesenheit die Tiroler Helmut Heuberger und
Aloys Oberhammer sowie Norbert Burger, Peter Kienesberger und
die vier „Pusterer Buam“, die erst in späteren Verfahren zu lebenslänglichen
Haftstrafen verurteilt wurden.
Mit Andergassens Verhaftung war der BAS endgültig führungslos
geworden. Als moralisch von allen anerkannte Integrations figur
galt noch Helmut Heuberger, der aber mit Rücksicht auf seine Existenzgrundlage
als Professor in Salzburg nicht mehr operativ tätig
sein konnte. Auf die Kampfgruppen von Klotz, Kienesberger und
die Pusterer hatte auch Heuberger nur einen beschränkten Einfluss.
Zudem war es dem italienischen Geheimdienst gelungen, den
BAS mit mehreren Agenten und Agent provocateurs zu unterwandern.
Bei den immer heftigeren Anschlägen und Feuerüberfällen
wurden wiederholt italienische Soldaten und Carabinieri verletzt.
Eine propagandistische Offensive von Luis Amplatz und Jörg
Klotz im Frühjahr 1964 zwang die österreichischen Behörden zu
handeln. Klotz ließ sich für ein Interview des „L’Europeo“ mit
Waffen ablichten, Amplatz bekannte sich in einem Interview mit
dem „Spiegel“ zum Freiheitskampf, dessen Fortsetzung ausschließlich
von Italien abhänge. Sie wurden nach Wien abgeschoben, wo
sich Klotz als Hotelportier, Amplatz in einem Heurigenlokal verdingte.
Von Heimweh und von der Überzeugung getrieben, in Südtirol
brauche es sie noch, setzten sie sich im August 1964 aus Wien
202
ab. Amplatz kündigte dies sogar bei den Polizeistellen an: Lieber
„verrecke“ er, als weiter in Wien zu bleiben. In einem „Testament“
hielt er, mit manchem fehlerhaften Datum, aber substanziell wahrheitsgetreu,
die anfängliche Unterstützung des BAS durch Kreisky,
Molden und andere politische Protegés fest.
Die Lösung der Südtirol-Frage schien im Sommer 1964 auf einen
Kompromiss hinauszulaufen. Ein erstes konkretes „Südtirol- Paket“,
das Kreisky mit Saragat persönlich ausgehandelt hatte, wurde von
der SVP als unzureichend zurückgewiesen, aber weitere Verhandlungen
standen an. Die noch aktiven BAS-Gruppen verfolgten mittlerweile
eine Doppelstrategie: Sie wollten Italien unter Druck
setzen, richteten ihre Anschläge aber auch gegen die für zu lau
empfundene Verhandlungsführung der Südtiroler und gegen die
österreichische Politik. Am 27. August fuhr bei Percha ein Militärjeep
über eine von den „Pusterer Buam“ ausgelegte Mine, vier der
sechs Insassen wurden verletzt. Zum gleichen Zeitpunkt brachen
Klotz und Amplatz über die Berge nach Südtirol auf, um dort
– Klotz im Passeiertal, Amplatz im Bozner Raum – neue Anschläge
zu verüben. Begleitet wurden sie von den Brüdern Christian und
Franz Kerbler, beide Nordtiroler Verbindungsleute des italienischen
Geheimdienstes.
Der Auftrag für die Kerbler-Brüder lautete, Klotz und Amplatz
auszuliefern. Unter dem Vorwand, Nahrungsmittel zu beschaffen
oder angebliche Unterstützer zu treffen, setzten sie sich immer
wieder ab und nahmen Kontakt zu den italienischen Dienststellen
in Bozen auf. Durch Glück und Geistesgegenwart entgingen
Amplatz und Klotz mehrmals ihrer Verhaftung. Am 30. August
schoss Klotz im Feuergefecht einen Finanzer an.
Am 3. September 1964 wurde in Mühlwald der junge Carabiniere
Vittorio Tiralongo erschossen. Die Tat wurde den in der
Gegend anwesenden Pusterern in die Schuhe geschoben. Für die
Familie von Siegfried Steger hatte der Verdacht schwere Folgen,
Mutter Frieda, Vater Johann und Schwester Lina wurden drei
Tage lang inhaftiert, die jüngste Schwester Elsa mit dem Gesicht
in die Blutlache Tiralongos gedrückt: „Der Mörder ist dein Bruder.“
Gerichtlich geklärt wurde der Tiralongo-Mord nie. Immer
wieder tauchten neue – wenn auch vage und nie bestätigte – Hin-
203
weise auf, es könnte auch eine Abrechnung innerhalb der Carabinieri-Truppe
oder eine Aktion des Geheimdienstes gewesen sein.
Siegfried Steger, der die Tat stets bestritt, schloss aber auch nie aus,
dass andere BAS-Gruppen im Pustertal Tiralongo getötet haben
könnten. Für Carabinieri-General Giovanni De Lorenzo war die
Ermordung Tiralongos der Anlass, ein starkes Signal in der Terrorbekämpfung
zu setzen. Er gab die Anweisung, zur Vergeltung für
Tiralongo „einige Attentäter zu liquidieren“.
Am Vormittag des 6. September erhielt Christian Kerbler in
der Quästur in Bozen den Auftrag, Klotz und Amplatz zu erschießen.
Dazu wurde ihm eine Dienstpistole vom Typ Beretta mit der
Matrikelnummer 616534 ausgehändigt. Dadurch sollte der Eindruck
entstehen, dass Amplatz und Klotz im Feuergefecht mit den
Carabinieri erschossen worden seien. In der Nacht vom 6. auf den
7. September erschoss Kerbler in einer Heuhütte auf den Brunner
Mahdern den neben ihm schlafenden Luis Amplatz mit drei
Schüssen aus nächster Nähe. Die anderen drei Kugeln schoss er
auf den erwachenden Jörg Klotz ab, der schwer, aber nicht tödlich
verletzt wurde. Während Kerbler von Panik erfasst wurde,
gelang Klotz die Flucht. In einem 42-Stunden-Marsch schleppte
er sich über die Berge bis ins Ötztal. Kerbler wurde zwar verhaftet,
konnte aber bei der Überstellung nach Bozen angeblich aus dem
fahrenden Jeep fliehen. 1971 wurde er in Perugia in Abwesenheit zu
21 Jahren Haft verurteilt. Damit bekam er dreieinhalb Jahre weniger,
als sein Opfer Amplatz für die Teilnahme an der Feuernacht
erhalten hatte. Um 1976 wurde Kerbler bei einem Ladendiebstahl
in Großbritannien verhaftet, aber wieder freigelassen, nachdem
die italienischen Behörden die Frist für einen Auslieferungsantrag
ungenutzt verstreichen ließen.
Die Beerdigung von Luis Amplatz am 10. September 1964 wurde
zu einer beeindruckenden Trauerfeier tausender Menschen auf
dem Höhepunkt einer neuen Gewaltwelle. Am 9. September verletzte
eine Minenfalle im Antholzer Tal fünf Carabinieri, einen
davon schwer. Am Tag der Beerdigung kam es im Weiler Tesselberg
bei Gais zu einem Schusswechsel zwischen drei der vier Pusterer
Buam und einer Patrouille. Zwei Carabinieri wurden schwer verletzt,
bei der Verfolgungsjagd kam es zu zwei Toten durch einen
204
sich überschlagenden Jeep und eine fehlgeleitete Kugel. Die Situation
geriet außer Kontrolle. Die Fahnder rückten mit einem Panzer
an, schossen Stadel in Brand, trieben die gesamte Bevölkerung
zusammen, warfen Granaten ziellos in Häuser, nahmen Bauern,
die noch auf dem Feld arbeiteten, unter Beschuss. Die Männer des
Dorfes wurden gefesselt und bäuchlings auf eine Wiese gelegt. Wer
sich bewegte, wurde geschlagen. Erst 1991 wurde durch die Gladio-
Ermittlungen bekannt, dass Oberst Francesco Marasco 15 Leute
an die Wand stellen und erschießen lassen wollte, danach sollte
das Dorf abgebrannt werden. Oberstleutnant Giancarlo Giudici,
der sich querstellte und das Massaker verhinderte, wurde wenige
Tage später aufgrund einer Intervention Marascos bei General Giovanni
De Lorenzo versetzt. Nach den Tagebuchaufzeichnungen
von General Giorgio Manes wollte De Lorenzo wollte für jeden
getöteten Italiener fünf Südtiroler erschießen lassen.
Das Szenario der Attentate wurde immer undurchschaubarer.
Bomben in Zügen und Bahnhofstoiletten machten es auch patriotisch
gesinnten österreichischen Geschworenen immer schwerer,
die Straftaten als Freiheitskampf durchgehen zu lassen. Manche
Aktionen dieser Gewaltwelle tragen die Handschrift der „Strategie
der Spannung“ italienischer Geheimdienste, manche deuten
auf Enthemmungen unter den Attentätern hin.
Die Zuordnung fällt im Einzelfall schwer. Am 26. August 1965
um 21 Uhr wurden in Sexten die Carabinieri Palmerio Ariu aus
Mogoro in Sardinien und Luigi De Gennaro aus Bari aus dem Hinterhalt
erschossen. Am 12. und 13. September wurde am Reschen
die Alpini-Kaserne sechs Stunden lang unter Beschuss genommen.
Am 15. September wurde in Lappach ein Angestellter der staatlichen
Energiegesellschaft Enel bei einem Anschlag verletzt, in
Mühlwald wurden Carabinieri durch die Sprengung eines Mastes
angelockt und dann beschossen. Am Portjoch wurde am 3. Oktober
ein Wachsoldat angeschossen, einer der Täter war der vom
Deutschnonsberg stammende, nach Innsbruck geflüchtete Karl
Außerer. Er gehörte zur letzten Kampfgruppe um Jörg Klotz. Am
23. Mai 1966 wurde ein Zollsoldat beim Betreten des Schutzhauses
am Pfitscher Joch durch eine Sprengfalle getötet. Am 24. Juli
wurden im Gsieser Tal zwei Finanzer erschossen. In einem ARD-
205
Staatsbegräbnisse und Trauerfälle waren die Folge immer heftigerer
Anschläge mit Todesopfern.
Interview bekräftigten Norbert Burger und Peter Kienesberger
die Notwendigkeit auch solcher Anschläge. Am 23. August 1966
genehmigte der österreichische Ministerrat geheime Treffen mit
den italienischen Behörden, um durch Informationsaustausch und
Kooperation die Anschläge zum Stillstand zu bringen.
Die schwersten Vorfälle standen noch bevor. Am 9. September
1966 kam es zu einer Detonation in der Zollstation auf der Steinalm.
Unter den drei getöteten Finanzbeamten befand sich neben Martino
Cossu und Franco Petrucci auch der Südtiroler Vizebrigadier
Herbert Volgger aus St. Jakob in Pfitsch. Aufgrund der extremen
Schwierigkeit für die Täter, in die von Soldaten besetzte Kaserne
einzudringen und einen Sprengsatz zu deponieren, bestehen bis
206
in die Gegenwart Zweifel, ob es sich bei der Explosion nicht eher
um einen Gasunfall handelte. Nach einem über mehrere Instanzen
gehenden Justizkrimi wurden Jörg Klotz, Richard Kofler, Luis
Larch und Luis Rainer für das Blutbad verantwortlich gemacht. Das
Urteil stützte sich auf die (später zurückgezogene) Aussage von
Rudolf Kofler; weitere Indizien waren, dass der BAS den Anschlag
in den Monaten davor immer wieder angekündigt hatte. In den
Tagen vor der Explosion war wegen eines erneut verstrichenen
Ultimatums die Bewachung wieder gelockert worden, auch hatte
die Steinalm-Truppe häufig Frauenbesuch. Wie schon nach dem
Tiralongo-Mord kam es erneut zu Sippenhaftmaßnahmen, da man
der Verurteilten nicht habhaft werden konnte und auch der verhaftete
Kofler sich nach einem Freispruch in erster Instanz nach
Österreich abgesetzt hatte. Die Ehefrau von Jörg Klotz, Rosa Klotz,
wurde am 10. Oktober 1966 verhaftet und über 14 Monate in Untersuchungshaft
gehalten. Ihre sechs Kinder mussten auf Verwandte
und Freunde aufgeteilt werden. Bis 1969 durfte sie Bozen nicht
verlassen, bis 1976 bestand gegen die Lehrerin ein Berufsverbot.
Erst als Jörg Klotz am 24. Jänner desselben Jahres verstarb, wurde
dieses aufgehoben.
Auch andere Frauen traf es schwer. Rosa Ebner war wegen
ihrer Kontakte zum Pusterer Heinrich Oberleiter 1963 ebenfalls für
14 Monate inhaftiert worden. 1966 wurde sie wegen „antinationaler
Tätigkeit im Ausland“ eingesperrt, weil sie vier Jahre vorher
in einem Leserbrief an „Die Presse“ die Folterungen angeprangert
hatte. Gretl Koch wurde 1965 eingesperrt, als in einer ihr gehörenden,
leerstehenden Wohnung der Attentäter Helmut Immervoll
bei einer Explosion ums Leben kam. Lina Steger, Schwester von
Siegfried Steger, wurde im März 1967 ein zweites Mal inhaftiert
und diesmal bis Juni 1970 in Haft gehalten. Maya Mayr, die an der
Häftlingshilfe mitwirkte, wurde 1967 verhaftet, nachdem die Attentäter
Hans-Jürg Humer und Karl Schafferer bei ihr am Ramlhof
in Bozen-Rentsch übernachtet hatten. Gewalt und Gegengewalt
schaukelten einander auf. Humer und Schafferer wurden schwer
gefoltert, ebenso der 1967 wegen der Sprengung des Alpini-Denkmals
(Kapuziner-Wastl) in Bruneck verhaftete David Oberhollenzer.
In einer neuen Anschlagserie von Oktober 1966 bis Frühling
207
1967 richteten sich mehrere Attentate gegen italienische Vereinslokale,
Kultureinrichtungen und Gaststätten, wie es sie seit dem
auch im BAS umstrittenen Anschlag auf die Ferrari-Bar in Tramin
1961 nicht mehr gegeben hatte.
Trotz der Kooperation in der Terrorbekämpfung kamen die in
Österreich gefassten Attentäter weiterhin nahezu ungeschoren
davon. Auch der dritte Grazer Prozess wurde gestoppt und an ein
Geschworenengericht weitergeleitet. Als das Verfahren am 31. Mai
1967 – auf dem Höhepunkt der Eskalation – in Linz wieder holt
wurde, endete es mit Freisprüchen für Norbert Burger, Peter Kienesberger
und weitere 14 Angeklagte. Nach der Urteilsverkündigung
wurde das Andreas-Hofer-Lied angestimmt. Trotz derart schwerer
Belastungen für die Beziehungen zwischen Österreich und
Italien gingen die Verhandlungen weiter, auf beiden Seiten waren
sich die Verantwortlichen wohl bewusst, dass es einer politischen
Lösung bedurfte, um den Konflikt zu entschärfen. Am 23. Juli 1967
schloss die Neunzehnerkommission endlich ihre Arbeit ab, aber die
Ergebnisse waren aus Sicht der SVP noch unbefriedigend. Silvius
Magnago versuchte – beargwöhnt von der internen Opposition –
in direkten Verhandlungen mit Aldo Moro weitere Verbesserungen
zu erzielen. Ein wertvoller Vermittler war ihm dabei der
Bozner DC-Politiker Alcide Berloffa, dessen wachsendes Verständnis
für die Südtiroler Anliegen zu einer guten Gesprächsbasis beitrug.
Am 12. Februar 1967 erhielt Magnago eine schriftliche Fassung
von Vorschlägen Aldo Moros für eine neue Südtirol-Autonomie, in
weiteren Verhandlungen bis 1969 wurde das Paket nach und nach
aufgebessert. Ebenso kam Moro dem Bedürfnis nach einer internationalen
Absicherung der Autonomie zumindest indirekt entgegen.
Die Paket-Maßnahmen sollten der österreichischen Botschaft
übergeben werden, damit der österreichische Nationalrat
ebenso wie das italienische Parlament darüber abstimmen konnten.
Trotzdem waren in der SVP die Zweifel am Paket und dessen
Absicherung groß. Mit Hans Dietl kam es zum endgültigen Bruch,
aber auch Peter Brugger und Alfons Benedikter stellten sich mit
großer Anhängerschaft klar gegen das von Magnago erreichte
Paket. Ganze Bezirke wie das Pustertal sprachen sich gegen das
208
Verhandlungsergebnis aus, im Bauernbund waren die Paketgegner
in der Mehrheit. Die früheren parteiinternen Allianzen hatten sich
verschoben, Magnago wurde nun von zahlreichen Exponenten
der ehemaligen „Gemäßigten“ gestützt, während viele der einstigen
„Scharfen“ von ihm abrückten. Friedl Volgger warb massiv
und einflussreich für Magnago, unter den ehemaligen Gegnern
der „Aufbau“-Bewegung profilierte sich Roland Riz an Magnagos
Seite. Toni Ebner dagegen, der 1961 mit Riz für eine politische
Mäßigung eingetreten war, unterstützte nun über die „Dolomiten“
unverhohlen den Paketgegner und Selbstbestimmungsbefürworter
Peter Brugger. Franz Widmann, der mit Hans Dietl 1957 die
Wende in der SVP-Politik eingeleitet hatte, zog sich aus der aktiven
Politik zurück, er wollte in so schwieriger Lage nicht Magnago
schwächen und Dietl nicht in den Rücken fallen.
Vermochte die österreichische Justiz auch nicht gegen die Attentäter
durchzugreifen, so versuchte sie nun, die letzten Aktiven
wenigstens von weiteren Anschlägen abzuhalten. Im Frühjahr 1967
wurden die Pusterer Sepp Forer und Heinrich Oberleiter verhaftet.
Ein entschiedenes Durchgreifen löste der Anschlag auf die Porzescharte
bei Obertilliach aus, einem Übergang von Osttirol in die italienische
Provinz Belluno. In der Nacht auf den 25. Juni 1967 war
auf der italienischen Seite der Scharte ein Strommast gesprengt
worden, um den herum Minen vergraben waren. Vier italienische
Soldaten starben bei der Untersuchung des Tatortes, ein fünfter
wurde schwer verletzt. Peter Kienesberger, Erhard Hartung und
der Bundeswehroffizier Egon Kufner hatten sich in der Nähe aufgehalten,
stellten das Attentat aber als Finte und Falle des Geheimdienstes
dar. Kufner hatte in einem ersten Verhör, laut Protokoll
unter Tränen der Reue, das Attentat gestanden.
Nach dem Anschlag auf die Porzescharte verschärfte Österreich
den Antiterrorkampf. Mit Beschluss vom 11. Juli 1967 entsandte
der Ministerrat Truppen des Bundesheeres (ohne Tiroler
Beteiligung) an die Grenze, den Soldaten wurde Schießbefehl erteilt.
Für Siegfried Steger war dies der Anlass, den Kampf einzustellen.
Aber noch im September 1967 kündigte eine Gruppe im Namen
des BAS einen „verschärften Kampf“ an. Am 30. September tötete
eine Kofferbombe am Bahnhof Trient zwei Beamte. Die Zahl der
209
Toten, die direkt oder indirekt durch Anschläge, Unfälle, Folter und
Gegenterror verschuldet wurden, wird auf 35 geschätzt.
Bei österreichisch-italienischen Geheimtreffen in London forderte
Italien ein Ende des Terrors, ansonsten könne es keine Paket-
Lösung geben. Als am 12. März 1968 die Pusterer Forer und Oberlechner
vom Geschworenengericht in Wien erneut freigesprochen
wurden, behalf sich das Innenministerium dadurch, dass es die beiden
trotz Freispruchs in Schubhaft nahm. Die italienischen Auslieferungsanträge
wurden zwar der Reihe nach abgelehnt, aber es
war eine Möglichkeit, die Attentäter für die letzte Verhandlungsphase
aus dem Verkehr zu ziehen. Die Prozesse wurden so lange
wie möglich hinausgeschoben, um weitere diplomatische Störfälle
zu vermeiden. Siegfried Steger und Heinrich Oberleiter konnten
sich nach Deutschland absetzen. Kienesberger, Hartung und Kufner
wurden – wie auch in Italien – in Österreich verurteilt, in der
Berufung 1971 aber freigesprochen. In der Zwischenzeit war das
Paket über die Bühne gegangen.
So hallten die Anschläge allmählich aus, während die politische
Debatte um die Annahme oder Ablehnung des Südtirol- Pakets
1969 alle Aufmerksamkeit auf sich zog. 1968 gab es vereinzelte Anschläge
im Stil der Feuernacht, der letzte aktenkundige An schlag
1969 traf am 4. Oktober die Bahnlinie bei Rabland. Für 22. November
stand auf der Landesversammlung der SVP die Entscheidung
über das Paket an. In zahlreichen Versammlungen in allen Tal- und
größeren Ortschaften traten Paketbefürworter und Paketgegner
gemeinsam auf, die Debatten wurden hart, aber auch äußerst ernsthaft
und sachbezogen geführt. Den Paketgegnern war Magnagos
Verhandlungsergebnis nicht weitreichend und nicht abgesichert
genug. Die Hauptsorge war, dass mit der Paketannahme die Südtiroler
Politik einmal mehr vertröstet würde und indirekt auf eine
weiter reichende Lösung bis hin zur Selbstbestimmung verzichte.
Für die Befürworter war das von Magnago mit Moro ausgehandelte
Maßnahmenpaket das Maximum des Erreichbaren, die De-facto-
Aushöhlung der Region und die Ausstattung der „Provinzautonomie“
mit weit mehr primären und sekundären Zuständigkeiten, als
dies im legendären Artikel 14 je vorgesehen war. Auch stelle das
Paket keinen Verzicht auf weitere Verbesserungen und auch nicht
210
Entscheidung auf Messers Schneide: Das Ja zum „Paket“ im SVP-Parteiorgan
„Volksbote“, mit dem legendären Händedruck zwischen Sieger Silvius
Magnago und Paketgegner Peter Brugger.
auf das Selbstbestimmungsrecht dar. Durch den „Operationskalender“,
der die Schritte der Paketdurchführung auch mit Einbeziehung
Österreichs bis hin zu einer Streitbeilegungserklärung vor
der UNO minutiös regelte, sei – anders als mit dem ersten Autonomiestatut
– die reale Durchführung und zumindest indirekt auch
eine internationale Verankerung gesichert.
Das Paket stand bis zuletzt auf des Messers Schneide. Im Oktober
stimmte der Parteiausschuss der SVP in einer dreitägigen Sitzung
dem Paket zu. Die endgültige Entscheidung blieb aber der
Landesversammlung vorbehalten. Das Ergebnis war nicht abzuschätzen,
weshalb die Stimmung im Meraner Kursaal aufs Äußerste
gespannt war. Für den Fall einer Niederlage wurde mit Magnagos
Rücktritt gerechnet. Mit Blick auf die zu erwartende knappe Entscheidung
setzte auch die italienische Regierung unter Aldo Moro
vertrauensbildende Zeichen. Für bereits entlassene Häftlinge, die
aufgrund der höchstrichterlichen Bestätigung höherer Strafen in
zweiter Instanz wieder ins Gefängnis hätten müssen, wurde stillschweigend
eine Begnadigung durch den Staatspräsidenten verfügt,
die Magnago erst auf der Landesversammlung bekannt gab.
211
Schon zu Weihnachten 1968 wurden vier der fünf noch inhaftierten
Pfunderer begnadigt, deren Verhaftung und Verurteilung 1955/1957
den Autonomiekampf entscheidend verschärft hatte. Unmittelbar
vor der Paketdebatte wurde mit Jörg Pircher der letzte Feuernacht-Attentäter
enthaftet.
Der knappe Sieg Magnagos in der Paketabstimmung vom 22. November
1969 gehört mittlerweile zu den mythischen Momenten der
jüngeren Südtiroler Geschichte: 583 Ja- gegen 492 Neinstimmen
bei 15 Enthaltungen. Das Ergebnis drückte die Zerrissenheit innerhalb
der Südtiroler Volkspartei aus. Der Handschlag zwischen dem
unterlegenen Brugger und dem knappen Sieger Magnago wurde
zum Symbol für einen gemeinsamen Neuanfang. Drei Tage nach
der Annahme des Paketes wurde am 25. November 1969 auch der
letzte Pfunderer Häftling begnadigt. Ein Jahr später begnadigte
Staatspräsident Giuseppe Saragat den letzten BAS-Chef Günther
Andergassen.
212
Brüche und Aufbrüche
Ansätze von Demokratisierung und Modernisierung –
Die Schubkräfte von Paketdiskussion und 68er-Bewegung –
Wirtschaftlicher Aufschwung
Zwischen Bomben und Paketstreit zeigten sich in Südtirol ab Mitte
der 60er Jahre vermeintlich gegenläufige Entwicklungen, die trotzdem
einander beflügelten. Ab 1965 erlebte Südtirol starke Modernisierungsschübe
durch den einsetzenden Fremdenverkehrsboom,
begleitet von einer nur skeptisch angegangenen Industrialisierung
und einer Professionalisierung des Handwerks auch auf dem Lande.
Bilder vom Land in Not, atemberaubend in Szene gesetzt durch
Bomben- und Revolverstorys in den großen deutschen Illustrierten,
förderten die Bekanntheit des Landes. Mit der Feuernacht von
1961 war der italienische Tourismus für einige Jahre stark eingebrochen.
Ab 1963 nahm er wieder zu, erreichte seine frühere Bedeutung
aber erst mit der friedlichen Konfliktlösung gegen Ende der
60er Jahre. Der Anteil deutscher Gäste stieg dagegen ab 1961 stark
an, zum einen aufgrund des „Wirtschaftswunders“ in der Bundesrepublik,
das die Deutschen reisefreudig und kaufkräftig machte,
zum anderen auch im Sinne einer Solidarität mit dem unterdrückten
Südtirol. Schließlich kamen beide Gästegruppen in Scharen.
Bis in die letzten Winkel des Landes und auf die letzten Höfe
kam mit den Urlaubern auch eine Konfrontation mit rasanten gesellschaftlichen
Veränderungen. Ortschaften, die bis Mitte der 60er
Jahre und länger nur mit dem Traktor erreichbar waren, wurden
durch neue Straßen erschlossen. 1964 wurde die Europabrücke
eröffnet, von Bauabschnitt zu Bauabschnitt verkürzte die Brennerautobahn
die Fahrzeiten von Deutschland und Österreich in den
Süden. 1974 war die Brennerautobahn von Modena herauf durchgehend
befahrbar.
Ein Indiz für den wirtschaftlichen Aufschwung war der sprunghafte
Anstieg von Autokäufen. 1956 waren in Südtirol noch keine
8000 gemeldet, 1967 waren es schon fast 60.000, fünf Jahre später
85.971. Der beginnende Wohlstand veränderte das Konsumverhal-
213
Zeiten im Umbruch – das wirtschaftlich rückständige Land wird von
Wirtschaftsaufschwung, Tourismus und Modernisierung erreicht.
ten, brach in eine Welt gefestigter kultureller Werte ein, verfremdete
Traditionen, ließ Brauchtum zur Folklore werden. Für den
Attentäter Luis Amplatz war es etwa ein beklemmendes Erlebnis,
als 1964 „seine“ Grieser Musikkapelle in Wien aufspielte und nur
wenige Musikanten ihm die Hand gaben. Für die meisten spielte
sein „Freiheitskampf“ schon keine Rolle mehr. Silvius Magnago
sorgte sich in dieser Zeit, ob die Südtiroler wohl noch lange genug
die Kraft haben würden, für eine politische Lösung zu kämpfen.
Der D-Mark-Tourismus bewirkte zwar einerseits eine Hinwendung
Südtirols zum deutschen Sprachraum, verschob aber auch
die emotionalen Beziehungslinien von Innsbruck und Wien Richtung
Bayern und BRD.
Zugleich führte die Auseinandersetzung um das Paket zu einer
Fokussierung vieler politischer Kräfte auf das neue, entstehende
Südtirol. An die Stelle der Forderungen nach Wiedervereinigung
mit Tirol und der Rückkehr zu Österreich trat eine Detaildiskussion
um die künftige Ausstattung und Absicherung der Südtirol-
Autonomie, die den Blick der politisch Verantwortlichen stärker
nach innen richtete und eine Südtiroler Identität zu bilden begann.
Zaungäste dieser Entwicklung waren die in Südtirol lebenden Ita-
214
liener. Sie verließen sich stark auf den staatlichen Schutz, verfolgten
kaum – oder höchstens fallweise von nationalistischen Parteien
mobilisiert – die politische Entwicklung. Wurde das Paket in der
Verhandlungsphase innerhalb der Südtiroler Volkspartei an der
politischen Position vorbeimanövriert, traf dies für die italienische
Bevölkerung umso mehr zu. Während die SVP-Basis wenigstens
im Endspurt auf die Abstimmung 1969 hin breitest eingebunden
und informiert wurde, blieb die Autonomiepolitik auf italienischer
Seite Sache der Regierung und ihrer Parteizentralen.
In der politischen Landschaft Österreichs schlug die Auseinandersetzung
innerhalb der SVP voll durch. Das ungeschriebene
Gebot der Einheit aller Parteien in der Südtirol-Frage war, zumindest
vorübergehend, außer Kraft gesetzt: Im Nationalrat stimmte
nur die ÖVP für die ausgehandelte Paket-Lösung. FPÖ und SPÖ
verweigerten dem Paket – wegen der mangelnden Absicherung
und Ausstattung – ihre Stimmen. So wurde das Ergebnis jahrelanger
Verhandlungen am 16. Dezember 1969 nach elfstündiger
Debatte mit 83 gegen 79 Stimmen freudlos zur Kenntnis genommen.
Dagegen hatte die italienische Abgeordnetenkammer das
Paket am 4. Dezember 1969 mit deutlich höherer Mehrheit angenommen:
269 Ja, 26 Nein, 88 weiß. Im Senat gab es am darauf
folgenden Tag in etwa dieselbe Mehrheit. Dafür stimmten neben
der SVP die DC, die Republikaner, Sozialdemokraten und Sozialisten,
dagegen waren lediglich die Neofaschisten und die Monarchisten.
Die Kommunisten, die Linksproletarier und die Liberalen
enthielten sich der Stimme. Bei der getrennten Abstimmung über
das Autonomiestatut als wesentlichen Teil des Paketes stimmten
auch die Linksproletarier und Kommunisten dafür, um die für ein
Verfassungsgesetz nötige hohe Mehrheit zu sichern. Als Gesetz im
Verfassungsrang war das „Statut“ damit gegen künftige rechtliche
und politische Anfechtungen auf eine juridisch robuste Weise abgesichert.
Möglich war dies durch Bezug auf Artikel 6 der italienischen
Verfassung, laut dem die Republik Italien die sprachlichen
Minderheiten schützt. Weitere Maßnahmen wurden nach und
nach mit einfachen Gesetzen oder Sonderdekreten erlassen. Die
Durchführung im Detail, die ursprünglich innerhalb von vier Jahren
geplant war, zog sich dann in Form von teils mühsam ausge-
215
handelten „Durchführungsbestimmungen“ noch zwei Jahrzehnte
hin.
Bis auf die harte Gegnerschaft der Neofaschisten wurde die
italienische Bevölkerung kaum mit dem Paket befasst. Im Vordergrund
für die meisten italienischen Parteien stand weniger die
Interessenlage in Südtirol, sondern die Beendigung eines internationalen
Konflikts als Staatsfrage. Dies sollte sich als Hypothek
herausstellen, als die Paketmaßnahmen konkret umgesetzt
wurden und die italienische Bevölkerung völlig unvorbereitet
trafen.
Innerhalb der SVP dagegen hatte sich die Debatte zwischen
Paketbefürwortern und Paketgegnern über Jahre hingezogen und
damit auch eine Kultur offener Auseinandersetzung belebt, die
bis dahin fast ausschließlich auf die Parteigremien beschränkt
gewesen war. Auch die Kraftprobe um den „Aufbau“ wirkte nach.
Beide Gruppen überlegten ab Ende 1961 immer wieder die Gründung
eigener Parteien. 1963 versuchte der SVP-Mitbegründer und
Senator Josef Raffeiner den Ausbruch mit der „Tiroler Heimatpartei“,
gestützt von den maßgeblichen Kräften der ehemaligen „Aufbau“-Bewegung
und den „Dolomiten“. Die SVP konnte dem Angriff
standhalten, Raffeiner scheiterte, seine Unterstützer zogen sich
zurück und blieben in der Volkspartei. Der offene Konflikt mit den
„Dolomiten“ ließ die Gruppe um Magnago an alternative Sprachrohre
denken. Einer der treibenden Kräfte war dabei Hans Dietl.
Dieser hatte schon 1960 mit der „Realtà Sudtirolese“ ein italienisches
Medium gegründet, um damit die italienische Bevölkerung
zu erreichen. Die Initiative scheiterte nach einem Jahr. Gestützt
von Magnago, gründete Dietl 1963 die „Südtiroler Nachrichten“.
Sie erschienen alle 14 Tage, sollten aber mit der Zeit zum Wochenblatt
ausgebaut werden.
Für den Fall, dass die von Wirtschafts- und Bürgerkreisen getragene
„Aufbau“-Richtung überhandnehmen würde, besprach Dietl
mit Innsbrucker und Wiener SPÖ-Politikern ab 1963 die Gründung
einer sozialdemokratischen Partei in Südtirol. Die lange vom
Autonomiekampf verdrängte soziale Frage bot sich geradezu an.
Als Zwischenschritte wurden – mit deutschsprachigen Funktionären
vor allem des Gewerkschaftsbundes CISL – der Autonome
216
Links: Das Pochen auf die Einheit als politische Konstante: SVP-Wahlplakate
von 1963. Rechts: Hans Dietl – vom Vorkämpfer für das „Los von Trient“ zum
Dissidenten.
Südtiroler Gewerkschaftsbund und ein Soziales Forum innerhalb
der SVP gegründet.
Eine Rolle dabei spielte auch das Zerwürfnis Magnagos mit
Kreisky, nachdem die SVP das Kreisky-Saragat-Paket zunächst
kritisch geprüft und schließlich abgelehnt hatte. Kreisky verzieh
diese Entscheidung lange nicht, ärgerlich äußerte er sich über
die „Bozner Pfeffersäcke“. 1964 bestand er in einem Schreiben an
Magnago darauf, dass die SVP die für links gehaltenen Kandidaten
Egmont Jenny und Anton Stockner auf die Liste nehme, da er
ansonsten die Gründung einer sozialdemokratischen Partei fördern
würde. Der aus Wien nach Südtirol zurückgekehrte Arzt und
Publizist Jenny hatte, wie auch Hans Benedikter nach seinem Studium
in Österreich, an den „Südtiroler Nachrichten“ mitgearbeitet.
Jenny kam tatsächlich auf der SVP-Liste in den Landtag, aber
schon 1966 wurde er aus der Sammelpartei ausgeschlossen. 1968
trat er sowohl zu den Parlaments-, als auch zu den Landtagswahlen
mit der neugegründeten Sozialen Fortschrittspartei (SFP) an.
Mit nur rund 5000 Stimmen verfehlte die „Jenny-Liste“ das Ziel
eines sozialdemokratischen Aufbruchs in Südtirol. Trotzdem gab
217
sie dem allmählich wachsenden Bedürfnis nach Parteienvielfalt
und Pluralismus Ausdruck. Der urban geprägte Jenny fand auch
in Tal- und Ortschaften zunächst begeisterte Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter.
Mit dem Bruch zwischen Hans Dietl und der SVP schien ein
politisches Potential ganz anderer Dimension freizuwerden. Dietl
weigerte sich strikt, im Parlament für das Verfassungsgesetz zu
stimmen, mit dem das von ihm abgelehnte Südtirol-Paket juridische
Form erhalten sollte. Anders als Brugger war er auch nicht zur
Stimmenthaltung oder taktischen Abwesenheit bereit. So wurde
er am 5. November 1971 vom SVP-Schiedsgericht aus der Partei
ausgeschlossen.
Dietl genoss hohes Ansehen in Südtirol, er wurde zum Bezugspunkt
für die volkstumspolitische Opposition und für die Anhängerschaft
Jennys gleichermaßen. Bei den Parlamentswahlen 1971
erreichte er im Senatswahlkreis Ost mit 20.000 Stimmen die Dominanz
der SVP. Zwar verfehlte Dietls „Wahlverband der Unabhängigen“
ein Mandat, aber er nahm der SVP in ihrem stärksten Wahlbezirk
über 20 Prozent an Stimmen ab. Einen Versuch, ihn in die
SVP zurückzuholen, wies Dietl zurück. 1972 gründete er die Sozialdemokratische
Partei Südtirols (SPS).
Mit einer „roten“ Partei konnten viele Dietl-Anhänger nichts
anfangen. Ein Teil sprang ab und gründete die Partei der Unabhängigen
(PDU). Auch die von Dietl ins Auge gefasste Übernahme der
SFP scheiterte trotz der vielen Sympathien, die Dietl an der Jenny-
Basis genoss. Die Tiroler und Wiener SPÖ scheuten davor zurück,
Jenny als bisherigem Vertrauensmann Kreiskys die Unterstützung
zugunsten von Dietl zu entziehen. So war der oppositionelle Aufbruch
von Anfang an durch Zersplitterung der Kräfte geschwächt.
Dietls SPS wurde bei den Landtagswahlen 1973 mit 12.000 Stimmen
stärkste deutschsprachige Oppositionspartei, Jenny sank auf
4000 Stimmen ab, konnte aber ein Mandat halten, die PDU ging
mit 2600 Stimmen leer aus. Der Bruderzwist raubte den kleinen
Parteien Kraft und Glaubwürdigkeit, Dietl wurde in der SPS massiv
unter Druck gesetzt. Von Krankheit und Enttäuschung gezeichnet,
verzichtete er 1975 auf sein Mandat, 1977 verstarb er. Jennys
SFP verschwand schon bei den nächsten Wahlen von der Bild-
218
fläche, die SPS bei der übernächsten Wahl. Die PDU konnte sich
als Einmann-Partei noch etwas länger halten, zunächst mit Hans
Lunger, dann mit Gerold Meraner, der die PDU für die Landtagswahlen
1988 in die Freiheitliche Partei Südtirols (FPS) umwandelte,
die 1993 in die „Union für Südtirol“ einging.
Die oppositionellen Anläufe von außen gegen die Bastion SVP
bewirkten innerhalb der Partei zaghafte demokratische Öffnungen.
Für die ehemaligen Paketgegner trat 1971 mit Peter Brugger
erstmals ein zweiter Kandidat für das Amt des Parteiobmannes
an, Magnago konnte sich nur mit 55 gegen 45 Prozent behaupten.
Vier Jahre später versuchte es Brugger erneut, gab aber nach
den enttäuschenden Vorwahlen, die Magnago wieder fest im Sattel
zeigten, vorzeitig auf. Er handelte sich aber eine dauerhafte
Statutenänderung zur Stärkung der internen Opposition heraus,
das sogenannte „Drittelwahlsystem“. Dadurch dass bei internen
Wahlen immer nur mehr ein Drittel der zu Wählenden angekreuzt
werden durfte, war es für die Zukunft weitgehend ausgeschlossen,
dass eine Mehrheit bei internen Wahlen alle Positionen besetzen
konnte. Parteiinternen Minderheiten war auf diese Weise eine gute
Vertretung garantiert. Auf diese Weise sicherte die SVP, so zerrissen
sie in Folge der politischen Richtungskämpfe auch wirken
mochte, ihren Sammelparteicharakter noch auf Jahrzehnte hin ab.
Die Sorge vor einem Wegbrechen der Wählerschaft am linken
Rand führte 1975 zur Gründung der „Arbeitnehmer in der SVP“,
die sich 1981 als „Landessozialausschuss“ konstituierten. 1967 hatte
die SVP, nach dem langen Clinch mit der Kirche, mit Erich Spitaler
erstmals auch einen „Jugendreferenten“ ernannt, binnen kürzester
Zeit wurden über 100 Ortsgruppen gegründet. 1970 wurde die
SVP-Jugend gegründet. Erster gewählter Landesjugendreferent
wurde der ehemalige Dietl- und Jenny-Mitarbeiter Hans Benedikter,
erster Landesjugendsekretär Oskar Peterlini.
Außerhalb der Partei wuchsen jugendliche Protestgruppen
neuer Art heran. Innerhalb der Südtiroler Studentenschaft begannen,
dem europäischen Trend zeitlich gar nicht so sehr hinterherhinkend,
Kritik und Gegenkultur zu fermentieren. Bis Mitte
der 60er Jahre stand die Südtiroler Hochschülerschaft, mit wenigen
Ausnahmemomenten, im Dienst von Traditionswahrung und
219
kultureller Abwehrhaltung gegenüber Italianisierungs- und Entfremdungstendenzen.
Noch 1966/1967 lehnte die SH unter ihren
Vorsitzenden Luis Durnwalder und Heinz Zanon jede Diskussion
über eine Universität in Südtirol strikt ab. Nach einer internen
Krise übernahmen Erneuerer die Leitung der Hochschülerschaft,
zunächst Joachim Bonell, dann Otto Saurer. Der Wechsel von der
konservativen Durnwalder-Ära zur fortschrittlicheren Saurer-Ära,
der eine später Landeshauptmann, der andere dessen Stellvertreter,
symbolisierte innerhalb der SH und der Südtiroler Jugend einen
Stimmungswechsel. Auch da war die Paketdebatte von mobilisierender
Wirkung gewesen: Luis Durnwalder gehörte der patriotischen
Paket-Opposition um Peter Brugger an, Otto Saurer stand
Dietl und dessen sozialdemokratischem Aufbruch nahe.
Abseits der Zerreißprobe um das Paket zeigten sich in der Südtiroler
Gesellschaft tiefere Brüche und radikalere Ausbrüche. Die
lange notgedrungen defensiv ausgerichtete Volkstumspolitik entsprach
nicht mehr den Bedürfnissen nach Anschluss an europäische
Entwicklungen, an Öffnung gegenüber Italien, an Auseinandersetzung
mit Zeitströmungen und Ideologien. 1967 verteilte eine
Gruppe von rund 50 Jugendlichen anlässlich der feierlichen Eröffnung
des „Waltherhauses“ in Bozen Flugzettel mit der Forderung
nach kultureller und auch ethnischer Öffnung. Das mit österreichischen
Kulturbeiträgen gestiftete Haus der Kultur „Walther von der
Vogelweide“ galt den Demonstranten bereits bei der Eröffnung als
vermiefter konservativer Kulturtempel, dem neue Initiativen entgegengestellt
werden müssten. Die SH-Aktivisten Siegfried Stuffer
und Josef Schmid gründeten zusammen mit dem 20-jährigen
Studenten Alexander Langer die Zeitschrift „die brücke“. Sie sollte
eine „Brücke“ für kulturelle Einflüsse und ethnische Begegnungen
sein. Neben der Herausgabe der Zeitschrift stellte die Gruppe mit
ungewohnter Provokationskraft und wachsender Anhängerschaft
die dominierende Leitkultur in Frage. Sie störte SVP-Kundgebungen
und Theateraufführungen, forderte die Schützen zur Rechtfertigung
ihrer Existenz auf, stellte das Monopol von Athesia und „Dolomiten“
in Frage. In Anlehnung an die Kampagne gegen den Springer-Verlag
in Deutschland wurde in Bozen „Enteignet die Ebner-Presse“
plakatiert. Die seit der SVP-Gründung 1945 im Autonomiekampf
220
verinnerlichte „Geschlossenheit“ von Volk, Partei, Zeitung wurde
von den „brücke“-Leuten nicht mehr als Notwendigkeit für das
Überleben der Südtiroler empfunden, sondern als Einheitszwang.
Für die italienische Bevölkerung stand die hart geführte Auseinandersetzung
zwischen Kräften einer neuen nationalen Ordnung
und den linken Bewegungen im Vordergrund der politischen
Wahrnehmung, wiederholt wurde Italien von Blutbädern und politischen
Morden erschüttert, später wurden auch rechtsextreme
Putschversuche und Geheimdienstintrigen bekannt. Auch in Südtirol
kam es 1968 zwischen linken Demonstranten und italienischen
Neofaschisten wiederholt zu Zusammenstößen. Der MSI
arbeitete emsig daran, eine starke Jugendbewegung in Südtirol
aufzubauen. Bei Zeltlagern, deren Betreuer – wie sich später herausstellen
sollte – zum Teil mit Geheimdiensten wie Gladio in
Verbindung standen, wurde die neofaschistische Jugend ideologisch
geschult. Die Feiern am 4. November 1968 zum 50. Jahrestag
des Kriegsendes 1918 – als Tag des italienischen Einmarsches in
Südtirol gleich beschworen wie umstritten – endeten in Raufereien.
Linke Studenten provozierten die Faschisten mit einem „Sit-in“
gegen Faschismus und für Demokratie. Unter den linken Demonstranten
fühlten sich erstmals deutsche und italienische Südtiroler
verbunden. Neben Alexander Langer, der aus fundamentalchristlichen
Jugendvisionen zur Linken gefunden hatte und sich
früh als Führungspersönlichkeit profilierte, waren auch weitere
Exponenten der zukünftigen linksalternativen Opposition dabei,
so Lidia Menapace, Gianni Lanzinger, Edi Rabini und Arnold Tribus.
Symbolträgerin für ein neues Selbstverständnis junger Südtiroler,
die sich über alle Grenzen hinweg fanden, war die Pazifistin
Irmtraud Mair, die mit Gitarre und grob gestrickter Sarner
Jacke für Frieden und Gerechtigkeit nicht nur in Südtirol, sondern
auch in der Welt auftrat.
Eine Südtiroler Universität war für die SH nicht mehr länger ein
Feindbild, sondern notwendiger Forschungs- und Diskussionspool
für gesellschaftliche Veränderung. An der Universitätsdiskussion
zeigte sich zugleich die Schwierigkeit der Südtiroler Politik, die
lange eingeübte Abwehrhaltung aufgrund neuer Entwicklungen
zu lockern. Lange Zeit waren die Universitätspläne italienischer
221
Wut-Literatur und Woodstock-Stimmung als Vorboten einer neuen Zeit:
Irmtraud Mair mit Liedern für Frieden und Gerechtigkeit, Norbert C. Kaser
als literarische Ikone des Aufbegehrens.
Regierungen und Hochschulinstitute ja tatsächlich vom Geist einer
„kulturellen Kolonisation“ getragen. Entsprechend argwöhnisch
stand die SVP Initiativen wie den Sommerkursen der Universität
Padua in Brixen gegenüber. Es wurde befürchtet, dass eine Universität
gleich einem „trojanischen Pferd“ zur intellektuellen Unterwanderung
Südtirols beitragen könnte und in Anspielung auf die
faschistischen Industrieansiedlungen der 30er Jahre zur „geistigen
Industriezone“ würde.
Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre kam für die etablierte
Südtiroler Politik die Sorge hinzu, die Universität könnte zur Brutstätte
kommunistischer und linksalternativer Ideen werden. Anstoß
dafür war die Universität in Trient, die 1962 als Institut für Sozialwissenschaften
(„Istituto superiore di Scienze Sociali“) gegründet
und 1972 zur Universität mit einer einzigen Fakultät (für Soziologie)
umgewandelt wurde. Den jungen Revoluzzern galt sie als
Hoffnung. „Dolomiten“ und SVP dagegen sorgten sich vor einem
Übergreifen der Studentenunruhen auf Südtirol. In Trient hatten
der Gründer der Roten Brigaden Renato Curcio und seine 1975
erschossene Lebensgefährtin Mara Cagol studiert.
222
Was in Trient die Universität war, wurden in Bozen die Oberschulen.
Die Schüler waren politisch motivierbar, es fanden Sitzstreiks
und Protestmärsche statt. Nationale und internationale
Themen vermischten sich mit Südtiroler Belangen und Konflikten.
1968 protestierten Oberschüler anlässlich eines Besuchs von
Unterrichtsminister Luigi Gui vor dem Bozner Rathaus gegen die
immer wieder verschobene italienische Schulreform, der Minister
verließ das Rathaus durch die Hintertür. 1969 wurde die Weihnachtsfeier
an der Handelsoberschule gestört.
Gegen Ende des Schuljahres 1970/71 kam es am Humanistischen
Gymnasium in Bozen zur Konfrontation zwischen Schülern und
Schulleitung. Direktor der Schule war Oswald Sailer, ein Ver treter
der Kriegsgeneration, junger Philosophielehrer war Alexander
Langer, der die Schüler begeisterte und den Argwohn des Direktors
erregte. Als zwei Schüler, denen neben schlechten Deutschkenntnissen
auch ihre klassenkämpferischen Parolen vorgeworfen
wurden, nicht zur Maturaprüfung zugelassen wurden, kam es zur
offenen Studentenrevolte. Vor der Schule wurden Zelte errichtet,
Mitschüler traten in den Hungerstreik. Die Nichtzulassung zur
Matura wurde vom Unterrichtsministerium wegen eines Formfehlers
annulliert. Als aber unter sechs durchgefallenen Maturanten
auch jene zwei waren, die ursprünglich ausgeschlossen worden
waren, wurde der Schülerstreik fortgesetzt. Die linken Studenten
wurden dabei immer wieder von neofaschistischen Demonstranten
provoziert, schließlich gab es sogar einen Bombenanschlag auf
das Sit-in. Zu Beginn des neuen Schuljahres bestreikten Schüler
den Griechischunterricht des Lehrers Emil Sepp, der darauf den
Unterricht in dieser Klasse einstellte. Langer wurde nach Meran
versetzt. Die Schülerproteste in Südtirol hatten Beachtung in ganz
Italien gefunden. Langer, der zuvor in Florenz und Trient studiert
hatte, ging nach Rom und wurde zu einer der Leitfiguren der außerparlamentarischen
Bewegung „Lotta Continua“.
Einen schrillen Ton gegen die herrschende Kultur schlug bei
der 13. Studientagung der Südtiroler Hochschülerschaft im August
1969 in Brixen der Dichter Nobert C. Kaser an. In einer Kampfrede
gegen die literarische (und implizit auch politische) Vätergeneration
forderte er wörtlich dazu auf, den Tiroler Gigger zu rupfen und
223
die heiligen Kühe der Landeskultur zu schlachten. Die „Brixner
Rede“ wirkte ansteckend, sie war Impuls und Ermutigung für
Gleichgesinnte. So wurde das lange zahm gebliebene SH-Organ
„Skolast“ von Hans Wielander aus Schlanders mit Unterstützung
des Vinschger Künstlers Luis Stefan Stecher umgestaltet und zu
einem Forum kritischer Meinungen und experimenteller Literatur
ausgebaut. Die Schriftsteller Herbert Rosendorfer und Joseph
Zoderer publizierten darin frühe Texte. Später gründete Wielander
mit Roland Kristanell, Norbert Florineth (einem Weggefährten
Dietls), Michael Höllrigl, Volker Oberegger und Markus Vallazza
die Kulturzeitschrift „Arunda“, die vor allem mit ihren Monographien
bestach. Ein wichtiger „Arunda“-Autor war Kristian Sotriffer.
Glanzlichter der „Arunda“ waren Schriften über Franz Tumler,
Peter Fellin und Anton Frühauf. Fast von Anfang an arbeitete auch
Gianni Bodini mit, der mit Wielander zum Faktotum der „Arunda“
wurde. Als Sohn italienischer Zuwanderer, der sich im Vinschgau
beheimatet fühlte, und an einer deutschen Kulturzeitschrift mitarbeitete,
war er unausgesprochen so etwas wie der Prototyp eines
italienischen Südtirolers.
Ein zaghafter Kulturfrühling und politische Agitation überschlugen
sich, fanden zusammen oder stießen sich wieder ab.
Feind bilder der jungen Wilden waren der in Innsbruck lehrende,
in Südtirol vielfach als „Kulturpapst“ auftretende Eugen Thurnher,
Kulturlandesrat Anton Zelger, die „Dolomiten“ und ihr Kommentator
Josef Rampold, der seinerseits keine Gelegenheit ausließ,
gegen die „Revoluzzer“ und „Chaoten“ mit spitzer Feder zu Felde
zu ziehen. Nur wenige aus der Vätergeneration ließ man als Vorbilder
gelten. Neben Fellin und Tumler, dessen zeitweilige Nähe
zur NS-Kulturpolitik erst später problematisiert wurde, waren
dies vor allem die Künstler Karl Plattner und Willy Valier, aber
auch der Historiker und Journalist Claus Gatterer.
Ein wichtiges Forum bot der jungen Literatur die in Innsbruck
erscheinende Kulturzeitschrift „Das Fenster“, die vom ehemaligen
Widerstandskämpfer, Fotografen, Autor und Attentäter Wolfgang
Pfaundler herausgegeben wurde. Beraten wurde Pfaundler
von seinem Freund Paul Flora, der mit seinen Karikaturen in der
Wochenzeitung „Die Zeit“ das tradierte Bild vom aufrechten und
224
ewig kampfbereiten Tiroler ironisierte. Wenn auch von vielen belächelt,
zugleich doch geliebt war der Priester Alfred Gruber – ein
kirchlicher Patron freier künstlerischer und literarischer Äußerung.
Mit der Gründung des „Kreises für Literatur“ im Südtiroler
Künstlerbund versuchte er, das bunte Spektrum zu vereinen. Die
Gründung der alternativen „Südtiroler Autorenvereinigung“ 1981
als Gegenpol kränkte ihn zwar persönlich, seine offene Haltung
allen Künstlern und Literaten gegenüber bewahrte er sich aber.
Die meisten Initiativen liefen im „Südtiroler Kulturzentrum“
zusammen, das 1975 gegründet wurde und sich als Gegenkraft
zum „Kulturinstitut“ begriff. Mit einer künstlerischen Plakataktion,
maßgeblich von Christian Pardeller und Dominikus Andergassen
mit Kleister und Farbtopf durchgeführt, wurde die Haltung
der SVP zu Universitätsplänen angeprangert und ironisiert.
Die SVP hielt an ihrem Nein auch fest, als sich neue Perspektiven
eröffneten. So machte der Trientner Rektor Paolo Prodi 1974
das Angebot einer Universitätskooperation zwischen Trient und
Bozen zu fairen Bedingungen. Die SH griff die Idee unter ihrem
Vorsitzenden Sepp Kußtatscher begeistert auf, doch die SVP lehnte
die Vorschläge ab. Fast 20 Jahre später forderte Kußtatscher als
SVP-Arbeitnehmerabgeordneter im Landtag erneut ein Nachdenken
über eine Südtiroler Universität. Luis Durnwalder wies das
Ansinnen heftig zurück, befasste sich aber in den folgenden Jahren
intensiv mit den Möglichkeiten einer Universitätsgründung. 1997
nutzte er unter der Ministerpräsidentschaft von Romano Prodi, dem
Bruder des seinerzeitigen Trientner Rektors und selbst Dozent in
Trient, die politisch und juridisch günstige Lage für die Gründung
der Freien Universität Bozen.
In den 70er und 80er Jahren boten Landespolitik und vorherrschende
Kultur den alternativen Gruppen reichlich Angriffsfläche.
Mit einer Theatergruppe brachte das Kulturzentrum Tiroler
Gegenthemen auf die Bühne, so „Tyrol 1525 – Szenen aus dem
Bauernkrieg“, Brecht-Stücke, „Sonnwendtag“ von Karl Schönherr,
„Mensch Meier“ von Franz Xaver Kroetz. Das Stück „Was heißt hier
Liebe?“, das mit einer angedeuteten Koitusszene auch in Innsbruck
für einen Skandal sorgte, wurde nach einer Aufführung 1980 in
Lana von Kulturlandesrat Anton Zelger zur Anzeige gebracht, in
225
der Folge wurde die Aufführung verhindert. Proteste löste auch
eine Neuauflage des zweibändigen Biologiebuchs „Lebendige Welt“
des Westermann-Verlages aus, das an Südtirols Mittelschulen verwendet
wurde. Da in der Neuauflage des Buches ein nacktes Ehepaar
und eine Geburtsszene abgebildet waren, wurden diese Seiten
an vielen Schulen herausgeschnitten. Schließlich bestellte Schulamtsleiter
David Kofler eine bearbeitete Ausgabe für Südtirol, in
der die zehn betreffenden Seiten in Band 1 und die 15 Seiten in
Band 2 gar nicht mehr vorhanden waren. Im Inhaltsverzeichnis
wurden die entsprechenden Hinweise überklebt.
Starke Impulse für eine Kultur, die sich als politischer Gegenentwurf
begriff, kamen von den Meranern Jakob De Chirico, Franz
Pichler und Matthias Schönweger, die mit künstlerischen Performances
und poetischer Provokation auftraten. Die vielseitigen Töne
und Akzente aus der Kunst-, Literatur- und Kulturwelt veränderten
zwangsläufig auch die politische Soundkulisse des Landes. Was da
kreuz und quer inszeniert, plakatiert, publiziert wurde, ließ sich mit
Kulturverboten und medialer Ächtung auf Dauer nicht aufhalten.
Vom Kulturzentrum ging 1977 auch die Gründung des Filmforums
Bozen als Vorläufer des Filmclubs aus. Als Programmkino
setzte es dem (lange vorwiegend italienischsprachigen oder aber
äußerst seichten deutschsprachigen) Kommerzkino eine für Südtirol
neue Kinokultur entgegen, etwa mit Streifen von Rainer Werner
Fassbinder und Werner Herzog. Die 1964 von Ennio Casciaro
eröffnete „Galleria Goethe Galerie“ wurde zu einem Bezugspunkt
für Künstler beider Sprachgruppen, so für Karl Plattner, Josef Kienlechner,
Peter Fellin, Mario Dall’Aglio, Gina Javorski. Mit dem Teatro
Stabile verfügte die italienische Sprachgruppe in Bozen über
ein weltoffenes und politisch engagiertes Theater. Die italienische
Kulturpolitik zeigte weniger Verklemmung als die deutsche. So
wurde 1971 und auch in späteren Jahren immer wieder der Provokationskünstler
Dario Fò in die Messehalle nach Bozen eingeladen.
Die Besetzung des aufgelassenen Gebäudes für die Verwaltung
der Staatsmonopole durch Jugendliche im Oktober 1979 in der
Bozner Dantestraße sorgte einen Monat lang für eine bewegte Szenerie.
Zwar wies die Bozner Gemeindeverwaltung die Forderung
nach einem freien Jugendzentrum zurück und ließ das Gebäude
226
Neue Medien für neue Botschaften: „die brücke“, in der auch Alexander
Langer ein frühes Betätigungsfeld fand, und der „Skolast“, von Hans
Wielander und Luis Stefan Stecher inhaltlich umgekrempelt und mit
neuem Design versehen.
am 5. November abreißen. Die Hausbesetzung aber brachte viele
Jugendliche beider Sprachgruppen einander näher und ließ den
Wunsch nach Eigengestaltung und sozialem Freiraum aufblitzen.
Zu den Initiativen der italienischen Kulturszene gab es von den
deutschsprachigen alternativen Gruppen kaum mehr Berührungsängste.
In breiten Bevölkerungskreisen wurde dies noch anders
empfunden. Südtiroler Familien empfanden es in den 70er Jahren
häufig noch als Schmach, wenn ihre Töchter oder Söhne italienische
Partnerschaften knüpften. Auch in der Schulpolitik waren
Austausch und Gemeinsamkeit noch nicht erwünscht. Anton Zelger
lehnte Schüleraustauschprojekte bei einer Landtagsdebatte am
20. März 1979 mit einer legendär gewordenen Erklärung ab: „Ich
kenne keine Südtiroler Kultur, sondern nur eine deutsche, italienische
und ladinische Kultur in Südtirol. Viele Menschen sprechen
zwar viele Sprachen, kulturell leben tut man aber nur in einer
Kultur. […] Je klarer wir trennen, desto besser verstehen wir uns.
Wenn das jemand Apartheid nennen will, habe ich nichts dagegen.“
227
Die neue Leichtigkeit
des Südtiroler-Seins
Identitätsbildung durch Autonomie und Sport –
Gesellschaftliche Reibungen und Auflösungs erscheinungen
Die Welt war in Bewegung geraten und Südtirol bewegte sich
mit, politisch noch vereinnahmt vom Autonomiekampf und dem
Abgrenzungsbedürfnis einer Minderheit, zugleich mitgerissen von
den gesellschaftlichen Entwicklungen. 1961 war die Antibabypille
aus den USA nach Europa gekommen, Mitte der 60er Jahre meldete
sich auch in Südtirol verstärkt die italienische Frauenbewegung
zu Wort. Wenn sich diese mit ihren Forderungen zu Ehescheidung
und Abtreibung auch weitgehend auf das linke Lager beschränkte,
griff das Bedürfnis nach freierer Lebensgestaltung und gesellschaftlicher
Emanzipation doch auf die gesamte Frauenwelt über.
Die Südtiroler Kirche tat sich mit den veränderten Lebensstilen
schwer, verstärkte aber – auch im Sinne der von Papst Johannes
XXIII. eingeleiteten Erneuerung – ihren gesellschaftlichen
und sozialen Einsatz im vorpolitischen Raum. In der italienischen
Bevölkerung hatte die kirchliche Sozialbewegung Acli (Associazione
cristiane lavoratori italiani) bereits einen guten Stand. Nach
dem Vorbild der Acli war schon 1948 der Katholische Verband der
Werktätigen gegründet worden, um auch der deutschsprachigen
Bevölkerung ein Patronat anzubieten, mittlerweile arbeiten die
beiden Verbände im Patronatswesen zusammen. Auf deutscher
Seite wurde 1967 der Katholische Familienverband Südtirols (KFS)
gegründet, 1978 folgte die Südtiroler Katholische Jugend (SKJ).
Manche Dorfpriester stellten für offene Jugendgruppen Räume
zur Verfügung, in denen sie sich auch außerhalb von Ministrantengruppen
und Jungschar bewegen konnten.
Die wachsende Mittelschicht entzog sich freilich zunehmend
dem Einfluss der Kirche. Sonntagsausflüge mit dem neu erworbenen
Auto traten in Konkurrenz zum Sonntagsgottesdienst. Moralische
Tabus wie vor- und außereheliche Sexualität, Ehescheidung,
228
Aufhebung des Zölibats, Abtreibung zerbrachen an den erweiterten
Lebensbedürfnissen immer breiterer Schichten. Der Priesternachwuchs
erlitt 1967 seinen ersten deutlichen Knick. 1970 wurde
in Italien mittels Referendum die zivilrechtliche Unauflöslichkeit
der Ehe abgeschafft. Katholische Kirche und Democrazia Cristiana
erwirkten 1974 ein zweites Referendum zur Abschaffung der Ehescheidung.
In Südtirol stimmte eine knappe Mehrheit für die Aufrechterhaltung
des Scheidungsrechts. Im Vorfeld des 1981 durchgeführten
Referendums zur Abschaffung des 1977 eingeführten
Abtreibungsrechtes gingen Südtiroler Frauengruppen selbstbewusst
mit Fackelzügen für die Beibehaltung des Gesetzes auf die Straße.
Jahre vor der in Südtirol ab 1979 wirksamen gesetzlichen Einführung
und Finanzierung von Informationszentren richteten örtliche
Frauengruppen Beratungsstellen für Frauen und Familien ein
(AIED und Lilith). Führend tätig war lange vor ihrer Wahl in den
Landtag die Feministin und Anwältin Andreina Ardizzone Emeri.
Die weltweit Sitten und Lebensgefühl der Jugend revolutionierende
Rock- und Popbewegung ergriff auch die Südtiroler Jugend,
beargwöhnt von der lange verständnislosen und besorgten Elterngeneration.
Bands wurden gegründet und ahmten die Gitarrenriffs
der großen Idole nach, lange Haare und ausgefranste Hosen wurden
zum Code für Freiheit und eigene Lebensgestaltung. In vielen
Dörfern wurden kleine „Woodstocks“ organisiert. Aufgeschlossene
Priester ließen die Jugendbands Messen gestalten, mancherorts
dagegen sorgte der Auftritt von Rockgruppen im Kulturhaus für
einen Skandal und böse Kommentare in den „Dolomiten“, etwa
1971, als der Traminer Erich Sinner mit seiner Gruppe „Admiral“
im „Haus Unterland“ in Neumarkt ein Rock- und Popfestival organisierte
und Josef Rampold in den „Dolomiten“ von einer „Entweihung“
schrieb.
Nicht nur für die besorgten Eltern, auch für die Jugend lichen
selbst war es schwierig, sich in der umstürzenden Wertewelt
zurechtzufinden. Aufbegehrendes Lebens- und Lustgefühl vermischten
sich mit selbstzerstörerischem Drogenkonsum. Von neugierig
konsumierten ersten Haschischzigaretten zu LSD-Trips und
Heroinkonsum war es für viele ein fataler Schritt. Der Drogenkonsum
war ein neues gesellschaftliches Phänomen, das von allen
229
„Blumenkinder“ beim Brunecker Schlosskonzert 1970: Lustvolles Lebensgefühl
traf auf Argwohn und Kopfschütteln bei den älteren Generationen.
Beteiligten zunächst für Protest und Trotz gehalten wurde, bis es
in seiner Dimension erkannt wurde. Vom reinen Entsetzen über
dahinsiechende Heroinsüchtige und deren Beschaffungskriminalität
hin zu konkreten gesundheits- und jugendpolitischen Maßnahmen
bedurfte es einiger Zeit. Kirchliche Organisationen, mehr
noch einzelne Priester waren die Vorreiter, so Padre Giovanni
Barbieri in Bozen mit dem „Centro Giovani“. Die ersten Initiativen
waren noch hilflos und oft auch autoritär, medizinische und
sozialpsychologische Kenntnisse fehlten weitgehend. Todesfälle
von jungen Süchtigen waren Anlass für Protestmärsche gegen die
Isolation der Drogenabhängigen. 1977 wurde von Don Giancarlo
Bertagnolli der sprachgruppenübergreifende Drogenhilfsverein „La
Strada – der Weg“ gegründet. Die Übernahme der Präsidentschaft
durch Altsenator Friedl Volgger galt damals als überraschender,
mutiger Schritt, der eine offenere Haltung gegenüber der Drogenabhängigkeit,
von der Ächtung und Kriminalisierung hin zu therapeutischen
Hilfsangeboten förderte.
Auch außerhalb der Protestkultur gab es ab Mitte der 60er Jahre
einen Aufschwung im Kultur- und Gesellschaftsleben, angetrieben
230
Aufbrüche im Theater mit historischen Stücken wie „Der Kanzler von Tirol“
in Neumarkt und den auch in Südtirol beachteten Werken von Felix Mitterer
(im Bild „Kein schöner Land“).
231
von der wirtschaftlichen Entwicklung und gesellschaftlichen Öffnung.
Die ersten Diskotheken und manches Nachtlokal öffneten ihre
Tore. Das Ausgehen zum Pizzaessen wurde nicht nur für Jugendliche,
sondern auch für Familien zum beliebten und erschwinglichen
Abendprogramm. Das traditionelle Südtiroler Kulturleben
blühte auf, mitunter umrankt von Kitsch und Folklore, aber auch
mit Bemühungen um echte Volkskultur.
Zum Aufschwung von Kultur und Brauchtum trug freilich auch
die intensive Hilfe aus dem deutschsprachigen Ausland bei, vor
allem aus Österreich und Deutschland, zum Teil aus den öffentlichen
Fonds, zum Teil von privaten Organisationen mit dem Ziel
kulturellen Beistands für die Südtiroler Minderheiten. Die „Stille
Hilfe“ und das „Kulturwerk für Südtirol“ sammelten über Jahrzehnte
Spenden, mit denen – neben den noch lange fließenden
Mitteln aus Österreich – der Bau von Kindergärten, Kultur- und
Vereinshäusern in Südtirol ermöglicht wurde. Die neu erbauten Kulturhäuser
wurden von Heimatbühnen, Volkstanzgruppen, Schuhplattlern,
Traditionskapellen, Chören mit neuem Selbstwertgefühl
bespielt. Die Volksbühne Bozen erhielt durch ihren Einzug ins
Waltherhaus 1967 starken Auftrieb. Im Unterland gründete Luis
Walter, ebenfalls Mitglied der Volksbühne Bozen, 1968 die Freilichtspiele
Südtiroler Unterland, die mit historischen Stücken von
„Andre Hofer“ über „Der Judas von Tirol“ bis „Michael Gaismair“
die Tiroler Geschichte neu auf die Bühne brachten und sich – etwa
mit „Jedermann“ – auch an Klassiker heranwagten.
Im Theater waren die Fronten zwischen traditionell und fortschrittlich
naturgemäß oft verwischt. So gingen die Freilichtspiele
dazu über, Stücke bei Südtiroler Autoren in Auftrag zu geben. Josef
Wenter schrieb ein Stück über den „Kanzler von Tirol“, Jul Bruno
Laner über „Kardinal Cusanus“ und für die kurz darauf gegründeten
Rittner Sommerspiele über die als Hexe verbrannte „Pachlerzottl“.
Eine ähnliche Entwicklung zeigte sich mit der Gründung
der „Tiroler Volksschauspiele“ im Jahr 1982 auch in Tirol. Felix
Mitterers erster Theaterskandal mit „Stigma“ (1984 in Telfs) wurde
in Südtirol aufmerksam verfolgt. Manche Pionierleistung setzte
sich auf langen Umwegen durch: In Bozen gründeten 1966 Waltraud
Staudacher und Luis Benedikter die „Kleine Experimen-
232
tierbühne“, aus der 1969 die „Tribüne“, später die „Bozner Initiative“
wurde, die mit Uraufführungen Südtiroler Autoren (Albrecht
Ebensberger, Matthias Schönweger, Kuno Seyr, Oswald Waldner,
Luis Zagler) ebenfalls neue Wege wagte.
Die damaligen Aufbrüche wirken bis in die Gegenwart nach.
Die „Initiative“ schloss sich 1992 mit anderen Gruppen (Südtiroler
Ensembletheater, Kleinkunstbühne und Talferbühne) zu den Vereinigten
Bühnen Bozen zusammen, die das 1999 eröffnete Stadttheater
bespielt. In Brixen bezog 1975 die „Kulisse“ um den Schauspieler
Georg Kaser im Anreiterkeller ihre eigene Bühne, die – mit
der später gegründeten „Dekadenz“ – zur krisenfesten Dauereinrichtung
wurde. In Meran gründeten die von der Volksbühne kommenden
Brüder Franco und Raimund Marini 1977 das „Theater in
der Klemme“, das in dem von Rudi Ladurner geführten „Theater
in der Altstadt“ eine Fortsetzung fand. In Bruneck frischte das
„Kleine Theater Bruneck“ die Theaterszene auf, 1994 erfüllte sich
der Bühnenbildner Klaus Gasperi mit dem „Theater im Pub“ den
Traum einer eigenen Bühne, die schließlich in das Projekt eines
„Stadttheaters“ münden sollte. In Zusammenarbeit mit dem Brunecker
Jugendzentrum UFO führte das Stadttheater 2004 das seinerzeit
verbotene Stück „Was heißt hier Liebe?“ auf, erneut von
Protesten und Anzeigen belangt, aber ohne die damalige Wirkung.
Meist nur Insidern bekannt, dem Stolz des Landes aber doch
schmeichelnd, machten sich Südtiroler Künstler auch außerhalb
des Landes einen Namen: Walter Pichler, in Birchabruck geboren
und als Optantenkind in Telfs aufgewachsen, schaffte es 1975 zu
einer Einzelausstellung im „Museum of Modern Art“ in New York.
Gilbert Prousch aus St. Martin im Gadertal lernte in der School
of Art in London einen kongenialen Partner kennen, mit dem er
sich als „Gilbert & George“ zu einem lebenden Gesamtkunstwerk
zusammentat. Im musikalischen Showbusiness brillierte der Grödner
Giorgio Moroder, zunächst mit Hits für Donna Summer, später
mit Oscar-prämierter Filmmusik für „Midnight Express“ (1978)
und „Flashdance“ (1983).
Die letzten noch verschlossenen Türen zu weltweiten Entwicklungen
riss das Fernsehen ein, das zunehmend das Radio in den
Hintergrund drängte. Die erste Mondlandung 1969 war für viele
233
Familien ein Anlass, sich einen Fernseher zu kaufen, die Olympischen
Winterspiele von 1972 mit 60 Südtiroler Teilnehmerinnen
und Teilnehmern in 14 Sportarten verschafften dem TV-Markt
einen starken Schub.
Elektrohändler hatten schon in den frühen 60er Jahren damit
begonnen, abseits jeder rechtlichen Regelung Umsetzer aufzustellen,
mit denen deutsche, österreichische und Schweizer TV-
Programme empfangen werden konnten. Der lange zögerlich anlaufende
Verkauf von Fernsehgeräten konnte so allmählich in
Schwung gebracht werden, zunächst noch von der staatlichen
Rundfunkanstalt RAI mit Rechtsmitteln vehement bekämpft. So
wurden 1963 illegal aufgestellte Anlagen unter großem Protest stillgelegt.
Zugleich kam die RAI unter Druck, auch der deutschsprachigen
Bevölkerung Programme anzubieten. 1966 wurde mit dem
deutschsprachigen Sender Bozen der RAI das erste Regionalprogramm
Italiens ausgestrahlt. Dessen Kernstück war die tägliche
„Tagesschau“, noch lange einem biederen Blick auf Südtirol verhaftet,
aber von Anfang an für das wachsende Fernsehpublikum
eine wichtige zweite Informationsquelle neben den „Dolomiten“.
In den Autonomieverhandlungen erhielt das Land Südtirol
schließlich die Zuständigkeit für kulturelle Förderungen im Bereich
von Rundfunk und Fernsehen zugesprochen, davon ausgenommen
wurde lediglich die Gründung eigener Anstalten. 1973
trat die Durchführungsbestimmung zum Rundfunk- und Fernsehwesen
in Kraft, mit der die ausländischen Fernsehprogramme
offiziell empfangen werden durften. 1975 wurde, begrenzt auf den
Import der ausländischen Programme, die Rundfunkanstalt Südtirol
gegründet, erster Präsident war der Meraner SVP-Politiker
und spätere Staatsrat Klaus Dubis. Die Sendungen von ORF, ZDF
und SRG wurden zur dominierenden TV-Kost der deutschen und
ladinischen Südtiroler, die RAI verlor – bis auf die Zeitfenster für
den Sender Bozen mit den deutschen und (erst allmählich etwas
ausgebauten) ladinischen Programmen – ihre lange unangefochtene
Position.
Im Fernsehen erlebten die Südtiroler ab 1970 auch ein neues
Selbstbild, das schwungvoll die düstere Volk-in-Not-Stimmung hinwegfegte.
1970 feierte der 18-jährige Stilfser Skirennläufer Gustav
234
Thöni seine ersten Siege in Weltcuprennen, 1971 gewann er den
Gesamtweltcup, 1972 wiederholte er diesen Erfolg und eroberte bei
den Olympischen Spielen in Sapporo Gold und Silber. Die „Valanga
Azzurra“ war, bis auf den Aostaner Piero Gros, weitgehend eine
Südtiroler Angelegenheit, neben Gustav Thöni sorgten sein Cousin
Roland Thöni, Werner Stricker, Helmuth Schmalzl, Herbert Plank
und andere für neue, positiv besetzte Identifikationsmöglichkeiten.
Dass ihre Skifahrer mit der italienischen Hymne gefeiert wurden,
aber in Interviews rudimentäres Italienisch sprachen und sich mit
ihrem Dialekt als Angehörige einer Minderheit bekannten, erforderte
und förderte Identitätsbildung auch in der breiten Anhängerschaft.
Die Südtiroler begannen sich als Südtiroler zu fühlen,
die in der Welt auch noch einzigartige Leistungen vollbrachten,
italienische Staatsbürger zwar, aber doch etwas Besonderes.
Auch in anderen Sportarten trumpften Südtiroler Sportlerinnen
und Sportler auf. Im Rodeln hatte Erika Lechner schon 1968
in Grenoble Olympiagold geholt, in Sapporo trumpften Paul Hildgartner
und Walter Plaikner im Doppelsitzer auf, später holten sich
Karl Brunner und Peter Gschnitzer den Gesamtweltcup. Der HC
Bozen dominierte, in Konkurrenz zu den Clubs aus Mailand und
Cortina, immer wieder die Serie-A-Meisterschaft im Eis hockey, eine
starke Rolle spielte lange auch der HC Gröden. Ähnlich wie Gustav
Thöni wurde der Bozner Turmspringer Klaus Dibiasi, immer
freundschaftlich bedrängt von Giorgio Cagnotto, zum Prototyp
des stillen, disziplinierten, jahrelang die Welt bestechenden Spitzensportlers
aus einem kleinen, tüchtigen Land.
Auf 8.125 Metern Höhe begann am 27. Juni 1970 eine Südtiroler
Legende anderer Art, anhaltend heroisch und tragisch zugleich:
Reinhold und Günther Messner hatten den Nanga Parbat bestiegen,
beim Abstieg verloren sie sich. Günther kehrte nie mehr heim,
Reinhold wurde auf tragische Weise zum Illustriertenstar und Bestsellerautor
unter den Bergsteigern. Mit hervorragendem publizistischen
Gespür, mit Sinn für Risiko und Überlebenschancen, mit
kreativen Anstößen für das Extrembergsteigen wurde er zu dem
mit Abstand erfolgreichsten und bekanntesten Bergsteiger seiner
Zeit. Als erster Mensch stand er ohne Sauerstoffflasche auf allen
14 Achttausendern der Welt, mit Fußmärschen durch Grönland,
235
Die „Valanga Azzurra“ mit ihrem wortkargen Superstar Gustav Thöni
war mehr als ein Sporterfolg – sie wurde zum Symbol für ein neues
Selbstbewusstsein.
236
die Antarktis und die Wüste Takla Makan setzte er neue Maßstäbe,
mit dem Talent zur kühnen Reflexion bestach er in philosophischen
und politischen TV-Runden.
Anders als die sportlichen Vorbilder ließ sich Messner nicht so
ohne weiteres feiern. Anfangs noch eingebunden in die patriotisch
aufgeladene Alpenvereinsszenerie, begann er aus dem traditionellen
Bild des Heimatsohnes, wie Luis Trenker es bis ins hohe Alter
blieb, mit provokanten Äußerungen auszubrechen. Seine Verweigerung
gegenüber politischer Vereinnahmung, weil seine einzige
Fahne sein Taschentuch sei, seine mehrmalige Drohung auszuwandern
und schließlich seine Provokation, die Südtiroler hätten
im Zuge der Option 1939 die Heimat „verraten“, waren Ausdruck
für die Südtiroler Suche nach einer neuen Identität: beschäftigt
mit einer klärungsbedürftigen Vergangenheit, ausbrechend aus
alten Mustern, hadernd mit der Enge des Landes und doch gut
aufgehoben darin.
237
Lehrjahre der Autonomie
Das neue Autonomiestatut zwischen Gründergeist
und Krisen – Verhärtungen und neue Gewalt
Am 21. August 1978 verstarb, erst 31-jährig, der Dichter Norbert C.
Kaser. Der frühe Tod an Leberzirrhose wurde zu einem elektrisierenden
Ereignis für die bunte, aber auch versprengte jugendliche
Protestbewegung in Südtirol. Wenn sich auch Kaser durch exzessives
Trinken und schonungsloses Leben gesundheitlich selbst
schwer geschädigt hatte, so wurde sein Tod doch als Symbol für
die erstickende Enge und politisch-kulturelle Verkrustung Südtirols
empfunden. „wir sind ueberhaupt eine recht eingeklemmte
generation. rueckwaerts geht es nimmer & vor dem vorwaerts graut
uns“, hatte Kaser das Stimmungsbild seiner Generation eingefangen.
Auf der Beerdigung Kasers in Bruneck fasste Alexander Langer
den Entschluss, nach Südtirol zurückzukehren und die bunte, aber
versprengte Südtiroler Protestbewegung zu sammeln und politisch
zu organisieren.
Die Ausgangslage war günstig. In einem von der SH initiierten
„Brief der 83“ forderten schon im Frühjahr nicht nur linke Persönlichkeiten
eine gesellschafts- und kulturpolitische Öffnung in
Südtirol. Mit der Gründung der „Südtiroler Volkszeitung“ durch
eine Genossenschaft im selben Jahr war ein Sprachrohr geschaffen
worden, dessen Redaktion Treffpunkt und Schmelztiegel der
Bewegung wurde. Langers Aufruf in der „Volkszeitung“ zur Bildung
einer „Davidliste“, die „mit der Davidschleuder dem Giganten des
Südtiroler Regimes“ entgegentreten sollte, hatte Erfolg. Schon im
Herbst desselben Jahres trat die interethnische Liste „Neue Linke –
Nuova Sinistra“ bei den Landtagswahlen an und wurde mit fast
10.000 Stimmen vierte Kraft hinter der SVP, der DC und den Kommunisten,
weit vor den deutschen Oppositionsparteien SPS und
PDU, die sich nur durch Restmandate retten konnten. Als Landtagsabgeordneter
verunsicherte Langer durch provokante, intellektuell
meist brillante Beiträge die gesetzte politische Vertretung
der SVP. Zwar schied er, im Sinne des ethnischen Rotationsprin-
238
Mit dem Protest gegen die Sprachgruppenerhebung 1981 bündelte Alexander
Langer eine neue Oppositionsgruppe um sich: links, interethnisch und mit
aktiver Frauenbeteiligung.
Die „ethnischen Käfige“: Demonstration gegen die Trennung zwischen den
Südtiroler Sprachgruppen anlässlich der Volkszählung 1981.
239
zips seiner Liste, nach rund drei Jahren zugunsten des zweitgewählten
Leiferers Luigi Costalbano aus dem Landtag aus, blieb
aber unumstritten Bezugspunkt seiner Bewegung.
Das neue oder auch zweite Autonomiestatut, in dem die Paketmaßnahmen
– bis auf einige Sondergesetze – ihre juridische Form
als Verfassungsgesetz erhalten hatten, war 1972 in Kraft getreten.
Auf die Südtiroler Politik, die jahrzehntelang konkreter politischer
Instrumente entbehrt hatte, kamen Herkulesaufgaben zu.
Die neuen Selbstverwaltungsmöglichkeiten mussten in einer Flut
von Einzelmaßnahmen genutzt werden. Bis zum Erlass des Autonomiestatutes
hatte der Südtiroler Landtag je Legislaturperiode,
also innerhalb von fünf Jahren, im Schnitt rund 50 Gesetze erlassen,
allein im ersten Jahr der neuen Autonomie waren es schon 47. Der
Landeshaushalt schwoll rapide an: 1961 standen dem Land Südtirol
5,6 Milliarden Lire zur Verfügung, 1973 waren es 77,2 Milliarden
Lire. Selbst wenn die hohe Inflation in Italien berücksichtigt
wird, war es ein sprunghafter Anstieg. 1974 umfasste der Landeshaushalt
schon 103 Milliarden, im Jahr darauf 210 Milliarden Lire.
Amt für Amt musste aus dem Nichts aufgebaut, Zuständigkeitsbereich
um Zuständigkeitsbereich neu geregelt werden. In
der ersten Legislaturperiode wurden die Landesschulämter, das
Landes denkmalamt, die Rundfunkanstalt Südtirol (RAS), der Sonderbetrieb
für Bodenschutz, Lawinen- und Wildbachverbauung,
der Dienst des Landestierarztes, das Ladinische Kulturinstitut, das
Volkskundemuseum, die Musikinstitute, das biologische Landeslabor,
die Dienststellen für psychische Gesundheit, Einrichtungen
für Behinderte und gegen Drogenabhängigkeit und Alkoholsucht
aufgebaut.
Wie weit der Aktionsradius für die aus dem Autonomiekampf
hervorgegangene politische Führungsklasse ging, zeigt eine Auswahl
von Gesetzen und Maßnahmen allein im Jahr 1972: zur
Regelung des Pilzesammelns, zum Schutz der Alpenflora, zur
Neuordnung des Friseurgewerbes, zur Stromversorgung. Der
„Geschlossene Hof“ als Schutz der Mindestgröße für bäuerliche
Betriebe war gegen ein Urteil des Verfassungsgerichts zu verteidigen.
Die vom nationalen Arbeiterstatut auf die drei großen Gewerkschaften
CGIL (AGB), CISL (SGB) und UIL (SGK) begrenzte
240
Verhandlungslegitimation musste auf den ASGB ausgedehnt werden.
Von historischer Tragweite war das im Juli 1972 erlassene
„Landes wohnbaureformgesetz“, mit dem sich Südtirol zu einer
nach Sprachgruppen gerechten und eigenständigen Förderung
des sozialen Wohnbaus und der Eigenheimbildung aufmachte.
Die Bereinigung eines faschistischen Unrechts ermöglichte das
Gesetz zur Rückführung von übersetzten Vornamen in die deutsche
Form.
Ebenfalls schon 1972 wurden mit dem Landesraumordnungsgesetz
in zweifacher Hinsicht bedeutungsvolle Weichen gestellt.
Einerseits sollte durch restriktive Raumordnungsbestimmungen
die Zersiedelung der Landschaft gestoppt werden. Andererseits
war dies auch ein Instrument gegen etwaige neue Zuwanderung
aus anderen italienischen Provinzen. Der Baubedarf wurde durch
die Förderung von Altbausanierungen und durch die kontrollierte
Ausweisung von Wohnbauzonen gedeckt, die nach Möglichkeit
örtlichen Genossenschaften anvertraut wurden.
Südtirol wurde von Aufbaufieber erfasst, die lange angestauten
Kräfte fanden vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten. Die deutsche
Schule war zwar als einer der wenigen zentralen Bereiche
schon durch das erste Autonomiestatut garantiert gewesen, der
Bau von Schulen und Kindergärten aber war mangels klarer rechtlicher
Regelungen und ausreichender Finanzmittel auf die österreichische
Unterstützung und die Spendengelder der „Stillen Hilfe“
und des „Kulturwerkes für Südtirol“ angewiesen. 1974 traten die
Neuregelungen für Schulfürsorge, Stipendienwesen, Schulausspeisung,
Schülertransporte sowie für die Ausstattung der Schulen mit
Büchern in Kraft. 1976 folgte das Kindergartengesetz, das den Bau
von Betreuungsstätten mit Landesmitteln ermöglichte. Das neue
Schulbaugesetz von 1977 schob ein massives Schulbauprogramm
an, viele Schulen konnten um 1980 aus Notunterkünften in neue
Gebäude umziehen. Für die Pflichtschulen erhielten die Gemeinden
nun 90 Prozent der Baukosten vom Land zugeschossen, die
Oberschulen wurden zu 100 Prozent vom Land finanziert. Das
führte dazu, dass oft auch für kleine Weiler neue Schulen gebaut
wurden, die schon wenige Jahre später mangels Kindernachwuchses
wieder geschlossen werden mussten.
241
In der Landwirtschaft setzte eine durchgreifende Modernisierung
und auch eine Professionalisierung des Genossenschaftswesens
sein. Während die Arbeitsplätze in den unter dem Faschismus
gebauten Bozner Industriekolossen zurückgingen, stieg die
Beschäftigung in den Talschaften durch eine „hauseigene“ Industrialisierung
allmählich an. In den Bozner Industriebetrieben wurden
von 1972 bis 1982 rund 2000 Arbeitsplätze abgebaut, in Brixen,
Bruneck, Sterzing, Lana und auch im Vinschgau entstanden neue
Industriebetriebe. In den italienischen Bozner Vierteln breitete
sich eine gedrückte Stimmung aus, da den Arbeiterfamilien ihre
für gesichert gehaltenen Perspektiven abhandenkamen. Mit der
Umschichtung der wirtschaftlichen Prosperität von der Stadt auf
die Landgemeinden ging auch eine Schwächung der Gewerkschaften
einher, da die Arbeiterbewegung in den Talschaften keine Tradition
hatte. Verdienste für die Durchsetzung und Durchführung
erster Sozialgesetze erwarb sich als lange einzige Frau in der Südtiroler
Landesregierung die Landesrätin Waltraud Gebert-Deeg.
Aufbruchsstimmung und Fortschrittskepsis prallten aufeinander.
So begrüßte die Gemeinde Brixen 1970 die geplante Nieder lassung
der deutschen Continental-Gummiwerke, musste aber 1971 nach
massiven Protesten von Bauern und Bürgern die bereits erteilte
Zustimmung wieder zurückziehen.
Der Fremdenverkehr erlebte einen Höhenflug. Schon von 1960
bis 1970 war die Zahl der Gastbetriebe von 1500 auf 2700 angestiegen,
die Bettenzahl von 38.000 auf 70.000. Die im Landesraumordnungsgesetz
geschaffene Möglichkeit von Zubauten für Hallen bad,
Speisesaal, Küche und Zimmer bis zu 40 Betten entsprach dem
Bedürfnis nach einem aufgemöbelten touristischen Angebot. Mit
der Erlaubnis, auf Bauernhöfen bis zu 30 Gästebetten einzurichten,
sollten der landwirtschaftlichen Bevölkerung neue Einkommensmöglichkeiten
erschlossen werden. Ein eigenes Förderungsgesetz
– typisch für die nun einsetzende „Subventionitis“ aus dem voller
und voller werdenden Landestopf – gewährte finanzielle Beihilfen
für den Einbau von Duschen in die Gästezimmer.
Die wirtschaftliche Entwicklung in Italien heizte den Bauboom
zusätzlich an, die rasante Inflation zahlte bei festverzinsten Krediten
die Schulden praktisch von alleine ab. Nicht nur kleine Gast-
242
wirte, auch Bauern nahmen hohe Kredite auf und wurden beinahe
über Nacht zu Großhoteliers. Bis 1979 entstanden 2000 neue
Gastbetriebe, die Bettenzahl wuchs von 70.000 auf 120.000, die
Übernachtungen verdoppelten sich von zehn auf 20 Millionen. Im
Goldfieber, das den Tourismus erfasst hatte, gingen mahnende
Stimmen und auch das Unbehagen an einer Kultur des Ausverkaufs
gegenüber „den Fremden“ weitgehend unter. In manchen Gastbetrieben
zog die Familie in der Hochsaison in den Keller um, weil
die Betten für die Fremden freigemacht wurden. Werbe slogans
der 70er Jahre wie „Sag Du zu Südtirol“ ernteten manchen Spott,
erwiesen sich aber als überaus erfolgreich.
Die SVP geriet von wirtschaftlicher Seite her unter starken Druck,
der Hoteliers- und Gastwirteverband (HGV) forderte aufmüpfig
eine noch stärkere Öffnung und liberalere Handhabung der Raumordnungsgesetzgebung,
einen forcierten Ausbau der Straßen- und
Verkehrsverbindungen einschließlich eines Flugplatzes (mit Plänen,
diesen auf dem Salten einzurichten). Die Zersiedelung und
vielfach starke Beeinträchtigung des Landschaftsbildes sorgte und
empörte viele Heimat- und Umweltschützer. Josef Rampold wurde
in den „Dolomiten“ unter dem Kürzel „X“ zum „grünen“ Gewissen
des Landes. Mit ihrem ersten Landesentwicklungsplan (LEP) versuchte
die Landesregierung schon 1980 auf die Bremse zu treten.
Autor des neuen Planungsinstruments war Karl Nicolussi-Leck,
politisch verantwortlicher Landesrat Alfons Benedikter. Neben
dem Schutz von Landschaft und Ressourcen folgte der Entwicklungsplan
auch der alten Logik, italienische Zuwanderung und
Ausbreitung möglichst zu verhindern, vor allem die Stadt Bozen,
aber auch die Südtiroler Wirtschaft fühlte sich „abgewürgt“.
Bauwirtschaft und Tourismusbranche wurden schon im Vorfeld
des LEP von Torschlusspanik ergriffen. Noch einmal verschuldeten
sich viele alteingesessene und neue Gastwirte für Zu- und
Ausbauten. Mittlerweile aber waren die Zinsen für neue Kredite
bis auf 27 Prozent gestiegen, die Schulden erwiesen sich für
viele als nicht mehr rückzahlbar. Der Reihe nach gingen Hotels
in Konkurs, ehemalige Bauern standen vor den Trümmern eines
vermeint lichen Aufstiegs, in ihren Hoffnungen enttäuscht, in ihrer
Identi tät geknickt. Beispielhaft war der Aufstieg und Fall des Leo
243
Neue Zeiten, neue Sorgen: SVP-Altsenator Friedl Volgger als Präsident
des Drogenhilfsvereins „La Strada – der Weg“ mit dem Gründer der Initiative,
Don Giancarlo Bertagnolli.
Gurschler. Vom Schnalser Bergbauernkind und Hüterbuben war
er zum „Gletscher könig“ geworden: 1975 eröffnete er die Schnalstaler
Gletscherbahn, 1977 begann er mit dem Bau zweier Hotels
zugleich. Der Plan eines schrittweise zu verwirklichenden Bungalow-Dorfes
war im Sinne der Konzentration von Kubatur abgelehnt
worden. Gurschler baute, wie viele andere im Land, fast nur
mit Fremdkapital. 1982 brach sein Traum zusammen, 1983 verübte
er Suizid. Für viele zu spät, wirtschaftspolitisch äußerst fragwürdig
beschloss die Landesregierung auf Druck des langjährigen
Tourismuslandesrates Franz Spögler schließlich ein Subventionsgesetz
für „unverschuldet verschuldete Gastwirte“ – Synonym
für das schnelle, durch den Autonomieschub verursachte Wachstum.
Früh schon kam aber auch wieder politischer Sand in das Autonomiegetriebe.
„Rom nimmt mit der einen Hand wieder, was es
mit der anderen gegeben hat“, kommentierte der „Volksbote“ die
erste politisch schmerzliche Rückverweisung eines Landesgesetzes
noch im Mai 1972, also unmittelbar nach Inkrafttreten des neuen
Autonomiestatutes. Sie betraf das frisch verabschiedete „Elektro-
244
gesetz“. Ein jahrzehntelanges Feilschen um die Zuständigkeit für
die Energieversorgung begann.
Der politische Schwung der Paket-Lösung verhedderte sich
in einem juristischen Kleinkrieg. Der römischen Bürokratie ging
die Weitsicht der italienischen Paket-Väter Aldo Moro, Giuseppe
Saragat und Alcide Berloffa weitgehend ab. Auch politisch völlig
unverdächtige Gesetze wie die Schaffung eines Berufsalbums für
Gärtner wurden wegen Übertretung der Landeskompetenzen an
den Landtag „rückverwiesen“. Zum einen hatte dies mit politischen
Vorbehalten, zum anderen auch mit Gewöhnungsbedarf
und administrativer Verunsicherung zu tun. Das Paket war als
Flickwerk entstanden, in immer neuen Verhandlungen hatte Magnago
schließlich zu den 137 Maßnahmen noch 25 Submaßnahmen
und 31 Fußnoten erwirkt. Das daraus entstandene Autonomiestatut
war in vielen Passagen als ein Konstrukt des „institutionalisierten
Misstrauens“ (Joseph Marko) nicht auf die Aussöhnung
der Streitparteien angelegt, sondern auf eine kontrollierte Kooperation.
Die Grenzen zwischen Staat und Land waren im Detail oft erst
auszuloten und führten immer wieder zu Interpretationsverfahren
vor dem Verfassungsgericht. Die Verhandlungen über die nach
und nach zu erlassenden Durchführungsbestimmungen zum Autonomiestatut
erwiesen sich als langwierig. Ursprünglich hätte das
Paket innerhalb von zwei Jahren verwirklicht sein sollen, es wurden
20 Jahre daraus. Wichtige Durchführungsbestimmungen stießen
in Rom auf Widerstand, vor allem jene zum Gebrauch der deutschen
Sprache vor Gericht und Polizei sowie zu den Zukunftsbereichen
Energie und Kommunikation.
Die SVP, die das Paket gegen große innere Widerstände angenommen
hatte, reagierte auf die Anfangsschwierigkeiten mit Verhärtung.
Je mehr an den neuen Autonomiebestimmungen gerüttelt
wurde, desto mehr hielt sie an deren buchstabengetreuen
Durchführung fest. Die zwei wichtigsten Schutzinstrumente für
die ethnische Minderheit traten 1976 in Kraft. Mit den Bestimmungen
zum „ethnischen Proporz“ sollte im öffentlichen Dienst
bis zum Jahr 2002 das gerechte Verhältnis zwischen den Sprachgruppen
hergestellt sein. Die Pflicht zur Zweisprachigkeit aller
245
öffentlichen und halböffentlichen Bediensteten hob die deutsche
Sprache im Amtsverkehr auf dieselbe Ebene wie die Staatssprache.
1972 waren von 3000 Eisenbahnern im Gebiet der Provinz
Bozen nur 219 deutschsprachig.
Die Ausschreibung der ersten Stellen nach dem ethnischen
Proporz brachte ein Erwachen. Zum einen meldeten sich, da jeder
Tradition im Staatsdienst entbehrend, viel zu wenig deutsch- und
ladinischsprachige Bewerber für die Stellen, die ihnen aufgrund des
Aufholmechanismus reserviert waren. Zum anderen erschwerte die
staatliche Bürokratie deutschen und ladinischen Bewerbern den
Zugang zu den Stellen, ließ sie in erhöhtem Maße über ärztliche
Zeugnisse stolpern oder bei den Prüfungen durchfallen. Schließlich
wurde das Proporzdekret vorübergehend außer Kraft gesetzt,
weil es im Widerspruch zur staatlichen Reform des öffentlichen
Dienstes stehe. In langwierigen Verfahren musste das Land den
zentralen Grundsatz erkämpfen, dass das Autonomiegesetz aufgrund
seines Verfassungsranges staatlichen Reformen nicht untergeordnet
werden dürfe. Auf die italienische Bevölkerung in Südtirol
wirkte der Proporz wie ein Schock. Die Autonomie wurde als
Privilegienentzug erlebt, die Pflicht zur Zweisprachigkeit wie eine
Demütigung hingenommen, lebten die meisten Italiener Südtirols
doch im Gefühl des „siamo in Italia“.
So wurde 1981 die in Italien alle zehn Jahre stattfindende Volkszählung
zu einem ersten Härtetest der neuen Autonomie. Im Sinne
des Proporzes musste sich die in Südtirol ansässige Bevölkerung
erstmals offen und namentlich zu einer der drei Sprachgruppen
bekennen. 1971 war die Sprachgruppenerhebung noch anonym
und ohne Aufregung durchgeführt worden: Die deutsche und die
ladinische Sprachgruppe hatten sich nach dem zurückgenommenen
Zuwanderungsdruck und aufgrund ihrer höheren Geburtenrate
leicht erholt, die italienische hatte nur gering eingebüßt. 1981
war die Erklärung der ethnischen Zugehörigkeit plötzlich eine
Frage des Zugangs jedes einzelnen zum öffentlichen Arbeitsmarkt.
Der Staatsdienst war für die Italiener in Südtirol von vorrangiger
Bedeutung gewesen. Angesichts der schwindenden Großindustrie
hatten sie im Vergleich zur stark anziehenden „deutschen“ Wirtschaft
sonst kaum eigene Wachstumsbereiche.
246
Am 31. März 1978 wurde Südtirol aus seinem vermeintlichen
Autonomiefrieden gerissen. Mit einem Anschlag auf das Beinhaus
in Burgeis begann ein Schlagabtausch zwischen „deutschen“ und
„italienischen“ Attentaten. Am 23. Juli wurde gegen das Wohnhaus
von Silvius Magnago ein Molotowcocktail geschleudert. Am
30. September wurde ein Anschlag auf das Siegesdenkmal in Bozen
verübt. Wieder nur einen Monat später erfolgte ein weiterer auf
die Pfarrkirche Frangart bei Eppan, zu dem sich zwei unterschiedliche
Gruppen bekannten, die „Brigata Cesare Battisti“ und die
„Befreiungsfront Süd-Tirol“. Der „Dialog mit Detonationen“ schaukelte
sich bis 1982 ständig auf. Auf deutscher Seite waren es weitgehend
jugendliche Täter, die – unterstützt von einigen wenigen
Heimkehrern aus den 60er Jahren – von der Wiederaufnahme des
Freiheitskampfes träumten und dem Protest über die verschleppte
Autonomiedurchführung Ausdruck verliehen. Die „italienischen“
Attentate, meist professionell durchgeführt, erinnerten an die „Strategie
der Spannung“. Bekennerschreiben wiesen, wie sich später
herausstellte, Übereinstimmungen mit dem 1979 noch völlig unbekannten
Geheimdienst Gladio auf.
Für heftige Auseinandersetzungen sorgte 1979 die vom Ministerium
für öffentliche Arbeiten beschlossene Restaurierung des
Siegesdenkmals, das durch den Anschlag im Vorjahr leicht beschädigt
worden war. Die SVP forderte die Schleifung des faschistischen
Monuments, der SVP-Jugendpolitiker Franz Pahl trat am
2. März vor dem Denkmal einen mehrtägigen Hungerstreik an. Am
9. März zerstörte eine wuchtige Sprengladung das Grab von Ettore
Tolomei in Montan. Am 6. April versuchte der junge Erwin Astfäller,
Sohn des ehemaligen politischen Häftlings Oswald Astfäller,
das Siegesdenkmal in Bozen mit Gasflaschen in die Luft zu sprengen.
Im September 1979 traf es zunächst wieder Symbole der 60er
Jahre – zwei Strommasten im Vinschgau, das Alpini-Denkmal in
Bruneck (den „Kapuziner-Wastl“). Die Revanche war die Sprengung
des Andreas-Hofer-Denkmals in Meran zwei Wochen später.
Ein beeindruckendes Crescendo: Am 28. Oktober ein Anschlag
auf einen Rohbau für Volkswohnungen in Sarnthein (obwohl der
ehemals staatlich gelenkte soziale Wohnbau mittlerweile in Landeskompetenz
übergegangen war), am 30. Oktober ein Anschlag
247
auf das Hotel Post in Bruneck, das dem SVP-Bürgermeister gehörte.
Am 4. Dezember gab es sechs Anschläge hintereinander auf Seilbahnen
und Liftanlagen als Symbole des Südtiroler Tourismus;
ein siebter war gegen das Bahnhofshotel in Neumarkt gerichtet,
das sich im Besitz der Ehefrau des SVP-Bürgermeisters befand.
1980 wurden sieben Attentate verübt, 1981 – im Jahr der Volkszählung
– gab es noch einmal einen heftigen Schub italienischer Gewalt.
Bei vier Anschlägen in einer einzigen Nacht, am 31. Juli 1981,
wurden Symbole der Autonomie und des als zu nachgiebig angeprangerten
Staates getroffen: Landtag, Magnago-Villa, Regierungskommissariat,
DC-Büro. Die Verantwortung übernahm, mit
Bezugnahme auf die bevorstehende Volkszählung, die Gruppe
„API“ (Associazione Protezione Italiani), während sich zu früheren
Anschlägen die Gruppe „MIA“ (Movimento Italiani Alto Adige)
bekannt hatte. Am 10. Oktober 1981 – unmittelbar vor dem Stichtag
für die Volkszählung – wurden noch einmal drei Anschläge deutscher
Urheberschaft verübt: auf eine Kaserne in Meran, auf das
Beinhaus in Burgeis, auf das Gerichtsgebäude in Bozen.
Die Debatte um die Volkszählung war spannungsgeladen. Silvius
Magnago rief eindringlich dazu auf, sich zur eigenen Sprachgruppe
zu bekennen, er „würde jene Personen nicht achten, die aus
opportunistischen Gründen sich zu einer anderen Sprachgruppe
als der eigenen erklären“. Verweigerer hätten mit „schwerwiegenden
Folgen“ zu rechnen, nämlich mit dem Ausschluss von den
unter den Proporz fallenden öffentlichen Stellen und Wohnbauhilfen,
teilweise sogar mit dem Verlust des passiven Wahlrechts
(etwa für den Gemeinderat). Alexander Langer spitzte den Widerstand
und Boykottaufruf seiner Bewegung gegen die „ethnische
Aufschreibung“ mit plakativen Vergleichen zu („Apartheid“, „ethnische
Käfige“, „Option 1981“). Der Bischof und die katholische
Jugend, wiewohl um den ethnischen Ausgleich besorgt, stellten
sich auf die Seite der SVP. Das gerade erst erbaute Autonomiegebäude
sollte vor frühen Erschütterungen geschützt werden.
Die Auswertung der Volkszählung ergab eine Kräfteverschiebung:
64,9 Prozent hatten sich als deutschsprachig, 28,7 Prozent als
italienischsprachig, 4,1 Prozent als ladinischsprachig erklärt. Die
deutschsprachigen Südtiroler hatten gegenüber der noch anonym
248
Die Autonomiepolitik konnte die patriotischen Kräfte nie gänzlich zufriedenstellen:
Die Bewegung um Eva Klotz und die Schützen unternahmen immer
neue Anläufe zu weitergehenden Lösungen. Im Bild: zwei Titelbilder des
„südtirol profil“ in den 1990er Jahren.
vorgenommenen Erhebung von 1971 zwei weitere Prozent zugelegt,
die Ladiner um 0,4 Prozent. Die eher städtische und auch da her
weniger fortpflanzungsfreudige italienische Sprachgruppe erlitt
eine Kombination aus Pillen- und Autonomieknick: minus 4,6 Prozent.
Die Parole vom „Todesmarsch“ der Südtiroler wurde von
italienischer Existenzangst abgelöst, dem „disagio degli italiani“.
Zwischen den Lagern standen 2,2 Prozent der Südtiroler, die in
der Statistik von 1981 als „andere“ aufschienen, weil sie keine oder
keine korrekte Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung abgegeben
hatten. Langer machte aus dem „Anderssein“ sein politisches Programm
und den Namen seiner neuen Liste für die Landtagswahlen
1983. Die „Alternative Liste für das andere Südtirol – Lista alternativa
per l’altro Sudtirolo“ hatte als prominentesten Unterstützer
Südtirols gefeierten und verlorenen Sohn, Reinhold Messner.
Sie erreichte fast 13.000 Stimmen (4,5 Prozent), Langer kehrte in
den Landtag zurück.
Auf Gegenkurs zur Autonomiepolitik ging, von der anderen
Seite her, auch die Vereinigung der ehemaligen politischen Häft-
249
linge, der „Südtiroler Heimatbund“. Nach jahrelangen vergeblichen
Versuchen, innerhalb der SVP die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht
durchzusetzen, kam es zum Bruch. Statt um Kompromissformulierungen
zu ringen wie in den Jahren zuvor, fegte
Silvius Magnago bei der SVP-Landesversammlung 1981 den Resolutionsentwurf
der Selbstbestimmungsbefürworter als utopisch
vom Tisch. Dass Magnago trotzdem mit 93 Prozent der Stimmen als
Obmann bestätigt wurde, ließ den „Heimatbund“ auf Distanz gehen.
Mit dem Projekt eines „Freistaates“, der Süd-, Ost- und Nord tirol
umfassen sollte und von Magnago als „Hirngespinst“ bezeichnet
wurde, ging der „Heimatbund“ ab 1983 einen eigenen Weg. Damit
wurde erstmals auch die Forderung einer Rückkehr zu Österreich
aufgegeben zugunsten einer Tiroler Einheit, für die sich auch das
Bundesland Tirol von Österreich hätte verabschieden müssen. Zu
den Parlamentswahlen im Juni 1983 trat eine Gruppe von Heimatbündlern
um Obmann Hans Stieler mit der Liste „Süd-Tirol“ an.
Diese konnte zwar kein Mandat erringen, die 4,24 Prozent der
Wählerstimmen waren aber eine Ermutigung für die Landtagswahlen
im Herbst desselben Jahres. Der „Wahlverband des Heimatbundes“
kam im November 1983 auf 7285 Stimmen (2,54 Prozent)
und errang ein Mandat: Eva Klotz, Tochter des legendären Jörg
Klotz, 1980 noch als Unabhängige auf der SVP-Liste in den Bozner
Gemeinderat gewählt. Sie wurde – als „pasionaria del Tirolo“
auch von überregionalen Medien wahrgenommen – zur Symbolfigur
für den politischen Kampf um Selbstbestimmung.
Im Wahlergebnis von 1983 zeigte sich auch der wachsende Un -
mut in der italienischen Bevölkerung. Bei den Parlamentswahlen
im Juni kam der MSI auf 3,44 Prozent; das war ein leichtes Plus
von ca. 2000 Stimmen gegenüber 1979 (2,55 Prozent). Im Herbst
1983, nur fünf Monate später, waren es schon 5,88 Prozent und
noch einmal 7000 Stimmen mehr. Die Autonomiepolitik kam, während
sie sich im bürokratisch-juridischen Netz verfing, politisch
unter einen zweifachen Druck: Auf deutscher Seite war sie vielen
zu wenig, auf italienischer Seite immer mehr Menschen zu viel.
Zwischen den Lagern stand die Bewegung Langers, dessen Kritik
an der ethnischen Ausrichtung der Autonomie vom MSI vereinnahmt,
von der SVP als Volksverrat verketzert wurde.
250
Ein Tirol mit zwei Gesichtern
Die Wiederkehr der Gewalt – Paketabschluss unter dem Druck
von Politik und Bomben – Generationswechsel in der SVP
Das Tiroler Gedenkjahr 1984 stand im Zeichen einer patriotischen
Mobilmachung. Alte Wunden wirkten nach oder wurden neu aufgerissen.
Am 24. Februar 1984 verstarb der Fähnrich der Schützenkompanie
Lana Hermann Karnutsch im Alter von 39 Jahren: Er
war wenige Monate zuvor verhaftet worden, nachdem sich seine
Lebensgefährtin mit seiner (ordnungsgemäß gemeldeten) Pistole
umgebracht hatte. Karnutsch stand aber auch im Verdacht, mit den
Attentaten zu tun zu haben, seine Untersuchungshaft wurde ständig
verlängert. Seinem Bruder berichtete er, schwer misshandelt
worden zu sein, noch aus dem Gefängnis wurde er in ein Krankenhaus
überstellt, kurz vor seiner Entlassung verstarb er.
Unter ehemaligen Attentätern wurden Erinnerungen an die Folterungen
in den 60er Jahren wach. Der stellvertretende Landeskommandant
der Schützen Jörg Pircher forderte am 11. Mai 1984
auf einem Festkommers der schlagenden Studentenverbindungen
in Innsbruck von den Politikern „südlich und nördlich des Brenners
bis hinunter nach Wien: Wartet’s nicht mehr lang und tut mehr
für die Selbstbestimmung, bevor’s wieder Blut und Tränen gibt.“
Pircher stammte aus Lana, kannte Karnutsch, war als politischer
Häftling selbst gefoltert worden und als einer der Letzten heimgekehrt.
Knapp zwei Wochen später flossen in Lana tatsächlich
Blut und Tränen: Die Schützen Walter Gruber aus Lana und Peter
Paris aus Ulten kamen bei einer Explosion in Grubers Haus ums
Leben. In italienischen Medien wurde Pirchers Rede als Ankündigung
neuer Gewalt interpretiert, Pircher dagegen rechtfertigte
sich, er habe vor der drohenden Gewalt warnen wollen.
Am 9. September 1984 fand in Innsbruck der Landesfestumzug
als Höhepunkt des Gedenkjahres statt. 20 Schützen trugen eine
Dornenkrone durch die Stadt. Sie war dem Leidenssymbol des
Landesfestumzuges von 1959 nachempfunden und im Auftrag
einer Gruppe um Siegfried Steger heimlich von einem Nordtiroler
251
Das italienische „Unbehagen“ mit der Autonomiepolitik fand den
stärksten Ausdruck in den Erfolgen des Movimento Sociale Italiano (MSI),
später Alleanza Nazionale. Von links: Giorgio Holzmann, Mauro Minniti,
Pietro Mitolo, Adriana Pasquali beim Singen der Nationhymne vor dem
Siegesdenkmal in Bozen (1996).
Schmied angefertigt worden. Als die Dornenkrone die Ehren tribüne
erreichte, klatschte der Tiroler Landeshauptmann Eduard Wallnöfer
mit feuchten Augen Beifall, die Hände seines Südtiroler Kollegen
Silvius Magnago erstarrten. Das war die unterschiedliche
Lesart ein und desselben Bekenntnisses zu Gesamttirol: Wallnöfer
war beeindruckt vom Wiedervereinigungswillen der Südtiroler Patrioten,
Magnago wusste um die Fragilität seiner Autonomiepolitik.
Die Dornenkrone löste eine Serie aufgebrachter Artikel und
Reportagen in der nationalen italienischen Presse aus. Südtirol
kam unter Beschuss und wurde angeprangert, eine undankbare,
von Rom finanziell bestens behandelte und doch separatistische
Provinz zu sein. Ministerpräsident Giulio Andreotti prägte den
Vorwurf des „Pangermanismus“. Spätestens seit dem Landesfestumzug
von 1984 herrschte auf höchster römischer Ebene Alarmstimmung,
dass sich die Lage in Südtirol neu zuspitzen könnte. Es
war vermutlich der erste Anstoß dazu, die 1984 schon verfahrene
Paketdurchführung endlich einem Ende zuzuführen.
Zugleich aber wurde von italienischer Seite eine drastische
Korrektur der Autonomie gefordert. Im Mai 1985 sammelte der
252
MSI Unterschriften für eine Petition an das Parlament. Gefordert
wurden die Abschaffung der Zweisprachigkeitspflicht, die Wiederherstellung
des Vorranges für die italienische Sprache als Staatssprache,
die Abschaffung des ethnischen Proporzes. Die Aktion
stieß vor allem in Bozen unter der italienischen Bevölkerung auf
breite Zustimmung. Erstmals, so schien es, konnten die italienischen
Bürgerinnen und Bürger ihrer Missbilligung der Autonomie
offenen Ausdruck verleihen. Mit 22.758 Unterschriften erreichte
der MSI ein beeindruckendes Ergebnis – und tatsächlich die Aufnahme
des Punktes „Alto Adige“ auf die Tagesordnung des italienischen
Parlaments an zwei Debattentagen Ende 1986 und am
Jahresbeginn 1987.
Die 1978 begonnene Attentatswelle mit ihrem Schlagabtausch
zwischen „deutschen“ und „italienischen“ Bomben war 1983 ausgeklungen.
Ein Jahr lang blieb es ruhig. Im Gedenkjahr 1984 gingen
zwar die Wogen hoch, Anschläge ereigneten sich aber – nach
dem Unfall von Lana – nicht mehr. Der Tod von Walter Gruber und
Peter Paris hatte auch unter Schützen und Heimatbündlern Entsetzen
und Erwachen ausgelöst. Von da an distanzierte sich selbst
die politisch weiterhin militante „Kameradschaft der ehemaligen
Freiheitskämpfer“, die mit dem Blatt „Der Tiroler“ von Nürnberg
aus Stimmung machte (und mit dem „Tiroler Informationsdienst“
TID bis heute macht), von der Gewalt als Mittel der Selbstbestimmungspolitik.
Am 3. Dezember 1984 trat plötzlich eine neue Form
von Terror auf: Schüsse aus einer Maschinenpistole auf eine Carabinieri-Station
in Bruneck, auch ein Mast wurde gesprengt. 1985
gab es wieder keine Anschläge.
Das Motto des Gedenkjahres hatte „Ein Tirol“ gelautet. Und
genau unter diesem Namen trat ab 1986 eine neue Terrorgruppe
mit einer bis dahin ungekannten verbalen und kriminellen Rohheit
auf. Die Anschläge galten bewohnten Gebäuden, die Bekennerschriften
waren von einer primitiv-brutalen, abstoßenden Sprache
(zum Beispiel „Speck aus den Walschen machen“). Das erste Attentat
traf das Postamt in Burgstall in der Nacht vor einem Meran-
Besuch von Staatspräsident Francesco Cossiga und Ministerpräsident
Giulio Andreotti, der Anschlag gefährdete real die im Bahnhof
lebende Eisenbahnerfamilie.
253
Die genaue Abstimmung der Anschläge auf den politischen Terminkalender
wurde von da an konsequent durchgehalten. Einen
Tag vor der Eröffnung der Parlamentsdebatte über Südtirol am
10. Dezember 1986 explodierte ein Sprengkörper unter einem Bus
aus Matera, der in Meran nahe dem Alpini-Denkmal geparkt war.
Die Abstimmung über die Resolutionen wurde für Februar 1987
geplant. In der Silvesternacht 1986 erfolgte erneut ein Anschlag
auf Ministerpräsident Giulio Andreotti, der im Hotel Palace residierte.
Am 24. Jänner wurden die Bozner Wohnungen von MSI-
Chef Pietro Mitolo und DC-Landessekretär Remo Ferretti zum
Ziel von Anschlägen.
Als Erster äußerte Alexander Langer Zweifel, ob die Attentate
nicht ein gegenläufiges Ziel verfolgten und von Geheimdiensten
angestiftet sein könnten. Kurz darauf und unmittelbar vor den
Südtirol-Abstimmungen im Parlament wurden zwei mutmaßliche
Südtiroler Attentäter gestellt – der Möltner Tischler Franz
Frick und der Inneneinrichter Dieter Sandrini. Beide beteuerten
ihre Unschuld, erklärten sich als Opfer einer Intrige, wurden aber
in einem Indizienprozess für schuldig befunden.
Auf die Attentatsserie hatte die Verhaftung der beiden keinen
Einfluss, auch wurden nie Kontakte von Franz Frick und Dieter
Sandrini zu den später ausgeforschten Tätern bekannt. Mit dem
Nahen der Parlamentswahlen 1987 wurde die Gewaltserie noch
heftiger. Angst breitete sich aus, die Täter schossen mit Maschinenpistolen
nachts in bewohnte Häuser, hinter deren Fenster noch
Licht brannte. Mit ihren gehässigen Bekennerschreiben gegen die
italienische Bevölkerung bescherten die Anschläge dem MSI bei
den Parlamentswahlen einen regelrechten „Bombenerfolg“. Mit
über 31.000 Stimmen (10 %) wurde die neofaschistische Partei zur
stärksten italienischen Partei in Südtirol. Mit Andrea Mitolo wurde
erstmals ein Bozner MSI-Exponent ins Parlament gewählt, jeder
dritte Südtiroler Italiener hatte dem MSI seine Stimme gegeben.
Bei den Landtagswahlen 1988 brachte der MSI vier Abgeordnete
in den Landtag – 1978 war Pietro Mitolo noch einziger MSI-Mandatar
gewesen.
Unter den Anschlägen litten besonders der Heimatbund, die
Schützen und Selbstbestimmungsaktivisten in der SVP. Landes-
254
weit wurden Hausdurchsuchungen durchgeführt, viele fühlten
sich eingeschüchtert und kriminalisiert. Im Sommer 1987 wurden
17 Südtiroler, die bei der KSZE-Konferenz in Wien für Selbstbestimmung
demonstriert hatten, wegen Schädigung des nationalen
Ansehens im Ausland verhaftet. Unter den Verhafteten befanden
sich nahezu die gesamte Führungsspitze des Südtiroler Heimatbundes,
aber auch Selbstbestimmungsbefürworter aus der SVP
wie der spätere SVP-Landesjugendreferent Christian Waldner.
Auch gegen Eva Klotz wurde ein Haftbefehl ausgestellt, nur war
sie gerade im Ausland. Bis sie zurückkehrte, war die Affäre juridisch
verraucht. Die Spannung aber blieb. In Berichten des Innenministeriums
wurde ein düsteres Bild der Krisenprovinz Südtirol
gezeichnet.
Die Zweifel an der Urheberschaft der Attentate mehrten sich
ebenso wie Hinweise auf kriminelle und geheimdienstliche Milieus.
Unmittelbar vor den Parlamentswahlen 1987 wurde am 1. Juni
1987 der frühere „Dolomiten“-Fotograf Leo Flenger als mutmaßlicher
Attentäter verhaftet. Er hatte sich selbst mit einem Terroranruf
bei den Carabinieri, den er später als Scherz bezeichnete,
der Verdächtigung ausgesetzt. Nachträglich stellte sich heraus,
dass Flenger ein Kontaktmann des Nucleo Informazioni der Bozner
Carabinieri war. Kurz vor dem Berufungsverfahren Frick-
Sandrini wurde einer der Entlastungszeugen, der Möltner Alois
Heiss, wegen eines Sprengstofffundes auf seinem Hof verhaftet.
Der misstrauisch gewordene Staatsanwalt Cuno Tarfusser ordnete
bald darauf die Freilassung an, weil der Sprengstoff offenbar
hinterlegt worden sei.
Unter dem Eindruck der Attentate und dem wachsenden Druck
aus Rom änderte die SVP ihre Strategie. Hatte sie bis dahin die
Autonomieverhandlungen selbst immer aufs Neue in die Länge
gezogen, in der Hoffnung, weitere Verbesserungen herauszuholen,
ging es nun darum, Verschlechterungen zu verhindern. Die Verhandlungen
zum Abschluss des Paketes begannen am 22. Dezember
1987 zwischen einer Delegation der SVP und Regionenminister
Aristide Gunnella. Im Frühjahr 1988 stimmte das Parlament
in Rom in zwei Abstimmungen dem Ergebnis zu. Für den Herbst
standen die Landtagswahlen mit einem historischen Wechsel an:
255
Urgesteine der Südtirol-Politik fast am Ende ihres Werkes: die
Landeshauptleute Eduard Wallnöfer und Silvius Magnago um 1985.
Silvius Magnago kandidierte erstmals nicht mehr, Spitzenkandidat
war Luis Durnwalder. In Opposition zur eigenen Parteispitze
trat der langjährige Stellvertreter und Hauptverhandler von Silvius
Magnago: Gestützt auf einige wenige Streitgefährten begann
Alfons Benedikter einen allerletzten Versuch, den Paketabschluss
zu stoppen.
Ausgerechnet jetzt schlug die Gruppe „Ein Tirol“, deren Terror
während der Verhandlungen SVP-Gunnella geruht hatte, mit enthemmter
Wucht zu: Am 17. Mai 1988 explodierten fünf Rohrbomben
in Bozen (eine vor dem Rai-Gebäude am Mazziniplatz, die anderen
vor Wohnhäusern in italienischen Vierteln und an der Bahnlinie
Trient-Bozen). Den ganzen Sommer über folgte Anschlag auf
Anschlag, für 21. August wurde in Südtirol Staatspräsident Francesco
Cossiga erwartet. Fünf Tage vorher, am 16. August, erfolgte
der wohl symbolträchtigste Anschlag von „Ein Tirol“ auf die Hochdruckleitung
des Energiekonzerns Enel oberhalb von Lana am Tag
der Beerdigung von Jörg Pircher. Dieser hatte einen ähn lichen,
wenn auch sorgsameren Anschlag in den 60er Jahren verübt. Erstmals
meldete sich wieder die Gruppe „MIA“ zurück und sprengte
256
eine Beregnungsanlage bei Lana. Das Flugblatt erhielt erst Jahre
später Bedeutung: Auf Kuvert und Bekennerschreiben prangte ein
römisches Kurzschwert, das Symbol des damals noch unbekannten
Sondergeheimdienstes Gladio.
Am 3. November 1988 wurde in Innsbruck Karl Außerer verhaftet.
Der vom Deutschnonsberg stammende Tischler war schon in
den 60er Jahren an den Attentaten beteiligt und gehörte zur letzten
aktiven Gruppe um Jörg Klotz. Eine Mitstreiterin war Karola
Unterkircher, Frau von Paul Unterkircher, einem der Pfunderer
Buam, die in den 50er Jahren – wegen Totschlages eines Finanzers
– zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt worden waren. Die
Ermittlungen ergaben nach und nach ein skurriles Bild von „Ein
Tirol“: Es befanden sich vorwiegend Kriminelle darunter, die sich
um 1984 – dem Jahr der Dornenkrone – aus Italien abgesetzt hatten
und bei Außerer Zuflucht suchten. Einzelne von ihnen gaben
später Geheimdienstkontakte zu. Auch wurden im Umfeld Außerers
mehrere Agent provocateurs ausfindig gemacht. Außerer selbst
bekannte sich dessen ungeachtet zu „Ein Tirol“ und erklärte wiederholt,
es sei ein notwendiger, politischer Kampf gewesen.
Zur Last gelegt wurden der Terrorgruppe „Ein Tirol“ insgesamt
46 Anschläge zwischen April 1986 und August 1988. Als Hauptverantwortliche
wurden Ende 1992 vom Landesgericht Bozen Karl
Außerer (15 Jahre) und Karola Unterkircher (zwölf Jahre) verurteilt.
Der Nordtiroler Josef Gredler, der Außerer einmal Sprengstoff
geliefert hatte, erhielt acht Jahre. Von den kriminellen Mittätern
wurde zunächst nur einer verurteilt, in späteren Verfahren
folgten weitere Urteile gegen die mutmaßlichen Haupttäter
Peter Paul Volgger und Karl Zwischenbrugger. In Innsbruck wurde
Außerer zu fünfeinhalb Jahren verurteilt, Karola Unterkircher ging
frei. Als sie bei einer Wanderung am Timmelsjoch am 14. August
1994 leichtfertig die italienisch-österreichische Grenze überschritt,
wurde sie von italienischen Polizisten in Zivil verhaftet.
In Mailand büßte sie eine langjährige Haft ab, gesundheitlich und
psychisch gebrochen wurde sie zur unglücklichen Symbolfigur
eines aus der Zeit und aus jeder politischen Logik gefallenen Aufstandes.
257
In der Südtiroler Bevölkerung hatten die Anschläge ausnahmslos
Kopfschütteln und Abscheu hervorgerufen. Eine Neuauflage des
„Freiheitskampfes“ wurde auch in Kreisen ehemaliger Attentäter
als sinnloses Unterfangen empfunden, weite Kreise der Bevölkerung
wünschten sich Ruhe und Frieden. Andererseits wirkte der
ewige Autonomiestreit ermüdend und frustrierte viele Anhänger
der SVP. Ein Zeichen, die Versöhnungspolitik zwischen den
Sprachgruppen aktiv und ohne Befangenheit anzugehen, setzte
die Kirche. 1985 hatte Bischof Gargitter einen Schlaganfall erlitten,
im Mai 1986 wurde sein Rücktritt angenommen (1991 verstarb er).
Der neue Bischof Wilhelm Egger wählte das lateinische Wort „Syn“
für Miteinander zu seinem Leitmotiv. Anders als seinem Vorgänger,
der wegen der Versöhnungsversuche für viele deutsche Südtiroler
zum „walschen Seppl“ wurde, konnte der ehemalige Kapuzinerpater
damit durchaus die Herzen der Menschen erreichen, wegen
seiner betont sanftmütigen Art mitunter belächelt, aber doch mit
wachsendem Zuspruch. Der Zwillingsbruder des Bischofs, Kurt
Egger, hatte sich mit sprachwissenschaftlichen Untersuchungen
zur Zweisprachigkeit einen Namen gemacht, ihm ist der Abbau
vieler Vorurteile über die Gefährdung der Muttersprache durch
das frühe Erlernen weiterer Sprachen zu danken.
Mit dem Endspurt zum Paketabschluss und der letzten Gewaltwelle
hatte die Autonomie einen Härtetest bestanden. Der Landwirtschaftslandesrat
und frühere Bauernbunddirektor Luis Durnwalder
trat zu den Landtagswahlen 1988 als neue Nummer 1 der
SVP im Zeichen einer politischen Öffnung an. In Durnwalders Programm
fand sich eine Formel, die – von Alexander Langer geprägt –
lange als Strategie der Vermischung und Schwächung der Südtiroler
Volksgruppen gegolten hatte: das „friedliche Zusammenleben“.
Mit einem Vorzugsstimmenergebnis von über 76.000 Stimmen
übertraf Durnwalder sogar das Rekordergebnis seines Vorgängers
Magnago. Dies ließ sich teilweise dadurch erklären, dass Durnwalder
– anders als der Parteiorganisationen gegenüber stets distanzierte
Einzelkämpfer Magnago – auch von starken Verbänden
wie dem Bauernbund und der Wirtschaft unterstützt worden war.
Mit einem so starken Antritt konnte Durnwalder aus dem Schatten
258
seines Vorgängers treten und die Agenda Südtirol in die eigene
Hand nehmen.
Magnagos letzte Jahre als amtierender SVP-Obmann brachten
für diesen einen schmerzhaften Bedeutungsverlust, alle Macht
und Aufmerksamkeit war auf den Landeshauptmann konzentriert.
Für die Schlussrunde in den Paketabschlussverhandlungen
ließ sich Magnago von Roland Riz im Amt ablösen, seinem
einstigen Widersacher in der Kraftprobe mit dem „Aufbau“. Riz
war gewissermaßen der jüngste einer abtretenden Generation, er
verstand sich als Übergangsobmann, nahm den Paketabschluss in
die Hand und trat unmittelbar nach dem Abschluss des Paketes
zurück. Nachfolger wurde Siegfried Brugger, Sohn des ehemaligen
Paketgegners Peter Brugger, mit klaren Aussagen zur Fortsetzung
der Autonomiepolitik. Magnago wurde zum allseits geachteten
Ehrenobmann, stiftete sein Vermögen der Partei („Silvius
Magnago-Stiftung“) und trat noch jahrelang in Krisenmomenten
als „Feuerwehrmann“ und moralisches Gewissen „seiner“ Partei
auf. Alle Schalthebel aber gingen in die Hand Durnwalders über,
der davon lustvollen Gebrauch machte. Unabhängig davon, wer
in der SVP die Obmannschaft innehatte, wurde das Landeshauptmannbüro
zur Schaltstelle der künftigen Südtirolpolitik, ausgestattet
mit einer Fülle von Kompetenzen und jährlich sprunghaft
wachsenden finanziellen Mitteln. Südtirol war der Volk-in-Not-Zeit
entwachsen, es begannen die Jahre des Autonomiewunderlandes.
259
Vom Wechsel der Zeiten
Von Silvius Magnago zu Luis Durnwalder – Emanzipation und
Auslebung autonomer Lusttriebe – Demokratisierungsbedürfnis
in Medienwelt und Politik
Als am 17. März 1989 Silvius Magnago spät am Abend einsam sein
Büro verließ und – wie so oft – selbst die Lichter ausmachte, nachdem
er den Fotografen schon Stunden vorher einen offiziellen
Abgang vorgetäuscht hatte, ging eine Ära zu Ende. Im Südtiroler
Landtag war am selben Tag, nach mehrmonatigen Koalitionsverhandlungen,
Luis Durnwalder zum Landeshauptmann gewählt
worden. Kraftvoll ging er ab der ersten Stunde seiner Amtszeit an
die neue Aufgabe.
Mit Durnwalder änderten sich schlagartig Sprache und Umgangsformen
der Südtiroler Politik. Die distanzierte Zurückhaltung
Magnagos wich einer Politik des Schulterklopfens und des Bades
in der Menge. In Durnwalders Büro war jeder Morgen „Tag der
offenen Tür“. Zuerst ab 7 Uhr, dann wegen des starken Andrangs
immer früher stand sein Büro von Anfang an Bittstellern aus dem
ganzen Land offen. Die Medien, zu denen Magnago ein eher misstrauisches
Verhältnis gepflegt hatte, lud Durnwalder jeden Montag
zur Pressekonferenz, bald hatten alle wichtigen Medienleute
im Land seine Handynummer.
Der Stilwandel war nicht nur Ausdruck eines (lange verzögerten)
Generationswechsels, er entsprach auch den der Politik vorausgeeilten
Veränderungen in der Südtiroler Gesellschaft und
Medienwelt. Die Aufhebung des staatlichen Rundfunkmonopols
1976 hatte unmittelbar die Gründung von Privatradios und eines
deutschsprachigen privaten Fernsehsenders zur Folge. Den Anfang
machte „Radio Bolzano Dolomiti“, gefolgt von der „Freien Südtiroler
Welle“ (FSW), die mit Jahresbeginn 1976 zunächst von der
Küche des Gründers Christian Chindamo von Witkenberg aus
sendete. 1977 nahm Television Südtirol (TVS) seine Sendungen
auf. Aufgrund von Schwierigkeiten bei der Frequenzbeschaffung
und der ausbleibenden Werbeeinschaltungen war dem Südtiroler
260
Abgang eines Großen (links): Am 17. März 1989 schied Silvius Magnago
endgültig aus seinem Amt als Landeshauptmann. Amtsübergabe (rechts):
Luis Durnwalder trat schneller aus dem Schatten seines Vorgängers, als
irgendjemand damals geglaubt hätte.
Privatfernsehen ein schwieriges Dasein beschert. Letztlich fand
das Projekt aber Fortsetzung in dem zunächst privat, dann vom
ORF mit Unterstützung der Länder Südtirol und Tirol getragenen
Sendeformat „Südtirol heute“, begleitet von späteren Versuchen,
italienische und schließlich sprachgruppenübergreifende Privatsender
aufzubauen (u.a. Videobolzano 33, TCA, Südtirol Digital
Fernsehen SDF).
Die neuen Radiosender konnten mit einem im Vergleich zur
staatlichen RAI frischen, jugendgerechten Musikprogramm punkten.
Der Erfolg ermutigte FSW-Gründer Christian Chindamo 1980
zu einem Aufbruch auch im Printmediensektor. Zusammen mit
dem SVP-Landtagsabgeordneten und Präsidenten der Rundfunk-
Anstalt Südtirol (RAS) Klaus Dubis erkannte er eine Marktlücke
in dem auf deutscher Seite von den „Dolomiten“ nahezu monopolartig
beherrschten Markt. Durch den Empfang der TV-Programme
aus Österreich, Deutschland und der Schweiz war Südtirol
europaweit ein Fernseheldorado. Überall sonst waren die staatlichen
TV-Monopole noch intakt, in Südtirol konnte im Vergleich
261
zu den europäischen Nachbarländern und zum restlichen Italien
eine Vielzahl von Sendern empfangen werden. Was fehlte, war eine
Programmzeitschrift, die diesem Angebot gerecht wurde, da sich
die italienischen und ausländischen deutschsprachigen TV-Zeitschriften
auf das knappe jeweilige Monopolangebot beschränkten.
Der Südtiroler Unternehmer Christoph Amonn, Sohn des
SVP-Gründers Erich Amonn, ließ sich für die Idee gewinnen. Als
Repräsentant des liberalen Bozner Bürgertums sah er in der Gründung
einer Zeitschrift eine notwendige gesellschaftliche Öffnung
Südtirols hin zu mehr Pluralismus. Mit der Wochenzeitschrift
„FF – Die Südtiroler Illustrierte“ wurde der Versuch gewagt, an der
Athesia vorbei ein politisch zunächst unverdächtiges Medium zu
etablieren. Nach einigen unscheinbaren Jahren entwickelte sich
das Blatt von der Fernseh- und Freizeitillustrierten zum politischen
Wochenmagazin. Nach und nach setzte die „FF“ einen kritischen
Journalismus durch, der auch alle anderen Redaktionen
einschließlich jener der „Dolomiten“ beeinflusste. Anders als die
Sprachrohre der Linksopposition wie „brücke“, „Volkszeitung“ und
deren Nachfolgeblatt „Tandem“ trat die „FF“ weitgehend ideologiefrei
auf, pflegte eine populäre Schreibweise und erreichte dadurch
breitere Bevölkerungsschichten.
Eine kritische Berichterstattung hatte bis dahin fast ausschließlich
das „Blatt für deutsche Leser“ im „Alto Adige“ gepflegt, das aber
mit dem Misstrauen der deutschen und ladinischen Bevölkerung
zu kämpfen hatte. Ebenso wie die beim „Alto Adige“ gedruckten
frühen Alternativmedien „Standpunkt“ und „Alpenpost“ wurde
auch das „Blatt für deutsche Leser“ über lange Zeit aus Quellen
des Innenministeriums finanziert. Dank einer engagierten Redaktion
löste sich das „Blatt für deutsche Leser“ allmählich von dieser
Vergangenheit, verlor aber für die Herausgeber des „Alto Adige“
mit dem Schwinden der Staatsbeiträge zugleich auch den früheren
Stellenwert. 1999 wurde es eingestellt, im ethnisch weitgehend
geteilten Medienmarkt hatte es seine Position verloren.
Nach und nach entstand gemessen an der Kleinheit des Landes
eine beachtliche Anzahl deutschsprachiger Medien, zum Teil
durch unabhängige Initiativen, zum Teil durch strategische Blattgründungen
des Athesia-Verlages beim Aufkommen von Konkur-
262
renz. Als Reaktion auf die „FF“ gab Athesia zunächst die TV-Beilage
„Dolomiten-Magazin“ heraus. 1989 wurde die in politisch und
ethisch-religiösen Fragen etwas von der Leine gelassene Sonntagszeitung
„Zett“ gegründet. Mit immer neuen Beilagen und Journalen
wie „Wirtschaftskurier“ und „Radius“ versuchte Athesia den
differenzierter gewordenen Anforderungen von Publikum und
Werbewirtschaft gerecht zu werden. „Die Frau“ wurde aufgemöbelt,
schließlich 2007 das Lifestyle-Magazin „IN Südtirol“ auf den
Markt gebracht, mit demselben Erscheinungstag wie die „FF“.
In den Südtiroler Talschaften entwickelten sich in den 90er
Jahren ebenfalls weitgehend an der Athesia vorbei starke Bezirksblätter,
so „Der Erker“ im Wipptal, „Der Brixner“ im Eisacktal,
die „BAZ“ im Meraner Raum, „Der Vinschger“ und die „Pustertaler
Zeitung“. Im Pustertal versuchte die Athesia mit „Do Puschtra“
entgegenzuhalten, im Vinschgau erwarb sie nach jahrelangem
Tauziehen Anteile an der „Vinschger Medien GmbH“, worauf der
unabhängige „Vinschger Wind“ gegründet wurde. Jüngere Bezirkszeitschriften
sind „Plus“ für den Raum Bozen und „Die Weinstraße“
für Überetsch und Unterland.
Dass sich das Bedürfnis nach Meinungsvielfalt und freierer
politischer Auseinandersetzung durchsetzen konnte, war eine
verzögerte Folge des Autonomiestatutes. Mit der allmählichen
Absicherung der Südtiroler Minderheit wich zwangsläufig auch
der Einheitsdruck in der Bevölkerung. Im Frühjahr 1992 wurden
die letzten Amtshandlungen zum Paketabschluss vorgenommen.
Selbst die jahrzehntelang strittige „internationale Absicherung“
der Autonomie wurde faktisch erreicht. Ministerpräsident Giuliano
Amato erwähnte den Abschluss des Südtirol-Pakets nicht
mehr im innenpolitischen Teil seiner Rede, sondern im außenpolitischen
Abschnitt. Das war ein gleich subtiles wie substanzielles
Abrücken vom bis dahin meist eisern gewahrten italienischen
Rechtsstandpunkt, dass es sich beim Paket ausschließlich
um eine „interne Regelung“ ohne internationalen Charakter handle.
Im April 1992 wurden die letzten, von Roland Riz ausgehandelten
Durchführungsbestimmungen verabschiedet. Mit einer diplomatischen
Note vom 22. April übergab Italien der österreichischen
Botschaft in Rom alle Paketmaßnahmen und Durchführungsbe-
263
Historische Landesversammlung: Mit dem Paketabschluss von 1992 ging
die Ära des Autonomiekampfes auch formal zu Ende, die letzten Verhandlungen
führte Roland Riz als neuer SVP-Obmann (links), Magnago assistierte
bis zum Schluss; neben ihm Luis Durnwalder und Tirols Landeshauptmann
Alois Partl.
stimmungen mit ausdrücklichem Hinweis auf den Pariser Vertrag
und das Autonomiestatut. Am 30. Mai stimmten auf der Landesversammlung
der SVP 82,86 Prozent der Delegierten dem Paketabschluss
zu. Ehrenobmann Magnago kommentierte das Verhandlungsergebnis
mit einem legendär gewordenen Satz: „I find nix
mehr, was noch herauszuholen wäre.“
Der formelle Paketabschluss verlief nach einem im Detail
zum Teil schon 1969 mit dem „Operationskalender“ vereinbarten,
auch juridisch bedeutungsvollen Zeremoniell. Am 4. Juni nahm
der Tiroler Landtag die Zustimmung zur Kenntnis, am 5. Juni
der Nationalrat (mit den Stimmen von SPÖ, ÖVP und Grünen bei
30 Gegenstimmen der FPÖ). Am 10. Juni tauschten sich Österreich
und Italien in Wien die Ratifikationsurkunden aus, mit denen der
Internationale Gerichtshof (IGH) als Schiedsstelle für zukünftige
Streitfragen anerkannt wurde, am 11. Juni bestätigte Außenminister
Alois Mock dem italienischen Botschafter mit einer Note, dass
Österreich die Durchführung des Pakets anerkenne, die italienische
Botschaft übergab zur Bestätigung eine Antwort-Note. Am
264
19. Juni 1991 erklärten die UN-Botschafter Italiens und Österreichs
gegenüber UNO-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali die formelle
Beendigung des seit 1960 behängenden Streitfalles. Damit
verbunden war das Ersuchen, diese Streitbeendigungserklärung
der UN-Generalversammlung vorzulegen, die 1960 und 1961 Italien
und Österreich zu Verhandlungen aufgefordert hatte. Ähnliche
Mitteilungen gingen an die Europäische Gemeinschaft und
an die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
(KSZE). Die einzelnen diplomatischen Schritte, Notenwechsel und
Erklärungen sind deshalb wichtig, weil sie im Zusammenspiel die
– von Italien stets bestrittene – Internationalisierung des Paketes
und aller Durchführungsbestimmungen belegen.
Am Paketabschluss, zum Teil auch nur zeitlich mit diesem
zusammenfallend, entzündete sich – wie schon an der Paketannahme
1969 – innerhalb Südtirols eine Dynamisierung der politischen
Verhältnisse. Nachdem er mit seiner internen Opposition
keine Wende herbeiführen konnte, trat Magnagos langjähriger
Stellvertreter Alfons Benedikter aus der SVP aus und gab damit
den Anstoß zu einem oppositionellen Schulterschluss. Die aus
der PDU hervorgegangene „Freiheitliche Partei Südtirols“ (FPS)
mit Gerold Meraner und der Wahlverband des Südtiroler Heimatbundes
von Eva Klotz schlossen sich mit dem „Freundeskreis
Dr. Benedikter“ zur „Union für Südtirol“ zusammen. Mit drei Abgeordneten
war das Trio schlagartig, wenn auch nur vorübergehend
stärkste deutschsprachige Oppositionsgruppe im Landtag. Es erging
ihr wie den meisten Südtiroler Kleinparteien. 1993 blieben von
den drei Mandaten nur zwei übrig (Benedikter und Klotz). Dann
verließ Benedikter die Union, weil sie durch die Ausrichtung als
Bürgerprotestpartei die volkstumspolitischen Anliegen vernachlässige.
Bis zu den Wahlen 1998 saß Benedikter noch als Unabhängiger
im Landtag, danach zog er sich aus der aktiven Politik zurück.
Erstmals trat im Landtagswahlkampf 1993 eine eigenständige
ladinische Liste an. Von 1945 an hatte sich die Bevölkerung von
Gröden und Gadertal weitgehend in der SVP daheim gefühlt. Nur
eine Minderheit wählte italienische Parteien. Eine Ausnahmeerscheinung
war in den 70er Jahren der beliebte Lokalpolitiker
Pepi Martiner, der sich von einer Kandidatur bei der DC bessere
265
Gestaltungsmöglichkeiten als in der SVP erhoffte. Mit Martiners
Tod im Jahr 1976 durch einen Verkehrsunfall verlor sich eine mögliche
ladinische Gegenbewegung zur SVP. Erst 1993 erhob die Liste
„Ladins“ mit der Wahl von Carlo Willeit in den Landtag wieder
Anspruch auf eine Selbstvertretung der ladinischen Bevölkerung.
1998 konnte die Liste ihren Erfolg wiederholen. Erst mit der Aufwertung
ihres ladinischen Landesrates Florian Mussner konnte
die SVP wieder Terrain gutmachen und die „Ladins“ bei den Landtagswahlen
2003 wieder verdrängen.
Eine neue Bewegung wuchs um 1990 in der SVP-Jugend und
in jüngeren Kreisen der Schützen heran. In der SVP-Jugend war
es unter Landesjugendreferent Christian Waldner und Landesjugendsekretär
Peter Paul Rainer zu einer Positionierung gegen
den Paketabschluss gekommen, ehemalige JG-Aktivisten wie Pius
Leitner und Stephan Gutweniger besetzten die Spitzenpositionen
im Südtiroler Schützenbund. Der forsche Kurs störte die SVP-
Führung. Eine Großkundgebung für die Wiedervereinigung Tirols
am Brenner 1991 wurde von SVP-Obmann Roland Riz boykottiert,
Luis Durnwalder erlebte während seiner Rede ein Pfeifkonzert.
Spätestens in der Schlussphase des Paketabschlusses 1992 arbeiteten
Waldner, Rainer, Leitner und Gutweniger auf die Gründung
einer neuen Partei hin, die neben volkstumspolitischen Akzenten
auch eine gesellschaftliche Erneuerung und Demokratisierung
anstreben sollte. Die zum Teil unterschiedlichen Vorstellungen
mündeten nach dem Paketabschluss 1993 in der Gründung der
„Freiheitlichen“ mit dem österreichischen F-Chef Jörg Haider als
Schirmherr. Die enge Anlehnung an die österreichischen Freiheitlichen
und ihre Kärntner Symbolfigur verengte die politische Ausrichtung
der neuen Bewegung. Schon im ersten Wahlkampf wurde
die Ausländerfrage in den Vordergrund gestellt. Im Haider-Look
zogen Waldner und Leitner triumphierend in den Landtag ein. Mit
der Union für Südtirol bildete die volkstumspolitische Opposition,
wiewohl personell zerstritten, einen starken Block.
Zugute kam ihr dabei die Erschütterung Italiens durch die
Erfolge der zunächst vorwiegend föderalistisch auftretenden
Lega Nord. Lega-Chef Umberto Bossi weckte mit seiner Forderung
nach einer Dreiteilung Italiens auch in Südtirol neue Hoffnungen.
266
SVP-Vizeobmann Ferdinand Willeit, der als möglicher Nachfolger
für Silvius Magnago gegolten hatte, verfasste einen Aufruf unter
dem Motto „Selbstbestimmung – jetzt oder nie“. Das vermeintlich
Unmögliche schien plötzlich möglich. Die Wahlerfolge Bossis ließen
zunächst in der Lombardei, dann italienweit die staatstragenden
Parteien zusammenbrechen. Staatsanwälte, allen voran Antonio Di
Pietro, sahen sich ermutigt, auch gegen Politiker von DC und PSI
vorzugehen. Die Flut an Ermittlungsbescheiden wegen Schmiergeldverdachts
beendete die jahrzehntelange Vorherrschaft der
DC. Und auch der unter dem Ministerpräsidenten Bettino Craxi
erstarkte PSI löste sich praktisch auf.
Enthüllungen über „Tangentopoli“, versuchte Staatsstreiche,
manipulierte Blutbäder und fehlgeleitete Ermittlungen durch
Geheimdienste drängten den Staatsapparat in die Defensive. In
Südtirol geriet der stellvertretende Landeshauptmann Remo Ferretti
(DC) als prominentester Angeklagter ins Visier der Schmiergeldermittler.
Während die traditionelle italienische Parteienlandschaft
damit auch in Südtirol bis auf den MSI zerschlagen wurde,
konnte die SVP trotz einzelner Affären die Schmiergeldermittlungen
unbeschadet überstehen, ein Ermittlungsverfahren gegen
Luis Durnwalder wegen Begünstigung („Schwimmbad-Affäre“)
wurde archiviert.
Mit rund 104.000 Vorzugsstimmen bei den Landtagswahlen 1993
setzte Luis Durnwalder neue Maßstäbe. Kraftvoll, für seine Gegner
schon brachial, hatte er eine Öffnung der stark defensiv ausgerichteten
SVP-Politik nach allen Richtungen eingeleitet: Die von
Alfons Benedikter eingeführten urbanistischen Beschränkungen
der Bautätigkeit wurden zugunsten von Liberalisierungen für die
Wirtschaft gelockert. Gegenüber der italienischen Sprachgruppe
zeigte sich Durnwalder von spontaner Offenheit, aufgeschlossene
Kräfte in der SVP fanden neuen Spielraum, schrittweise kam die
Landesregierung – meist unter dem Deckmantel von „Pilotprojekten“
– Forderungen der italienischen Sprachgruppe entgegen.
So durfte allmählich in den italienischen Kindergärten versuchsweise
und außerhalb der offiziellen Öffnungszeiten Deutsch gelehrt
werden, nach und nach wurden auch Schulversuche mit innovativem
Sprachunterricht genehmigt. Allmählich wichen die damit
267
verbundenen, tief sitzenden Ängste vor einer Unterwanderung
der deutschen Schule und einer Schwächung der Muttersprache.
Die Entspannung zeigte sich deutlich bei der Volkszählung 1991.
Erstmals wurde – bei Wahrung der namentlichen Sprachgruppenerhebung
– allen die Möglichkeit eingeräumt, sich als „Andere“ zu
deklarieren; für die Zwecke des Proporzes mussten sich auch diese
weiterhin einer der drei offiziellen Sprachgruppen „angliedern“.
Damit war der Volkszählung viel von ihrem Gift genommen, erstmals
tat sich Alexander Langer mit seiner Kampagne gegen die
Sprachgruppentrennung schwer, wenn auch seiner Versöhnungspolitik
plötzlich Tür und Tor offen zu stehen schienen.
Die Konfrontation mit der als zu rigide erachteten Autonomiepolitik
hatte Langer bis dahin Wahl für Wahl gestärkt. Mit der
„Alternativen Liste für das andere Südtirol“ kam er 1983 auf fast
13.000 Stimmen und 4,5 Prozent. 1988 verzeichnete seine „Grün-
Alternative Liste – Lista Verde Alternativi“ mit 20.549 Stimmen
das stärkste Wachstum, nur knapp verfehlte Langer ein drittes
Mandat. 1993 legten die „Verdi-Grüne-Vërc“ mit dem Frauen-Duo
Alessandra Zendron und Christina Kury sogar noch zu, wurden
von der Wahlarithmetik aber erneut auf zwei Mandate reduziert
(die DC kam damals mit fast halb so vielen Stimmen ebenfalls auf
zwei Mandate). Langer selbst feierte 1989 und 1994 seine größten
persönlichen Erfolge. Er wurde als Außenseiter – aber mit
starkem Zuspruch aus ganz Italien – zweimal hintereinander ins
Europaparlament gewählt, in das bis dahin nur je ein SVP-Vertreter
hatte einziehen können.
Unermüdlich in den Krisengebieten des zusammengebrochenen
Jugoslawien unterwegs, erwarb sich Langer im Europäischen
Parlament hohes Ansehen auch bei politischen Gegnern wie Otto
von Habsburg. Nachfolgekämpfe in seiner Bewegung in Bozen enttäuschten
ihn, auch suchte er für seine Vision Auswege aus der ewigen
Opposition. Bei den Gemeinderatswahlen in Bozen 1995, bei
denen aufgrund des neuen Wahlrechts der Bürgermeister direkt
gewählt wurde, hoffte er auf seine Chance. Seine Kandidatur scheiterte
aber schon im Vorfeld an der fehlenden Sprachgruppenerklärung.
Er hatte seine Opposition zur Volkszählung konsequent aufrechterhalten.
Schon in den 80er Jahren war er wegen fehlender
268
Alexander Langer schaffte als
Europaabgeordneter den Sprung
vom geächteten Oppositionellen
zum anerkannten Friedensbotschafter.
Sprachgruppenerklärung vom Schuldienst ausgeschlossen worden.
Erst 1987, als er die Stelle schon lange nicht mehr brauchte, konnte
Langer den Ausschluss vor Gericht zu Fall bringen.
Bei den Wahlen 1995 versuchte Langer vergeblich, eine Gesetzesänderung
zu erwirken. Während für Landtags-, Parlaments- und
Europawahlen die Sprachgruppenbescheinigung mit einer Ad-hoc-
Erklärung nachgeholt werden konnte, war dies bei Gemeindewahlen
nicht möglich, Langer wurde von der Liste gestrichen. Erster
direkt gewählter Bürgermeister der Landeshauptstadt wurde der
Kandidat des italienischen Mitte-links-Bündnisses Giovanni Salghetti
Drioli. Als kommissarischer Verwalter der Stadt hatte Salghetti
von 1988 bis 1989 die Gemeindeverwaltung aus einer verfahrenen
Situation geführt. Breiteste Sympathie trug ihm die Rettung
und Sanierung der Talferbrücke ein, die einem Brückenneubau
hätte weichen sollen. Salghetti bekleidete das Bürgermeisteramt
von 1995 bis 2005, nach dem Ausscheiden des deutschen Kandidaten
in der ersten Wahlrunde wurde er in der Stichwahl stets auch
von der SVP unterstützt. Seinen bittersten Moment erlebte Sal-
269
ghetti im Oktober 2002: Er hatte, als Kind einer Flüchtlingsfamilie
aus dem jugoslawisch besetzten Istrien, als Zeichen der ethnischen
Aussöhnung den Bozner Siegesplatz 2001 in „Friedensplatz –
Piazza della Pace“ umtaufen lassen. Am 6. Oktober wurde durch
ein von Alleanza Nazionale angestrengtes Referendum der historisch
belastete Name „Siegesplatz – Piazza della Vittoria“ wieder
eingeführt. Durch Salghettis Einsatz aber waren wenigstens die
Militäraufmärsche vom Siegesplatz weg verlegt worden.
Langers Kampf gegen die Volkszählung und ihre Auswirkungen
waren 1995 auch langjährige Weggefährten nicht mehr gefolgt,
sein Ausschluss von der Bürgermeisterkandidatur verklang nahezu
ohne Solidarität. Das Projekt des „friedlichen Zusammenlebens“
schien sich – wenn auch nur vordergründig – überlebt zu haben.
Erschöpfung und Selbstausbeutung über Jahrzehnte nahmen wohl
überhand. In einem Olivenhain bei Florenz, wo seine Frau lebte,
beendete Alexander Langer am 3. Juli 1995 erst 49-jährig sein Leben.
Auf einem Zettel hinterließ er neben persönlichen Anmerkungen
eine Botschaft an seine Anhänger: „Die Lasten sind mir zu schwer
geworden, ich derpack’s einfach nimmer. Bitte verzeiht mir alle
– auch die Art des Weggehens – Dank habe, wer mir beim Tragen
geholfen hat – keine Bitterkeit verbleibt gegen jene, die mir draufgeladen
und erschwert haben. ‚Kommt alle zu mir, die ihr mühselig
und beladen seid’ – auch dieser Einladung zu folgen, fehlt die
Kraft. So gehe ich weg als Verzweifelter, der nicht mehr kann. Seid
nicht traurig, macht weiter, was gut war.“
Erst nach seinem Tod bekam Langer Recht, aber nicht auf politischem,
sondern auf juridischem Wege. Die SVP sah nun ein, dass die
unterschiedliche Regelung für das passive Wahlrecht bei Gemeindeund
Landtagswahlen einer Klärung bedürfe. Die Klärung erfolgte
aber nicht im Sinne Langers, sondern so, dass Ersatzbescheinigungen
auch bei Landtagswahlen abgeschafft wurden. In der Folge
wurde 1998 auch der Bozner Landtagskandidat Ivo Beltramba von
der Kandidatenliste gestrichen. Den darauffolgenden Rechtsstreit
entschied das Höchstgericht mit einer Grundsatzaussage, die auch
für Langers Fall posthum klärend war: Das Recht auf eine Kandidatur
sei von einer derart hoch- und vorrangigen Bedeutung, dass es
nicht anderen Rechten untergeordnet werden dürfe. Eine gesetz-
270
liche Neuregelung schien der SVP trotzdem nicht mehr nötig. Im
Herbst 2000 trat die Bewegung gegen die Volkszählung (MOET)
um Eugen Galasso in den Hungerstreik gegen die bevorstehende
Volkszählung 2001, die SVP blieb unnachgiebig, eine ernsthafte
Konfrontation blieb aber aus. Der Prinzipienstreit schien im politischen
Alltag seine Bedeutung verloren zu haben. 2011 wurde die
Sprachgruppenerhebung erstmals anonym durchgeführt, so wie
Langer es gefordert hatte.
271
Die Erntezeit der Autonomie
„Durnwalder-Ära“ auf ihrem Zenit – Entspannungspolitik
und Emanzipation – Vom „Volk in Not“ zum „Modell Südtirol“ –
Perspektive „Europaregion“
Um die Jahrtausendwende schien Südtirol eine Belle Époque zu
erleben. Alle politischen Konflikte, die so lange nachgewirkt hatten,
schienen sich zu verflüchtigen. Der ethnische Proporz wurde –
abseits seiner aufgeladenen Symbolik und gelegentlichem Postenstreit
– von den italienischen Rechtsparteien als Schutzbestimmung
auch für die italienische Sprachgruppe erkannt, da diese sonst ja
in den vorwiegend deutschen Gemeinden und in der SVP-dominierten
Landesverwaltung übervorteilt werden könnte. Härtefälle
wurden durch eine kulante Anwendung des Proporzes weitgehend
vermieden, für die deutsche Bevölkerung verlor er viel von seiner
früheren Bedeutung. Die Zweisprachigkeitsprüfung, bei der
viele an der Übersetzungsaufgabe mit kniffligen Grammatikfallen
scheiterten, wurde in einen etwas moderneren Sprachtest umgewandelt.
Von 1978 bis 1999 traten 142.044 Personen zur Prüfung
an, nur 41,1 Prozent bestanden sie. Ab 1999 stieg die Erfolgsquote
auf 61,4 Prozent, eine oft als zu rigide empfundene Hürde blieb
die Prüfung aber weiterhin, vor allem auch aufgrund der abnehmenden
Italienischkenntnisse auf deutscher Seite.
Die Umwandlung des MSI in Alleanza Nazionale 1995 nutzte
vor allem der AN-Politiker Giorgio Holzmann für eine Annäherung
an die Autonomieparteien. Der bis dahin kompakte italienische
Rechtsblock erlitt erste Risse. Bei den Landtagswahlen 1998
nahm die Splitterbewegung „Unitalia – Fiamma Tricolore“ dem
ehemaligen MSI einen von vier Sitzen ab. Die Democrazia Cristiana
löste sich aufgrund der nationalen Skandale in Einmann-
Parteien auf. Die „Popolari“ und „Il Centro“ versuchten die Mitte
zu besetzen, der linke DC-Flügel tat sich mit den ehemaligen Kommunisten
zu einem Mitte-links-Bündnis mit wechselnden Namen
zusammen. Als Einmann-Fraktionen stellten die drei Gruppen
für die SVP dankbare, weil schwache Regierungspartner dar. Auf
272
eine Zusammenarbeit mit dem örtlichen Ableger von Forza Italia
(1993 von Silvio Berlusconi gegründet, in Südtirol 1998 erstmals
mit einem Mandat vertreten) konnte die SVP somit verzichten.
Auf deutscher Seite konnte sich die SVP gegen eine eher schwächer
werdende Opposition zunächst wieder stärken. Die Grünen
hielten zwar ihre zwei Mandate, aber der Verlust von Alexander
Langer nahm der Bewegung ihre provokatorische Zielsicherheit
und strategische Lebendigkeit. Die Freiheitlichen gerieten nach
dem guten Start von 1993 durch den Mord an ihrem Gründer Christian
Waldner in eine Existenzkrise. Des Mordes angeklagt und
– trotz Unschuldsbehauptung bis in die letzte Instanz – verurteilt
wurde sein engster Freund und Ideologe der Freiheitlichen Peter
Paul Rainer. Bei den Ermittlungen wurden im Parteibüro der Freiheitlichen
zugemauerte Kugeleinschläge von Schießübungen festgestellt,
die Rainer dort mit Freunden unternommen hatte. Leitner
konnte sein Mandat bei den Landtagswahlen 1998 zwar retten, die
Bewegung schien aber geknickt. Die Union für Südtirol stand mit zwei
Mandaten gefestigt da, geriet durch einen Zwist zwischen Eva Klotz
und Andreas Pöder aber bald darauf ebenfalls in eine interne Krise.
Weit mehr gefordert war die SVP von internen Strömungen,
die nach Neuausrichtung und Demokratisierung verlangten. Die
„Neue Mitte“ um Ferdinand Willeit, Hans Benedikter und Oskar
Peterlini forderte sozial-, wirtschafts- und umweltpolitische Akzentverschiebungen.
Die SVP-Arbeitnehmer erwogen im Vorfeld
der Landtagswahlen 1998 ernsthaft eine eigenständige Kandidatur.
Der langjährige SVP-Sprecher im Landtag Hubert Frasnelli trat
offen für die Bildung einer ökosozialen Plattform ein. Die Mehrheit
der SVP-Arbeitnehmer-Spitze entschied sich aber letztlich für den
Verbleib in der Sammelpartei. Frasnelli trat 1999 nach einer Suspendierung
durch das Schiedsgericht demonstrativ aus der Partei aus,
Sepp Kußtatscher folgte ihm aus Solidarität. Die Arbeitnehmerpioniere
aus der Gründerzeit Erich Achmüller und Rosa Franzelin
zogen sich zurück. Damit war eine Schwächung der lange stärksten
internen Gegenkraft zum „System Durn walder“ eingeleitet, die
SVP-Arbeitnehmer gewannen 2003 zwar noch an Positionen dazu,
verloren aber an politischem Profil und brachen 2008 schwer ein,
als sich auch ihre letzte Galionsfigur aus der Gründerzeit zurück-
273
zog, der Durnwalder-Vize und langjährige Gesundheits- und Soziallandesrat
Otto Saurer.
Der Unmut über die Machtkonzentration in der SVP sowohl auf
Landesebene als auch in vielen Gemeinden, über sozial oder ökologisch
unsensible Einzelentscheidungen fand andere Ventile, so
vor allem in punktuellen Protestaktionen von Bürgerbewegungen
und bei den Gemeindewahlen. Schon 1995 erlitt die SVP in vielen
Ortschaften schwere Einbußen. Vor Ort wurden die Machtverhältnisse
eines De-facto-Einparteiensystems von immer mehr Bürgerinnen
und Bürgern stärker empfunden als in der Landespolitik.
Zugleich schien die Notwendigkeit des Zusammenhaltes in einer
einzigen Partei auf Gemeindeebene und bei örtlichen Streitfällen
weniger zwingend als bei Landtags- und Parlamentswahlen. Bewegung
in die Partei brachten die selbstbewusster auftretenden SVP-
Frauen, die sich in Einzelkonflikten nicht mehr so ohne weiteres
der meist männerdominierten Parteilinie beugten.
Im Südtiroler Kulturleben hatte sich das Bedürfnis nach politischer
Vielfalt und freierer Lebensgestaltung schon länger durchgesetzt.
Mit Joseph Zoderers Erfolgen in deutschen Verlagen lebte
die Südtiroler Literatur seit den 80er Jahren sichtbar auf, allmählich
auch weniger auf die Südtiroler Opfergeschichte konzentriert,
sondern mit offenem, neugierigem Blick für Zeit- und Gesellschaftsthemen.
Autorinnen und Autoren wie Sabine Gruber, Kurt Lanthaler,
Josef Oberhollenzer, Helene Flöss, Bettina Galvagni, Paolo
„Crazy“ Carnevale, Oswald Egger, Sepp Mall prägten ein neues Stimmungsbild.
Die Kulturtage in Lana, der Meraner Lyrik-Preis, der
N.C.- Kaser-Preis zeugten vom Anspruch, sich auch außerhalb des
Landes zu messen. Neben der Athesia entwickelten sich alternative
Verlage: Folio mit je einem Standbein in Wien und Bozen und
einem Schwerpunkt für osteuropäische Literatur, Raetia mit unbelasteten
zeitgeschichtlichen Aufarbeitungen, der Brixner A.-Weger-
Verlag mit einem lokalen Nischenprogramm, der Provinz Verlag
mit der Förderung heimischer Autoren. Der Innsbrucker Haymon
Verlag war schon seit seiner Gründung ein wichtiger Bezugspunkt
für die Südtiroler Literatur, durch Bündelung von Studienverlag,
Skarabäus, Löwenzahn und 2011 des Universitätsverlages Wagner
zu einem Verlagspool zusätzlich gestärkt.
274
Neben einer aufblühenden, mitunter schon grassierenden Eventkultur,
wie sie nicht nur für Südtirol typisch wurde, erstrahlte auch
manches kulturelle Glanzlicht: Mit Claudio Abbado als Dirigenten
des Gustav-Mahler-Jugendorchesters erlebte Bozen erhebende
Tage als Konzertstadt. Die Gustav-Mahler-Wochen in Toblach
gewannen weit über Südtirol hinaus musikalische Anziehungskraft.
Das Haydn-Orchester erwarb sich unter seinen Dirigenten
Hubert Stuppner und Gustav Kuhn ein wachsendes Profil. Das
Tanzfestival „Bozen Tanz – Bolzano Danza“ zauberte Bilder einer
befreiten Körperlichkeit auf den so lange ethnisch besetzten Waltherplatz,
das regelrecht in Hinterhöfen gewachsene Jazzfestival
erreichte internationalen Ruf.
Komponisten wie der Laaser Herbert Grassl und der Grödner
Erich Demetz setzten Akzente in der zeitgenössischen Musik, das
Musikfestival „Transart“ wurde zum jährlichen Highlight im Spätsommer.
Künstler wie Gotthard Bonell, Jörg Hofer, Erich Kofler-
Fuchsberg, Arnold Mario Dall’O, Carmen Müller, Julia Bornefeld,
Paul Thuile, Marcello Jori, Manfred Mayr, Heinz Mader, Berty Skuber
schufen eine je individuelle, von Denk- und Gattungszwängen
befreite Bilderwelt und Sprache.
Viele Impulse kamen aus der Peripherie, so von der Ahrn taler
Gruppe Kunstmyst um Fritz und Paul Feichter, Lois Steger und
Peter Chiusole. Die wie Schlangen in den Himmel zuckenden Stahlbänder
von Eduard Habicher brachen auch die gediegene Architektur
Südtiroler Burgen und Ansitze auf. Walter Niedermayr gab
mit seiner bleichen Fotografie dem Bild des Landes einen abgekühlten
Unterton. Rudolf Stingel bezog in seine monochromen
Gemälde die Reaktionen, Kritzeleien, Fuß- und Handabdrücke
der Betrachter/innen ein. Das Neue lebte unbeanstandet neben
dem Traditionellen auf, glaubwürdig vertreten etwa durch Künstler
wie Robert Scherer, Guido Muss und Adolf Valazza. Als Maler
in der Tradition der Altmeister des 19. Jahrhunderts meldete sich
Markus Valazza immer wieder zeitkritisch zu Wort, mit seinen
Bilderzyklen wie jenem zu Dantes Divina Comedia schuf er weithin
beachtete Werke.
Die „Ära Durnwalder“ wurde so zum Synonym für ein Land im
Höhenflug. Dass Durnwalders Position trotz der vielen Gegner-
275
schaften, die seine Politik hervorrief, nicht schwächer, sondern eher
noch stärker wurde, verdankte er zum einen seinem Charisma, seinem
offenen Zugehen auf Menschen aller Gesellschaftsschichten
und zum anderen seinem ausgeprägten Machtinstinkt. Der Glanz
der Jahrtausendwende überstrahlte aber auch alle Schatten, Südtirols
Autonomie kam von der Dürre in die Erntezeit. Als „Modernisierer
Südtirols“ konnte Durnwalder auf ein prosperierendes
Land mit gehobenem Selbstbewusstsein stolz sein.
Für die Gründung der Freien Universität Bozen 1997, von Durnwalder
lange bekämpft, dann energisch durchgesetzt, riskierte er
innerhalb der Partei zunächst beinahe den gewohnten Rückhalt.
Bald aber schon wurde die Universität zum Symbol für ein emanzipiertes,
nicht mehr konservativ rückständiges, sondern geistig
aufstrebendes Südtirol. In der Europäischen Akademie (EURAC)
zeigte sich der Wandel vom „Volk in Not“ zum „Modell Südtirol“
in ästhetischer Verdichtung: Das faschistische Ex-GIL-Gebäude
wurde für ein elegantes Forschungszentrum herausgeputzt, in dem
sich Südtirol ein neues Design verpassen sollte. Die Kritik, Südtirol
würde sich übernehmen und überschätzen, prallte am Gründergeist
ab.
Die Befürchtung, dass mit dem internationalen Abschluss des
Paketes auch schon wieder der Rückbau der Autonomie beginnen
würde, bestätigte sich im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends
ebenfalls nicht. Die Mitte-rechts-Regierungen unter Silvio Berlusconi
respektierten trotz mancher Drohgebärde den Autonomiepakt.
Mit den Mitte-links-Regierungen unter Romano Prodi
ließ sich die SVP sogar erstmals auf konstruktive Kooperation ein.
Die Aufgeschlossenheit Prodis und seiner Alliierten gegenüber
Südtirol spielte mit der prekären Finanzlage des Staates zunächst
segensreich zusammen. Der Staat trat Zuständigkeiten ab, sofern
das Land dafür die Finanzierung übernahm. So kamen nacheinander
Bereiche zum Land, die der Staat jahrzehntelang eifersüchtig
gehütet hatte: die Lehrerschaft, die Staatsstraßen, das Motorisierungs-
und Führerscheinamt, das Staatsarchiv.
Beflügelt wurde die Entwicklung um die Jahrtausendwende
durch den weitgehend von der EU vorgegebenen Trend zu Liberalisierung
und Privatisierung. Was anderswo vom Staat an die
276
Privatwirtschaft abgetreten wurde, schnappte sich in Südtirol das
Land über eigene Gesellschaften – so vor allem in den Zukunftsbranchen
Telekommunikation und Energiewirtschaft. Die ehemals
staatlichen Bahnlinien im Vinschgau und Pustertal wurden vom
Land für moderne Nahverbindungen genutzt. Das Land Südtirol
mauserte sich zur effizienten, wenn auch für Konkurrenten aus der
Privat- oder Kommunalwirtschaft erdrückenden Landes-AG, dank
einer privilegierten Finanzausstattung lange mit scheinbar unbegrenzten
Mitteln und Möglichkeiten, zwangsläufig auch anfällig
für Skandale und zweifelhafte Interessenwahrnehmung.
Die italienische Verfassungsreform von 2001 führte zu einem
weiteren Durchbruch: Die Provinzen Bozen und Trient erhielten
Vorrang gegenüber der Region Trentino-Südtirol. Die verhasste
Region, an der sich der Autonomiekampf entzündet hatte, ging in
die Hand der beiden Landeshauptleute von Trient und Bozen über,
Magnagos „Los von Trient“ kehrte sich in der Durnwalder-Ära
regelrecht um – die Region wurde den Provinzen unterstellt. Die
Kontrolle von Landesgesetzen durch die Regierung wurde praktisch
abgeschafft. Der Name „Südtirol“ erfuhr, gleichberechtigt
mit „Alto Adige“, verfassungsrechtliche Erwähnung. Bis auf die
Ortsnamengebung, die als unbewältigtes Restgut aus der faschistischen
Ära weiterhin für regelmäßige Konflikte sorgte, waren
praktisch alle ethnischen Konfliktthemen ausgeräumt oder weitgehend
besänftigt.
Selbst die 1993 vom Innenministerium noch als Staatsverrat
beargwöhnte „Europaregion Tirol“ erhielt allmählich den Segen
der römischen Regierung. 1995 bezogen die drei Länder Süd tirol,
Bundesland Tirol und Trentino das erste gemeinsame Verbindungsbüro
in Brüssel. Im selben Jahr führten Südtirol und Tirol die
erste gemeinsame Landesausstellung durch (gewidmet dem „Tirol-
Gründer“ Meinhard II.). Im Jahr 2000 nahm auch das Trentino an
der Gesamttiroler Landesausstellung „Ca. 1500“ teil, auf der Expo
2000 in Hannover präsentierten sich die drei Länder auf einem
gemeinsamen Stand.
Das Projekt einer „Europaregion“ sollte die Überwindung der
Landesteilung auf einer neuen Ebene ermöglichen. Österreich
wurde mit 1. Jänner 1995 Mitglied der EU, am 28. April trat Öster-
277
reich dem Schengen-Abkommen bei, ab 1. April 1998 wurde dieses
zwischen Österreich und Italien real umgesetzt. Symbolisch
stemmten die Landeshauptleute Luis Durnwalder und Wendelin
Weingartner am Brenner den Schlagbaum in die Höhe. Mit Weingartner
war auch in Tirol der Generationswechsel vollzogen worden.
Eduard Wallnöfer hatte sein Amt aus Krankheitsgründen 1987
an Alois Partl abgetreten, 1989 starb er. Partl hatte keinen leichten
Stand, schon 1991 wurde er als ÖVP-Obmann von seinem Wirtschaftslandesrat
Wendelin Weingartner abgelöst, der 1993 auch
die Landeshauptmannschaft übernahm. Zum Amtsantritt legte
er ein Buch mit dem Titel „Nachdenken über Tirol“ vor, indem
er auch neue Schritte für ein Zusammenwachsen von Tirol und
Südtirol ankündigte.
Die reale politische Zusammenarbeit der drei Länder hinkte der
Wiedervereinigungsrhetorik freilich noch hinterher. Vor allem in
Südtirol hatte Luis Durnwalder eine markante Politik der Emanzipation
Südtirols vom Bundesland Tirol und vom „Vaterland Österreich“
eingeleitet. Dies entsprach nach den Jahren des „Volkes in
Not“ wohl dem Bedürfnis nach einer eigenen Identität und dem
durch die Südtiroler Erfolgsgeschichte erhöhten Selbstwertgefühl.
Dank der Ausstattung der Autonomie mit Gestaltungsmöglichkeiten
und finanziellen Mitteln war Südtirol nicht mehr das
bedrohte Land, dem mit Spendengeld und politischer Solidarität
zu Hilfe geeilt werden musste. Im Gegenteil, es stand in mancher
Hinsicht besser da als seine Nachbarn. Zu bitterer Symbolik verdichtete
sich diese Entwicklung, als in München Gerhard Bletschacher
strafrechtlich belangt wurde, weil er mit Geldern aus
dem „Stille-Hilfe“-Topf eine Krise seines Betriebes überbrücken
hatte wollen: Er, der viele Kulturinitiativen ermöglicht und vielen
Bergbauernfamilien mit großem Einsatz geholfen hatte, war
gerade zu dem Zeitpunkt in Not geraten, als Südtirol mit Wohlstand
zu protzen begann.
Symbolisch für die Politik des neuen Südtiroler Selbstbewusstseins
und einer Abnabelung von Tirol und Österreich waren zwei
zusammenfallende Ereignisse 1991. Reinhold Messner brach mit
Hans Kammerlander zu einer Südtirol-Umrundung auf, Durnwalder
begleitete sie eine Tagesetappe lang. Südtirol wurde gewisser-
278
„Ötzi“ als Sensation:
Sein Fund unmittelbar
an der italienischösterreichischen
Grenze
führte zunächst zu einer
Verstimmung zwischen
Südtirol und dem Bundesland
Tirol.
maßen symbolisch neu abgegrenzt und definiert. Da genau an der
Grenze wandernd, kamen Messner und Kammerlander auch an der
Fundstelle der Gletschermumie „Ötzi“ am Similaun zuwege. Als
sich herausstellte, dass „Ötzi“ um wenige Meter auf italienischer
Seite lag, pochte Südtirol auf die präzise Einhaltung der Grenze,
die eigentlich immer „überwunden“ werden sollte, und bestand
auf der Herausgabe der Leiche.
Das für den „Mann aus dem Eis“ in der Bozner Museumstraße
eingerichtete „Archäologiemuseum“ wurde zum Kronstück einer
prunk- und prachtvollen Museumswelt, in der sich Selbstbewusstsein
und Selbstbeschau Südtirols gleichermaßen spiegeln. Zu dem
schon früh in bescheidenen Schritten aufgebauten Volkskunstmuseum
in Dietenheim kamen immer neue Landesmuseen hinzu,
das Archäologiemuseum und das Naturmuseum in Bozen, das Touriseum
mit den Gärten von Trauttmansdorff, das Bergbaumuseum
mit mehreren Standorten und Parcours, das Jagd- und Fischerei-
279
museum auf Schloss Wolfsthurn in Mareit/Ratsching, das Museum
Ladin Ćiastel de Tor in St. Martin in Thurn, das Naturmuseum in
Bozen, das Weinmuseum in Kaltern. 90 Museen insgesamt zählte
Südtirol um 2009. Mit dem Messner-Mountain-Museum auf Sigmundskron
und seinen Satelliten „MMM Ortles“ in Sulden, „MMM
Dolomites“ auf dem Monte Rite bei Cortina, „MMM Juval“ über
dem Eingang des Schnalstales, dem „MMM Ripa“ im Schloss Bruneck
und weiteren Plänen ist Reinhold Messner auch personifizierter
Ausdruck der neuen Südtiroler Selbstdarstellung.
Mit dem Aufbau der eigenen Landesmuseen und unzähligen
schier beeindruckenden Bauten für Feuerwehren, Vereine, Gemeindeverwaltungen
auch in kleinsten Ortschaften wurde die neue und
stolze Leichtigkeit des Südtiroler-Seins sichtbar zelebriert. Das
ehedem arme Land konnte sich endlich Glanz und Glamour leisten,
gefeiert etwa 1999 in der Eröffnung des Auditoriums Haydn
und des neuen Stadttheaters in Bozen. In manchem Überschwang
zeigte sich die Kompensation historischer Komplexe infolge von
Faschismus und Autonomiekampf.
Für das Nord-Ost-Südtiroler Verhältnis bedeutete der Südtiroler
Aufholkurs mit dem Bau eines eigenen Flughafens, eigener hochwertiger
Sanitätsstrukturen und besonders der eigenen Universität
mehr als eine Irritation. Jahrelang gefestigte Orientierungspunkte
der „Landeseinheit“ wie das Landestheater, die Landesuniversität,
die Landesklinik schienen in Frage gestellt. Dies geschah zum
Teil aus reiner Notwendigkeit, Südtirol konnte – angesichts der
faktischen Landesteilung – nicht auf alles verzichten, was es auch
im Bundesland Tirol gab. Zum anderen schwang in der „Abnabelung“
auch die Undankbarkeit eines neureichen Landes mit. Der
Höhenflug war in gewissem Sinne auch ein Rausch nach langer
Entbehrung, mit der Gefahr von Selbstgefälligkeit und Selbstüberschätzung.
Erst im Tiroler Gedenkjahr 1809-2009 blitzten, neben einer
etwas entlasteten Aufarbeitung der Freiheitskämpfe von 1809, auch
eine gewisse Besinnung und ein möglicher Umschwung auf. 2008
erlitt die SVP schwere Verluste bei den Parlamentswahlen im Mai
und den Landtagswahlen im Herbst. Die Freiheitlichen verstärkten
sich von zwei auf fünf Mandate, Eva Klotz baute mit ihrer
280
neuen Partei „Südtiroler Freiheit“ ihre Position aus, Andreas Pöder
konnte für die Union für Südtirol sein Mandat halten. Während
die Grünen von drei auf zwei Mandate schrumpften und – dank
unglücklicher Wahlregelung – 2009 erstmals auch das von Langer
eroberte Europa-Mandat wieder verloren, war die patriotische
Opposition so stark wie nie zuvor. Übersehene soziale Brüche in
der Gesellschaft, der für weite Bevölkerungskreise spürbare Kaufkraftverlust
durch Teuerung und Lohnstagnation schlugen sich
in Sozialängsten und Rückzugshaltungen gegenüber Globalisierungs-
und Migrationsphänomenen nieder. Die Südtiroler Politik
und auch die Kirche sahen sich erstmals zu Projekten gegen
Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit herausgefordert.
Die Autonomiepolitik geriet gegenüber neuen Forderungen nach
Selbstbestimmung in die Defensive, Gewöhnung und Routine hatten,
neben dem Unmut über manche Auswüchse von Politik und
Verwaltung, am Glanz einer Erfolgsgeschichte zu nagen begonnen.
Dass in der deutschen Parteienlandschaft und auch innerhalb
der SVP die sozial und ethnisch ausgleichenden Kräfte geschwächt
wurden, hat auf italienischer Seite Besorgnis ausgelöst – ausgerechnet
in dem Moment, in dem sich die italienische Bevölkerung
zaghaft gegenüber der Autonomie zu öffnen begann (und teilweise
sogar SVP wählte), kam deren Autonomiekurs in Krise. Noch deutlicher
zeigte sich diese Trendwende an den Einbußen der interethnischen
Grünen, die den Öffnungskurs in der Autonomiepolitik
vielfach ja überhaupt erst angestoßen hatten. Ganz offensichtlich
hatte die Bewegung mit dem Tod ihres Erfinders und dem Älterwerden
der 68er-Generation an Flair eingebüßt, nach der Entzweiung
mit Alessandra Zendron repräsentierte Christina Kury
noch bis 2008 den Übergang von der Langer-Zeit in eine neue Ära.
Mit der Verstärkung durch den ehemaligen SVP-Arbeitnehmerchef
Sepp Kußtatscher (und dessen Wahl zum Europaabgeordneten
2004), dem liberal-zivilgesellschaftlich orientierten Zeithistoriker
Hans Heiss und dem engagierten Journalisten Riccardo
Dello Sbarba empfahlen sich die Grünen 2003 als neue Zukunftskraft.
Nach den Landtagswahlen 2008 und dem Verlust des von
Langer eroberten Europamandats 2009 sah die einstige Erneuerungsbewegung
plötzlich alt aus, mit Brigitte Foppa und einigen
281
wenigen jungen Nachwuchsleuten kam zwar wieder etwas Farbe
in die Bewegung, die Zugkraft bei der Jugend aber schien an die
patriotische Opposition übergegangen zu sein. Hans Heiss, der als
Hoffnungsträger gegolten hatte, kündigte mit Blick auf 2013 das
Ende seines „politischen Zivildienstes“ an.
In der SVP kam es in Vor- und Nachspielen zur Landtagswahl
2008 zu einer Führungskrise: War die Landespolitik seit Magnagos
Abgang fest in Durnwalders Hand, so hatte die Partei – nach
der Ära Magnago und der Übergangsobmannschaft Riz – unter
Siegfried Brugger eine zurückhaltende Rolle gespielt, Macht- und
Entscheidungshoheit waren von der Partei ins Landhaus, genauer
ins Büro des Landeshauptmannes gewechselt. 2004 trat der langjährige
Bozner Vizebürgermeister Elmar Pichler Rolle mit der
Absicht an, das Obmannamt – auch mit Blick auf die allmählich
einsetzende Durnwalder-Nachfolgediskussion – stärker gegenüber
der Landes regierung zu positionieren. Nach den Landtagswahlen
2009 verzichtete Pichler Rolle unter Druck auf eine Wiederkandidatur.
Siegfried Brugger, der sich hart gegen seinen Nachfolger
Pichler-Rolle gestellt hatte, meldete sich aus Rom wieder verstärkt
zu Partei- und Landesfragen zu Wort. Neuer SVP-Obmann wurde
der Vinschger Richard Theiner, der aus der SVP-Arbeitnehmerschaft
herausgewachsen war und sich im Duo mit dem wirtschaftlich
ausgerichteten Vizeobmann Thomas Widmann präsentiert
hatte. Zusammen mit dem stellvertretenden Landeshauptmann
Hans Berger nahmen sie auch in Durnwalders Landesregierung eine
führende Position ein. Darin zeigten sich erstmals – meist vorsichtige,
nie deutliche und immer rückzugsfähige – Positionierungen
im Hinblick auf Durnwalders Nachfolge, von der man noch nicht
wusste, ob und wann sie wirklich fällig sein würde. Erneuerungszeichen
kamen auch vom Gemeindenverband, wo zunächst der
Plauser Bürgermeister Arnold Schuler als Präsident einen harten
Kurs gegen Durnwalders Landhauszentralismus fuhr und diese
Rolle als „SVP-Rebell“ im Landtag zusammen mit den anderen
Vinschger Abgeordneten weiterführte. Sein Nachfolger, der Völser
Bürgermeister Arno Kompatscher, verkörperte nach seinem Amtsantritt
schnell den neuen, sachlichen und dialoggeübten Politik-
Stil einer jüngeren Generation, ähnlich wie der vom Bauernbund
282
kommende Herbert Dorfmann, der nach dem Rückzug von Michl
Ebner 2009 zum Europaabgeordneten der SVP bestimmt wurde.
Weitgehend ließ sich die Krise der SVP als Folge einer Normalisierung
lesen. Die Ära des Autonomiekampfes war jüngeren
Bevölkerungsgruppen schon fremd, die Zeit der politischen Überväter
in Widerspruch geraten mit dem Erlebnis einer globalisierten
Welt voller fragmentierter Wirklichkeiten. Noch 2004 hatte
die SVP eine Mehrheit von 55,6 Prozent gehalten. Gemessen an
ihrer eigentlichen Wählerschaft, nämlich der deutschen und ladinischen
Minderheit, waren dies glatte 80 Prozent. Die 48,1 Prozent
von 2008 machten immer noch 69,5 Prozent der deutschen
und ladinischen Bevölkerung aus. Das Gefühl, durch Selbstverwaltung
und Autonomie politisch abgesichert zu sein, verminderte
zwangsläufig auch den Druck nach Zusammenhalt in einer
einzigen Partei.
Erstmals musste sich Südtirol 2009 mit einem nicht mehr steigenden,
sondern – noch verschmerzbar – schrumpfenden Landeshaushalt
zurechtfinden, die Haushaltsdebatte 2009 prägte Luis
Durnwalder mit einem Appell an neues Maßhalten in Verwaltung
und Wirtschaft. Einer drastischeren Kürzung wirkte die Süd tiroler
Politik auch 2009 durch die Übernahme weiterer staatlicher Kompetenzen
ohne zusätzliche Staatsmittel entgegen. Die Gelassenheit
und Selbstsicherheit, mit der dies geschah, war bei allen Verunsicherungen
ein Zeichen für die Stabilität des Landes. Trotz einiger
Rückschläge vermeldete die Südtiroler Wirtschaft – angefangen bei
ihrem Motor, dem Tourismus – auch im Jahr nach der schweren
internationalen Finanzkrise Beständigkeit und Wachstumschancen.
Auf der Suche nach politischen Perspektiven über die Autonomie
hinaus und nach Weitungen der institutionellen Enge des
Landes erhielt das Projekt der Europaregion Tirol neuen Auftrieb.
Der 2010 ernannte neue Präsident der Freien Universität Bozen
Konrad Bergmeister etwa erhob die Schaffung eines überregionalen
Universitätspooles mit Innsbruck und Trient zu seiner Vision.
Dies war auch deshalb von Bedeutung, weil der Uni-Präsident und
zugleich Manager des Brennerbasistunnel-Baus und Professor für
konstruktiven Ingenieurbau in Wien auch als neuer Impulsgeber
und Hoffnungsträger für die Zukunftsgestaltung des Landes galt.
283
Neues Leben hatte die schon totgesagte Idee einer „Europaregion“
im Tiroler Gedenkjahr 2009 erhalten. 2008 löste der frühere
Tiroler Kulturlandesrat und österreichische Verteidigungsund
Innenminister Günther Platter nach Wahleinbußen der ÖVP
bei den Tiroler Landtagswahlen den Weingartner-Nachfolger Herwig
van Staa als Landeshauptmann ab. Unmittelbar nach dem traditionellen
Landesfestumzug in Innsbruck mit 70.000 Besuchern
setzte Platter einen Akzent für die Revitalisierung der Europaregion,
schon knapp einen Monat später beschlossen die drei Landesregierungen
Tirols, Südtirols und des Trentino die Intensivierung
ihrer Zusammenarbeit in den Bereichen Bildung, Kultur, Energiegewinnung,
Gesundheit und Transit sowie die Einrichtung einer
Euregio-Schaltzentrale in Bozen. Neben Platter hatten sich auch
Lorenzo Dellai für das Trentino und Luis Durnwalder für Südtirol
hinter die Europaregion als Perspektive für die Gesamtentwicklung
des ehemaligen Tiroler Raumes gestellt. So wurde im Tiroler
Gedenkjahr 2009 auch der Blick über jene Grenzen hinaus gehoben,
die der Erste Weltkrieg zwischen den drei Ländern gezogen hatte.
284
Grenzen eines Traumes
Auf- und Abschwünge im autonomen Musterland –
Versuch einer Gegenwartsbetrachtung
Der historische Vergleich bietet sich an, wenngleich er von Auguren
beäugt sein mag: 1909 feierte sich Tirol im Glanze einer großen,
aber bereits unsicheren Epoche. Tirol war noch ungeteilt,
oder besser: vermeintlich ungeteilt. Wohl stellte es als westlichstes
Kronland der Donaumonarchie eine unangetastete politische
Einheit dar, aber die Risse, die zum Auseinanderbrechen des Landes
führen sollten, zogen sich schon quer durch das Land. Nicht am
Brenner freilich war die Bruchstelle, sondern entlang der Sprachgrenzen
einer lange übernationalen Gemeinschaft. Subtiler wirkten
wohl auch schon die verdeckten, sozialen Widersprüche einer hinter
der Moderne herhinkenden, von der Moderne gejagten Gesellschaft.
Südtirol ist je nach Optik das Abfall- oder Neben- oder Hauptprodukt
dieser Brüche. Es ist durch Brüche entstanden. Es ist in
gewissem Sinne das, was von der Teilung Tirols übrig geblieben
ist, es ist aber in ebenso gewissem Sinne auch das, was Ziel der
Teilung war. Ein solches Land bedarf für sein Selbstverständnis
des Vergleiches, mit der Vergangenheit, mit seinen ehemaligen
Zugehörigkeiten, mit seinen in Bewegung geratenen Koordinaten.
Südtirol kann von sich nicht behaupten, dass es schon immer
da war. Seine Anfänge können im Ersten Weltkrieg gesucht werden,
je nach Optik schon mit Kriegsbeginn 1914 oder 1915, als Italien
im Londoner Geheimvertrag für den Fall des Kriegseintrittes
und des Sieges an der Seite der Entente das Gebiet des südlichen
Tirols bis zum Brenner und Istrien mit den dalmatinischen Inseln
zugesprochen wurde; oder 1918, als die Donaumonarchie zusammenbrach
und die italienischen Truppen kampflos bis zum Brenner
vorrücken konnten. Sie zogen dort eine willkürliche Grenze,
die aber zum politischen Entwurf des noch jungen Italien gehörte;
oder 1919/1920, als das heutige Südtirol als italienische Provinz
staatsrechtlich dem neuen Staat Italien übergeben wurde.
285
Als die Grenze noch eine frische Wunde war: Kundgebung für Südtirol
in Innsbruck 1919, Fassungslosigkeit über die Teilung des Landes.
Südtirol ist damit das Produkt des nationalen Denkens, von
dem sich auch Tirol hatte mitreißen lassen, von dem es dann hinweggerissen
wurde. Präziser: Südtirol ist das Produkt einer Denkkategorie,
die sich gegen Ende des 19., zu Beginn des 20. Jahrhunderts
in die Illusion und in den Wahn nationaler Einheitlichkeit und
territorialer Vollständigkeit verirrt hat. Das italienische Nationalgefühl
trachtete nach einem vollständigen Raum mit einer einheitlichen
Nation; es darbte daran, dass für das Gefühl der Vollständigkeit
des eigenen Raums einige Flecken fehlten – Istrien mit
den dalmatinischen Inseln und das Gebiet im Norden südlich des
Alpenhauptkammes, beide mit unterschiedlicher Dichte von einer
anderssprachigen Bevölkerung bewohnt, beide mit Ende des Ersten
Weltkrieges an Italien angegliedert und zur nationalen Vereinheitlichung
einer Zwangsbesiedelung unterworfen.
286
Dass die gewonnenen Gebiete nicht oder kaum italienisch waren,
war störend für das Gefühl der nationalen Einheit und Einheitlichkeit.
Die Kriegsprämie musste „assimiliert“, sich gleich gemacht
werden. Die neue Provinz Südtirol wurde Produkt und Opfer eines
Denkens, das in Tirol um die Jahrhundertwende ebenfalls getobt
hatte, des nationalen Reinheits- und Einheitsdenkens: An diesem
Denken brach Tirol in Welschtirol und Deutschtirol auseinander,
bevor es in Südtirol und Nord-/Osttirol geteilt wurde. Der italienische
Teil Tirols verabschiedete sich – die Intellektuellen weitgehend
begeistert, das Fußvolk nolens-volens – schon in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts von der langen Zusammengehörigkeit;
und die Deutschtiroler Mehrheit trachtete – bis auf wenige
besonnene Kräfte vor allem unter den Konservativen Tirols – nicht
danach, das abdriftende Welschtirol zurückzugewinnen, sondern
war auf ihre Weise froh, das störende Fremde loszuwerden.
Diese Grenze ist Südtirol eingebrannt: Von den drei Teilen
des ehemaligen Tirols hat es gewissermaßen die Sprachgrenze
als Hypothek mitbekommen, die damals zwischen Deutsch- und
Welschtirol gezogen wurde. In einem psychoanalytischen Sinne
könnte spekuliert werden, dass Südtirol damit das Unerledigte
der Vergangenheit, das seinerzeit so schlecht Bewältigte als Aufgabe
mitbekommen hat, dass es genau da, wo das alte Tirol zerbrochen
ist, seine Vergangenheit und seine Gegenwart ausheilen
muss, wenn es freier, unbelasteter in die Zukunft gehen will.
Die innere Grenze des Landes teilt dieses nicht auf traumatische,
sondern auf kaum wahrnehmbare Weise, hat Parallelgesellschaften
entstehen lassen, die sich nur selten offen übers Kreuz kommen.
Dies ist freilich häufig dann der Fall, wenn die Vergangenheit
in die Gegenwart einbricht, geweckt oder gereizt durch scheinbar
noch so geringfügige Anlässe oder Symbolkämpfe, die aber auf
Unverarbeitetes deuten. Das anschaulichste Beispiel ist die Toponomastik,
die Benennung der Orte des Landes. Von den vielen
schwierigen Maßnahmen des Paketes, mit dem ab 1969 die neue
Ära der Südtirol-Autonomie begann, ist genau diese von Amtszeit
zu Amtszeit unerledigt zurückgeblieben. Das dank einer umgemodelten
Geschäftsordnung im September 2012 endlich durch den
Landtag gebrachte Toponomastikgesetz hat formal erstmals eine
287
Lösung gebracht, indem die Entscheidung über die Namen den
politisch nicht direkt gewählten Bezirksgemeinschaften und einer
paritätischen Kommission mit je zwei deutschen, italienischen und
ladinischen Fachleuten anvertraut wurde – letztlich ein geschicktes
Austricksen unmittelbarer politischer Auseinandersetzung. Der
in der Folge von nationalpatriotischen Kräften beider Seiten angekündigte
Kampf um jeden einzelnen Namen dämpft die mit dem
Gesetz verbundene Hoffnung, dass mit der Kraftprobe im Landtag
auch die Grundlage für eine inhaltliche Klärung gelegt wurde.
Den Namen wohnen Zauber und Fluch inne, die sich wohl erst
auflösen können, wenn Südtirol seine Vergangenheit anzunehmen
vermag, wenn es beispielsweise in der Zwangsitalianisierung der
Ortsnamen nicht nur das selbst erlittene Unrecht, sondern auch
den eigenen deutschen Nationalismus erkennt, der zuvor den italienischen
Anteil Tirols gering geschätzt hatte und der noch früher
das Ladinische ausgetrieben hatte. Dann würde es nicht mehr um
deutsche oder italienische oder ladinische Namen gehen, sondern
um die Einsicht, wie sprachliche Flurbereinigungen eine Identität
nicht bereichern, sondern berauben. Auf deutscher Seite hieße dies,
vielleicht auch Namen anzunehmen, die künstlich geschaffen wurden,
aber die Geschichte dieses Landes widerspiegeln und für die
italienische Bevölkerung Beheimatung bedeuten. Für die italienische
Bevölkerung könnte die Herausforderung darin liegen, Beheimatung
auch so zu verstehen, dass nicht jeder Weiler oder Berg
oder Bach zwangsläufig einen italienischen Namen haben müsse,
weil man sich sonst fremd fühle. Dies könnte über alle Lösungen
hinaus ein Denkanstoß sein, auch mit nicht ganz wunschge mäßen
Lösungen zurechtzukommen. Hinter dem Wunsch nach kultureller
oder auch sprachlicher Eindeutigkeit zeigt sich eine Illusion:
dass sich das Leben, der Reichtum, die Kultur eines Landes vereinheitlichen
lassen, dass Einheit und Identität durch Bereinigung
des Störenden wachsen können, während sie in Wahrheit
daran verarmen.
Südtirol hat umzugehen gelernt mit seiner verdrängten Flaschenpost,
die gelegentlich nach oben dringt. Als der italienische
Bürgermeister von Bozen Giovanni Salghetti Drioli den Siegesplatz
im Zeichen der Versöhnung in „Piazza della Pace – Friedens-
288
Der abgebaute Friedensversuch: Bozner Siegesplatz, Motiv nach dem Referendum
gegen die Umbenennung in „Piazza della Pace – Friedensplatz“, 2002.
platz“ umtaufen wollte, fühlten sich viele italienische Mitbürger
ihrer Illusion beraubt, dieses Land durch „Sieg“ verdient, erworben,
erobert zu haben. Darin verriet sich ein wankendes Heimatgefühl,
das die Krücke einer Kriegstat braucht, um nicht in sich
zusammenzufallen. Mit dem von Alleanza Nazionale angestrengten
Referendum konnte der Name des Platzes „zurückerobert“ werden,
die innere Beheimatung aber wich eher wieder ein Stück weg.
Denn diese ist nur über kulturelle Aneignung eines Landes, über
ein Verstehen seiner Geschichte und Geheimnisse, seiner Orte und
Worte möglich. Auch da führte die vermeintliche „Wiedergutmachung“,
„Rückbenennung“ nicht in eine bessere Zukunft, sondern
nur zurück in eine Vergangenheit, die alte Wunden aufzuscheuern,
nicht zu heilen vermag.
Als 2011 der zuständige Minister in Rom dem Land in einem
Brief freie Hand zur Entschärfung der faschistischen Relikte in
Südtirol gab, schien einen Moment lang die Entsorgung aller historischen
Hypotheken möglich: ein zeithistorisches Museum im
Bauch des Siegesdenkmals, Informationstafeln für die Beinhäuser
an den Rändern des Landes und ein Ideenwettbewerb für die
gesamte Bevölkerung zur Umgestaltung des Piffrader-Reliefs mit
289
dem hoch zu Ross reitenden Mussolini. Die Beteiligung war groß,
bemerkenswerter Weise waren sehr wenige revanchistische Vorschläge
dabei, sehr viele suchten einen augenzwinkernden Umgang
mit der Vergangenheit. Nun ging der Politik die Fantasie aus, Durnwalder
lehnte alle kreativen Vorschläge ab und bestand auf einer
„Abdeckung“ – erneut war eine Chance verschenkt worden, die
Vergangenheit ihrer Halbwertzeit zu überlassen, statt sie immer
aufs Neue aufleben zu lassen.
An seinen inneren Grenzen kann sich Südtirol lähmen oder
beflügeln; die Menschen in diesem Land stehen immer wieder,
persönlich und politisch, vor der Entscheidung zwischen Austausch
und Abwehr, zwischen Bereicherung und Verarmung, zwischen
Wagnis und Sicherheit, zwischen Begegnung und Isolation.
Diese Balance bedarf einer freien Beweglichkeit in persönlichen
und politischen Stilen, Nähe kann ebensowenig verordnet werden,
wie Distanz behördlich vorgeschrieben werden darf, beides
ist im Wechselspiel selbstgewählter Lebensentwürfe immer aufs
Neue auszutarieren. In dem, was an Aussöhnung gelungen ist, hat
das Land einen Erfahrungsschatz gesammelt, der weltweit ein
begehrtes Gut ist – Erfahrungen im Eindämmen, im Mildern, im
Lösen ethnischer und nationaler Konflikte. Sich dessen bewusst
zu werden, könnte es ermöglichen, die Vergangenheit nicht mehr
als Quelle der Wehklage sondern des Weiterkommens zu erschließen.
Es bietet auch Ansätze und Wissen für den Umgang mit neuer
Fremdheit, mit neuer Migration ins Land.
Seine Identität hat Südtirol in jüngerer Zeit aber auch aus seinen
äußeren Grenzen bezogen, aus seiner territorialen Abgrenzung.
Südtirol entstand aus einer Grenzziehung, die für die heimische
Be völkerung ein traumatisches Erlebnis von Fremdheit bedeutete –
sie waren mit einigen wenigen diplomatischen Akten italienische
Staatsbürger geworden, wurden abgetrennt von einem dynastischen,
vor allem aber auch kulturellen Raum, wie es die Donaumonarchie
auch gewesen war. Den italienischen Familien, die in den folgenden
Jahrzehnten im Zuge einer weitgehend gesteuerten Zuwanderung
nach Südtirol zogen, wurde das Land durch diese Grenzziehung
als neue Heimat versprochen, die ihnen Arbeit, Wohnung
und Zukunft geben würde – all das, was sie in ihren Herkunftsge-
290
bieten nicht mehr oder nie hatten. So stehen sich Traum und Traumata
feindselig, scheinbar unversöhnlich gegenüber: der Einen
Traum, eine neue Heimat zu bekommen, war der Anderen Traumata,
dass ihnen die Heimat genommen werden sollte. Die einen
kamen aus Heimat losigkeit in eine Heimat, aus der sie andere verdrängen
sollten. Um Südtirol zu verstehen, wenn es sich in kleinlichen
Konflikten und scheinbar lächerlichen Ängsten verliert, muss
diese Verstrickung bedacht sein.
Die Brennergrenze bedeutete für Südtirols Italiener: Bis da her
sind wir daheim, soweit reicht Italien. Für Südtirol bedeutete es
über Jahrzehnte: Da wurden wir abgetrennt, von da an sind wir
Fremde im eigenen Land. Mit dem „Los von Trient“ wurde der
erlittenen Grenze eine erwünschte hinzugefügt, wurde das Land
neu definiert. Auch dahinter stand eine, wenn auch nur homöopathische
Idee der Sicherheit, Heimatschaffung durch Abgrenzung:
Die Grenze am Brenner würde weniger schmerzen, wenn auch bei
Salurn eine schützende Trennlinie gezogen würde, die das Land zu
etwas Eigenem macht. So hat sich Südtirol, aus der Verstrickung
unterschiedlicher Bedürfnisse nach Grenze, in sich eingerollt wie
ein Igel zwischen der Wasserscheide am Brenner und der Salurner
Sprachklause, wurde das Territorium neu zurechtgeschnitten,
um es auch neu zu bestimmen: als autonomes Gebiet.
Was sich aus Schutzbedürfnis so klein gemacht hat, muss sich
– seinem Selbstwertgefühl zuliebe – auch groß machen: Die Definition,
Umgrenzung eines so kleinen Gebietes konnte auf Dauer
nur einhergehen mit dem, was im „Mir sein mir“ zum geflügelten
Wort für ein Lebensgefühl der Selbstzufriedenheit geworden
ist. Von diesem „Mir sein mir“ ist die italienische Bevölkerung
des Landes weitgehend ausgeschlossen worden, sie wurde überrascht
davon, weil sie sich auf ihre Abgrenzung, auf die staatliche
Zugehörigkeit Südtirols verlassen hatte, auf das „Siamo in Italia“,
das ins Schwanken gekommen ist – nicht durch die gefürchtete
Selbstbestimmung und Rückkehr zu Österreich, sondern durch
die autonome Erhebung Südtirols zum De-facto-Freistaat. Um
in das „Mir sein mir“ aufgenommen zu werden, müssen die Südtiroler
Italiener (ein Begriff der jüngeren Zeit) ein Stück nationaler
Identität loslassen zugunsten einer territorialen Identität, das
291
„Süd-Tirol ist nicht Italien“ – Brennerpass 2009.
„Siamo in Italia“ preisgeben für ein „Siamo qui a casa anche noi“:
das Daheimsein nicht in einer Nation, sondern in diesem schönen
Land Südtirol. Damit dies aber nicht nur ein Gegengift, sondern
eine Medizin für die Gegenwart wäre, müsste dies eine gemeinsame
Leistung sein, müssten die Südtiroler lernen, ihr „Mir sein
mir“, ihre Identität nicht in der Rückdeutschung des Landes, nicht
in einem neuen nationalen Reinheits- und Einheitswahn zu überhöhen,
sondern in einer kulturellen Öffnung zu begründen: Heimat
als Ort der zwischenmenschlichen Begegnung, nicht der kulturellen
Abgrenzung. Die formale Absicherung durch das Autonomiestatut
würde es ermöglichen. Etwas davon blitzt vielleicht – mit
allen Vorbehalten, aber auch allem Respekt gegenüber der identitätsbildenden
Kraft des Sports – im „FC Südtirol – Alto Adige“
auf, der sich sprachgruppenübergreifend und ziemlich globalisiert
mühsam die italienische Fußballleiter hinaufkämpft, noch
weit entfernt vom wahren Fußballhimmel, aber doch schon eine
„eigene“ Mannschaft für alle im Land. Das wäre dann, auf einer
höheren Ebene, die Schaffung einer Südtiroler Identität, in der
sich alle im Land lebenden Menschen als Südtiroler oder altoatesini
oder sudtirolesi fühlen können.
292
Eine Gefahr bliebe, sie ist vielleicht die größte Gefahr für die
Entwicklung und Prosperität des neuen Südtirols. Es ist die Igelhaltung
des Landes, das Eingerolltsein zwischen Brenner und Salurn.
Die Geschichte Tirols ist nicht nur eine Geschichte der Landesverteidigung,
auch wenn diese die Mythen und Selbstbilder des Landes
geprägt hat, es ist auch eine Geschichte der Durchlässigkeit,
des Durchgangs, der Begegnung. Südtirol ist keine autarke Insel,
erliegt zwar dieser Illusion, bedarf aber der Anbindung, genießt
diese auch in vollen Zügen, hat den Raum offen nach Süden, hat
feste Nabelschnüre geknüpft nach Norden, ist noch am ehesten
etwas verschlossen gegen Osten und Westen, die Schweiz und Osteuropa
sind etwas vergessene, entrückte Nachbarschaften. Das Eingebundensein
in viel größere Entwicklungen, die zum Teil nur mehr
zwanghaft national betrachtet und beantwortet werden, hat sich
auch in der dramatischen Finanzkrise von 2011 und 2012 gezeigt,
die der Reihe nach große Nationalgemeinschaften vor internationalen
Börsenzirkeln und Ratingagenturen in die Knie gehen sah.
Die erste reale Bedrohung der Südtiroler Autonomie nach 1972
entsprang nicht einer nationalistischen Politik, sondern – nach
dem Sturz Berlusconis – im nüchternen Zugriff des italienischen
Krisenpremiers Mario Monti nach allen verfügbaren finanziellen
Ressourcen im Land: Mit einem Mal war die sicher geglaubte
Schatztruhe der autonomen Finanzregelung in Frage gestellt, sah
sich Südtirol in eine gesamtitalienische, letztlich gesamteuropäische
Verantwortung einbezogen. Waren auch die langfristigen Folgen
der europäischen Finanz- und Staatskrisen noch nicht absehbar,
stellten sie – hinter der allgemeinen Alarmstimmung – doch
auch eine tiefere Warnung dar, nämlich dass politischer Frieden
nicht auf Geld allein gestützt sein kann.
Die ersten Reaktionen auf die Krise waren noch alte Rezepte:
eine neue Aufwertung von Nationalbewusstsein in Italien und in
vielen anderen europäischen Staaten, ein ganz neuer Auftrieb für
die schon verstaubt geglaubte Freistaat-Idee in Südtirol. So spiegeln
sich im Kleinen auch die großen Fragen Europas: Hält der
Friedensprozess auch ökonomischen Belastungen stand, fördern
globale Auflösungen und Verunsicherungen eine Öffnung zur Welt
oder eine Rückorientierung in alte, mittlerweile verklärte Vertraut-
293
heiten? Schon die Landtagswahlen 2008 hatten, durch die Verstärkung
der patriotischen und national orientierten Parteien, auf
deutscher Seite eine emotionale Abkühlung gegenüber der Südtirol-Autonomie
zur Folge, die plötzlich als zu wenig attraktiv, zu
wenig schick, zu rückwärtsgewandt empfunden wurde gegenüber
griffigeren Entwürfen einer Zukunft ohne Italien und teilweise
auch ohne Österreich. Die SVP konterte mit dem Modell der
„Vollautonomie“ als neues Zukunftsprojekt mit erhöhtem politischen
Sexappeal, ergänzt noch um die Pikanterie, dass man sich
diese Vollautonomie angesichts des maroden Staates auch „kaufen“
könne – „kaufen wir uns frei“ als neue Formel der etwas altvorderen
„Selbstbestimmung für Südtirol“.
Mit dem vorgezeichneten – abwechselnd als sofortig oder stufenweise
angedachten – Abtritt von Luis Durnwalder markieren
die Landtagswahlen 2013 das Ende einer zweiten großen Ära nach
Silvius Magnago – nach dem Kampf um die Autonomie deren Ausbau.
Die Zeit nach 2013 wird der Frage gewidmet sein, wie die
Autonomie zu halten ist, wie ihr inhaltliches Design an neue gesellschaftliche
Erfordernisse angepasst werden kann – mehrsprachige
Familien, Migrationsphänomen, Bedürfnis nach größerer Dezentralisierung
der autonomen Zuständigkeiten an die Gemeinden,
nach größerer zivilgesellschaftlicher Partizipation durch Bürgerinnen
und Bürger. Aber auch: wie die Autonomie in einer globalisierten,
entgrenzten Welt nicht nur „gerettet“, sondern als Modell
für ein wirklich förderalistisches Europa jenseits der Nationalstaaten
gedacht werden kann, wie die Igelstellung zugunsten einer Öffnung
vor Herausforderungen ungeahnter Dimensionen aufgegeben
werden kann, ohne in neue Ängste zurückzuscheuen. Demgegenüber
wird stehen: der Angriff auf die Autonomie durch nationalistische
Wiedererweckungen gerade im Sinne der Krisenbekämpfung,
die Abkehr von der Autonomie mit dem Wunsch nach einer
Zukunft jenseits von Italien.
Wie gewinnend eine solche Idee ist, zeigt sich etwa in der Popularität,
die um 2009 das Lied „Dem Land Tirol die Treue ...“ auch
in Südtirol erfuhr, es wurde an allen Stilrichtungen und Trends
vorbei regelrecht zum Disco-Hit. Die Südtiroler Schützen erlebten
zugleich einen unerwarteten Auftrieb gerade bei den jüngs-
294
ten Jahrgängen. Und teils an den Schützen vorbei, teils mit ihnen
verwoben, entstand auch eine kleine Südtiroler Skinheadszene, da
und dort mit Verstößen gegen Gesetz und Anstand, wenn es um
Fragen von Migration und Deutschtum ging. Aus dieser Szene herausgewachsen
ist die Südtiroler Deutschrockband „Frei.Wild“, mit
der erstmals nach den Kastelruther Spatzen eine Südtiroler Band
Erfolge in ganz Deutschland feierte. Bandgründer Philipp Burger
hatte sich früh – und doch nie restlos erfolgreich – von rechtsextremen
Skinheadversuchungen loszusagen versucht, seine Texte
sind Ausdruck von Rebellionslust und jugendlichem Zorn, der am
Deutschsein Südtirols Orientierung findet und im „Scheißen“ (Zitat)
auf die gesellschaftlichen Tabus ihre musikalischen Höhepunkte
setzt. Etikettierende Einordnungen werden dem Phänomen nicht
gerecht, „Frei.Wild“ ist ein Indiz dafür, dass mit rhetorischen Appellen
allein die Jugend schwer für ein sprachgruppenübergreifendes
Konsensprojekt zu gewinnen ist. Das Bedürfnis nach Neuem,
nach Tabubruch, nach Veränderung findet in den unbearbeiteten
Mythen der Vergangenheit ständig explosiven Stoff.
Das verleiht auch jenen Entwürfen für die Zukunft Südtirols
ständig neue Attraktivität, die schon vielfach als überholt abgehakt
wurden, mit dem Gedenkjahr 2009 haben sie wieder Auftrieb
erfahren: Im Traum vom „Freistaat“ versteckt sich die alte Illusion,
Fremdheit von draußen abwehren zu können und die Fremdheit
innerhalb des Landes unter Kontrolle zu halten. Vordergründig
geht es darum, mit dem Freistaat weg von Italien zu kommen, weg
von einem Staat, der Steuern frisst und nicht die eigene Sprache
spricht. Der Subtext aber lautet: In einem Freistaat Südtirol könnte
die Globalisierung, könnten die EU-Durchgriffe, könnte Migration,
könnte all das, was uns Angst macht und verunsichert, so gesteuert
werden, wie man es möchte. Dieser Freistaat Südtirol, der in der
EU wohl schwer zu verwirklichen sein wird, ist bei genauem Hinsehen
kein irdischer Entwurf, sondern eine paradiesische Utopie,
eine Erlösungsheimat. Sie wird umso leichter geträumt, je sicherer
ihre Nichtverwirklichbarkeit ist. Zugleich haben realpolitische
Mahnungen in Zeiten, in denen die EU keine gesicherte Größe
mehr ist, einen schweren Stand: denn wer weiß schon, was morgen
ist?
295
Als autarke Insel gedacht, ist Südtirol wohl nur bedingt lebensfähig.
Das ist gar nicht vorrangig eine Frage des Wirtschaftens,
sondern des Atmens: Für die innere Dialektik einer Gesellschaft,
für Austausch, Begegnung, Erfindung, Kreativität braucht es eine
größere kritische Masse. So erstaunlich es ist, wie viele Südtirolerinnen
und Südtiroler es in allen Bereichen – in Sport, Showbusiness,
Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft – auch außerhalb des Landes
zu Höchstleistungen und Spitzenpositionen bringen, so sehr liegt
darin auch eine Verführung zur Selbstüberschätzung: Mit solcher
Dichte und Spannung, von seinen Grenzen gestiftet, tanzt das Land
gewissermaßen permanent am Kraterrand zwischen generierender
Explosion und erstickender Implosion. Wer den Sprung aus
dem Land hinaus schafft, mag daraus Kraft ziehen, aber viele, die
daheim bleiben, atmen dünne Luft. Die knapp 500.000 Südtirolerinnen
und Südtiroler sind nicht nur wenige, sie sind auch in Parallelgesellschaften
geteilt; die Aufhebung der inneren Grenze ist
eine Möglichkeit, den Entfaltungsraum etwas zu erweitern, aber
dies wird so lange schwer fallen, solange das Land seine Identitäten
aus den anderen Grenzen bezieht – kulturelle Absicherung
gegen Süden, staatliche Abtrennung gegen Norden. Denn so lange
stehen sich das Eigene und das Fremde feindselig oder zumindest
geringschätzig, bestenfalls gleichgültig gegenüber.
Es wird, um auch nur in der Vorstellungskraft etwas bewegen
zu können, an jenen Grenzen gerüttelt werden müssen, die Südtirol
ausmachen. Das bedeutet ein gewisses Risiko, denn die Grenzen
bieten Schutz: zwischen den Parallelgesellschaften, die gelernt
haben, sich zu „arrangieren“, sie bieten den kulturellen Minderheiten
Schutz, die innerhalb des autonomen Raumes die Position
einer Mehrheit errungen haben, sie bieten der italienischen Bevölkerung
Schutz, die sich im Autonomiesystem Südtirols nicht auf
ihre staatliche Zugehörigkeit allein verlassen kann. Sie bieten auch
Schutz für eine Kultur der Mittelmäßigkeit, die sich in ihren engen
Grenzen grenzenlos überschätzen darf. Soll sich Südtirol öffnen,
seine Igelhaltung aufmachen, dann bedeutet dies, ein Wagnis einzugehen.
Wohl kaum einmal waren die Zeiten so auffordernd dazu,
zugleich aber war das Bewusstsein, wie schön man es hat, wenn
man so eingerollt ist, wohl nie so verführerisch: Draußen wütet die
296
Globalisierung, draußen lauert Konkurrenz, von draußen dringt
möglicherweise neue Entfremdung ein. Der zum Glück misslungene
Brandanschlag auf ein Heim lybischer Asylanten im Frühjahr
2012 war ein Alarmsignal.
Das Bedürfnis nach Schutz und Bewahrung des Status quo
in einer Welt, in der nichts mehr sicher und dauerhaft scheint,
zeigt sich auch im offiziellen Zukunftsprojekt einer Europaregion
Tirol. Was auch immer seit den 90er Jahren dafür unternommen
wurde, war letztlich halbherzig und auf Vermeidung ausgerichtet:
ein möglichst schwach besetztes gemeinsames Büro in Brüssel,
gemeinsame Landesausstellungen, die sich aus dem Weg zu gehen
begannen, kaum dass sie erprobt worden waren, die Dämonisierung
realer gemeinsamer Projekte, wie es die Holding zwischen Südtiroler
Sparkasse und Hypo Tirol gewesen wäre. Wer an die Brüche
zurückdenkt, die vor 100 Jahren das alte Tirol zerstört haben,
wird dieses Zurückweichen leichter verstehen. Oder umgekehrt
gedacht: Es wird schwer möglich sein, dass sich diese Teile einer
damals zerstörten Gemeinschaft wieder aufeinander zu bewegen,
wenn sie nicht ihre Bruchstellen ausheilen.
Um 1909 hat Tirol angefangen, sich kleiner zu denken, als es
damals war, die Unsicherheiten einer Zeit, die in den Weltkrieg
führten, mögen dem Land und seinen Verantwortlichen auch nicht
mehr viel Spielraum gegeben haben. 2009 hat Tirol sich wieder
seiner Geschichte besonnen, die Zeiten waren wieder unsicher
und die Rückzugswünsche lagen in der Luft. Die herben Verluste
für die Südtiroler Sammel- und Mehrheitspartei, das Aufwallen
patriotischer Gefühle in neuen Märschen gegen Denkmäler, die
Verdichtung des „Mir sein mir“ im erfolgreichen Wahlslogan „Einheimische
zuerst“, das Austoben von Provinzialität ausgerechnet
im neuen Museum für Moderne Kunst, mit dem Südtirol seine
Provinzialität zu sprengen gehofft hatte. Der Skandal zur Eröffnungsausstellung
um die Skulptur „Zuerst die Füße“ von Martin
Kippenberger holte ein Land im Höhenflug derb auf den Bretterboden
der Provinz zurück.
Öffnungen, Auflockerungen der mythenschweren Abwehrkultur
zeigten sich unverhofft im Gedenken an 1809, erstmals mit einer
nüchternen Unbeschwertheit und leichten Ironie zelebriert: „Wan-
297
ted Hofer“ als Titel für die Ausstellung im Ferdinandeum, „Der mit
dem Bart“ für jene auf Schloss Trauttmansdorff, eine gelungene
Dekonstruktion der Heldengeschichte am Sandhof, eine Ausstellung
biographischer Gegenentwürfe auf Schloss Tirol, die heitere
Auflösung der Heldentragik in einem Cartoon. Im Innsbrucker
Tirol Panorama wurde das Riesenrundgemälde mit den Schlachtenszenarien
von 1809 in einen weiter gefassten, geöffneten Kontext
gestellt. Die Landesausstellung „Labyrinth::Freiheit“ in der Festung
Franzensfeste hob – als Abschluss einer glücklos scheinenden
Trilogie Gesamttiroler Landesausstellungen – den Blick von
1809 auf die Ambivalenz von Freiheit in Geschichte und Gegenwart.
Auch beim Landesfestumzug in Innsbruck mit 26.000 Teilnehmerinnen
und Teilnehmern und rund 70.000 Zaungästen hielt
sich die angekündigte patriotische Mobilisierung in Grenzen.
Anstelle eines befürchteten politischen Scherbenhaufens gab
es ein frohes, von Musikkapellen und Schützen geprägtes Fest.
Mit Bundes präsident Heinz Fischer, Bundeskanzler Werner Faymann
und Vizekanzler Josef Pröll war die Ehrentribüne prominent
besetzt, die drei Landeshauptleute des „alten Tirol“ Lorenzo Dellai,
Luis Durnwalder und Günther Platter bekundeten ihre Bereitschaft
zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Der italienische
Bozner Bürgermeister Luigi Spagnolli nahm trotz Kritik
in den italienischen Medien am Landesfestumzug teil und beanspruchte
damit die Tiroler Zugehörigkeit und Geschichte auch für
die italienische Bevölkerung.
Nicht unmittelbar vergleichbar, aber doch in einem subtilen
Zusammenhang stehend, fand in Bozen im Frühjahr 2012 das
85. nationale Treffen der Alpini statt. Die Sorgen vor dem Aufmarsch
von 300.000 ehedem befeindeten Gebirgsjägern waren nicht nur
logistischer und verkehrstechnischer, sondern auch politischer Art
– schon Wochen vor dem mehrtägigen Großereignis war Bozen von
einem grünweißroten Fahnenmeer überzogen. Vom Südrand der
Stadt bis nah an die Altbozner Nobelviertel heran wurde die Stadt
binnen Stunden bis in die letzten Flecken, Parkplätze, Tankstellen,
ja Kreisverkehrsinseln mit Zelten und Feld küchen überzogen,
und während viele Bozner in ein langes Wochenende flüchteten,
bestimmten die Alpini mit ihren Militärhüten und Soldaten liedern
298
Ton und Bild einer unwirklichen Aufführung. Als sich die befürchtete
Belagerung schon am ersten Tag als „mobiles Oktoberfest“
(Hans Heiss) herausstellte und die friedliche Feierstimmung der
Alpini auf die daheimgebliebene Stadtbevölkerung übersprang,
schrieb „Dolomiten“-Chefredakteur Toni Ebner jun. in einem offenen
Brief an die Alpini: „Ihr habt mit eurem 85. Treffen in Bozen
einen großen Beitrag für Frieden und Versöhnung in diesem Land
geleistet. Ihr habt den Beweis geliefert, dass 94 Jahre nach dem
Ersten Weltkrieg keinerlei Feindschaft mehr besteht zwischen
Euch – als Nachkommen der Alpini an der Südfront auf der Seite
Italiens – und uns als Nachkommen der Kaiserjäger und Standschützen
auf der Seite der Habsburgermonarchie.“
Hundert Jahre Südtirol – kein sicheres Happy End, aber eine Aussicht
darauf.
299
Dank
Vielen ist zu danken, vor allem den vielen Menschen, die ich in
den drei Jahrzehnten meiner Befassung mit Südtirols Geschichte
und Gegenwart interviewen konnte, die mir Unterlagen und Vertrauen
gaben, mir bessere und vertiefte Einblicke und Sichtmöglichkeiten
gewährten – die Liste ist lang, die Betroffenen, soweit
noch lebend, wissen, dass sie gemeint sind, den Verstorbenen gelten
gute Gedanken; viele sind oder waren Protagonisten der hier
erzählten Geschichte(n), viele haben sie als Zeitzeugen, Betroffene,
Kundige erlebt, allen voran meine Eltern, denen ich das Interesse
für unsere Zeitgeschichte und Gegenwart ganz besonders
verdanke. Meiner Frau Astrid Kofler, mit der ich auch manches
Projekt gemeinsam durchgeführt habe, danke ich für Begleitung
und Anregung. Michael Forcher bin ich für die Zusammenarbeit
bei unserem schönen Band „Südtirol in Geschichte und Gegenwart“
dankbar, der die Grundlage für diese Arbeit legte. Verlagsleiter
Markus Hatzer und Programmleiter Georg Hasibeder danke
ich für die Offenheit gegenüber meinen Vorschlägen, Dorothea
Zanon für die Betreuung dieses Buches, dem Historiker Harald
Dunajtschik für das sorgfältige Lektorat, Kurt Höretzeder für die
Gestaltung des Titelbildes. Die Fotoauswahl verdankt sich zum
Teil meiner früheren Arbeit bei den Zeitschriften „ff“ und „süd tirol
profil“, der Sammlung von Michael Forcher, dem SVP-Archiv, dem
Landespresseamt Südtirol und ganz besonders den zeit historischen
Publikationen des Raetia-Verlages, für deren Verwendung ich
Verlagsgründer Gottfried Solderer und Programmleiter Thomas
Kager danke; ein herzliches Dankeschön geht an Hans Veneri, Franz
Berger, Arno Gisinger, Josef Rohrer, Bettina Ravanelli, Ludwig
Thalheimer und Othmar Seehauser; für das Titelfoto von der Verabschiedung
von Optantinnen und Optanten auf dem Bahnhofsplatz
von Brixen danke ich Hans Heiss für den wertvollen Hinweis,
der Apothekerfamilie Peer und besonders Oswald Peer und dem
Pharmaziemuseum Brixen für die Beschaffung und Zurverfügungstellung
der berührenden Aufnahme. Der Abteilung Deutsche Kultur
der Südtiroler Landesregierung mit Ressortdirektorin Karin
300
Dalla Torre und Landesrätin Sabina Kasslatter Mur danke ich für
die Förderung der Publikation, dem Südtiroler Kulturinstitut und
seinem Präsidenten Marjan Cescutti für die hilfreiche Zusammenarbeit
bei der Herausgabe dieses Buches.
301
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Kreisky, Bruno: Im Strom der Politik. Erfahrungen eines Europäers.
Wien-Berlin: Siedler-Verlag 1988
Langer, Alexander: Aufsätze zu Südtirol – Scritti sul Sudtirolo 1978–1995.
Hg. von Siegfried Baur und Riccardo Dello Sbarba. Meran:
Alpha Beta 1996
Langer, Alexander: Vie di pace. Frieden schließen. Berichte aus Europa –
Rapporto dall’Europa. Trento: Arcobaleno Edizioni 1992
Larcher, Dietmar: Fremdgehen. Fallgeschichten zum Heimatbegriff.
Klagenfurt: Drava; Meran: Alpha Beta 2005
Lun, Margareth: Die NS-Herrschaft in Südtirol. Die Operationszone Alpenvorland
1943–1945. Innsbruck-Wien-Bozen: Studienverlag 2004
Luverà, Bruno: Oltre il confine. Euregio e conflitto etnico: tra regionalismo
europeo e nuovi nazionalismi in Trentino Alto Adige. Bologna: Il Mulino 1996
Marko, Josef /Ortino, Sergio/Palermo, Francesco (Hg.): L’Ordinamento Speciale
della Provincia Autonoma di Bolzano. Padua: Cedom 2001
Melandri, Francesca: Eva dorme. Roman. Mailand: Mondadori 2010
Melandri, Francesca: Eva schläft. Roman. München: Karl Blessing 2011
Melandri Francesca: „Wir haben nichts gewusst“. In: Peterlini HK 2011, 464–469
Mittich, Waltraud: Du bist immer auch das Gerede über dich. Annäherung an
einen Widerständler. Bozen: Raetia 2012
304
Molling, Herlinde: So planten wir die Feuernacht. Protokolle, Skizzen und
Strategiepapiere aus dem BAS-Archiv. Bozen: Raetia 1011
Obermair, Hannes/Romeo, Carlo: Biographien – Vite di provincia. Geschichte und
Region/Storia e regione 1/2002. Innsbruck-Wien-München-Bozen/Bolzano:
Studienverlag 2002
Pallaver, Günther: Die ethnisch halbierte Wirklichkeit. Medien, Öffentlichkeit
und politische Legitimation in ethnisch fragmentierten Gesellschaften.
Theoretische Überlegungen und Fallbeispiele aus Südtirol. Innsbruck-Wien-
Bozen: Studienverlag 2006
Pardatscher, Thomas: Das Siegesdenkmal in Bozen. Entstehung – Symbolik –
Rezeption. Bozen: Athesia 2002
Passerini, Vincenzo: Euregio – Il ponte o il muro. Trento: Progetto Rete 1996
Passerini, Vincenzo: La Regione Trentino – Alto Adige/Südtirol: Un’Istituzione
necessaria. Trento: Consiglio Provinciale 1996
Peterlini, Hans Karl: Capire l’altro. Piccoli racconti per fare memoria sociale.
Mailand: FrancoAngeli 2012
Peterlini, Hans Karl: Feuernacht. Südtirols Bombenjahre. Hintergründe –
Schicksale – Bewertungen. Bozen: Raetia 2011
Peterlini, Hans Karl: Heimat zwischen Lebenswelt und Verteidigungspsychose.
Politische Identitätsbildung am Beispiel junger Südtiroler Schützen und
Marketenderinnen. Innsbruck: Studienverlag 2011
Peterlini, Hans Karl: Freiheitskämpfer auf der Couch. Psychoanalytische
Anschläge der Tiroler Freiheitskampfkultur von 1809 bis zum Südtirol-
Konflikt. Innsbruck: Studienverlag 2010
Peterlini, Hans Karl (Hg.): Universitas est. Essays zur Bildungsgeschichte
in Tirol/Südtirol vom Mittelalter bis zur Freien Universität Bozen. Bozen:
Raetia/University Press 2008
Peterlini, Hans Karl: Hans Dietl. Biografie eines Südtiroler Vordenkers und
Rebellen. Bozen: Raetia 2007
Peterlini, Hans Karl (Hg.): Silvius Magnago. Das Vermächtnis. Bekenntnisse einer
politischen Legende. Bozen: Raetia 2007
Peterlini, Hans Karl: Südtiroler Bombenjahre. Von Blut und Tränen zum Happy
End? Bozen: Raetia 2005
Peterlini, Hans Karl: Wir Kinder der Südtirol-Autonomie. Ein Land
zwischen ethnischer Verwirrung und verordnetem Aufbruch.
Wien-Bozen: Folio 2003
Peterlini, Hans Karl: Bomben aus zweiter Hand. Südtirols missbrauchter
Terrorismus. Bozen: Raetia 1992
Peterlini, Oskar: L’autonomia che cambia, Gli effetti della riforma costituzionale
del 2001 sull’autonomia speciale del Trentino Alto Adige Südtirol e le
nuove competenze in base alla clausola di maggior favore. Bozen: Praxis 3
Bolzano 2010
Peterlini, Oskar: Autonomy and the Protection of Ethnic Minorities in Trentino-
South Tyrol. Wien: Braumüller 1997
Peterlini, Oskar: Autonomie und Minderheitenschutz in Trentino-Südtirol.
Überblick über Geschichte, Recht und Politik. Trient: Autonome Region
Trentino-Südtirol 1996
Peterlini, Oskar: Der ethnische Proporz in Südtirol. Bozen: Athesia 1980
305
Pizzinini, Meinrad (Hg.): Zeitgeschichte Tirols. Innsbruck-Wien: Tyrolia;
Bozen: Athesia 1990
Plaikner, Peter: Luis Durnwalder. Der Südtiroler und der Europäer.
Wien: Styria 2011
Raffeiner, Josef: Tagebücher 1945–1948, hg. von Wolfgang Raffeiner.
Bozen: Edition Sturzflüge 1998
Romeo, Carlo: Alto Adige / Südtirol. XX Secolo. Cent’anni e più in parole
e immagini. Bozen: Raetia 2003
Sauer, Benedikt/Sprenger, Michael: Dreierwatter. Banken, Macht und Politik rund
um die Brennerachse. Innsbruck-Wien-München-Bozen: Studienverlag 2003
Seberich, Rainer: Südtiroler Schulgeschichte: Mutterspachlicher Unterricht unter
fremdem Gesetz. Bozen: Raetia 2000
Scrinzi, Otto (Hg.): Chronik Südtirol 1959–1969. Von der Kolonie Alto Adige zur
Autonomen Provinz Bozen. Graz-Stuttgart: Stocker Verlag 1996
Senn, Hubert (Hg.): Tirol 1809–1984. Innsbruck-Wien: Tyrolia;
Bozen: Athesia 1985
Solderer, Gottfried: Das 20. Jahrhundert in Südtirol. 5 Bände.
Bozen: Raetia 1999–2003
Sotriffer, Kristian: Auf der Suche nach Tirol. In: Brandstätter 1980
Sporer-Heis, Claudia (Hg.): Tirol in seinen alten Grenzen. Festschrift für
Meinrad Pizzinini. Innsbruck: Wagner 2008
Stadlmayer, Viktoria: Kein Kleingeld im Länderschacher. Südtirol, Triest und
Alcide Degasperi 1945/1946. Schlern-Schriften 320. Innsbruck: Wagner 2002
Steinacher, Gerald: Nazis auf der Flucht. Wie Kriegsverbrecher über Italien nach
Übersee entkamen. 1946–1955. Innsbruck: Studienverlag 2008
Steinacher, Gerald (Hg.): Im Schatten der Geheimdienste. Südtirol 1918 bis zur
Gegenwart. Innsbruck: Studienverlag 2003, 187–228
Steininger, Rolf: Südtirol. Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart. 2. Auflage.
Innsbruck-Wien-Bozen: Studienverlag 2003
Steininger, Rolf: Südtirol zwischen Diplomatie und Terror 1947–1969.
Darstellung in drei Bänden. Bozen: Athesia 1999
Steininger, Rolf: Südtirol im 20. Jahrhundert. Vom Leben und Überleben einer
Minderheit. 2 Bände. Innsbruck-Wien-Bozen: Studienverlag 1997–1999
Steurer, Leopold/Verdorfer, Martha/Pichler, Walter: Verfolgt, verfemt,
vergessen. Lebensgeschichtliche Erinnerungen an den Widerstand gegen
den Nationalsozialismus und Krieg. Südtirol 1943–1945. 2. Auflage.
Bozen: Sturzflüge; Innsbruck-Wien: Studienverlag 1997
Taibon, Mateo (Hg.): I Ladins dles Dolomites. Die Dolomitenladiner.
Bozen: Gesellschaft für bedrohte Völker 2005
Thaler, Franz: Unvergessen. Option, KZ, Kriegsgefangenschaft, Heimkehr.
Ein Sarner erzählt. Raetia, Bozen 1999
Thöni, Arthur: Chancen und Grenzen der Zusammenarbeit der Tiroler Landesteile.
In: Ebner 2006
Trompedeller, Annuska: Karl Tinzl (1888–1964). Eine politische Biografie.
Innsbruck: Studienverlag 2007
Tumler, Franz: Aber geschrieben gilt es. Ein Lesebuch. Hg. von Ferruccio
Delle Cave, Georg Engl, Elmar Locher. Bozen: Raetia 1992
Tumler, Franz: Das Land Südtirol. München-Zürich: Piper 1984
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Tumler, Franz: Aufschreibung aus Trient. Roman. Frankfurt am Main:
Fischer Taschenbuch 1982
Villgrater, Maria: Katakombenschule – Faschismus und Schule in Südtirol.
Bozen: Athesia 1984
Volgger, Friedl: Mit Südtirol am Scheideweg. Erlebte Geschichte.
Innsbruck: Haymon 1997
Von der Decken, Godele (Hg.): Teilung Tirols – Gefahr für die Demokratie? Beiheft
zu Sturzflüge 23/1988. Bozen: Sturzflüge; Wien-Innsbruck: Gesellschaft für
politische Aufklärung 1988
Watschinger, Franz: Bomben und Justiz. Der erste Grazer Südtirol-Prozess
1961 (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 20). Innsbruck:
Studienverlag 2003
Weingartner, Wendelin (Hrsg.): Nachdenken über Tirol. Innsbruck-Wien:
Haymon 1993
Widmann, Franz: Es stand nicht gut um Südtirol. 1945–1972: Von der Resignation
zur Selbstbehauptung. Aufzeichnungen der politischen Wende.
Bozen: Raetia 1998
Zelger, Anton: Ja zur Zweisprachigkeit – Nein zur Mischkultur in Südtirol.
Bozen: SVP-Selbstverlag 1980
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Bildnachweis
Agenzia Informazioni e Commenti per la Stampa), L’Alto Adige fra le due guerre,
Roma 1961: S. 51
Agostini, Piero/Romeo, Carlo: Trentino e Alto Adige. Province del Reich. Trient:
Editrice TEMI 2002: S. 99
Amt für Naturparke, Bozen: S. 214
Archäologiemuseum Bozen: S. 279
Archiv Arunda, Schlanders: S. 71
Archiv der „Arbeiter-Zeitung“, Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung,
Wien: S. 190
Archiv der Alexander-Langer-Stiftung, Bozen: S. 239
Archiv Elmar Thaler, Montan: S. 50,
Archiv Firma Durst: S. 35 rechts
Archiv Firma Zuegg: S. 35 links
Archiv Haymon Verlag: S. 26 links, 40, 57 oben, 60, 68, 77, 81 oben links und unten
rechts, 87 oben, 92 oben, 95 links, 102 unten, 161, 231, 236 oben
Archiv Haymon Verlag (Foto: Hannelore Bachheimer): S. 222 rechts
Archiv Helmut Golowitsch, Puchenau (Akt Kreisgericht Wels 10 VR II79/63):
S. 193
Archiv Hotel „Elephant“, Brixen (Foto: Wolfgang Heiss, 1884–1955): S. 90
Archiv Raetia, Bozen: S. 11, 138 rechts, 175 rechts, 180 oben
Archiv Raetia, Bozen/Nachlass Claus Gatterer: S. 87 unten
Arno Gisinger: S. 292
„Bunte Illustrierte“, Archiv Hans Stieler: S. 286
„Bunte Illustrierte“, Offenburg: S. 24
E. Casagrande, Baumgartner/Mayr/Mumelter: Feuernacht. Bozen: Raetia 1992:
S. 206
Enrico Pedrotti, Bozen (p.pr. Luca Pedrotti): S. 198
Ferdinandeum, Innsbruck: S. 10, 12, 14, 84
S.A. Knoll, Innsbruck/Bozen (Fotograf ), Fotoarchiv des Städtischen Museums
Bozen: S. 9
Franz Berger, Bozen (Sammlung Peterlini): S. 168, 175 links, 178, 180 unten links,
186 unten
Gemeinde Niederdorf: S. 107 oben
Gerd Staffler, Bozen: S. 34
Institut für Zeitgeschichte, Innsbruck: S. 102 oben
Institut Ladin, St. Martin de Tor: S. 128
La rivista della Venezia Tridentina, 17 (1935), Nr. 10–11: S. 53 rechts
Landespresseamt Bozen: S. 261 rechts
Museo Storico in Trento: S. 44, 137
Nachlass Friedl Volgger: S. 81 oben rechts und unten links, 95 rechts, 111, 217 links
Nachlass Hans Dietl, Bozen: S. 217 rechts
Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv Austria, Wien: S. 173
Österreichisches Institut für Zeitgeschichte: S. 57 unten
Othmar Seehauser: S. 289
Posch, Benedikt: Tirol 1959. Innsbruck: Tyrolia 1960: S. 171, 174
308
Privatbesitz: S. 52
Raiffeisenkasse Obervinschgau, Graun im Vinschgau 1983: S. 148
Sammlung Annemarie Mumelter, Bozen: S. 41
Sammlung Ellmenreich, Meran: S. 17
Sammlung Forcher, Innsbruck: S. 18, 21, 116, 119, 227 rechts, 244
Sammlung Franz Oberkofler, Bozen/Brixen: S. 74
Sammlung Gaetano Sessa, Bozen: S. 53 links
Sammlung Hans Veneri, Bozen: S. 180 unten rechts
Sammlung Josef Gelmi, Brixen: S. 164
Sammlung Karl Gruber, Innsbruck: S. 129
Sammlung Karlheinz Ausserhofer, Bruneck: S. 230
Sammlung Lothar von Sternbach, Bruneck: S. 63
Sammlung Paul Gruber, Vintl: S. 107 unten
Sammlung Peter Brugger, Bozen: S. 151 unten
Sammlung Peterlini, Bozen: S. 227 links, 261 links
Solderer, Gottfried: Das 20. Jahrhundert in Südtirol. Bozen: Raetia 2000, Bd. 1,
S. 260: S. 11
Stadtarchiv Bozen: S. 56
Stadtmuseum Meran: S. 23, 26 rechts, 27, 47
„südtirol profil“ Nr. 9/1996, S. 17 (Foto Ludwig Thalheimer): S. 252
„südtirol profil“ Nr. 17/1996 (Foto Ludwig Thalheimer): S. 249 rechts
„südtirol profil“ Nr. 18/1996 (Foto Ludwig Thalheimer): S. 249 links
309
Hans Karl Peterlini
© Foto: Astrid Kofler
Zum Autor
Hans Karl Peterlini, geboren 1961 in Bozen/Südtirol. Kulturwissenschaftler,
Journalist und Autor zahlreicher Bücher
und Essays zur Südtiroler Zeitgeschichte und Gegenwart.
Bei Haymon u.a.: Tirol. Notizen einer Reise durch die Landeseinheit
(2008), Südtirol in Geschichte und Gegenwart
(zus. mit Michael Forcher, 2010) und Bauernleben in Südtirol.
12 Porträts (zus. mit Astrid Kofler, 2011).
Herausgegeben in Zusammenarbeit mit dem
Südtiroler Kulturinstitut.
© 2012
HAYMON verlag
Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in
irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem
anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages
reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
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Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-7099-7585-5
Umschlag- und Buchgestaltung, Satz:
hœretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol
Umschlagbilder: Sammlung Forcher, Innsbruck (oben links);
Archiv Tyrolia, Innsbruck (oben Mitte); commons.wikimedia.org /
TH.Korr (oben rechts); Abschied von Optantinnen und Optanten
auf dem Bahnhofsplatz in Brixen, Foto von Ignaz Peer (1910–2001),
Archiv Oswald Peer/Pharmaziemuseum Brixen (großes Bild)
Trotz intensiver Bemühungen konnten nicht alle InhaberInnen von
Bildrechten ausfindig gemacht werden. Für entsprechende Hinweise
ist der Autor dankbar.
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Ein vollständiger, kompakter und leicht verständlicher Überblick über die jüngste
Geschichte Südtirols: Fundiert und klar beschreibt Südtirol-Experte Rolf Steininger
die wichtigsten Ereignisse; etwa die Abtrennung von Österreich, die „Option“
und die „Feuernacht“. Heute scheinen die Terrorakte von 1961 bereits lange her
zu sein und die Autonomie Südtirols hat Modellcharakter. Dass trotzdem nicht
alle Probleme überwunden sind, zeigt ein aktueller Ausblick.
„wissenschaftlich knapp und dennoch überaus ansprechend“
Der Tagesspiegel
Rolf Steininger
Südtirol
Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart
ISBN 978-3-7099-7417-9
€ 7.99
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Ein Mann macht mit seiner Freundin eine Reise nach Italien. Kurz vor Trient hat
er einen Unfall, der ihn zwingt, in der Stadt zu bleiben. Unversehens begegnet
er dort seiner eigenen Vergangenheit und jener der Deutschen und Italiener,
die sich so lange um das Land Südtirol gestritten haben. Auf den Spuren seines
Vaters kommt er hinter das Geheimnis der Menschen, die dort leben. Schritt für
Schritt fügt sich so ein Bild gemeinsamen Schicksals zusammen, ein Bild der
Landschaft, ihrer eingesessenen und zugewanderten Bewohner, für die es nur
die Möglichkeit gibt, zusammenzuleben.
Auch Jahrzehnte nach Erscheinen hat Franz Tumlers Aufschreibung aus
Trient nichts an Aktualität verloren. Sanft offenbart sein Blick, was den beiden
Sprachgruppen gemeinsam ist und was sie trennt. Und damals wie heute fasziniert
Tumlers Schreiben – so still und zurückgenommen, und dabei von einer Klarheit,
die man nur mehr selten findet.
„Vielleicht ist der deutschen Dichtung hier ein Durchbruch gelungen, und zwar in die
Zeit hinein, statt aus ihr heraus.“
Süddeutsche Zeitung, Curt Hohoff
Franz Tumler
Aufschreibung aus Trient
Roman
ISBN 978-3-7099-7534-3
€ 9.99
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Ein Leben lang waren sie beste Freunde, haben nächtelang diskutiert und gelacht,
gegessen und getrunken. Doch als Konrad stirbt und sein Freund dessen leere
Wohnung in Rom betritt, wird ihm nach und nach bewusst, wie fremd und
undurchdringlich ihm Konrad über all die Jahre hinweg geblieben ist, wie streng
er die Geheimnisse seines Lebens gehütet hat.
In der zweiten Erzählung dieses Bandes schildert Joseph Zoderer die Beziehung
zweier Brüder: Nach einem Leben auf Distanz kommen sie sich im Alter
wieder näher, suchen die Vergangenheit nach geteilten Erinnerungen ab und
spüren dem nach, was sie voneinander trennt.
In beiden Geschichten erweist sich Zoderer als ein begnadeter Erzähler,
der wie kaum ein anderer den Zauber des Unscheinbaren erwecken kann. Sensibel
und mit feinem Strich zeichnet er in diesem Buch die Porträts von vier Männern
und erzählt vom reifen Blick des Alters, von Vertrautheit und Distanz, und von
der Kraft der Freundschaft.
„In wenigen Strichen bringt Zoderer Figuren zum Atmen.“
NZZ, Beatrice von Matt
Joseph Zoderer
Mein Bruder schiebt sein Ende auf
Zwei Erzählungen
ISBN 978-3-7099-7402-5
€ 9.99
Diese Erzählungen erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger
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