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100_Jahre_Südtirol

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Hans Karl Peterlini

100 Jahre Südtirol

Geschichte eines jungen Landes


Inhalt

Titel 2

Vorwort 4

Erben des Krieges 8

Wie Südtirol entstand 20

Rote Soße und bittere Zeiten 30

Im Griff der Diktatur 39

Zwischen den Ideologien 62

Heim ins Reich des Nichts 73

„Befreiung“ als Trauma 86

Ein schwankender Neuanfang 106

Hoffnung Selbstbestimmung 115

Pokerpartie um die „Provinz“ 127

Aufbruchsstimmung und „Todesmarsch“ 140

Wende in der Volkspartei 150

Glanz und Schatten von Sigmundskron 160

Ein Land brennt 170

Von der Feuernacht zum Mailänder Prozess 189

Verhandlungen im Kugelhagel 201

Brüche und Aufbrüche 213

Die neue Leichtigkeit des Südtiroler-Seins 228

Lehrjahre der Autonomie 238

Ein Tirol mit zwei Gesichtern 251

Vom Wechsel der Zeiten 260

Die Erntezeit der Autonomie 272

Grenzen eines Traumes 285

Dank 300

Literaturhinweise 302

Bildnachweis 308

Hans Karl Peterlini 310

Zum Autor 311

Impressum 312

Weitere E-Books aus dem Haymon Verlag 313


Vorwort

Hundert Jahre auf und ab

Wann beginnt die Geschichte eines Landes? Wie und woran machen

wir sie fest? An den offiziellen Gründungsakten in demokratischen

Zeiten? Am Emporkommen einer Dynastie? An Landkauf oder

Landraub? Oder, was wohl das Sinnvollste wäre, an der Herausbildung

einer Gemeinschaft? So könnte die Geschichte Südtirols,

dieses an die Südseite der Alpen geduckten Herrgottswinkels, vor

vielen tausend Jahren beginnen oder 1248 mit Albert III., der aber

nicht der erste, sondern genau genommen der letzte Graf von Tirol

war, obwohl mit seinem Landgewinn durch geschickte Verheiratung

seiner Töchter häufig die Geburt Tirols verknüpft wird,

Tirols wohlgemerkt, denn die Entstehung Südtirols ist wieder ein

Stück weit komplizierter. Das Gebiet, das heute Südtirol oder – verwaltungssprachlich

– die Autonome Provinz Bozen ausmacht, ist

ebenso wie andere Gebiete in seiner politischen Abgrenzung ein

Kind von Zufall, Zusammenstößen, Zusammenführungen, schließlich

von Zerreißung; ein Stück dieses Landes oder auch das ganze

könnte, bei anderem Ausgang der einen oder anderen Schlacht, der

einen oder anderen fürstlichen Heiratsaffäre, durchaus auch bei

der Schweiz oder bei Slowenien sein, oder ein Ausläufer Frankreichs

oder kulturell unsichtbar gemacht bei Italien oder doch

wieder bei Österreich – die Geschichte hat ihre Launen. Wenn

wir sie nachträglich nach ihrem Sinn befragen, ist es in etwa so,

wie wenn ein Ziegelstein vom Dach geworfen und hinterher eine

Logik darin gesucht wird, warum einige Teile beisammenliegen,

einige ganz geblieben sind und andere weitum in der Gegend verstreut

sind. Die Ziegelsteinkarte, die da abgebildet auf dem Boden

entsteht, ist eine Wirklichkeit, zu der es unendlich viele andere

Möglichkeiten gegeben hätte.

Historische Erzählungen, die das heutige Land Südtirol in seiner

langen Genesis von den Menschen vor Ötzi bis in die Gegenwart

begleiten, können somit bei den großen Aufbrüchen der Erde,

tektonischen Verschiebungen, beim Rückzug des Meeres und dem

4


Vordringen des Eises, bei den ersten Besiedlungen und allmählichen

Zu- und Durchwanderungen beginnen und langsam den

Faden bis in die Gegenwart verfolgen. Sie werden erst ganz spät,

in den Schlusskapiteln sozusagen, von Südtirol reden können. Bis

dahin wird allmählich von einer Kulturgemeinschaft diesseits und

jenseits des Alpenhauptkammes die Rede sein, von römischen Provinzen,

die irgendwie diesen Raum abdecken, dann von wechselnden

Grafschaften, Vogteien, kirchlichen Lehen, schließlich von

Tirol als „Gefürstete Grafschaft“. In gekonnter Spannung zwischen

wissenschaftlicher Gültigkeit und angenehm lesbarer Sprache hat

Michael Forcher für den von ihm gegründeten Haymon Verlag

diese Arbeit für Tirol schon vor vielen Jahren geleistet. Sein Klassiker

„Tirols Geschichte in Wort und Bild“ führt die vielen Einzelstudien

von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in einer

durchgehenden Erzählform zusammen, angereichert durch Forchers

eigene Forschungen und seine Liebe fürs Detail. Dieselbe

Arbeit zur weiterhin gemeinsamen Tiroler Geschichte, aber mit

einem speziellen Blick auf das Gebiet südlich des Brenners war

Forcher erst vor zwei Jahren zu leisten bereit – bis dahin wehrte

er sich dagegen, dass man eine „Geschichte Südtirols“ schreiben

könne. Der gewählte Titel „Südtirol in Geschichte und Gegenwart“

weist subtil auf dieses Dilemma hin: nicht die „Geschichte Südtirols“

wird erzählt, sondern jene Geschichte, die sich über Jahrtausende

und Jahrhunderte in diesem Gebiet hier abspielte. Mir

war Ehre und Herausforderung beschieden, in diesem Werk die

Zeit ab 1945 zu behandeln, gewissermaßen die jüngste Geschichte

des heutigen Südtirol bis in die Gegenwart.

Damals entstand die Idee zu diesem nun vorliegenden Buch,

aus dem Gefühl heraus, dass es neben dem weitgespannten Bogen

über Jahrtausende hinweg auch ein Bedürfnis für einen engeren

zeitlichen Fokus gibt – eine dichte Erzählung der jüngeren Zeit,

jener Zeit, in der Südtirol wirklich Südtirol wird, nicht mehr Teil

Tirols ist, sich auf dem Weg befindet zur Autonomen Provinz Bozen.

Auch dazu gibt es schon Vorarbeiten, gründliche Aufarbeitungen,

breiteste Schilderungen – von der umfangreichen „Chronik des

20. Jahrhunderts in Südtirol“, herausgegeben von Gottfried Solderer,

über spezifische Ausleuchtungen dramatischer Höhepunkte

5


und herausragender Persönlichkeiten der Südtiroler Geschichte

bis hin zu den vielfältigen Editionen von Rolf Steininger. Was noch

fehlt, ist eine kompakte, zusammenschauende, aber auch reflektierende

Aufarbeitung der jüngsten Geschichte, die uns bis in die

Gegenwart nachweht – als Verständnishilfe für das, was war, als

Orientierung für das, was ist, und vielleicht auch für das, was kommen

könnte. In einem Kommentar für die vom Südtiroler Landesarchiv

sorgfältig und erfrischend edierte Zeitschrift „Geschichte

und Region/Storia e regione“ hat jüngst Hans Heiss als einer der

feinfühligsten Wahrnehmer unserer jüngeren Geschichte eine solche

Gesamterzählung des neuen Südtirol vermisst und gewünscht.

Dass er mir diesen Beitrag freundschaftlich noch vor der Publikation

zukommen ließ, habe ich als unausgesprochene Aufforderung,

jedenfalls aber als Herausforderung betrachtet.

„100 Jahre Südtirol“ ist ein gleich metaphorisch anklingender

wie kalendermäßig willkürlicher Titel. Damit wären wir wieder

bei der Frage: Wann beginnt die Geschichte eines Landes?

Streng genommen kann vom heutigen Südtirol erst mit dem Ende

des Ersten Weltkrieges 1918, noch strenger genommen mit den

Annexionsprozeduren 1919/1920 die Rede sein; aber dieses Ende

eines Krieges, das für Südtirol einen Anfang darstellt, lässt sich

nicht erzählen, ohne den Krieg zu erzählen, ohne ein Zurückleuchten,

wie dieser Krieg seinen Anfang nahm, welche deutschitalienische

Nationalismen darin ausbrachen, die das lange Miteinander

von Welsch- und Deutschtirol zerstörten. Die Grenze, die

1918–1920 durch das alte Tirol gezogen wurde, zog sich – wenn

auch mit anderem Verlauf – geistig schon in den Jahrzehnten davor

mit zunehmender Schärfe durch die lange sprachgruppenübergreifende

Einheit Tirols von Borghetto südlich von Rovereto bis

Kufstein im heutigen Bundesland Tirol. So sind die „100 Jahre

Südtirol“ bewusst mit einer gewissen Unschärfe gesetzt, hundert

Jahre als eine lange Zeit, in der sich Generationen abwechselten,

die mittlerweile durch eine gemeinsame Landesgeschichte verbunden

sind – sie können mit 1914 beginnen, als der Krieg ausbricht,

mit 1915, als Südtirols Zugehörigkeit zu Italien mit dem

Geheimvertrag von London letztlich vorentschieden wird, es sei

denn, Österreich hätte den Krieg gewonnen, sie können etwas frü-

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her, etwas später beginnen, diese hundert Jahre Landwerdung.

Sie möchten zum Ausdruck bringen: In der Zeitspanne eines langen

Menschenlebens hat sich in diesem kleinen Raum entscheidendes

verändert, und wir – die am Ende dieser hundert Jahre

leben – haben vielleicht erstmals ausreichend Distanz gewonnen,

um besonnen und nachdenklich darauf zurückzublicken. Manches

aus diesen hundert Jahren schmerzt bis in die Gegenwart,

manches ist nicht ausreichend betrauert und nicht ausreichend

eingestanden worden, an manchem wird krampfhaft festgehalten,

obwohl es der Geschichte übergeben gehört, manches ist aber

auch geheilt und geglückt, fast ein Wunder, wenn an das Schicksal

der allermeisten anderen Minderheiten in Europa nach den

zwei fürchterlichen Kriegen gedacht wird, wenn bedacht wird,

wie sich ein „Volk in Not“ aus dramatischen Umständen eine neue

Zukunft eingerichtet hat.

So sind hundert Jahre Südtirol ein wenig wie hundert Jahre

Leben, in einem kleinen Land, das durch Unglück zum Land wurde,

aber darin auch viel Glück hatte. Gewidmet den künftigen Generationen,

zu denen auch meine Kinder Julia, Nathanael, Rahel und

Ruben gehören.

Hans Karl Peterlini

Bozen, September 2012

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Erben des Krieges

Nationalismus und Kriegstrauma an der Wiege

des neuen Südtirol – Vom Londoner Geheimvertrag

zum Ende der Donaumonarchie

Südtirol ist ein Kriegskind. So steht am Beginn der Geschichte

eines Landes, wie es sich in seiner Gegenwart begreift, eine traumatische

Erfahrung, die Zukunftsvorstellungen, Sicherheiten,

Existenzgrundlagen hinwegriss und die Menschen vor völlig veränderte

Lebensbedingungen und politische Perspektiven stellte.

„Dies ist das Ende, ein Ende mit Schrecken“, schilderte die Tageszeitung

„Der Tiroler“ am 8. November 1918 die Lage in Bozen.

Ein Anfang, der den Schrecken beenden könnte, war damals wohl

schwer zu sehen.

Das Ende des Ersten Weltkrieges bedeutete den Zusammenbruch

der Donaumonarchie, der Tirol – mit dem italienischen

Welschtirol von Salurn bis Borghetto, mit dem heutigen Südtirol,

den ladinischen Tälern im Trentino und in Belluno, dem heutigen

Nord- und Osttirol – über Jahrhunderte angehört hatte. Risse hatten

sich in dieser Einheit schon lange früher angekündigt. Waren

1809 in den legendären Freiheitskämpfen der Tiroler gegen die

napoleonischen Truppen welsche, ladinische und deutsche Schützen

noch gemeinsam für ihr Ideal von „Gott, Kaiser und Vaterland“

ausgerückt, entwickelten sich vor allem Deutsch- und Welschtirol

ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zusehends auseinander. Die

bürger lichen Revolutionen von 1848, in denen Bedürfnisse nach

mehr Freiheit vom erwachenden nationalsprachlichen Bewusstsein

beflügelt wurden, lösten in Welsch- und Deutschtirol völlig

unterschiedliche Stimmungen aus. Während etwa der Pustertaler

Kreishauptmann Johann Jakob Staffler 1848 beklagte, dass „der

böse Geist des Trotzes und der Zuchtlosigkeit“ um sich greife und

überall das „unsinnige Geschrei“ von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“

zu hören sei, versuchte eine liberale Elite in Trient die

Stimmung für den Anschluss Welschtirols an die Lombardei zu

nützen, die zwar damals auch noch österreichisch war, aber ein

8


Symbolbild einer Entzweiung: In Bozen wurde am 15. September 1889

das Denkmal an Walther von der Vogelweide auch im Sinne des erstarkenden

deutschen Nationalgedankens enthüllt; die Errichtung des Dante-Denkmals

in Trient wurde umgekehrt in Deutschtirol als Provokation empfunden.

nationalsprachlich homogenes und wirtschaftlich starkes Gebiet

darstellte. Als die Truppen um Giuseppe Garibaldi, beseelt vom

nationalen Gedanken einer italienischen Einheit, gegen die österreichischen

Grenzen vordrangen, marschierten Deutschtiroler Studenten

und Schützen Schulter an Schulter an die Südfront, obwohl

die Studenten vom nationalfreiheitlichen (allerdings deutschen)

Geist durchaus inspiriert und begeistert waren, während die Schützen

treu zum Kaiser standen.

In Welschtirol war die Lage weniger eindeutig. Breite Bevölkerungskreise

identifizierten sich noch mit der Monarchie, aber intellektuelle

und auch aufgeschlossene kirchliche Kreise orientierten

sich zunehmend an Italien. Verhärtungen, Unfrieden, sich aufschaukelnde

Nationalismen auch innerhalb des alten Tirol waren Vorboten

des späteren Auseinanderbrechens: Welschtirol begehrte nach

mehr Autonomie und einem Aufschwung aus seinem Hinterland-

Dasein am Rande der Monarchie, maßgebliche und zunehmend

nationalistische Kräfte in Deutschtirol stellten sich dagegen. Die

Hundertjahrfeiern 1909 im Gedenken an 1809 standen im Zeichen

9


Die verregnete Enthüllungsfeier für das Dante-Denkmal in Trient am

11. Oktober 1896.

einer deutschpatriotischen Mobilisierung und eines inneren Ab -

rückens Welschtirols von der Monarchie. Der Krieg warf zu diesem

Zeitpunkt schon seine Schatten voraus.

Die Schüsse von Sarajewo, mit denen der österreichische Thronfolger

Franz Ferdinand erschossen wurde, trafen mitten in ein Pulverfass,

sie entfesselten die nur mühsam mit Allianzen, Angriffsund

Nichtangriffspakten zurückgehaltene Kriegsbereitschaft. Die

Kriegserklärung Österreichs an Serbien vom 28. Juli 1914 ist auch

im Lichte der Machtkämpfe zwischen Deutschland-Österreich

auf der einen, Russland-Frankreich und Großbritannien auf der

anderen Seite zu sehen. Nur so konnte sie jene Kettenreaktion

aus lösen, an deren Ende Europa in einem bis dahin beispiellosen

Krieg stand. Für Tirol eine besondere Rolle spielte das schwierige

Verhältnis Österreichs zu Italien, das erst 1861 aus dem Königreich

Sardinien-Piemont hervorgegangen war und seine junge nationale

Identität gerade an den Unabhängigkeitskriegen um die von Österreich

beherrschten oberitalienischen Gebiete aufgerichtet hatte,

besonders durch die Eroberung von Piemont 1858 und Mailand

1859 als wichtigste Schritte zur Einigung Italiens. Ein früher Aufstand

gegen Österreich war schon 1848 geglückt, aber noch von

10


Mit dem Kriegseintritt Italiens rückten Tirols Außengrenzen mit einem

Schlag an die Frontlinie, ein erbitterter Gebirgskrieg begann.

kurzer Dauer gewesen. Der aus Mailand vertriebene Feldmarschall

Radetzky holte sich das Gebiet nach drei Monaten wieder zurück.

1866 konnte Österreich Venetien und Friaul zwar noch verteidigen,

musste beide Gebiete aber wegen seiner Niederlage gegen Preußen

abtreten, das mit Italien verbündet war. 1870 eroberte Italien

auch Rom und drängte den Kirchenstaat zurück, die italienische

Einigung war nahezu vollendet – bis auf die zwei letzten „unerlösten“

Gebiete von Trient und Triest, der „terra irredenta“.

Der italienische Irredentismus trachtete allerdings zunehmend

nicht nur nach dem italienischen Teil Tirols, dem damaligen „Südtirol“

und heutigen Trentino, sondern nach dem gesamten Gebiet

südlich des Brenners, also einschließlich des südlichen Deutschtirol.

Daran änderte auch eine eher strategische Aussöhnung in

der österreichisch-italienischen „Erbfeindschaft“ (Claus Gatterer)

nichts, als das Königreich Italien 1882 in den Dreibund mit Österreich

und Deutschland eintrat. Die formale Aussöhnung blieb ein

von der Bevölkerung wenig gefühlter und daher leicht zu kündigender

Pakt. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges konnte Italien

die Gunst der Stunde nützen. Streng juridisch war es vom Dreibund

nur im Falle eines Verteidigungskrieges seiner Partner zur

11


Abmarsch in den Krieg,

im Bild ein Stand schützenbataillon

aus Meran am

20. Mai 1915.

Solidarität verpflichtet, nicht aber bei Angriffskriegen. So erklärte

sich Italien zunächst neutral und begann zugleich, mit beiden Seiten

zu verhandeln. Von Österreich forderte es Triest, Istrien und

Welschtirol, was Kaiser Franz Joseph I. zunächst strikt ablehnte.

Erst mit zunehmender Propaganda Italiens für einen Eintritt in den

Krieg gegen Österreich lockerte sich diese Position. Im Frühjahr

1915 signalisierte Wien, „Tirol soweit es italienischer Nationalität

ist“ abtreten zu wollen. Zu spät: Italien hatte für den Fall seines

Kriegseintrittes an der Seite von Frankreich, Groß britannien, Russland

(Entente) weitergehende Zusagen erhalten. Mit dem Londoner

Geheimvertrag vom 26. April 1915 wurden Italien die Gebiete

von Triest mit der Halbinsel Istrien und „ganz Südtirol bis zu seiner

natürlichen Grenze, als welche der Brenner anzusehen ist“,

zugesprochen. Unmittelbar darauf, am 4. Mai 1915, kündigte Italien

den Dreibund, am 23. Mai erklärte es seinem Eben-noch-Bundespartner

Österreich den Krieg.

12


Damit lag Tirol mit einem Schlag unmittelbar an einer nahezu

schutzlosen Front. Das österreichische Militärkommando hatte auf

das Landlibell von 1511, das den Tirolern die Verteidigung ihres Landes

anvertraute und dafür den Kriegsdienst außerhalb des Landes

ersparte, längst vergessen – eine Laune der Tiroler Geschichte,

wenn bedacht wird, dass dieses Prinzip einer der Gründe war,

warum sich Tirol 1809 gegen die napoleonisch-bayrische Besatzung

erhoben hatte. Die wehrpflichtigen Männer Tirols waren schon an

die Ostfront eingezogen worden, einschließlich der Kaiserjägerregimenter,

der Landesschützen und der als Reserve gedachten

Landsturmregimenter. Warnungen der Landeshauptleute von Tirol

und Vorarlberg waren in den Wind geschlagen worden. Die Landesverteidigung,

zentrales Motiv der Tiroler Identität unter Altösterreich,

oblag nun jungen Burschen und alten Männern, die zu einer

Verteidigungstruppe von rund 30.000 Mann zusammengetrommelt

und an die südlichen Außenposten der Monarchie geschickt

wurden. Zu Hilfe eilte ihnen – eine weitere Laune der Geschichte –

ein Hilfskorps aus Bayern, dem einstigen Feindland. Auftrag der

13 Bataillone des deutschen und weitgehend bayrischen „Alpenkorps“

war es, die Linie am Inn zu halten, das Gebiet südlich des

Brenners schien offenbar schon verloren. Trotzdem konnte das

gemeinsame Aufgebot den von italienischer Seite erhofften „Spaziergang

nach Innsbruck“ schon an den Südgrenzen Tirols so lange

stoppen, bis die Kaiserjäger und Landesschützen aus Serbien und

Russland zurückkehrten und die Landesverteidigung übernahmen.

Unterstützt wurden sie von Heeresverbänden der k. u. k. Armee.

Der Krieg „in Fels und Eis“, wie er mythisch verklärt wird, war

grausam. Die Soldaten der beiden Heere standen sich in einem verbissenen

Stellungskrieg unter extremen Bedingungen gegenüber,

in ausgesetzter Höhe und bitterer Kälte mit dürftigster Aus rüstung

und beeinträchtigter Versorgung. Außer jenen Gebieten, die im ersten

italienischen Ansturm nicht verteidigt werden konnten, wie

vor allem Ampezzo, wurde kein Meter Boden preisgegeben. Der

Preis dafür war auf beiden Seiten unvorstellbar hoch. Besonders

umkämpft war die östlich gelegene Isonzofront, allein die vierte von

zwölf Isonzoschlachten kostete die italienischen Truppen 120.000,

die k. u. k. Armee 70.000 Tote. Ausdruck der Technisierung des

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Der häufig heroisierend dargestellte Krieg „in Fels und Eis“ war

eine Material- und Menschenschlacht unter extremen Bedingungen.

Krieges, wie es vorher nicht vorstellbar war, ist der Minenkrieg

im Gebirge, vor allem am Monte Piano nördlich von Ampezzo, in

den Toblacher und Sextener Dolomiten und im Gebirgsstock des

Pasubio östlich von Rovereto. Durch unterirdische Stollen wurde

versucht, zum Feindeslager vorzudringen und diesen durch Sprengungen

zu treffen, abgesprengte Fels vorsprünge und Bergkuppen,

am Pasubio sogar die gesamte Felsplatte auf italienischer Seite,

wurden vielfach zum Massengrab. Trotzdem veränderte sich die

Frontlinie kaum, erst in der letzten Isonzoschlacht bei Caporetto

gelang den Österreichern im Oktober 1917 ein unerwarteter Durchbruch

bis zum Piave.

Wohl im Zeichen des Krieges und der vermeintlichen gewonnenen

Oberhand ist eine Proklamation des Tiroler Volksbundes vom

9. März 1918 in Sterzing zu verstehen. Zugleich zeigt sich darin,

wie national verhärtet das einst supranationale „Tirolertum“ mittlerweile

verstanden wurde, erodiert in Jahrzehnten der sich aufschaukelnden

Nationalismen, zerstört vom Krieg: Der Volksbund

forderte eine Berichtigung der österreichischen Grenzen, indem

diese wieder in die Lombardei, ins Veneto und ins Friaul verlegt

würden, eine stärkere Allianz Österreich-Deutschland, die Ein-

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führung von Deutsch als Staatssprache für die gesamte Monarchie,

die Zurückweisung von tschechischen und slawischen Staatsgründungsplänen,

die Unteilbarkeit Tirols von Kufstein bis zur Veroneser

Klause, die Bekämpfung des Irredentismus durch Stärkung

des Deutschtums, Ausweisung der Irredentisten, Enteignung ihres

Vermögens bei Vorenthaltung von Begnadigung und Staatsbürgerschaft,

Ernennung eines deutschen Bischofs für Trient.

Obwohl „Caporetto“ zum italienischen Trauma und zur

Deutschtiroler Hoffnung wurde, wendete sich der Kriegsverlauf

nicht zugunsten Österreichs. Im Hinterland Tirols wurden 1918

die Lebensmittel knapp, die Höfe wurden nur noch von Bäuerinnen

und Kindern bewirtschaftet, die weitgehend ohne maschinelle

Unterstützung die Nahrungsmittelproduktion aufrechterhalten

mussten. Hunger breitete sich aus, es kam zu Unruhen und Streiks,

die Armee wurde von einer Sommergrippe zusätzlich geschwächt,

allmählich machte sich die materielle Überlegenheit der italienischen

Truppen bemerkbar. Jetzt rächte sich auch, dass die mögliche

Dauer des Krieges unterschätzt worden war. Die strategischen Vor -

stellungen erwiesen sich als unhaltbar, die Impfungen der Soldaten

waren unzulänglich, Strategien zur Ernährungslage zu wenig

bedacht worden. Wichtige Bahnlinien, deren Bau lange verzögert

worden war, mussten nun als wichtige Versorgungslinien im Kugelhagel

gebaut werden, so vor allem die Strecke Toblach-Cortina. Die

Grödner Bahn wurde über Klausen nach St. Ulrich im Eiltempo

verlegt, aber vorerst nicht für den Tourismus, sondern für den Soldatentransport.

Die Fleimstaler Bahn von Neumarkt nach Cavalese

wurde erst 1916 unter dem Druck des Krieges in Angriff genommen.

Als am 21. November 1916 Kaiser Franz Joseph I. verstarb, dessen

Amtszeit mit dem Jahr der Umbrüche von 1848 begonnen hatte,

war das Ende der Monarchie schon vorgezeichnet. Sein Nachfolger

Kaiser Karl I., später als Friedenskaiser verehrt, konnte trotz

mancher Bemühung die von seinem Vorgänger übernommene

Tragödie nicht beenden. Die Umbenennung der Landesschützen

zu Kaiserschützen zeugt von der Hilflosigkeit eines Kaisers, der

den Frieden wünscht und den Krieg nicht beenden kann. Die große

Weltschlacht, in die 1914 auch viele Intellektuelle und Gegner der

Monarchie mit Begeisterung gezogen waren, hatte ihre Faszina-

15


tion verloren. Die Moral der Truppen und der Zivilbevölkerung

war angeschlagen. An manchen Frontstellungen begannen sich die

Soldaten diesseits und jenseits zu verständigen oder versuchten

wenigstens, sich – in einem Fall mittels eines Hundes – Botschaften

für vereinbarte Kampfpausen zukommen zu lassen. Das strenge

Militärregime wurde auch in Deutschtirol als Last empfunden,

besonders hart war es in Welschtirol, dessen Kriegspatriotismus als

wenig vertrauenswürdig galt. Obwohl die Kriegserklärung Italiens

nur rund 700 Trentiner veranlasst hatte, zum italienischen Heer

überzulaufen, griff die verrohende österreichische Militärjustiz

gnadenlos durch. Die Hinrichtung führender, aber auch namenlos

gebliebener Irredentisten sollte Exempel statuieren, schuf aber

spätestens mit Cesare Battisti und seinen Wegbegleitern Damiano

Chiesa und Fabio Filzi die ersten Trentiner Märtyrer. Der sozialistische

Reichsratsabgeordnete Battisti hatte lange vergeblich um

Autonomie für Welschtirol gekämpft. Im Krieg gegen Österreich

und dessen monarchisches System sah er eine Chance, den Traum

von einer gerechteren Gesellschaft mit dem Kampf für ein freies

Trentino zu verbinden. Allerdings sollte nach Battistis Vorstellungen

nur der italienischsprachige Teil Tirols zu Italien kommen, die

Forderung nach der Brennergrenze lehnte er ab, weil dadurch im

neuen Italien ein deutscher Irredentismus entstehen würde. Eine

solche Haltung gegenüber Deutsch-Südtirol wäre nach dem Krieg

möglicherweise wertvoll gewesen.

Für die breite Bevölkerung schmerzhaft war die Massenevakuierung

des Frontgebietes. Auf italienischer Seite wurden 30.000

Menschen, auf österreichischer Seite 70.000 umgesiedelt. In Mitterndorf

an der Fischa in Niederösterreich entstand das berüchtigte

Barackenlager für die Welschtiroler Evakuierten. Versorgung

und Verpflegung waren katastrophal, viele starben an Hunger und

Krankheit. 1700 Welschtiroler, die als politisch unzuverlässig eingeschätzt

wurden, kamen in das Internierungslager Katzenau, wo

sie zum Teil behandelt wurden wie Vieh.

Auch Kaiser Karls letzter Versuch, das Schicksal der untergehenden

Monarchie zu wenden, war vergeblich und kam viel zu

spät: Das föderalistische Manifest vom 18. Oktober 1918 an alle

Völker der Monarchie, ihre eigenen Parlamente und Regierungen

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Soldaten und Zivilbevölkerung litten gegen Ende des Krieges unter der

schlechten Versorgungslage: im Bild die Plünderung eines Lebensmittellagers

in Brixen um 1918.

zu bilden, wäre um 1910 möglicherweise noch eine rettende Maßnahme

gewesen. Damals aber wurden auch kleine Zuständig keiten

wie eine italienische Universität in Trient oder Triest möglichst

lange hinausgezögert, ebenso die Autonomie für Welschtirol, die

von Deutschtiroler Seite so lange boykottiert wurde, dass der Krieg

sie obsolet machte. 1918 beklagte Deutschtirol 20.000 Gefallene, das

waren vier Prozent der Bevölkerung. Welschtirol beklagte allein in

Galizien 60.000 Tote. Darin zeigt sich auch eine besonders zynische

Seite der Vielvölkermonarchie: Die „unverlässlichen“ Welschtiroler

waren 1914 als erste an die Ostfront abkommandiert worden.

Dass die „Heimatfront“ erfolgreich verteidigt worden war,

konnte die schweren Verluste und Rückschläge an vielen anderen

Fronten nicht wettmachen. Die neuen Nationalregierungen, die sich

nach Kaiser Karls Völkeraufruf bildeten, begannen nacheinander

ihre Truppen von der Front abzuziehen. So hielt das kaiserliche

Manifest den Zusammenbruch der Monarchie nicht auf, sondern

beschleunigte ihn. An der Front zu Italien bedeutete dies, dass der

Kampf vergeblich gewesen war. Einer großangelegten Offensive

der italienischen Truppen mit massiver britischer Unterstützung

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Chaos am Kriegsende, der Bozner Bahnhof als Sammelpunkt

eines Heeres in Auflösung, November 1918.

am Piave schien Österreich nichts mehr entgegensetzen zu können.

Am 28. Oktober wies Kaiser Karl seine Unterhändler an, Verhandlungen

über einen Waffenstillstand aufzunehmen, schon einen

Tag später erreichten die italienisch-britischen Heeresverbände

Vittorio Veneto. Österreich musste sich bei den Verhandlungen in

der Villa Giusti bei Padua den italienischen Bedingungen beugen.

Zu diesen gehörte nicht nur die Räumung der italienisch besiedelten

Gebiete der Monarchie, sondern auch Tirols bis zum Brenner.

Der Waffenstillstand wurde am 3. November 1918 unterzeichnet,

in Kraft treten sollte er am Tag danach um 15 Uhr. Diese 24-Stunden-

Frist wurde zu einer Art Zeitfalle: Ob durch ein Versehen, ob durch

Missverständnisse, ob durch Versagen der Heeresleitung konnte

nie genau geklärt werden, Tatsache ist, dass die österreichischen

Truppen die Kriegshandlungen unmittelbar nach dem Abschluss

des Waffenstillstandes einstellten und die italienischen Truppen

somit nahezu 24 Stunden freie Hand hatten. Kampflos konnten

sie in wenigen Stunden 400.000 k. u. k. Soldaten entwaffnen und

das bis dahin nicht einnehmbare Gebiet besetzen. Die österreichischen

Truppen traten einen ungeordneten Rückzug an, die Offiziere

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flüchteten mit dem nächsten erreichbaren Zug Richtung Wien, die

Soldaten kehrten ausgemergelt, demoralisiert, vielfach auch enthemmt

zurück, es wurde geraubt und geplündert. Die italienischen

Truppen rückten noch am 3. November bis Triest und Trient vor,

am 4. November erreichten sie von Süden aus Salurn, von Westen

aus den Vinschgau und den Mendelpass. Das Waffenstillstandsabkommen

erlaubte das Vordringen bis zum Brenner sowie die

Postierung kleinerer Einheiten in Innsbruck und anderen strategischen

Orten nördlich des Alpenhauptkammes. Am 6. November

erreichten sie Meran und Bozen, am 10. November wurde am Brenner

die Trikolore aufgepflanzt, am 14. November marschierten in

Bozen triumphal mehrere Bataillone auf, unter ihnen der Vater der

späteren führenden neofaschistischen Politiker Andrea und Pietro

Mitolo.

Im Zusammenbruch der Monarchie und in den Wirren eines

aufgelösten und überrannten österreichischen Heeres waren die

italienischen Truppen nun im Gebiet des künftigen Südtirol die

bestimmende Ordnungsmacht: „Unsere Heeresleitung“, schrieb

die Tageszeitung „Der Tiroler“ über den Einmarsch am Morgen

des 14. November, „wandte sich mit dem dringenden Ersuchen an

die italienische Heeresleitung, den Anmarsch zu beschleunigen,

den Ordnungsdienst in Bozen zu übernehmen und nach Beseitigung

der derzeitigen Unordnung den Truppenabmarsch [...] möglichst

rasch durchzuführen.“ Dem ersten Wunsch wären die italienischen

Truppen auch ohne Ersuchen nachgekommen, an einen

Abmarsch dagegen dachte die italienische Heeresleitung natürlich

nicht. So beschrieb ein Korrespondent des „Corriere della Sera“

die Stimmung in Deutsch-Bozen als Benommenheit und als Versuch,

„eine gleichgültige Miene aufzusetzen, um sich nicht bloßzustellen

gegenüber jenen, die nun angekommen sind und keine

Absicht hegen, wieder abzuziehen“.

Drei Tage zuvor, am 11. November, hatte Kaiser Karl seinen Verzicht

auf jegliche Teilnahme an den Staatsgeschäften deklariert, am

12. November proklamierte die Provisorische Nationalversammlung

einstimmig die Republik Deutschösterreich. Nicht nur Trient,

auch Deutschtirol südlich des Brenners, bald Südtirol genannt,

würde ihr nicht mehr angehören.

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Wie Südtirol entstand

Zeit des Übergangs – von der militärischen

Besetzung zur Zivilverwaltung und zur Annexion

Die kampflose Besetzung des Gebietes bis zum Brenner durch

das italienische Heer schuf zwar Tatsachen, wurde aber in Deutschtirol

– in Unkenntnis des Londoner Geheimvertrages – nicht für

dauerhaft gehalten. In der Proklamation der neuen Republik

Deutschösterreich war noch von der „Grafschaft Tirol mit Ausschluss

des geschlossenen italienischen Siedlungsgebietes“ als Teil

des neuen Staates die Rede. Allerdings schien Tirol einen Sonderweg

gehen zu wollen: Noch im Oktober wurde eine eigenständige

„Nationalversammlung“ einberufen, die sich weniger an Österreich

orientierte als vielmehr an Bayern und Deutschland, wo am

9. November Kaiser Wilhelm II. abdankte und die Republik ausgerufen

wurde. Hoffnung gab den Tirolern die 14-Punkte-Deklaration

des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson für eine

neue Friedensordnung in Europa. In Punkt 2 wurde „die Regelung

aller Fragen, sowohl der Gebiets- wie der Souveränitätsfragen“ der

„freien Annahme dieser Regelung durch das Volk, das unmittelbar

damit betroffen ist“, unterstellt, und zwar ausdrücklich unabhängig

von Interessen oder Vorteilen anderer Nationen. Italiens

Ansprüche schienen mit Punkt 9 der Deklaration eingeschränkt,

da sich Gebietsveränderungen „nach den klar erkennbaren Linien

der Nationalität“ richten müssten. Eine solche Weltordnung fand

– nach den zunächst überzogenen Forderungen durch den Tiroler

Volksbund vor Kriegsende – mittlerweile das volle Einverständnis

aller politischen Kräfte in Deutschtirol. Diskutiert wurde lediglich,

ob die Welschtiroler nicht doch die Möglichkeit bekommen sollten,

über ihre Zugehörigkeit zu Italien oder Österreich abzustimmen.

Hoffnung machten auch die – ansonsten wenig geschätzten –

sozialdemokratischen und sozialistischen Kräfte in Italien, die in

der Tradition Cesare Battistis von einer Annexion nicht-italienischer

Gebiete absehen wollten. Sozialistenchef Filippo Turati vertrat

noch mitten im italienischen Eroberungsjubel am 21. Novem-

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Symbolische und faktische Besitznahme eines Landes: italienische Truppen

auf dem Waltherplatz in Bozen, November 1918.

ber 1918 im Parlament den Standpunkt, dass bei der Grenzziehung

das Selbstbestimmungsrecht zu respektieren sei. Als im Juli 1919

alle damals 172 Gemeinden Südtirols sich in einer gemeinsamen

Petition gegen die Annexion des Landes durch Italien aussprachen,

vertrat Turati den Standpunkt, dass „diese freie Willensäußerung

einer freien Bevölkerung“ respektiert werden müsse. Der ebenfalls

sozialistisch orientierte Minister Leonida Bissolati trat aus

Protest gegen die sich abzeichnende Annexion sogar von seinem

Amt zurück. Im Kampf für die italienische Einigung hatten Kräfte

zueinander gefunden, die nun auseinanderbrachen – auf der eine

Seite der minderheitensensiblere sozialistische Block, auf der anderen

Seite die nationalistischen Kräfte, die auf der Brennergrenze

beharrten und zu deren wichtigsten Wortführern der aus Rovereto

stammende Irredentist Ettore Tolomei wurde. Der lange für einen

Kauz gehaltene Geograph und Geschichtsforscher hatte sich 1906

im Bergdörfchen Glen bei Montan niedergelassen, um von hier

aus Italiens Anspruch auf Südtirol durch die Übersetzung aller

Orts- und Flurnamen „wissenschaftlich“ zu begründen. Bei Kriegsbeginn

setzte er sich über die Grenze nach Italien ab, im Tross

der italienischen Truppen kehrte er nach Kriegsende zurück, um

sein Lebenswerk zu vollenden. Ein vorübergehender Weggefährte

Battistis war Benito Mussolini gewesen, der 1909 wegen seiner

– zunächst weniger national denn revolutionär-sozialistisch ins-

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pirierten – Propaganda aus Österreich ausgewiesen worden war.

Als „österreichfreundlich“ eingestuft war dagegen der christlichkatholische

Widerpart Battistis im Trentino, Alcide Degasperi.

Dieser blieb bis zum Zusammenbruch der Monarchie deren

Reichsratsabgeordneter. Als der im Krieg kaum tagende Reichsrat

1917 erstmals wieder zusammentrat, wurden die Namen jener Abgeordneten

verlesen, deren „Mandate durch rechtskräftiges Urteil

freigeworden waren“, darunter auch jener des hingerichteten Rivalen

Battisti. Degasperi, der spätere Ministerpräsident Italiens, war

Protokollführer.

Schon unmittelbar nach dem Waffenstillstand versuchten sich

in Südtirol die politisch maßgeblichen Kräfte zu formieren. Eine

Schwierigkeit lag darin, dass alle Verbindungen über den Brenner

abgebrochen waren. Die italienischen Kontrollen über Verkehr

und Nachrichtenwesen waren rigoros, der Brenner unpassierbar,

Postwege und telegraphische Übermittlung versperrt. Selbst Brieftauben

wurden konfisziert, um jeglichen Kontakt von Südtirol nach

Österreich zu unterbinden. Die Südtiroler mussten sich auf sich

selbst stellen. So wurde der Provisorische Nationalrat für Deutsch-

Südtirol einberufen, wie sich das besetzte Gebiet nun nannte. Im

Sinne des „volklichen“ Zusammenhaltes beendeten die Tiroler

Volkspartei und die Deutschfreiheitliche Partei ihre oft heftig ausgetragenen

Kämpfe zwischen konservativer und liberaler Ideologie.

Nicht überbrückt wurde der Graben zu der – in Tirol nie stark

Fuß fassenden – sozialdemokratischen Partei.

Führender Kopf des Nationalrates war der Bozner Bürgermeister

Julius Perathoner, eine charismatische Persönlichkeit, in der Tradition

der Freiheitlichen äußerst deutschnational eingestellt. Am

16. November rief der Deutsch-Südtiroler Nationalrat die „Unteilbare

Republik Südtirol“ aus, gab ein Amtsblatt heraus, beschloss

die Einführung eigener Steuern, eigener Währung und Briefmarken.

Der Traum vom eigenen Staat „Südtirol“ währte aber nur kurz:

Die italienische Militärregierung löste den Nationalrat im Jänner

1919 wieder auf, da er weder von der österreichischen noch von

der italienischen Regierung legitimiert worden sei.

Die Machtverhältnisse waren ganz andere. Schon am 30. Oktober

1918 hatte der Alliierte Kriegsrat auf Vorschlag Groß bri-

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Bild eines Entfremdungsschocks: Italienische Verordnungen in Meran;

die Menschen, an die sich die Aufrufe wandten, waren des Italienischen

meist kaum oder gar nicht mächtig.

tanniens einstimmig jene Grenzziehung beschlossen, die im

Londoner Geheimvertrag mit Italien festgelegt worden war. Auch

US-Präsident Wilson stimmte zu. Die USA und mit ihnen Frankreich

versuchten nämlich, das sich formierende, spätere Jugoslawien

für den Westen günstiger zu stimmen, indem sie Italiens

Ansprüche im Osten etwas dämpften. So wurden zwar Friaul, Istrien

und Triest, nicht aber Dalmatien mit Fiume an Italien angeschlossen.

Im Gegenzug sollte aber Italien zumindest am Brenner

nicht enttäuscht werden. Dazu kam die Unsicherheit, ob sich

Österreich nicht am Ende mit Deutschland zusammenschließen

würde. Ein solcher neuer großdeutscher Staat wurde mit Besorgnis

betrachtet und sollte besser nicht über die Brennergrenze reichen.

Enttäuscht richteten die Südtiroler Gemeinden noch im Frühjahr

1919 eine Petition an Wilson, um ihn an seine Grundsätze zu erinnern:

„Und nun soll unsere deutsche Heimat mit ihrer tausendjährigen

Kultur und Geschichte, dieses Volk mit seinem angestammten

Freiheitssinn italienisch werden? Ein einziger Aufschrei

tiefsten Schmerzens durchhallt bei diesem Gedanken das ganze

Land.“

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Der Verhandlungssaal im Schloss Saint-Germain bei Paris, wo im Zuge des

Friedensvertrages mit Österreich auch die staatliche Zugehörigkeit Südtirols

entschieden wurde.

Am 18. Jänner 1919 hatten in Paris die Friedensverhandlungen

begonnen, die Verhandlungen um den Friedensvertrag mit Österreich

fanden im Vorort Saint Germain en Laye statt. Am 24. April

wurde der erste Entwurf vorgelegt, Südtirol darin Italien zugesprochen.

Die österreichische Verhandlungsdelegation unter Staatskanzler

Karl Renner wies den Entwurf am 2. Juni noch zurück, es

gab aber keinen Spielraum: Am 10. September 1919 nahm die österreichische

Nationalversammlung den Friedensvertrag einschließlich

der Bestimmung für Südtirol an. Damit war Südtirols künftige

Staatszugehörigkeit entschieden. Bis zur formalen Annexion

dauerte es noch ein Jahr: Im Sommer 1920 fand im italienischen

Parlament die Debatte über die Annexion Südtirols statt, die Sozialisten

wehrten sich vergeblich dagegen. Am 10. Oktober 1920 trat

das von der Mehrheit des italienischen Parlamentes verabschiedete

Annexionsdekret in Kraft: Südtirol gehörte nun – wie de facto

schon seit der Besetzung 1918 – auch staatsrechtlich zu Italien.

In einer ersten Stellungnahme zur Annexion fanden die Tiroler

Volkspartei, die deutsch-freiheitliche Volkspartei und die sozialdemokratische

Partei noch zu einer gemeinsamen Erklärung zusam-

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men: „Südtirol ist das Opfer des Friedensvertrages geworden, der

uns trotz des feierlich verkündeten Selbstbestimmungsrechtes

von unseren Volksgenossen losreißt. Wir Südtiroler haben die

unerschütterliche Hoffnung, dass der Tag kommen wird, an welchem

uns Gerechtigkeit und weitschauende Politik die nationale

Befreiung bringen werden.“ Das Schreiben endet mit einem Aufruf:

„Südtiroler! Aufrecht wollen wir den heutigen Tag über uns ergehen

lassen! Wir fordern euch auf, jede Ungesetzlichkeit zu vermeiden

und mit Ruhe und Würde das Schicksal zu ertragen.“ Dem Deutschen

Verband schlossen sich die Sozialdemokraten trotz dieser

gemeinsamen Erklärung nicht an, zu nationalistisch waren ihnen

die Positionen von Volkspartei und Freiheitlichen.

Noch hofften die Südtiroler innerhalb Italiens auf weitgehende

Unabhängigkeit. Die Regierung unter Ministerpräsident

Francesco Saverio Nitti stand einer Territorialautonomie aufgeschlossen

gegenüber, es rächten sich aber die jahrzehntelangen

Verstimmungen mit dem einstigen Welschtirol. Die bestimmende

Persönlichkeit war nun der ehemals „österreichfreundliche“ Alcide

Degasperi, der sich in der Haltung gegenüber Südtirol deutlich von

jener Battistis unterschied: Die Trentiner sprachen sich nicht nur

gegen eine Sonderautonomie für Südtirol aus, sondern forderten

die Angliederung des teilweise auch italienisch besiedelten Südtiroler

Unterlandes an das Trentino.

Möglicherweise verkannten die Südtiroler in dieser ersten Phase

nach der Annexion die Notwendigkeit realpolitischer Forderungen.

Im Gefühl, dass das Unrecht der Annexion nur durch eine

De-facto-Unabhängigkeit gutgemacht werden konnte, legte der

Deutsche Verband ein umfassendes Autonomiemodell vor: primäre

Gesetzgebungszuständigkeit in allen wichtigen Bereichen, dazu

die Kontrolle des Verkehrswesens, eine eigene Zoll- und Handelspolitik,

Steuerhoheit, eigene Gerichtsbarkeit und eigenes Militär

nach dem Modell der Standschützenorganisationen. Dem konnte

die Regierung Nitti nicht zustimmen, ganz abgesehen vom massiven

Druck der immer stärker werdenden Rechtsopposition um die

faschistische Partei Benito Mussolinis. Ohne Chancen blieb auch

ein eigener Entwurf der Sozialdemokratischen Partei, der sich vor

allem in sozial- und demokratiepolitischen Fragen von jenem des

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Militärverwalter General Guglielmo Pecori-Giraldi (Bild links) war noch

einigermaßen sensibel für die Befindlichkeit der deutsch- und ladinischsprachigen

Südtiroler gewesen, der auf ihn folgende Zivilverwalter Luigi

Credaro (Bild rechts, im Anzug) schlug eine härtere Gangart ein.

Deutschen Verbandes unterschied, nämlich durch Betonung des

Parteienpluralismus, des Mitspracherechts für die Arbeiterklasse,

der Verankerung von Arbeitsschutzbestimmungen und einer klaren

Trennung von Staat und Kirche, die man durch die Allianz des

Deutschen Verbandes mit der Kirche gefährdet sah.

Eine Bruchlinie zwischen Sozialdemokraten und Deutschem

Verband war immer auch die Haltung zum Trentino gewesen. Ob

sich bei einer Stärkung der sozialistisch-sozialdemokratischen

Kooperation zwischen Deutsch- und Welschtirol andere politische

Lösungen eröffnet hätten, lässt sich nicht sagen. Sicher aber rächte

sich nun die feindselige Deutschtiroler Haltung gegenüber den

Welschtiroler Autonomiewünschen, da sich die Machtverhältnisse

umgedreht hatten. Die Sozialdemokraten versuchten eine sprachgruppenübergreifende

Allianz zu schließen, indem sie 1920 als

autonome Sektion der Sozialistischen Partei Italiens beitraten.

Damit wurden sie, ganz abgesehen vom ausbleibenden Wahlerfolg,

in Südtirol freilich erst recht als patriotisch unzuverlässig abgestempelt.

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Für Südtirol 1921 ins neue römische Parlament gewählt: Wilhelm von

Walther, Karl Tinzl, Eduard Reut-Nicolussi und Friedrich Graf Toggenburg.

Im Übergang zwischen militärischer Besetzung und formaler

Annexion wurde für Südtirol eine Zivilverwaltung eingesetzt.

Bis dahin hatte der liberal gesinnte General Guglielmo Pecori-

Giraldi gemessen an der prekären Lage eine umsichtige Amtswaltung

gepflegt. Wohl wurden die Bezirkshauptleute, wie sie in

der österreichischen Verwaltung als staatliche Exekutivbeamte

üblich gewesen waren, durch italienische Kommissare ersetzt. Die

österreichischen Beamten blieben aber im Amt, ebenso wurden die

Gemeinden nicht angetastet. Trotz des Drucks von Ettore Tolomei

hielt sich Pecori-Giraldi sogar an die landesüblichen Ortsnamen.

Mit Juli 1919 gingen Verwaltung und Kontrolle des Landes an das

Ufficio per le Nuove Province über, das direkt dem Ministerrat

unterstellt war. Für die Venezia Tridentina, der Südtirol zu- und

untergeordnet war, wurde Luigi Credaro als Generalvizekommissar

eingesetzt. Wohl war er ebenso wie Pecori-Giraldi ein Liberaler,

er leitete aber die ersten markanten Entkulturalisierungsmaßnahmen

ein. So verbot Credaro 1920 alle nichtreligiösen tirolerischen

Kundgebungen, das Böllerschießen und das Hissen von Fahnen mit

Ausnahme der Trikolore. Anlass waren die durchaus als politische

Kundgebung gedachten Herz-Jesu-Feuer vom 13. Juni 1920 gewesen.

Bürgermeister, die in ihrem Schriftverkehr die Namen „Tirol“

oder „Deutsch-Südtirol“ verwendeten, wurden belangt, jener von

Salurn deswegen sogar abgesetzt. Eine Rolle für den verschärften

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Kurs dürfte der Umstand gespielt haben, dass Italien nun die volle

Souveränität über Südtirol erreicht hatte und keine Rücksichten

mehr nehmen musste. Im Friedensvertrag war Italien zu keiner

Sonderbehandlung Südtirols verpflichtet worden, das Versprechen

von Viktor Emanuel III. („vollste Achtung der lokalen autonomen

Einrichtungen und Bräuche“) war eine freiwillige Willensbekundung,

keine Zusicherung. Im Juni 1920 wurde zudem die regionalistisch

ausgerichtete Regierung Nitti gestürzt, der neue Ministerpräsident

Giovanni Giolitti schlug einen zentralistischen Kurs an.

Nach Inkrafttreten des Annexionsdekretes mussten im Oktober

1920 alle Südtiroler Bürgermeister einen Eid auf Italien und

den italienischen König ablegen. Der Obermaiser Bürgermeister

Alois Hölzl leistete den Schwur ausdrücklich nur als formalen Akt

und erklärte, er trage den Eid innerlich nicht mit. Trotz Mahnungen

aus Rom, solche Fälle nicht zu hoch zu spielen, erwirkte Credaro

die Auflösung des gesamten Gemeinderates der damals noch

selbständigen Gemeinde Obermais.

In Bozen leistete sich Julius Perathoner einen Eklat, als Viktor

Emanuel III. anlässlich der Annexion im Oktober 1920 nach

Bozen kam: Des Italienischen bestens mächtig, begrüßte der Bürgermeister

den König in deutscher Sprache. Noch glaubten die

Südtiroler, sich im neuen Staat behaupten zu können. Bei den ersten

demokratischen Parlamentswahlen am 15. Mai 1921 hatte der

Deutsche Verband vier Abgeordnete durchbekommen: Wilhelm

von Walther, Karl Tinzl, Eduard Reut-Nicolussi und Friedrich Graf

Toggenburg. Außer Tinzl, der als jüngster in der Südtiroler Politik

noch eine prägende Rolle einnehmen sollte, hatten sie alle schon

aktive politische Erfahrung im alten Österreich gesammelt: Graf

von Toggenburg war Statthalter von Tirol und im letzten Kriegsjahr

österreichischer Innenminister gewesen, der aus der altbairischen

Trentiner Sprachinsel Lusern stammende Eduard Reut-

Nicolussi war Obmann der christlich-sozialen Partei und letzter

Südtiroler Abgeordneter im Wiener Nationalrat gewesen. Er verabschiedete

sich dort, um sich für Südtirol ins italienische Parlament

wählen zu lassen. Wilhelm von Walter war der einzige Vertreter

der Deutschfreiheitlichen. Die Sozialdemokraten, die alleine kandidiert

hatten, kamen auf neun Prozent, blieben aber ohne Man-

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dat. Wilhelm von Walther legte in der ersten Wortmeldung im Parlament

eine Rechtsverwahrung gegen die Annexion als „Akt der

Unterdrückung Südtirols“ ab, verbunden mit dem Hinweis auf die

„Vorenthaltung seines Selbstbestimmungsrechtes“.

29


Rote Soße und bittere Zeiten

Erste Fremdheitserfahrungen im neuen Staat –

Lebensstile, Einschränkungen und Heimatverluste

Sich plötzlich in einem anderen Staat zu befinden, hatte für die Südtiroler

Bevölkerung nach dem Ersten Weltkrieg auch sehr praktische

Auswirkungen. Die Preise für Lebensmittel stiegen aufgrund

der Knappheit nach dem Krieg dramatisch an. Den meisten fehlte

es an Geld. 320 Millionen Kronen hatte die damalige Bevölkerung

in Südtirol als Kriegsanleihen gezeichnet. Diese Schulden wurden

vom neuen Staat nicht übernommen, das Geld war praktisch verloren.

Zwar durfte noch eine Zeitlang mit der österreichischen

Krone bezahlt werden, ab 10. April 1919 aber war nur noch die Lira

erlaubt. Der Währungswechsel war äußerst nachteilig. Vor dem

Krieg war der Umrechnungskurs mit 100 zu 105 in etwa ausgewogen

gewesen, nun wurde er mit 100 zu 40 festgelegt, und selbst als

sich dies allmählich auf 100 zu 60 besserte, war der Kapitalverlust

enorm. Wer Geld in Kronen gespart oder verliehen hatte, bekam

weniger oder kaum mehr als die Hälfte zurück. Kredite bei österreichischen

Instituten waren oft ganz verloren. Dass die Inflation

in Österreich noch viel verheerendere Auswirkungen hatte, war

den Betroffenen in Südtirol ein schwacher Trost.

Für das Wirtschaftsleben, das traditionell auf die Märkte in der

Monarchie ausgerichtet war, hatte die Abschottung gegen Norden

dramatische Auswirkungen. Ohne Personen-, Waren-, Postund

Finanzverkehr über den Brenner brachen Absatzmärkte und

Geschäftsverbindungen zusammen. Der Export von Obst, Wein,

Vieh, aber auch anderer Produkte nach Norden war unterbunden,

zugleich sahen sich die Produzenten schutzlos den italienischen

Märkten ausgesetzt, mit denen sie noch nicht vertraut waren und

wo die Konkurrenz übermächtig schien. Lediglich dort, wo es schon

Geschäfte mit Italien gegeben hatte, wie im Holzhandel, waren die

Folgen nach Aufhebung der Beschränkungen weniger lähmend.

Die Urlauber aus dem deutschsprachigen Raum blieben vorerst

aus, den italienischen Gästen standen viele Gastwirte ablehnend

30


Aus dem Hotel „Zum Grafen von Meran“ wurde das „Al Conte di Merano“ –

Südtirols Vorzeigebetriebe wurden zu Schnäppchen für italienische

Investoren.

gegenüber, Verständigungsschwierigkeiten erschwerten den

Umgang miteinander. Der Krieg hatte den Tourismus so schwer

getroffen, dass Hotels und Pensionen massenhaft zum Verkauf

anstanden, nun konnten sich italienische Investoren die Schnäppchen

sichern, etwa das „Savoy“ und den „Kaiserhof“ in Meran, der

in „Excelsior“ umgetauft wurde. Auch andere ruhmreiche Hotels

in Meran wechselten aufgrund der neuen politischen Verhältnisse

schon 1920 die Namen, aus dem „Erzherzog Johann“ wurde das

„Esplanade“, aus dem „Habsburger Hof“ das „Bellevue“, Meran

wurde schon im selben Jahr offiziell zu „Merano“. Unter dem

Faschismus wurde die italienische Übernahme von Hotels durch

Enteignungen noch einmal forciert.

Nicht alle Entwicklungen nahmen zunächst negative Verläufe.

Litt die Hotellerie in den ersten zwei Nachkriegsjahren noch darunter,

dass die Lebensmittel knapp waren, lebte der Tourismus

schon bald wieder auf, in Meran wurde im September 1920 erstmals

nach sechs Jahren wieder eine Kursaison eröffnet. Die Italiener

entdeckten das „eroberte Gebiet“ auch als neues Urlaubsland, das

es – wie Ettore Tolomei zufrieden registrierte – durchaus auch im

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nationalen Erfolgsgefühl zu bereisen galt. Und als in den folgenden

Jahren die Einreisebestimmungen gelockert wurden, kamen auch

wieder mehr Gäste aus Österreich und Deutschland nach Südtirol,

zusätzlich angeregt von der beginnenden Propaganda um das

verlorene Südtirol durch nationale Verbände in Bayern und Österreich

wie etwa den Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA):

„Wandert deutsche Jungen und Mädel hinaus auf die Höhen, die

der Feind uns als Grenze setzte ...“ So wurden zahlreiche Hotels

ausgebaut oder aufgefrischt, etwa das „Elephant“ in Brixen mit

einer neuen Fassade und das Grandhotel Karersee mit fließendem

Kalt- und Warmwasser in allen Zimmern. Ab Juni 1920 wurde die

Bahnlinie Wien-Meran wieder aktiv mit einem Kurswagen befahren.

Auch die letztlich für den Krieg gebauten und zu spät fertig

gewordenen Lokalbahnen wie die Grödner Bahn und Toblach-

Cortina wurden zu Transportmitteln des Tourismus, letztere für

die Entdeckung des oberen Pustertals durch italienische Gäste.

Dazu kam der Durchbruch des Automobils. Im Sommerhalbjahr

1922 wurden in Bozen 23.000 Autos gezählt, das waren doppelt so

viele wie zwei Jahre zuvor.

Der stark veränderte Tourismus war bald auch ein wichtiger

Stimulus (und Auftraggeber) für die Entwicklung einer modernen

bildstarken Werbesprache. Das Medium Plakat kam in Mode und

wurde mit künstlerischem und innovativem Anspruch genutzt.

Nach Vorbildern wie Oskar Kokoschka und anderen Künstlern

der Moderne prägte in Südtirol Franz Lenhart ein neues, mondänes

Südtirol-Bild, das sich mit surrealistischen, expressionistischen,

kubistischen Elementen vom traditionsbehafteten „Land

im Gebirge“ und auch vom „Heiligen Land Tirol“ deutlich abhob.

So blühte und lebte manches im Lande auf, während in Österreich

die Wirtschaft darnieder lag. Freilich machte die Weltwirtschaftskrise

den kurzen Wirtschaftsaufschwung der frühen 1920er Jahre

schon wenige Jahre später auch in Südtirol zunichte.

Manches, was aus Italien kam, wurde von der heimischen Bevölkerung

rasch aufgenommen, etwa die zunächst völlig unbekannte

Art, Nudeln zu kochen und mit Tomatensugo zu servieren. So war

die „rote Soße“ bald eine willkommene Abwechslung zur gewohnten

bäuerlichen Kost, die im städtischen Bereich bis dahin eher

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durch Rezepte und Kochkünste aus östlichen Gebieten der Monarchie

beeinflusst war. Warnten die deutschnationalen Turner vereine

vor dem Fußballspielen als „artfremde“ Sportart, fühlte sich Südtirols

Jugend doch sehr bald schon vom italienischen National sport

angesteckt. So entstand etwa schon 1923 im deutschpatriotischen

Unterlandler Dorf Tramin eine Sektion Fußball des dortigen Sportvereins,

aber auch in vielen anderen Landgemeinden und auch in

den Städten entstanden heimische Fußballclubs. In Meran hatte

es einen Fußballclub schon 1910 gegeben, aufgrund des internationalen

Publikums gab es in Meran auch schon Sportarten wie

Golf, Krocket, Rasen-Hockey sowie Rad- und Motorrennen. Für

das Autorennen „Coppa delle Alpi“ wurde Meran sogar zum Zielort,

1923 feierte der legendäre Fiat- und Alfa-Romeo-Pilot Antonio

Ascari einen Sieg, bevor er 1925 in Monza seinen ersten Grand Prix

gewann und nur einen Monat später beim GP von Frankreich tödlich

verunglückte.

Im Sport war Südtirol zunächst sogar noch die Verbindung zu

Österreich gestattet. Die Sportvereine konnten einige Jahre lang

ihre Kontakte zu Nord- und Osttiroler Verbänden halten, die Südtiroler

Rodler und Bobfahrer durften an den Tiroler Meisterschaften

teilnehmen. Die aus der deutschnationalen Bewegung ent standenen

Turnervereine – besonders stark in Bozen, Meran, Lana, Algund,

Untermais, Kaltern, Gröden, Brixen, Bruneck und Sterzing – sahen

ihre sportliche Betätigung nun umso mehr als politisch-patriotischen

Heimatdienst. Junge Turner unter Führung von Generalstabshauptmann

Georg von Tschurtschenthaler und dem späteren

NS-Volksgruppenbeauftragten Toni Ruedl erneuerten die in ihren

Stilen und Sitten veraltete Turnerbewegung, setzten Freiluftsport,

kürzere Hosen und mit Nägeln beschlagene Laufschuhe durch. 1923

nahm der Turnverein Bozen am ersten deutschen Nachkriegsturnfest

in München teil. Auftrieb erhielt auch der Wintersport durch

den Bau von ersten Aufstiegsanlagen, zunächst in Gröden, dann

aber auch in anderen Gebieten. Die Seilbahn aufs Vigiljoch gab es

schon seit 1912, mit jener nach Hafling bekam der Sportclub Meran

nun auch eine starke Ski-Sektion. Die „Arlbergtechnik“ der Österreicher

mit ihrem Stemmschwung beeinflusste auch den Skistil

in Südtirol. Die Revitalisierung des Nachkriegslebens erfuhr frei-

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Die weitgehend aus deutschnationalen Turnerbünden hervorgegangenen

Südtiroler Sportgruppen erhielten zwar einen italienischen Namen, legten

aber ihre Gesinnung nicht ab: im Bild die Schwimmer und Turmspringer

von „Bolzano Nuoto“.

lich schon bald eine drastische Einschränkung, faschistische Vereinsverbote

und Vereinnahmung trafen besonders auch den Sport.

Die politische Strategie Italiens, wie mit Südtirol umzugehen

sei, war von Anfang an auf „Durchdringung“ (penetrazione) ausgerichtet,

wobei Militärgouverneur Pecori-Giraldi nüchtern zwei

Möglichkeiten der Durchdringung unterschieden hatte: nämlich

eine „schnelle und gewaltsame“, wie sie Ettore Tolomei offen

favorisiert hatte und die zur Strategie des bereits aufziehenden

Faschismus wurde, oder eine „friedliche“, für die sich Pecori- Giraldi

entschied, da er sich von einer behutsamen Italianisierung weniger

Widerstand und langfristig größeren Erfolg versprach. So sollte

die deutsche Bevölkerung weiterhin Zugang zu Arbeitsstellen in

öffentlichen Ämtern haben, die Leitungspositionen sollten aber an

Italiener gehen; die heimischen Banken sollten allmählich von nationalen

Instituten übernommen werden; in der Schulpolitik sollte

darauf geachtet werden, dass die italienischen Gemeinschaften

durch eigene Schulen gestärkt werden, während in den deutschen

Schulen die Lehrpläne der italienischen Schule anzupassen seien.

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Die Südtiroler Wirtschaft konnte sich nach schweren Krisen allmählich

auf die neue Staatszugehörigkeit umstellen. Im Bild die Prospekte zweier

Pionierbetriebe (Zuegg und Durst).

So ließ er schon im Jänner 1919 die Lehrpläne für Geschichte und

Geographie an Italien ausrichten, für die Südtiroler Schülerinnen

und Schüler änderten sich schlicht die Koordinaten ihrer historischen

und territorialen Zugehörigkeit. Die deutsche Schule selbst

aber blieb noch bestehen.

Auch die Schaffung von Arbeitsplätzen in der Industrie für

Arbeitskräfte aus südlicheren Provinzen war, wenn auch auf sanftere

Art, ein frühes Konzept der italienischen Verwaltung in Südtirol.

Die erste Zuwanderungswelle war noch verhalten, es kamen

vor allem Beamte und Militärs, um die Verwaltung und Kontrolle

des Landes gewissermaßen „in italienische Hand“ zu nehmen. Um

1921 betrug die Anzahl der Italiener in Südtirol um die 20.000, bei

etwas mehr als 200.000 deutschsprachigen und knapp 10.000 ladinischsprachigen

Einwohnern. Wenn bedacht wird, dass es auch im

alten Tirol italienische Minderheiten vor allem in Bozen und Meran

gegeben hatte und auch Teile des Unterlandes italienisch besiedelt

waren, dürften zwischen 1918 und 1921 rund 13.000 Menschen ins

Land gezogen sein. In Bozen lebten 1921 knapp 6000 Italiener, in

Meran und Brixen je rund 1500, in Bruneck knapp 400.

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Dagegen vervierfachte die faschistische Zuwanderungspolitik

binnen weniger Jahre die italienische Präsenz in Südtirol. Dies

wirkte sich vor allem auf Bozen (80.000) und Meran (15.000) durch

den neu geschaffenen Stadtteil Sinich aus. In Bruneck stieg die

Zahl der Italiener auf etwas über 1200, in Brixen auf 1800, in den

meisten Landgemeinden blieben die Zuwanderungsraten marginal.

Fühlten sich die ersten Zuwanderer noch als Akteure und künftige

Verwalter der „Eroberung“, kamen die späteren Neusüdtiroler vor

allem wegen der angebotenen Arbeitsplätze und ohne politische

Vorstellungen ins Land. Sie lebten eher isoliert in den neuerbauten

Arbeitervierteln, wussten von der sie umgebenden Südtiroler

Realität kaum etwas, erlebten diese auch selten als feindlich, waren

sich der strategischen Rolle, die sie im Plan der „Durchdringung“

hatten, kaum bewusst. So waren auch die Kontakte zwischen den

Sprachgruppen auf wenige Gebiete, auf den Amtsverkehr, auf die

Schule und auf die Kontrollbehörden beschränkt – keine besonders

günstige Voraussetzung für eine kulturelle Annäherung. Die

modischere Kleidung und die typisch italienischen kulinarischen

Gerichte wurden von der heimischen Bevölkerung aufgrund des

sich verändernden Warenangebots wohl auch gern aufgenommen,

für kulturellen Austausch und menschliche Verständigung waren

die Bedingungen kaum gegeben und die Lebenswelt zu getrennt.

Die Bevölkerungszahlen waren bereits wichtiges politisches

Kapital. So wurden die Daten der Volkszählung von 1921 gezielt

zugunsten einer stärkeren italienischen Präsenz (die in den oben

genannten Zahlen bereits korrigiert ist) verfälscht, indem bei einer

Revision viele Menschen mit italienisch klingendem Familien -

namen nachträglich der italienischen Sprachgruppe zugerechnet

wurden. Für die ladinische Bevölkerung wurde eine eigene Spalte

eingeführt, und zwar weniger aus ethnischem Feingefühl, sondern

vielmehr aus Sorge, dass sich sonst viele Ladiner als Deutsche

erklären würden. Schon im Mai 1920 hatten 70 Gemeindevertreter

aller ladinischen Täler bei einer Kundgebung am Grödner Joch ein

unmissverständliches Bekenntnis zu einer eigenständigen Tiroler

Kultur als eigenständige ladinische Volksgruppe abgelegt und die

damals neu entworfene blau-weiß-grüne ladinische Fahne gehisst.

Der Antrag auf einen Zusammenschluss aller Ladiner aus Gröden,

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Enneberg, Buchenstein, Ampezzo und Fassa war politisch zwar aussichtslos,

durchkreuzte aber doch die Strategie der italienischen

Verwaltung, die Ladiner als eine Art Besonderheit italienischer Kultur

zu behandeln und nicht als eigenständige Sprachgruppe. Die

Ladiner ergriffen die Chance, sich bei der Volkszählung als Ladiner

zu erklären, in so hohem Maße, dass auch ihre Zahlen durch

willkürliche Revision nach unten gedrückt wurden.

Eine drastische Auswirkung hatte die Bevölkerungspolitik für

tausende Arbeiter und Angestellte, die noch unter den Habsburgern

in anderen Ländern der Monarchie geboren worden waren.

Im Friedensvertrag von Saint Germain war grundsätzlich festgelegt,

dass jeder Altösterreicher die Staatsbürgerschaft jenes Gebietes

erhalten sollte, in dem sich seine Heimatgemeinde nach den

neuen Grenzziehungen befand. Für Südtirol wurde eine Ausnahmeregelung

eingeführt, die auf den ersten Blick nach einer größeren

Wahlmöglichkeit aussah: Wer erst nach dem Kriegseintritt Italiens,

also ab 24. Mai 1915 geboren worden war oder das Heimatrecht in

einer Südtiroler Gemeinde erhalten hatte, sollte wählen dürfen. So

erlebte Südtirol erstmals vor der traumatischen Option von 1939

eine weitgehend vergessene „kleine“ Option um die Staatsbürgerschaft.

Beeinflusst war die Entscheidung auch davon, dass viele

bei einem Verbleib in Italien aufgrund der minderheitenfeindlichen

Politik der Zivilverwaltung um ihren Arbeitsplatz fürchteten.

Besonders in Sorge waren die öffentlichen Bediensteten, die durch

den Staatenwechsel in eine äußerst unsichere Lage geraten waren.

So plante schon Generalvizekommissar Credaro, deutschsprachige

Lehrerinnen und Lehrer zu entlassen, was von der Regierung in

Rom vorerst aber noch unterbunden wurde.

Verhängnisvoll war die kleine Option für all jene Beamte und

Arbeiter aus anderen Ländern der Monarchie, die zwar in Südtiroler

Gemeinden gearbeitet hatten, aber dort nie das sehr restriktiv

gehandhabte Heimatrecht erhalten hatten. Viele Gemeinden

hatten zum Beispiel gerade die gewerkschaftlich gut organisierten

und häufig sozialdemokratisch gesinnten Eisenbahner aus anderen

Ländern der Monarchie nie offiziell als Bürger anerkannt, um

bei Wahlen sozialdemokratische Zuwächse zu verhindern. So verließen

90 Prozent der Südbahn-Bediensteten bis 1923 das Land,

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vielfach mussten sie jahrelang in Notlagern am Innsbrucker Bahnhof

leben. Die Zahl der Menschen, die im Zuge dieser Option

aufgrund eines engherzigen Heimatverständnisses die sonst so

beschworene Heimat verloren, wird auf einige Tausend geschätzt.

Südtirol verlor damit auch eine geschulte und gebildete Beamtenschicht.

Manche Optionsansuchen um die italienische Staatsbürgerschaft

(als Voraussetzung für den Verbleib in Südtirol) wurden auch

aus politischen Gründen abgelehnt, etwa im Falle eines in Nordtirol

geborenen Gymnasiallehrers, der sich in einem Artikel italienfeindlich

geäußert hatte. Den italienischen Zuwanderern dagegen

mussten die Gemeinden unmittelbar das Heimatrecht gewähren.

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Im Griff der Diktatur

Südtirol unter dem Faschismus –

zwischen Faszination und Gewaltschock

Schwarze Fahnen schwingend, in schwarze Hemden und Hosen

gekleidet, prägten schon unmittelbar nach Kriegsende die von Mussolini

offiziell 1919 gegründeten „Fasci italiani di combattimento“

das politische Stimmungsbild in den italienischen Städten. Hauptsächlich

als Kampfgruppe gegen die befürchtete linke Revolution

durch Gewerkschaften, Sozialisten und Kommunisten gegründet,

marschierten die „squadristi“ mit präpotentem Gehabe auf, schlugen

mit ihren Stöcken auf politische Gegner, zunehmend aber auch

auf Passanten ein. Am heftigsten entzündete sich der „squadrismo“

in der Venezia Giulia in den Grenzgebieten zu Jugoslawien, wo das

Feindbild der „roten Gefahr“ mit nationalistischen Motiven aufgeladen

war. Auch im Trentino waren die ersten „Fascio“-Gruppen

nationalistisch inspiriert. Von bürgerlichen und konservativen

Kreisen wurde Mussolinis Bewegung zunächst als eine Art Schutztruppe

der guten Bürgerlichkeit begrüßt. Alcide Degasperi sprach

von „Aktionen, bei denen die Gewalt zwar den Anschein von Aggression

erweckt, aber in Wirklichkeit eine defensive Gewalt und daher

legitim ist“. Schon bald kam es bei den Zusammen stößen zu Toten,

schließlich auch zur offenen Exekution politischer Gegner. Die

offiziellen Ordnungsmächte hielten sich zurück und schauten ohnmächtig

zu, wie der Faschismus am Staat vorbei die Macht übernahm.

Die Übergriffe auf Südtirol folgten mit einer gewissen Verzögerung

im Frühjahr 1921. Die faschistischen Strafexpeditionen

entbehrten hier aufgrund einer nicht existenten roten Gefahr der

Klassenkampfmotive, nährten sich aber umso mehr an der nationalen

Aggression gegen alles Altösterreichische und Tirolerische.

Die ersten Überfälle von Truppen, die meist aus den italienischen

Gebieten der Venezia Giulia kamen, trafen das Unterland. In Salurn,

Auer und Neumarkt wurden alle öffentlichen Gebäude besetzt

und von Symbolen der österreichischen Vergangenheit „bereinigt“,

39


Aufmarsch der Faschisten in Bozen: Lange verharmlost, rissen Mussolinis

Squadristi von Stadt zu Stadt die Macht an sich.

in Neumarkt wurde der Doppeladler vom Rathaus gerissen und

der Bürgermeister gezwungen, sich die Trikolore umzuwickeln.

Die Anbringung der Aufschrift „Municipio di Egna“ wurde vom

Trentiner Generalkommissariat unterstützt, so dass der Bürgermeister

sie nicht verhindern konnte. Einige Wochen später wurden

in denselben Dörfern Passanten überfallen, weil sie einen Gamsbart

trugen, wer nicht den Hut vor den Faschisten zog, wurde nieder -

geprügelt.

Zum schwersten Übergriff kam es am 24. April 1921 beim traditionellen

Trachtenumzug zur Eröffnung der Bozner Mustermesse.

Kurz davor war auch in Bozen ein „Fascio“ gegründet worden, der

sich über die Nichteinladung zum Umzug beklagte. Dass am selben

Tag in Tirol über die gewünschte Angliederung an das Deutsche

Reich abgestimmt wurde, dürfte die Stimmung zusätzlich angeheizt

haben. Rund 280 Schläger kamen in einer gut vorbereiteten

Aktion mit dem Zug aus Mantua, Brescia, Verona, aber auch aus

den Trentiner Gemeinden Riva del Garda, Rovereto, Mezzolombardo

und Cles, in Bozen wurden sie von weiteren 120 Fascio-

Mitgliedern unterstützt. 400 Mann stark fielen die Squadristi am

Bozner Obstplatz über den Trachtenumzug her, es wurde geprü-

40


Opfer des Bozner „Blutsonntags“: Beerdigung von Franz Innerhofer

am 26. April 1921.

gelt, mit Revolvern geschossen und mit Granaten geworfen, die

Menge stieb schockiert auseinander, rund 50 Passanten wurden

verletzt. Als der Marlinger Lehrer Franz Innerhofer, Mitglied der

mitmarschierenden Musikkapelle seines Ortes, zwei Buben schützen

wollte, wurde er erschossen. Das anwesende Militär ließ die

Faschisten unbehelligt zum Bahnhof ziehen und heimfahren. Die

Behörden waren über die Aktion im Vorhinein informiert gewesen,

nun wurde sie zwar verbal verurteilt, eine ernsthafte Untersuchung

und Ahndung aber blieb aus.

Die zunächst in Bozen und Meran gegründeten Fascio-Sektionen

(Brixen folgte 1923, Bruneck 1924) griffen immer dreister

in die demokratisch gewählten Organe ein. So blieb dem Meraner

Gemeinderat 1922 nichts anderes übrig, als Forderungen der örtlichen

Fascio-Sektion umzusetzen, etwa die Übersetzung der deutschen

Straßennamen (wobei die deutschen Bezeichnungen noch

bestehen bleiben durften). In Bozen widersetzte sich Bürgermeister

Perathoner solchen Eingriffen, so dass der örtliche Fascio im

September 1922 formal seine Absetzung, die Auflösung der städtischen

Polizei, die Umwandlung einer der vier deutschen Bozner

Schulen in eine italienische und Sprachkurse für die Gemeinde-

41


bediensteten verlangte. Für die Erfüllung der Forderungen wurde

der 30. September als Ultimatum gesetzt. Die Regierung schritt

nicht nur nicht ein, sondern enthob Perathoner wegen seiner deutschen

Ansprache an den König am 24. September seines Amtes.

Noch vor Ablauf des Ultimatums begann eine von Benito Mussolini

persönlich beschlossene Strafexpedition: 1200 Squadristi aus

dem Veneto und der Lombardei machten sich in Zügen, Bussen

und Autos auf den Weg nach Bozen, angeführt von höchsten Vertretern

des Partito Nazionale Fascista. Sie besetzten die Elisabeth-

Schule und benannten sie bald darauf in „Scuola Regina Elena“ um.

Als Nächstes wurde unter Duldung der Polizei das Rathaus von

700 Mann besetzt, worauf Generalvizekommissar Credaro der Forderung

nach Auflösung des Gemeinderates sofort nachkam und

einen italienischen kommissarischen Verwalter einsetzte. Die noch

kaum erprobten demokratischen Institutionen über gaben den Staat

kampflos an den Faschismus, wenig später – am 28. Oktober 1922 –

übernahm Mussolini mit dem „Marsch auf Rom“ die Macht in Italien,

am 30. Oktober wurde er zum Ministerpräsidenten ernannt.

Die politische Vertretung Südtirols hoffte zunächst auf ein Auskommen

mit dem Faschismus. Rein ideologisch gab es auch offene

Sympathien für eine starke Hand, die in Italien für Ordnung sorgen

würde. So hatte Friedrich Graf Toggenburg noch nach dem Überfall

auf den Bozner Trachtenumzug offen geäußert, „wäre ich Italiener,

wäre ich wahrscheinlich Faschist“. Einzig das nationalistische

Vorgehen der Squadristi machte Sorgen, aber man glaubte an einen

Modus Vivendi. So unterzeichnete der Deutsche Verband unter

Leitung von Toggenburg und des Deutschfreiheitlichen von Walther

1923 ein Abkommen mit dem Provinzialsekretär der Venezia

Tridentina, das den Verzicht auf Italianisierung, die Zweisprachigkeit

in den öffentlichen Ämtern und die Rückgliederung der ans

Trentino abgetretenen Gebiete des Unterlandes vorsah. Im Gegenzug

versprach der Deutsche Verband, die Italienischkenntnisse der

deutschsprachigen Bevölkerung zu fördern und durch Verzicht auf

jedwede irredentistische Propaganda de facto den Verbleib Südtirols

bei Italien anzuerkennen. Einziger Gegner des Paketes war

nicht zufällig Eduard Reut-Nicolussi, dem der Faschismus ideologisch

fremd und die Rückkehr Südtirols zu Österreich ein Herzens-

42


anliegen war: „Ein ewiges und unwiderrufliches Nein“ hatte er in

seiner tief betroffenen Abschiedsrede als österreichischer Nationalratsabgeordneter

der Annexion entgegengehalten: „Jedes Pathos

ist heute zwecklos. Es ist unmöglich, jene Gefühle zu schildern,

welche einen Mann beseelen, der in den Reihen der Tiroler Jäger

gegen Italien gekämpft und sein Blut vergossen hat und nunmehr

mit seinen Brüdern in die Knechtschaft wandert. [...] Es wird jetzt

in Südtirol ein Verzweiflungskampf beginnen um jeden Bauernhof,

um jedes Stadthaus, um jeden Weingarten. Es wird ein Kampf

sein mit allen Waffen des Geistes und mit allen Mitteln der Politik.“

Reut-Nicolussi trat dem Faschismus offen entgegen, als Anwalt

verteidigte er vor Gericht auch die sozialdemokratische Gewerkschaft

wegen Besetzung ihres Sitzes durch die Faschisten.

Der unheilige Pakt mit dem Faschismus kam nicht zustande,

da ihn der Faschistische Großrat wegen zu großzügiger Haltung

gegenüber dem Deutschtum im Lande verwarf. Stattdessen verkündete

Ettore Tolomei, von Mussolini zum Senator ernannt, am

15. Juli 1923 im Bozner Stadttheater seine „Provvedimenti per l’Aldo

Adige“, das in 32 Punkten das „große Vorhaben der nationalen

Penetration“ Südtirols umsetzen sollte – ein institutionell, politisch,

kulturell, schulisches Italianisierungsprojekt. Südtirol sollte

binnen zweier Generationen vollkommen italienisch sein. Schrittweise

wurde das Programm tatsächlich umgesetzt: 1923 setzte mit

der „Lex Gentile“ die Italianisierung der Schule ein, ebenso wurden

die Kindergärten italianisiert, ab 1925 gab es die deutsche Sprache

an den öffentlichen Schulen nicht mehr, lediglich in den Klosterschulen

konnte sich der Deutschunterricht in bestimmtem Maße

halten. Die deutschsprachigen Lehrkräfte mussten um eine italienische

Lehrbefähigung ansuchen, die aufgrund der verlangten

Italienischkenntnisse nur von den wenigsten erlangt wurde. Die

anderen mussten in Pension gehen oder ohne Gehalt im Schuldienst

bleiben, bis sie ausreichend Italienisch gelernt haben würden. Dies

veranlasste die meisten, sich aus dem Schuldienst zurückzuziehen.

Zugleich wurde durch – sich lange haltende – Privilegien wie günstige

Wohnung, besseres Gehalt und großzügige Rentenregelung

die Einstellung italienischer Lehrkräfte forciert. 1928 schließlich

wurde verfügt, dass auch die Südtiroler Lehrpersonen mit Lehr-

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Hoch zu Ross im Geist nationaler Überhöhung: Benito Mussolini und

Ettore Tolomei (ganz links) bei einem Aufmarsch in Rom.

befähigung überallhin nach Italien versetzt werden konnten, bei

Weigerung oder auch bei Verdacht auf politische Unzuverlässigkeit

wurden sie entlassen.

Ähnlich traf es auch die deutschen Beamten und Behörden auf

allen Ebenen. Die Gemeinderäte wurden aufgelöst, die gewählten

Bürgermeister durch faschistische Podestà ersetzt, die deutschen

Gemeindesekretäre durch italienische. In allen Ratsstuben, aber

auch in allen anderen öffentlichen Gebäuden einschließlich der

Gastlokale, mussten die Bilder des Königspaares und von Benito

Mussolini aufgehängt werden. Mit 1. März 1924 wurde Italienisch

als einzige Amtssprache eingeführt. Aber auch Rechnungen waren

ausschließlich auf Italienisch auszustellen, Firmenschilder, auch

die Schilder von Ärzten und Anwälten durften nur mehr italienisch

beschriftet sein, ebenso hatte sich ihr Schriftverkehr ausschließlich

der italienischen Sprache zu bedienen. Mit einem

ersten Dekret begann 1923 die Übersetzung der Südtiroler Ortsnamen

nach dem „Prontuario dei nomi locali dell’Alto Adige“ des

Ettore Tolomei, das er in mehreren Etappen veröffentlichte und

1939 vollendete. So traten am 10. Juli 1940 die 8000 weitgehend

frei erfundenen, teils von römischen und vorrömischen Namen

44


abgeleiteten Übersetzungen für Flure, Berge, Bäche, Höfe, Weiler,

Orte, Gemeinden in Kraft. Zugleich übersetzte Tolomei auch rund

20.000 Familiennamen, die 1926 dekretiert wurden. Die Umsetzung

dieser Maßnahme war schleppend, aber immerhin wurden

bis 1939 die Namen für 12.000 Personen in Südtirol ins Italienische

übersetzt. Ab 1927 war die deutsche Sprache auch auf Grabinschriften

verboten.

Schon der Krieg hatte das um 1900 aufblühende und durchaus

pluralistische Zeitungswesen im Lande ausgedünnt, oft ganz

einfach deshalb, weil die wenigen Redakteure einrücken mussten.

Trotzdem gab es 1922 in Südtirol noch über 30 Zeitungen und

Zeitschriften unterschiedlicher politischer Färbung. Die faschistischen

Gesetze trafen als erste die sozialdemokratische Partei und

deren Zeitschrift „Volksrecht“, die schon 1923 eingestellt werden

musste. Die anderen Zeitungen wurden durch das Pressegesetz von

1924 zunehmend an die kurze Leine gelegt und bei unerwünschten

Inhalten mit Verwarnungen belangt, 1925 wurde eine Vorzensur

eingeführt. In der Folge wurde die bis dahin auflagenstärkste Zeitung

„Der Landsmann“ nach zweimaliger Verwarnung eingestellt,

es folgte binnen weniger Monate die Schließung der „Bozner Nachrichten“

und der „Brixener Chronik“.

Die gänzliche Ausschaltung deutschsprachiger Südtiroler Zeitungen

konnte nur durch eine Intervention des Vatikans verhindert

werden, auf dessen Haltung Mussolini am ehesten Rücksicht nahm.

Der Duce setzte darauf, durch geregelte Beziehungen zur Kirche

das italienische Volk ganz für sich zu gewinnen, 1929 traten die

zwischen Mussolini und dem Vatikan ausgehandelten Lateranverträge

in Kraft. Die Intervention beim Vatikan war von Kanonikus

Michael Gamper ausgegangen, der – als Nachfolger des christlichsozialen

Priesters und Tiroler Medienpioniers Ämilian Schöpfer –

unter anderem den 1926 verbotenen „Tiroler Volksboten“ geleitet

hatte. So durften ab 1927 die katholisch ausgerichteten Blätter des

einstigen Tyrolia-Verlages wieder erscheinen. Die neugegründeten

„Dolomiten“ erschienen dreimal wöchentlich, dazu kamen die

Wochenblätter „Volksbote“ (ohne Tirol) und das „Katholische Sonntagsblatt“.

Die Bezeichnung „Tirol“ in allen Kombinationen (auch

als „Südtirol“ oder „Südtiroler“) war schon 1923 amtlich unter-

45


sagt, weshalb „Der Tiroler“ in „Landsmann“ umbenannt werden

musste, bevor er ganz verboten wurde. Der Tyrolia-Verlag wurde

zunächst zum „Vogelweider-Verlag“, bis auch allzu deutsch klingende

Namen nicht mehr erlaubt waren und die Wahl auf den

unverfänglicheren Namen „Athesia“ fiel. Auch inhaltlich waren

die Auflagen streng, aber Kanonikus Michael Gamper und seine

„Athesia“ wurden durch die Ausnahme vom allgemeinen Erscheinungsverbot

zur einzig überlebenden Pressestimme Südtirols.

Gampers Position wurde indirekt auch durch die faschistische

Zerstörung der letzten demokratischen Überbleibsel gestärkt.

Schon die ersten Wahlen nach Mussolinis Machtübernahme von

1924 waren eine Farce. Mit einem neuen Wahlgesetz sicherte Mussolini

seiner Einheitsliste („listone“) bei mindestens 25 Prozent der

Stimmen zwei Drittel der Parlamentssitze. Der Deutsche Verband

konnte nicht mehr alleine antreten, sondern musste sich zu einer

Listenverbindung mit den Kroaten und Slowenen der Venezia Giulia

zusammenschließen. Von den Südtiroler Parlamentariern der

ersten Nachkriegswahl trat nur noch Karl Tinzl an, der Südtirol

nun zusammen mit dem Pusterer Baron Paul von Sternbach im Parlament

vertrat. Von Sternbach war ebenfalls wie seine Vorgänger

schon im alten Österreich politisch tätig gewesen, als Vertreter der

Tiroler Landesregierung hatte er an den Friedensverhandlungen

von Saint Germain teilgenommen. Am Vorabend der Parlamentswahl

wurde er in seinem Ansitz in Uttenheim von faschistischen

Schlägern frühmorgens überfallen und schwer misshandelt, lediglich

durch das Eingreifen von Dorfbewohnern konnte seine Verschleppung

und möglicherweise Ermordung verhindert werden.

In Bruneck kam es zu massiven Einschüchterungen der Bevölkerung

durch Schlägertrupps. Überfallen und verprügelt wurde auch

der damalige Vizebürgermeister Josef Neuhauser in seiner Eigenschaft

als Wahlkontrolleur. In Bozen wurden der abgesetzte Bürgermeister

Julius Perathoner und der nicht mehr kandidierende

Eduard Reut-Nicolussi überfallen. Gemessen am Wahlergebnis

wirkten die Einschüchterungsversuche zumindest nicht landesweit.

Der Deutsche Verband kam auf 83 Prozent der Stimmen

und konnte Tinzl und von Sternbach durchbringen, die faschistische

Einheitspartei kam in Südtirol auf 17 Prozent. Da und dort

46


Aufruf der „Brixener Chronik“ zu den Wahlen vom 6. April 1924 –

verzweifeltes Aufbäumen gegen die ersten Einschränkungen unter

dem Faschismus.

aber zeigte der faschistische Schrecken auch Wirkung, etwa im

Sarntal, wo der „listone“ trotz der fast ausschließlich deutschen

Bevölkerung auf fast gleich viele Stimmen kam wie der Deutsche

Verband.

Die zwei gewählten Vertreter des Deutschen Verbandes achteten

zwar sehr darauf, sich von der antifaschistischen Opposition

fernzuhalten, um eine einigermaßen günstige Verhandlungsbasis

gegenüber der faschistischen Regierung zu wahren. Es half aber

nicht viel. 1926 wurden alle Parteien bis auf den Partito Nazionale

Fascista verboten. Eduard Reut-Nicolussi emigrierte 1927 nach

47


Innsbruck, die zwei Südtiroler Parlamentarier waren weitgehend

isoliert und konnten in Südtirol keine Parteiarbeit mehr leisten.

1929 lief ihr Mandat aus, die nächsten zwei Wahlgänge sahen nur

mehr eine einzige Liste vor, die vom faschistischen Großrat (Gran

Consiglio del Fascismo) bestellt wurde. Die Wahl bestand lediglich

darin, die Liste anzunehmen oder abzulehnen, wobei auffällig und

unterschiedlich gefärbte Stimmzettel sowie erneute Einschüchterungsaktionen

dafür sorgten, dass auch in Südtirol 80 Prozent

für den „listone“ stimmten, und dies, obwohl sich 1929 auf dieser

Liste kein deutschsprachiger Kandidat befand.

Der Widerstand gegen den Faschismus war verhalten, Lähmung

und Resignation ergriffen weite Kreise der Bevölkerung. Dazu

kam wohl auch, dass aus Österreich kaum Rückendeckung erhofft

werden konnte. Die vom großen Kaiserreich übriggebliebene

Schrumpfrepublik war wirtschaftlich schwer angeschlagen und auf

gute Beziehungen zu Italien angewiesen. Schon 1920 anerkannte

Österreich in einem Abkommen die alleinige Zuständigkeit Italiens

für die Minderheiten auf italienischem Territorium. Im Freundschaftsvertrag

Österreich-Italien von 1930 wurde Südtirol nicht erwähnt.

Der austrofaschistische Ständestaat ab 1933 orientierte sich

in seiner Außenpolitik an Mussolini, in der Hoffnung, damit Hitlers

Anspruch auf Österreich in Schach zu halten. Kurt Schuschnigg, der

Nachfolger des 1934 ermordeten Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß,

kam zwar aus Tirol, verkniff sich aber bei den 125-Jahr-Feiern

im Gedenken an 1809 in Innsbruck jede Erwähnung Südtirols.

Eher kam – vor Hitlers Machtergreifung – Unterstützung aus

Deutschland. Die deutsche Außenpolitik strebte nämlich schon

vor Hitler ein möglichst alle deutsch besiedelten Gebiete umfassendes

Deutsches Reich an, weshalb das „Deutschtum im Ausland“

tatkräftig und auch finanziell unterstützt wurde. So vermied es

der deutsche Außenminister Gustav Stresemann 1925, auf Mussolinis

Forderung nach Anerkennung der Brennergrenze einzugehen.

Besonders am Herzen lag Südtirol der bayrischen Landespolitik.

Ministerpräsident Heinrich Held drückte 1926 „unseren

Südtiroler Brüdern“ die Solidarität gegen die „brutale Vergewaltigung

des Deutschtums“ aus. Mussolini protestierte heftig gegen

solche Interventionen, gab aber dem ersten Präfekten der 1926

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gebildeten „Provinz Bozen“, Umberto Ricci, zunächst den Auftrag,

die Assimilierung sanft durchzuführen. Die von Tolomei 1923

heftig geforderte Entfernung des Walther-von-der-Vogelweide-

Denkmals wurde auch unter dem Eindruck heftiger Proteste aus

Deutschland 1926 vorerst gestoppt. Erst 1935, als Mussolini in

Hitler einen Bündnispartner sah, der ihm auch in Südtirol nicht

dreinreden würde, kam es zur Verlegung des Denkmals, im selben

Jahr wurde an der Mariensäule in Bozen die deutsche Inschrift

weggemeißelt. An den Laurinbrunnen, der die Theoderich-Sage

aufgreift, hatte man sich schon 1933 gewagt.

Bozen war – neben Meran – die strategische Machtbasis, von

der aus der Faschismus Südtirol durchdringen wollte. Symbolisch

zum Ausdruck gebracht wurde dies mit dem Bau des vom Architekten

Marcello Piacentini entworfenen Siegesdenkmals gegenüber

der Bozner Altstadt am anderen Ufer der Talfer. Das Denkmal

war eine Idee Mussolinis persönlich, errichtet wurde es in

bezeichnender Symbolik neben dem Fundament eines erst 1917

in Angriff genommenen und nicht fertig gewordenen Kaiserjägerdenkmals.

Die bis in die Gegenwart als anstößig empfundene Inschrift

sprach die Sprache der Kolonisatoren: „Hic patriae fine

siste signa. Hinc ceteros excoluimus lingua legibus artibus“. Zu

Deutsch lautet der Spruch: „Hier sind die Grenzen des Vaterlandes,

setze die Zeichen. Von hier aus lehrten wir den anderen Sprache,

Gesetze und Künste“. „Ceteros“ für „andere“ hätte ursprünglich

„barbaros“ lauten sollen, die elegantere Formulierung änderte aber

nichts an der Botschaft des Denkmals. Wie den „Doss Trento“ widmete

Mussolini auch das Bozner Siegesdenkmal dem Irredentisten

Cesare Battisti, trotz dessen Ablehnung der Brennergrenze

und trotz Einspruchs der Witwe. Der um das Denkmal ebenfalls

neu entworfene Siegesplatz mit dem anschließenden „Corso Littorio“

(der heutigen Freiheitsstraße) wurde zum Ausgangspunkt

der „Città Nuova“, der Neustadt. Geplant war auch eine Fortsetzung

des „Corso“ in das Herz der Altstadt hinein, was eine breite

Schneise durch die Museumstraße bedeutet hätte. Der damalige

Denkmalamtsleiter Giuseppe Gerola, obwohl kein Freund der Altbozner

Architektur, widersetzte sich diesem Anliegen. Einen weithin

sichtbaren Tribut musste die Altstadt – neben der Schleifung

49


Der Sockel für das geplante Kaiserjägerdenkmal wurde 1926 von den

Faschisten zerstört, daneben entstand das Siegesdenkmal.

mancher Gebäude für faschistische Bauten – aber auf besonders

plastische Weise zahlen: 1936 wurde der neugotische Zinnenturm

des Stadtmuseums geschliffen. Die offizielle Begründung lautete,

„das Rosengarten-Panorama werde [...] von der Spitze des Museumsturmes

unterbrochen“, was freilich nur vom Siegesdenkmal aus

betrachtet zutreffen konnte. Grundsätzlich ging es um die Beseitigung

„deutsch“ wirkender und an die österreichische Vergangenheit

erinnernder Bauelemente.

Im neuen Bozen verschmolzen die Sprachen von Macht und

Architektur. In unmittelbarer Nähe zum Siegesplatz wurde 1935

durch den Umbau der Villa Wendlandt das Oberkommando der

Armee errichtet, im Westen davon entstand die Villa Reale (Herzogspalast)

in der Prinz-Eugen-Allee. Am quer zum Corso Littorio

geplanten Viale Giulio Cesare (heute Italienallee) wurde 1939 das

Gerichtsgebäude und gegenüberliegend das Parteigebäude Casa

Littoria errichtet, der spätere Sitz des Finanzamtes mit einem umstrittenen

Relief, in dessen Mitte Benito Mussolini hoch zu Ross

reitet. Am Entwurf der beiden Gebäude am Gerichtsplatz war

unter anderem auch der Architekt Luis Plattner beteiligt, das Relief

stammte aus der Hand des Südtiroler Künstlers Hans Piffrader. Dass

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Einweihung des Alpini-Denkmals in Bruneck 1937: Nach dem Einmarsch

der Deutschen Wehrmacht 1943 wurde es zerstört, nach dem Krieg wurde

es wieder aufgebaut und zum Ziel mehrerer Attentate.

sich Künstler an faschistischen Aufträgen beteiligten, kann nicht

mit dem massiven Druck des Regimes allein erklärt werden. Zum

einen mochte die Faszination der faschistischen Idee vom Menschen,

der sich über sich selbst erhebt, eine wichtige Rolle gespielt

haben. Zum anderen widerspiegelte der Faschismus in seiner Zeichensprache

die Stile der Zeit, mit denen nach dem verheerenden

Krieg, nach der Ernüchterung in einer als gottlos empfundenen

Welt gewissermaßen neue Ausdrucksformen gesucht wurden. Parallel

zum Corso Littorio wurde die Drususstraße angelegt, für die

Brücke zu Ehren des römischen Feldherrn Drusus wurde schon

1924 ein Wettbewerb ausgeschrieben. So wuchs jenseits der Talfer

das neue Bozen, mit Prachtstraßen, Wohnblöcken für Offiziere

und Beamte, Freizeiteinrichtungen (Corso-Kino, GIL-Gebäude

für die Jugend), INA-Gebäude für das Versicherungsinstitut,

Schulzentrum mit dem Istituto Tecnico „Cesare Battisti“ und dem

Istituto Tecnico Industriale, das OMNI-Gebäude als Mutter-Kind-

Haus. Die Architektur sollte die Erneuerung der Gesellschaft auf

den Ebenen der Wehrhaftigkeit, der Staatsmacht, der Jugendarbeit,

der Sozialleistungen, der Aufwertung von Mutterschaft zum Aus-

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Der Künstler Hans Piffrader

bei einer Auftragsarbeit für

Mussolini: Die Zusammenarbeit

mit dem Regime fand

im berüchtigten Mussolini-

Relief am damaligen Sitz der

faschistischen Partei ihre

Krönung.

druck bringen und fördern – ein ehrgeiziges, notwendigerweise

hinter den Ansprüchen bleibendes Projekt.

In Südtirol stand der Erneuerungsgeist des Faschismus unter

den nationalistischen Vorzeichen der Assimilierungspolitik. So wie

Satelliten um ein Zentrum kreisen, wurden nach dem Siegesdenkmal

als gedachte Mitte der neuen Provinz an den Außengrenzen

Südtirols Gefallenendenkmäler errichtet: Für die drei „Beinhäuser“

an der Malser Haide im Vinschgau, bei Innichen im Pustertal und

in Gossensaß am Brennerpass wurden Überreste von anderswo

ge fallenen Soldaten exhumiert und an die neuen italienischen

Grenzorte gebracht. In Meran und Bruneck wurden den Alpini

überlebens große Denkmäler gewidmet (1937 und 1938).

Auf ähnliche Weise stand auch die technikbejahende, wirtschaftliche

Potenz anstrebende Ideologie des Faschismus in Südtirol

in einer nationalen Funktion: Einerseits ging es um eine intensive

Energienutzung für den Aufbau einer wettbewerbsfähigen

Industrie, andererseits war dies eines der effizientesten Mittel der

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Die Entfernung des Walther-Denkmals von seinem Platz im Herzen Bozens

1935: dargestellt wie der Abtransport eines Gefangenen.

„Penetrationspolitik“. Am neuen Bozner Bahnhofsgebäude, 1928

erbaut, wurde auch dieser Geist durch monumentale Skulpturen

architektonisch zum Ausdruck gebracht: Die zwei riesigen Figuren

am Eingang sollten Dampfkraft und Elektrizität personifizieren.

Mit dem Bau der Industriezone im Süden von Bozen begann

ab 1934 eine Offensive in der Zuwanderungspolitik, Bozen sollte

binnen kurzer Zeit auf 100.000 Einwohner gebracht werden. Mit

einem Federstrich wurden durch ein Sondergesetz von 1935 die

nötigen Obstwiesen zu Baugründen von „öffentlichem Interesse“

umgewidmet, gegen die Enteignung gab es praktisch kein Rechtsmittel

mehr, abgelöst wurden die Gründe für Spottpreise. Zunächst

auf 32 Hektar, bald auf weit über 50 Hektar schossen Industriehallen

in die Höhe: die Stahlwerke, die Aluminiumwerke, das

Lancia-Werk, das Holzplattenwerk Feltrinelli, die Gießerei Pippa,

der Hersteller synthetischer Treibstoffe CEDA, der Ätherproduzent

Carbural, der Parkettbodenhersteller Tamanini, die Fließenfabrik

Vignoni, der Teigwarenproduzent Ciele, die Strumpffabrik

Dolomiti, die staatliche Schnapsbrennerei Destillerie Federali,

die Einrichtungsfirma SIDA, die FIAT-Garagen und viele andere

verwandelten nicht nur Stadtbild, sondern auch Arbeitsplatzan-

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gebot und Wirtschaftsstruktur der Landeshauptstadt. Die Südtiroler

Industrie war traditionell schwach ausgeprägt, einzelne

Branchen konnten aber den technischen Aufschwung nützen: So

bauten die Brixner Brüder Julius und Gilbert Durst ihre Werkstatt,

in denen sie Fotoapparate bastelten, zunehmend aus, bis – auch

dank des Einstiegs der Bozner Lederfabrikanten Luis und Heinz

Oberrauch als Finanziers – eine Firma von Weltruf daraus wurde.

In Toblach gründete Max Glauber 1925 die Radiofabrik Unda, in die

später auch die Unternehmerfamilie Amonn einstieg. Die Bedeutung,

die das Medium Radio für die totalitären Systeme des frühen

20. Jahrhunderts errang, brachte der Firma ungeahnten Aufschwung,

aber auch eine unvermeidliche Nähe zum Regime. Am

12. Juli 1928 wurde vom „Ente Italiano Audizioni Radiofoniche“

(EIAR) die erste Rundfunkstation in Bozen in Betrieb genommen.

Erste Sendung war die Liveübertragung der Rede von König Viktor

Emanuel III. zur Einweihung des Siegesdenkmals.

Für den Strombedarf der neuen Industriebetriebe wurden nach

und nach Elektrizitätswerke in Angriff genommen. Die Werke bei

Marling (für die Stickstofffabrik in Sinich) und Kardaun (für Bozen)

wurden schon in den 20er Jahren erbaut, jenes bei Waidbruck ging

1939 in Betrieb, imposant geschmückt mit einem Reiterstandbild,

das die Fortschrittskraft des Faschismus verherrlichen sollte, dem

sogenannten „Aluminium-Duce“. Aber auch viele kleinere E-Werke

wurden errichtet. Zur 100.000-Einwohner-Stadt sollte Bozen erst

viel später werden, aber 1939 hatte sich die Bevölkerung in der

Landeshauptstadt gegenüber dem Stand von 1921 mehr als verdoppelt

und fast die 60.000 erreicht. Damit war die deutschsprachige

Bevölkerung in Bozen in die Minderheit versetzt. Waren

den Beamten und Offizieren die palastartigen Wohnblöcke an

den Prachtstraßen vorbehalten, wurden für die Arbeiter die neuen

Viertel „Rione Littorio“ und „Rione Dux“ angelegt, das heutige

Europaviertel und die Semirurali-Zone. Hier wuchs jenes weitgehend

isolierte Neubozen aus dem Boden, das in grellem Widerspruch

zur Altstadt entstand und bis in die Gegenwart das fragwürdige

Flair einer eigenen, abgeschotteten Welt behielt.

Mit dem Jahr 1922 hatte aber auch für das ländliche Süd tirol

eine neue Zeitrechnung begonnen, die „Era Fascista“, die sich

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buchstäblich im Kalender niederschlug. So erzählt Claus Gatterer

in seinem Roman „Schöne Welt, böse Leut“ von der italienischen

Lehrerin, „die, auf dem Pult thronend, ihre Nägel lackierte“ und

das Datum diktierte, das über die Aufgabe zu schreiben war: „Sesto,

27 ottobre 1930/VIII. E.F.“, das achte Jahr der „Era Fascista“.

Die Italianisierung der Schulen war ein Südtiroler Sonderfall

der faschistischen Schulpolitik. Staatsweit ging es um eine Faschisierung

des Unterrichts, die auch in die Freizeitgestaltung eingreifen

und die Jugend für die faschistischen Ideale bilden und

gewinnen sollte. So wurden einerseits Lerninhalte auf die Verherrlichung

Mussolinis, seines Regimes, der Kolonialkriege zugeschnitten,

andererseits über die 1925/26 gegründete „Opera Nazionale

Balilla“ Freizeitangebote an die Jugend entwickelt. Am 1933 eingeführten

„sabato fascista“ war für die Mitglieder der faschistischen

Jugendorganisationen die Teilnahme an Programmen politischer

Bildung und militärischer Frühschulung verpflichtend. An den

Schulen und bei der Balilla musste marschiert, italienisch gesungen

und vor der Trikolore salutiert werden. Sich dem Druck von

Schule und Balilla zu entziehen, war nur schwer möglich. Die Mitgliedschaft

war häufig auch Voraussetzung für den Mensabesuch,

der für Bauernkinder mit weitem Schulweg aufgrund des ebenfalls

eingeführten Nachmittagsunterrichts oft die einzige Möglich keit

war, zu einem warmen Essen zu kommen. Besserstehende Bauern

und Bürger konnten es sich eher leisten, ihre Kinder nicht bei der

Balilla einzuschreiben, da und dort arrangierten sich aber gerade die

Dorfgrößen leichter mit dem Regime als die einfache Bevölkerung.

Ebenso wie viele Künstler und Intellektuelle waren auch einfache

Menschen und bodenständige Kulturvereine hin- und hergerissen

zwischen einer im Einzelfall nicht schwer fallenden Anpassung

und einer äußerst risikoreichen Auflehnung. Der Faschismus

ließ keinen Lebensbereich aus: 1926 wurde der aus dem einstigen

Tiroler Bauernbund hervorgegangene Südtiroler Bauernbund

zugunsten der „Federazione Sindacati Fascisti degli Argricoltori“

umgewandelt, ebenso wurden die um die Jahrhundertwende

er folgreich gegründeten bäuerlichen Genossenschaften dieser

Federazione unterstellt, 1928 folgte die Gründung des „Consorzio

Cooperativo dell’Alto Adige“, des späteren „Consorzio Agrario“

55


Die Urbanisierung Bozens – mit dem „Rione Littorio“ (dem heutigen

Europaviertel) entstand eine neue Stadt.

mit vielen Zweigstellen im Lande. Die technische Revolution, die

dem Faschismus – durchaus im Einklang mit dem Zeitgeist – vorschwebte,

blieb in der Südtiroler Berglandwirtschaft freilich aus.

1922 gab es in Südtirol einen einzigen Traktor im Etschtal, zehn

Jahre später gab es fünf, 20 Jahre später immer noch nicht ganze

50. Aus wirtschaftlicher Not, aus Verschuldung und in vielen Fällen

aufgrund des politischen Druckes standen in den 30er Jahren

immer mehr Bauernhöfe zum Verkauf. So gingen hunderte von

Bauernhöfen in den Besitz italienischer Gesellschaften über, die

sie an italienische Bewerber weitergeben hätten sollen. Das Projekt

hatte keinen durchschlagenden Erfolg, einerseits weil sich die

Berglandwirtschaft für eine solche „Penetration“ schwerlich eignete,

andererseits aber auch, weil der „Volksbund für das Deutschtum

im Ausland“ den verschuldeten Südtiroler Bauern finanziell

massiv unter die Arme griff, um die Höfe zu retten.

In eine zwiespältige Lage gerieten auch viele Vereine, da der

Faschismus folkloristische Vereine durchaus zu fördern bereit

war. So gab es nach 1922 sogar Neugründungen von Vereinen. 1929

nahmen Südtiroler Vereine an einem Trachtentreffen in Venedig

teil. Auftritte der Südtiroler Musikkapellen bei nationalen Ereig-

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Die aufgezwungene und die heimlich bewahrte Kultur: Südtiroler Buben

trugen „Balilla“-Uniform, die Mädchen (links im Hintergrund) kamen

zu den „Piccole Italiane“. Das Bild darunter zeigt eine deutsche „Notschule“

im Sarntal.

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nissen waren ausdrücklich gewünscht. Ganz offensichtlich lag

dieser Haltung eine Sichtweise von Brauchtum als Exotik zugrunde,

die durchaus gewünscht war, sofern sie sich in den Dienst des

Regimes stellte. So wurden die Musikkapellen der faschistischen

Freizeit-und Kulturorganisation „Opera Nazionale Dopolavoro“ eingegliedert.

Sie mussten die nationalen Hymnen wie „Marcia Reale“,

„Giovinezza“ und die „Canzone del Piave“ spielen. Bei Widerstand

wurden die Kapellmeister abgesetzt. Die meisten Musikkapellen

machten gute Miene zum bösen Spiel, sicherte dies doch den Fortbestand

des Vereins. Kreativ wurde das Regime ausgetrickst, etwa

indem der Marsch „Unter dem Doppeladler“ auf den Repertoirelisten

als „Marcia Aquila“, der Kaiserschützenmarsch als „Echo aus

früheren Zeiten“ und „Wien bleibt Wien“ als „Wein bleibt Wein“

ausgewiesen wurden, um die Zensur zu umgehen. 1935 war Schluss

mit lustig, nun richteten sich die faschistischen Verbote gegen das

Tragen der Tracht.

Politisch suspektere Vereine hatten schon vorher ein schwieriges

Dasein. Turnerbünde und Feuerwehren, deren Gründungsgeschichte

im 19. Jahrhundert eng mit der deutschen Nationalbewegung

verwachsen war, wurden aufgelöst, ebenso der Alpenverein,

dessen Schutzhütten an den „Club Alpino Italiano“ übergingen.

Deutsches Volkstheater wurde eine Zeitlang im Rahmen des Dopolavoro

geduldet, allmählich aber ebenfalls zum Verschwinden

gebracht. Letztlich zeigt sich in diesen anfänglichen Ver suchen,

das Südtiroler Kulturleben einzunehmen, um es schließlich stillzulegen,

die Strategie der sanften Durchdringung: Sie förderte

zunächst die Anpassung, die in der Hoffnung auf einen Modus

Vivendi zum Teil auch versucht wurde; zugleich wurde so auch

vorbeugend die Protestbereitschaft geschwächt, als schließlich

härter durchgegriffen wurde.

Der Südtiroler Widerstand gegen den Faschismus war vorwiegend

passiv, er bestand in der Organisation des heimlichen Deutschunterrichts,

dem Aufbau der „Katakombenschulen“. Den Anstoß

dazu hatte Kanonikus Michael Gamper am 1. November 1923 im

„Volksboten“ gegeben: „Wir müssen es halt den ersten Christen

nachmachen. Als sie vor den Verfolgungen nicht mehr sicher waren,

in den öffentlichen Tempeln ihren Gottesdienst zu halten, zogen

58


sie sich an den häuslichen Herd zurück. [...] Als die Verfolger auch

dorthin drangen, nahmen sie zu den Toten in den unterirdischen

Gräbern, in den Katakomben, ihre Zuflucht.“ Am 2. Oktober 1924

schrieb er noch deutlicher: „Jedes Haus, jede Hütte muß zum

Schulhaus, jede Stube zur Schulstube werden, in der die Kinder

ihren Unterricht in ihrer Muttersprache erhalten. Und die Lehrer

seid ihr, ihr deutschen Väter und Mütter, ihr wackeren deutschen

Mädchen und Buben, die ihr schon aus der Schule draußen seid.“

Heimlich wurde 1925 ein erster Lehrgang für Notschullehrerinnen

im Palais Toggenburg in Bozen abgehalten, maßgebliche Kräfte

waren neben dem Kanonikus die Politiker des Deutschen Verbandes

Eduard Reut-Nicolussi und Karl Tinzl, der Salurner Rechtsanwalt

Josef Noldin, die Direktorin der Bozner Mädchenschule

Emma von Leurs sowie die Volksschullehrerin Maria Nicolussi,

eine Schwester von Eduard Reut-Nicolussi, bald als „Tante Moi“ im

ganzen Land für ihren Einsatz um den Geheimunterricht bekannt.

Den Kindern wurde eingeschärft, wie sie sich auf dem Weg zum

Unterricht – in privaten Häusern, auf entlegenen Höfen – verhalten

sollten, sie gingen einzeln hin und kehrten einzeln heim. Es

wurden Wachposten aufgestellt, die beim Anrücken von Carabinieri

oder Polizei unauffällig Alarm schlugen. Als Unterrichtsmittel

wurden nur lose Blätter mit Bleistift verwendet oder leicht löschbare

Schiefertafeln, zur Tarnung standen Spiele oder auch italienische

Schulbücher griffbereit. Es wurde Schreiben und Lesen in

deutscher Sprache geübt, deutsche Lieder wurden gesungen, dazu

auch die Tiroler Geschichte unterrichtet – jene Fächer, die aus den

faschistischen Lehrplänen getilgt worden waren.

Rein in Zahlen ausgedrückt war der Notunterricht weniger groß

angelegt als gemeinhin angenommen, von den rund 30.000 deutschsprachigen

Schulkindern wurden etwa 5000 jährlich erreicht. Aber

es war eine Möglichkeit, zumindest im Geheimen etwas für den

Erhalt der eigenen Sprache und Kultur zu tun, was offen kaum

mehr möglich war oder zumindest nicht mehr für möglich gehalten

wurde. 1936 hatte Mussolini eine Reihe von Ausnahmegesetzen

erlassen, mit denen jedwede nichtfaschistische politische Tätigkeit

verfolgt wurde. Unter dem Vorwand der Aufrechterhaltung

der öffentlichen Ordnung konnte völlig willkürlich vorgegangen

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Josef Noldin und Angela Nikoletti – Regimeopfer und Symbolgestalten eines

passiven und nahezu wehrlosen Widerstands.

werden, bei missliebigem Verhalten kam es zu Verwarnungen, zu

Polizeiaufsicht und zur Verbannung. Diese Sondergesetzgebung

war auch eine Handhabe gegen den geheimen Deutschunterricht.

Der Salurner Josef Noldin wurde 1927 zu fünf Jahren Verbannung

auf die Insel Lipari verurteilt, sein Traminer Weggefährte Rudolf

Riedl auf die Insel Pantelleria verbannt. Mit Noldin bekam der passive

Südtiroler Widerstand einen ersten Märtyrer: Noldin erkrankte

auf Lipari schwer, wurde schon 1928 begnadigt, starb aber ein Jahr

später an den Folgen der Krankheit. Im Empfinden der bedrängten

Bevölkerung wurde auch die junge Kurtatscher Lehrerin Angela

Nikoletti zu einem Opfer des Faschismus. Sie wurde hartnäckig

verfolgt und vorübergehend auch eingesperrt. Dass sie die Nachstellungen

der Behörden in einem sensibel geführten Tagebuch

aufzeichnete und 1930 erst 25-jährig an einem Lungenleiden verstarb,

verdichtete ihre traurige und zugleich von Mut zeugende

Lebensgeschichte zu einem bis in die Gegenwart wirkenden Mythos.

Schwierigkeiten, Nachstellungen, Inhaftierung mussten auch viele

andere Katakombenlehrerinnen und -lehrer auf sich nehmen. Dass

sich um die Notschule teilweise auch überzogene Legenden rankten,

die auf Südtiroler Seite zu einer radikaleren Nationalisierung

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führten, muss wohl vor dem Hintergrund der politischen Umstände

betrachtet werden. So gründete der illegale Völkische Kampfring

Südtirols ab 1935 eine „Mädelschaft“ für den Deutschunterricht,

die sich am Nationalsozialismus orientierte. Obwohl von Kanonikus

Gamper heftig abgelehnt, geriet die Notschule damit zunehmend

unter nationalsozialistischen Einfluss. Der Grat zwischen der

Abwehr des Faschismus und der Anfälligkeit für den Nationalsozialismus

war schmal, um völkische Erziehung war es auch

Gamper gegangen. Südtirol war zwischen zwei Ideologien und

Diktaturen geraten, die sich vor allem durch die Sprache unterschieden.

61


Zwischen den Ideologien

Verirrungen und Versuchungen –

die Anziehungskraft des Nationalsozialismus

Der verhaltene, im Untergrund operierende Südtiroler Widerstand

gegen den Faschismus erweckte selbst bei den Behörden den Eindruck,

dass die Südtiroler Bevölkerung sich mit der Zugehörigkeit

zu Italien abgefunden habe und sich allmählich dem italienischen

Lebensstil zuwende. Das war zum einen wohl ein trügerisches Bild,

das aufgrund der repressiven Maßnahmen entstanden war. Soweit

es aber zutraf, mochte es damit zu tun haben, dass der Faschismus

– jenseits seiner deutschfeindlichen Politik – mit einem guten Teil

seines Wertepakets sehr wohl der Grundhaltung vieler Südtirolerinnen

und Südtiroler entsprach. Zugleich dürften die modernistischen

Elemente, die mit der italienischen Zuwanderung nach

Südtirol kamen und vom Faschismus besonders gepflegt wurden,

eine gewisse Faszination ausgeübt haben – das dynamische Frauenbild,

das freilich ganz in den Dienst von Familien- und Mutterkult

genommen wurde, der Einsatz neuer Medien wie Kino und

Radio, die vordergründige Einbeziehung der Arbeiter und Arbeiterinnen

in die Wirtschaftskorporationen, mit denen zugleich eine

Knebelung der Gewerkschaften einherging, die Überhöhung des

Körperkults und die damit zusammenhängende ideologisierende

Förderung des Sports.

Südtiroler Sporterfolge wurden vom faschistischen Regime

durchaus auch begrüßt und vereinnahmt. Die Sportgruppe „Bolzano

Nuoto“ brachte mit Italienmeister Otti Casteiner und Olympia-

Teilnehmer Karl Dibiasi die absolute Elite im Turmspringen hervor.

Bei den Frauen triumphierte die spätere Musikerin Johanna

Blum bei den „Giovani fasciste“ – um sie in ihrer Karriere nicht

zu behindern, wurde ihre polnische Abstammung väterlicherseits

und ihr doch ziemlich jüdisch klingender Name schlicht übergangen.

Die Medaille für ihren Sieg bei den Italienmeisterschaften

trug ein Duce-Abbild, überreicht wurde sie vor dem Siegesdenkmal

in Bozen. Die neuen Großsportanlagen wie das Lido und das

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Die illegale NS-Bewegung rekrutierte ihre Mitglieder aus dem Sport und aus

dem Brauchtumsleben; im Bild eine Volkstanzgruppe in den 30er Jahren.

Drusus stadion in Bozen, der Pferderennplatz und die Tennisanlagen

in Meran waren imponierende Stätten der faschistischen

Sportförderung, verbunden mit dem Anspruch auf Größe und

Macht. Zugleich waren diese Gebäude zum Teil höchster architektonischer

Ausdruck der rationalistischen Moderne. Der Trentiner

Erbauer des Bozner Lidos und des Meraner Rathauses Ettore

Sottsass hatte bei Friedrich Ohmann in Wien studiert und galt als

wichtigster Vertreter des italienischen Rationalismus, am Lido mitgearbeitet

hatte der Deutsche Willy Weyhenmeyer.

Ein solches Angebot vordergründig positiv besetzter Werte

und kühner neuer Stilmittel bei gleichzeitiger Unterdrückung des

Südtiroler Kulturlebens trug wohl wesentlich dazu bei, dass die

nahezu deckungsgleiche, aber Deutsch sprechende Ideologie des

Nationalsozialismus in Südtirol umso wohlwollender aufgenommen

wurde. Die freiere Lebensgestaltung, der Ausbruch aus klerikal-konservativer

Erziehung, der Aufbruch zu einem überhöhten

Menschenbild bei gleichzeitiger Betonung des Deutschtums waren

attraktive Botschaften, die besonders auch die jüngeren Generationen

in Südtirol in den Bann zogen. Das faschistische Vereinsverbot

von 1926 forcierte das Entstehen der „illegalen“ Bewegung,

63


die sich ab 1930 am Nationalsozialismus zu orientieren begann.

Eine exemplarische Episode dafür ist die Teilnahme der verbotenen

Bozner Turner um Toni Ruedl an einem Staffellauf bei einer

Leichtathletik veranstaltung in Meran: Mit weißen Leibchen und

schwarzem Trauerstreifen von einem politisch wohl etwas unbedachten

Sportfunktionär zum Rennen zugelassen, holten sie glatt

den Sieg. Von der Siegerehrung vor hohen Militärs und dem italienischen

Kronprinzen hielten sich die Turner dann aber lieber

doch fern. Ebenso dreist nahmen die „Illegalen“ an Wettkämpfen

in Tirol und Österreich teil, es wurden – im Stil der Katakombenschulen

– heimlich Sportgruppen gegründet, Hilfsturnlehrer/innen

ausgebildet und zunehmend Kontakte zu Deutschland geknüpft.

Der NS-Reichssportführer Hans von Tschammer setzte sich stark

für die Illegalen in Südtirol ein, beispielhaft ist die Emigration von

Karl Dibiasi ins Reich.

Schon vor der Machtergreifung Hitlers 1933 entstand so eine

weit über den Sport hinausreichende illegale und NS-orientierte

Bewegung in Südtirol. Gestützt auf Turnerbewegung und Alpenverein

bildeten sich zahlreiche Jugendgruppen, die sich weniger

am kirchlichen Widerstand von Kanonikus Gamper und auch nicht

an der politischen Vertretung durch den Deutschen Verband orientierten,

sondern direkt am Nationalsozialismus. Sie trugen zum

Teil fantasievolle Namen wie „Das aufrechte Fähnlein“ oder „Laurinia“.

Sowohl Kirche als auch Politik hatten es verabsäumt, die

neu sich entwerfende Jugendkultur zu verstehen und anzusprechen.

1928 schlossen sich die Jugendgruppen zum „Gau-Jugend-

Rat“ zusammen, im selben Jahr wurde in Bozen der „Nibelungen-

Ring“ gegründet. Hitlers Ernennung zum Reichskanzler Ende

Jänner 1933 gab der Bewegung einen entscheidenden Auftrieb. Im

Juni 1933 gründeten die Jugendgruppen auf der Haselburg bei

Bozen die „Südtiroler Heimatfront“, die bald darauf in „Völkischer

Kampfring Südtirol“ umbenannt wurde. Nach der Emigration des

ersten „Landesführers“ Rolf Hillebrand und kurzen Zwischenlösungen

wurde der Bozner Schneider Peter Hofer Führer des

VKS – eine der künftigen Schlüsselfiguren für die NS-Zeit in Südtirol.

Führende Persönlichkeiten beim VKS waren auch Norbert

Mumelter, Kurt Heinricher, Heinrich Gschwendt, Robert Helm.

64


Zwei Ereignisse verstärkten die Tendenzen in der Südtiroler

Bevölkerung hin zum Nationalsozialismus: Am 13. Jänner 1935

durfte die Bevölkerung des Saarlandes über ihre Staatszugehörigkeit

abstimmen, wie es – unabhängig von den Expansionsplänen

Hitlers – bereits im Friedensvertrag von Versailles vorgesehen

war. Am selben Tag brannten in Südtirol Bergfeuer, Hakenkreuze

wurden an Wände gemalt, die Aufschrift „Heute die Saar – wir

übers Jahr“ war Ausdruck von Hoffnung auf vielen Hausmauern.

Die massive Entscheidung der Saarländer für Deutschland führte

zu offenem Jubel auch in Südtirol. Dass Hitler von allem Anfang

an den „Verzicht auf die Deutschen in Südtirol“ zugunsten der

Zusammenarbeit mit Italien und Mussolini „als überragendes Genie“

beschlossen hatte, konnte das nahezu blinde Vertrauen vieler Südtiroler

in den Nationalsozialismus nicht beeinträchtigen.

Noch im selben Jahr 1935 trat Italien in den Krieg gegen Abessinien.

Der in Italien lange weit weniger mörderische (wenngleich

für viele Opfer nicht minder folgenschwere) Rassismus der faschistischen

Ideologie wollte an der afrikanischen Front nicht nur

seinen Hunger nach Kolonialmacht und altrömischer Größe stillen,

sondern konnte hier auch seine Vernichtungswut ausleben:

Massaker an der Zivilbevölkerung und Einsatz von Giftgas begleiteten

den Abessinien-Krieg, den Mussolini als Schritt zur Wiedererrichtung

des „Imperium romanum“ bezeichnete. Für Mussolini

war der Krieg auch eine Gelegenheit, die Südtiroler in die nationale

Pflicht zu nehmen. Wie viele Südtiroler im Abessinien-Krieg

zum Einsatz kamen, ist nicht genau bekannt, die Zahlen schwanken

von rund 600 bis über 5000. Gezielt wurden alle Südtiroler

Reserveoffiziere in Stellungspflicht genommen, da den faschistischen

Behörden die nationalsozialistische Begeisterung der Südtiroler

Jugend und auch der führenden Schichten nicht entgangen

war. So stimmten die Reserveoffiziere, die sich im Sommer 1935

am Bozner Bahnhof sammeln mussten, demonstrativ das Horst-

Wessel-Lied an, die Parteihymne der Nazis. Einer Alpinidivision

mit dem Namen „Val Pusteria“ wurde 1938 für ihre Kriegsleistungen

in Abessinien am Kapuzinerplatz in Bruneck ein Denkmal errichtet,

das als „Kapuzinerwastl“ von da an für böses Blut, Proteste

und wiederholte Anschläge sorgte. Fast 2000 Südtiroler, die zum

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Abessinien-Krieg abkommandiert waren, desertierten. Sofern sie

sich nach Österreich oder Deutschland absetzen konnten, waren

sie – trotz der guten Beziehungen beider Staaten zu Italien – vor

der Auslieferung sicher; untergebracht wurden sie meist in Lagern

der SS. Dem einen Kriegseinsatz waren sie entkommen, der andere

stand ihnen erst bevor.

Wie Heimat- und Weltverständnis, Lebensentwürfe und Orientierungsversuche

in einer Zeit des Auf- und Umbruchs in das

Spannungsverhältnis zweier verwandter Ideologien gerieten,

zeigt sich besonders anschaulich auch in der Kunst dieser Zeit.

Die existenzielle Erfahrung des Krieges als Menschheitskatas -

trophe, die alle Illusionen zerstört, steht auch hier am Anfang einer

neuen Bewegung, die sich – europaweit – in der Neuen Sachlichkeit

ausdrückt. Für die Südtiroler Künstler ist Albin Egger-Lienz,

der 1926 verstirbt, das Vorbild. Seine Bilder zum Krieg sind Dokumentationen

unaussprechbaren und namenlosen Grauens, trotzdem

konnten sie sich der Um- und Bewerbung durch den Faschismus

ebenso wenig erwehren wie jene von Carl Moser. Berühmt

waren und sind die Stolz-Brüder: Ignaz, der Älteste, erhielt Anerkennung

vor allem für seine Porträts und Frauendarstellungen.

Rudolf, der Mittlere, erhielt 1928 den Auftrag für ein (im Zweiten

Weltkrieg) zerstörtes Monumentalfresko am Innsbrucker Bahnhof,

dessen expressive Bauernfiguren gut auch in die politische

Symbolsprache der Zeit passten, obwohl sie sich an Egger-Lienz

orientierten. Der Arbeit von Stolz wurde der Vorzug gegenüber

einem Entwurf von Alfons Walde aus Kitzbühel gegeben, der in

seinem Fresko auf die Teilung Tirols anspielen wollte, was im noch

nicht nationalsozialistischen Österreich lieber vermieden wurde.

Der jüngste Stolz-Bruder, Albert, erhielt von den Faschisten den

Auftrag für den Freskenzyklus im Meraner Rathaus mit dem Duce

als Schmied des neuen Italiens. 1932 trat er, anders als seine Brüder,

dem „Sindicato Fascista delle Belle Arti“ bei. Hans Piffrader, der

als 30-jähriger den Ersten Weltkrieg erlebt hatte, verarbeitete in

seinen Zeichnungen auf anklagende Weise das Trauma des

Krieges. 1938 begann er die Arbeit am Relief für den Sitz der faschistischen

Partei am Bozner Gerichtsplatz, dem späteren Finanzgebäude.

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Mit dieser Bereitschaft, das eigene Schaffen in den Dienst des

Regimes zu stellen oder zumindest dessen Gunst für das eigene

Schaffen zu nutzen, stand Piffrader nicht alleine. 1938 fand in Bozen

eine „Biennale“ zu Ehren der „Größe des Mussolinischen Zeitalters“

statt. 25 Künstler nahmen teil, 18 wurden ausgezeichnet,

darunter neben Piffrader der Bildhauer Ignaz Gabloner, der Maler

Albert Stolz sowie Tullia Socin, eine in Bozen geborene italienische

Künstlerin. Andere flohen in die Arme des Nationalsozialismus,

so Hubert Lanzinger, der 1933/34 in Berlin ein Porträt für

den Führer schuf, eine aus heutiger Sicht unfreiwillig komische

Darstellung Hitlers als steif-starren „Bannerträger“. Für die Innsbrucker

Universität erstellte Lanzinger ein Mosaik nach demselben

Vorbild, es wurde nach dem Krieg verdeckt. Der Brixner Leo

Sebastian Humer erhielt in Deutschland den Auftrag zu einem

Fresko in der Ehrenhalle der SS. Die Ausdrucksmittel der rationalistischen

Sachlichkeit ließen sich leicht zu heroisierender Idealisierung

überdehnen. Auch waren die Künstler angewiesen auf

die Mäzene ihrer Zeit. Der Brunecker Bildhauer Othmar Winkler

hatte zunächst das Glück von einem römischen Adeligen gefördert

zu werden, der ihn nach Rom einlud, wo er dann auch Mussolini

porträtieren durfte. 1933 bekam er aus Berlin den Auftrag, Reichspropagandaminister

Joseph Goebbels darzustellen. Entsetzt über

die Züge des Nationalsozialismus versuchte er sich den Ideologien

durch Auswanderung nach Norwegen zu entziehen, mittellos

aber kehrte er nach Italien zurück und ließ sich in Trient nieder.

1940 wurde er – wie Piffrader – von Mussolini zum Cavaliere

ernannt. Das Verhältnis von Winkler zu Südtirol blieb belastet, in

seiner Wahlheimat Trient hielt er bis ins hohe Alter Distanz zum

Land seiner Herkunft.

Auch an anderen Künstlerbiografien lässt sich nachzeichnen,

wie schwierig es war, Nischen zu finden und sich dem Bann der

ideologischen Vereinnahmung zu entziehen. Offene Auflehnung

war gefährlich. Der in Bozen geborene, in Innsbruck aufgewachsene

Christian Hess besuchte die Münchner Akademie und schloss

sich dem Kreis der „Juryfreien“ an, die sich auch mit Max Ernst,

Paul Klee, Pablo Picasso, Miró auseinandersetzten und von den

Nazis wegen Nähe zum Bolschewismus aufgelöst wurden. Hess ver-

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Luis Trenker,

Überlebenskünstler

zwischen den Diktaturen:

hier im Film „Der

verlorene Sohn“.

schlug es nach Sizilien und von dort in die Schweiz. Als er schließlich

doch nach Deutschland zurückkehrte, wurde er zum Opfer

eines Bombenangriffs. Der Sarner Johannes Troyer, mit einer Jüdin

verheiratet, fand Schutz in Liechtenstein, nach dem Krieg wanderte

er in die USA aus. Der Schwazer Hans Weber-Tyrol, der sich

zuvor schon häufig im südlichen Tirol aufgehalten hatte, ließ sich

nach seiner Heirat mit einer Südtirolerin ab 1929 ganz in Südtirol

nieder, er gilt als einer der „wichtigsten Tiroler Künstler der

Zwischenkriegszeit“ (Michael Forcher). Das faschistische Regime

kaufte seine Bilder gerne an. Leo Putz, dessen Werke wie jene von

Weber-Tyrol zwischen Spätimpressionismus und Expressionismus

oszillieren, wanderte 1929 auf Einladung von Verwandten

(Tiroler Auswanderern) nach Rio de Janeiro aus, was seinem Spätwerk

eine besondere Exotik verlieh. 1936 kehrte er nach Meran

zurück, 1937 wurde er aus der Reichskulturkammer ausgeschlossen.

Bei den Bildersturmaktionen der Nazis wurden sowohl Bilder

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von Weber-Tyrol als auch von Putz als „entartete Kunst“ beschlagnahmt.

Der Versuch, sich zwischen den Diktaturen durchzuschwindeln,

prägt den Lebenslauf des lange berühmtesten Südtirolers, des

Bergsteigers, Architekten, Filmstars, Buchautors und Regisseurs

Luis Trenker. Seine berufliche Laufbahn begonnen hatte Trenker

als Architekt bei Clemens Holzmeister. Dessen Rationalismus in

Verbindung mit einem Stil regionaler Einfachheit in Anpassung

an Landschaft und Gelände war – zusammen mit zwei anderen

Nordtiroler Architekten – ein zentraler Bezugspunkt für die junge

Architektur der Zwischenkriegszeit in Südtirol. Holzmeister hatte

unter anderem die Villa Pretz in Bozen und das Hotel Drei Zinnen

in Moos/Sexten geschaffen, Lois Welzenbacher die Villa Settari

und das Haus Baldauf in Dreikirchen, Franz Baumann das Hotel

Monte Pana in St. Christina/Gröden. Zum wichtigsten Südtiroler

Architekten wurde Marius Amonn mit der Villa Staffler am Ritten,

dem Stallerhof in Leifers und dem Haus Leszl in Guntschna

bei Bozen. Trenker, der sich schon als Alpinist einigen Ruhm und

auch Kriegsauszeichnungen erworben hatte, studierte nach dem

Krieg Architektur in Graz und eröffnete mit Holzmeister ein Büro

in Bozen. Laut Trenker wurden dem Büro aber wegen des „ausländischen

Professors“ unter dem Faschismus die Aufträge entzogen,

und als das Regime 1927 den in Österreich erworbenen Studientiteln

die Anerkennung entzog, bedeutete dies für Trenker praktisch

Berufsverbot als Architekt. Über Jobs als Bergführer und

Skiführer kam er – dank Bekanntschaft mit dem damaligen Bergfilmpionier

Arnold Fanck – zum Film, zunächst als Schauspieler,

bald schon als Filmproduzent, Regisseur und Hauptdarsteller in

Personalunion. Zusammen mit Leni Riefenstahl galt er im Film

„Der heilige Berg“ als Neuentdeckung des deutschen Films. Zwischen

den beiden begann – vermutlich – eine kurze Affäre und

eine lange Hassliebe, beide wurden sie auf ihre Weise von der NS-

Propaganda vereinnahmt, Leni Riefenstahl aktiver, Luis Trenker

lavierend zwischen Faschismus, Nationalsozialismus und einem

mitunter gut versteckten Kern Tiroler Widerständigkeit.

Trenkers Filme, bei denen er sich die Neuentdeckung des Tonfilmes

zu Nutze machte, bestechen durch die Darstellung von

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Gewalt und Schönheit der Natur, durch den Kampf des Menschen

mit seinem Schicksal. „Der Ruf des Nordens“ führte Trenker in die

Arktis auf die Spuren von Polarforscher Roald Amundsen, die Auswanderergeschichte

„Der verlorene Sohn“ wurde zu einem auch

in den USA gefeierten Dokument der amerikanischen Depression.

Die Idealisierung von Heimat und Bergwelt spielte ihm die Gunst

von Faschismus und Nationalsozialismus gleichermaßen zu. Joseph

Goebbels sah unmittelbar vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten

die Vorführung der Trenker’schen Verfilmung der

Tiroler Freiheitskämpfe von 1809, in seinem Tagebuch schrieb er:

„Abends Film. Luis Trenker ‚Der Rebell‘. Die Spitzenleistung. Ein

nationalistischer Aufbruch. Ganz große Massenszenen ... Hitler

ist Feuer und Fett.“ Wie brüchig das Eis war, auf dem Trenker auf

seinem Erfolgskurs gehen musste, zeigte sich am Film „Condottieri“,

der von der faschistischen Regierung gesponsert wurde. In

Trenkers Film wirft sich der stolze Condottiere vor dem Papst auf

die Knie. Während Mussolini die Versöhnungsgeste gegenüber der

Kirche ins Konzept passte, war Hitler empört. Auf der Biennale in

Venedig wurde der Film 1937 preisgekrönt, bei Vorführungen in

Deutschland warfen Hitlerjungen faule Eier auf die Leinwand. In

der Folge ließ Goebbels die Kniefall-Szene zensieren, so dass der

Condottiere in der deutschen Version vor dem Papst in aufrechter

Haltung stehen bleibt. Während Trenker einerseits klare Zeichen

der Regimetreue setzte (so seine Mitgliedschaft in der nationalsozialistischen

„Reichsfachschaft Film“), wagte er es andererseits

immer wieder, Hitler und Goebbels zu reizen. Wenn es kritisch

wurde, wich er auf unverfängliche Themen aus, etwa durch den

Skilehrerfilm „Liebesbriefe aus dem Engadin“. Als direkter Angriff

auf Hitler wurde 1939/40 „Der Feuerteufel“ verstanden, erneut

aus dem Thema der Tiroler Freiheitskämpfe gegriffen, mit einem

herrschsüchtigen Napoleon als Feindbild, in dem unschwer Hitler

zu erkennen war. In der Schweiz, in Schweden, in den USA wurde

der Film als „Freiheitsfilm gegen die Diktatur“ wohlwollend aufgenommen

und besprochen, in Deutschland wurden nach der Premiere

weitere Vorführungen untersagt.

Aus der Bergwelt schöpfte auch der Bozner Jurist, Hüttenwirt

und Skilehrer Hubert Mumelter: Mit der ironischen „Schifibel“,

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Franz Tumler (Bildmitte) im Sog des Nationalsozialismus – ein sprachlich

nur subtil und leise überwundenes Nahverhältnis; im Bild mit Verwandten

auf der Tschenglser Alm.

dem Bauern- und Bäuerinnen-Roman „Maderneid“ und dem Ro -

man „Zwei ohne Gnade“ landete er große Erfolge auf dem deutschen

Markt, die kernigen Geschichten aus der Südtiroler Bergwelt

trafen exakt den Zeitgeist. Die politischen Wirrnisse spiegeln sich

im Schaffen und im Leben der Schriftsteller und Dichter. Maria

Veronika Rubatscher kam als Lehrerin aus Hall nach Südtirol, unter

dem Faschismus verlor sie ihre Stelle. Ihre Romane greifen historische

Stoffe auf, um darin auch die Südtiroler Gegenwart zu

erzählen. Der Ahrntaler Dichter Joseph Georg Oberkofler verlor

dagegen durch die Schließung der Zeitung „Der Tiroler“ seine

Redaktionsstelle und zog nach Innsbruck, wo er Verlagsleiter der

„Tyrolia“ wurde (dem Nordtiroler Pendant von Athesia als Überbleibsel

des einstigen christlichsozialen Verlages). Vor dieser Er -

fahrung erklärt sich zum Teil die Blut- und Boden-getränkte Poesie

des literarisch begabten Oberkofler. Die herausragende journalistische

Stimme im alten Tirol war der aus Osttirol stammende

Priester Sebastian Riegler. Er schaffte es, die Auflage des „Tiroler

Volksboten“ von 3000 auf über 40.000 zu steigern. Besonders erfolg-

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reich war in der Zwischenkriegszeit der Kalender als Medium der

Volks- und Heimatliteratur, so der „St. Kassian“-Kalender, für den

Maria Veronika Rubatscher schrieb, oder der „Haus-Kalender“ mit

Illustrationen von Albert Stolz und Erzählungen von Maria Buol

und Karl Felix Wolff. Über die Zeitdauer am erfolgreichsten war

„Reimmichls Volkskalender“, der 1920 zum ersten Mal erschien

und praktisch unverändert durch Faschismus und Nationalsozialismus

kam. Der „Reimmichl“-Kalender war – wie zum Teil auch

die anderen Kalender – geprägt von der Idealisierung der bäuerlichen

Welt, von einem stark konservativen, demokratieskeptischen

und mitunter auch antisemitischen Weltbild. So kam der „Reimmichl“

durch die Diktaturen, ohne sich jemals von der einen oder

anderen allzu sehr vereinnahmen zu lassen.

Gewissermaßen umgekehrt lassen sich Werk und Leben des

bedeutendsten Repräsentanten der Südtiroler Literatur deuten:

Franz Tumler, in Laas geboren, aber nach dem Tod des Vaters schon

früh mit der Mutter nach Österreich gekommen, griff in seinen frühen

Erzählungen und Romanen die Themen aus der ladinischen

Bergwelt und aus der Südtiroler Geschichte auf. Mit den Buchtiteln

„Das Tal von Lausa und Duron“ und „Der Ausführende“ hatte

er in Österreich und Deutschland großen Erfolg und genoss auch

die Anerkennung durch die Nationalsozialisten, obwohl weder

seine feinsinnige Sprache, noch seine Inhalte in nationalsozialistische

Propaganda oder Hetzliteratur einzureihen sind, sondern

mit den Schwächeren fühlen. Sehr wohl aber pflegte Tumler ein

nahes Verhältnis zum NS-Regime, was ihm zweifellos Vorteile und

nach dessen Bekanntwerden späte Infragestellung seiner literarischen

Vorbildrolle eintrug. Wie es jemandem gehen konnte, dem

Südtirol am Herzen lag, ohne sich vom Nationalsozialismus korrumpieren

zu lassen, zeigt der Karriereknick von Eduard Reut-

Nicolussi. Antifaschismus war für Reut-Nicolussi, anders als für

viele Südtiroler, nicht vereinbar mit Nationalsozialismus. Nach

dem „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland wurde dem

Professor für Rechtsphilosophie und Völkerrecht an der Universität

Innsbruck wegen seiner Distanz zum Regime die Lehrbefugnis

eingeschränkt.

72


Heim ins Reich des Nichts

Das Umsiedlungsabkommen zwischen Hitler

und Mussolini – Südtirol vor der Selbstauflösung

Für die Faszination, die Faschismus und Nationalsozialismus auf

die Menschen ausübten, greifen einzelne Erklärungen zu kurz:

Kriegsniederlage, Depression, wirtschaftliche Perspektivenlosigkeit,

politische Umbrüche, autoritäre Grunderfahrungen über Ge n-

erationen hinweg und modern auftretende Ersatzangebote für die

zusammengebrochenen Bezugsgrößen spielen zusammen. Eine

Bedeutung fällt im tief katholisch geprägten Tirol wohl auch der

Erschütterung des Glaubens durch die Weltkriegserfahrung und

durch den technokratischen Zeitgeist zu. Hans Heiss berichtet von

Kriegsheimkehrern, die am Sonntag zwar noch zur Kirche gingen,

„aber ohne innere Anteilnahme“, der Glaube bot nicht mehr den gewohnten

Halt. Mit dem Ende von Kaiser und Vaterland, für die man

in den Krieg gezogen war, erlitt auch die erste und höchste Instanz

in der „Tiroler Dreifaltigkeit“ von Gott, Kaiser und Vaterland einen

schweren Vertrauensverlust. Dazu trug auch bei, dass so mancher

Priester dem Krieg als patriotisch-religiöse Pflicht gehuldigt hatte.

Erst gegen Kriegsende besann sich die Kirche – beispielhaft in den

Aufrufen von Papst Benedikt XV. an die Kriegsmächte – auf ihre

friedensmahnende Aufgabe.

In dem von Österreich abgetrennten Teil Tirols musste sich die

Kirche mit Ende des Ersten Weltkrieges völlig neu orientieren: Der

Brixner Fürstbischof Franz Egger verstarb 1918, eine unmittelbare

Nachfolge war nicht möglich, lag doch der Großteil der alten Diözese

nahezu unerreichbar jenseits des Brenners. Für den österreichischen

Teil der Diözese gab es erst 1925 eine Klärung dieser

Sondersituation durch die Erhebung zur Apostolischen Administratur,

die natürlich nicht von Brixen abhängig sein konnte und deshalb

direkt dem Vatikan unterstellt wurde. Erster Administrator

wurde der aus Brixen stammende Sigismund Waitz, der ein enger

Berater von Kaiser Karl gewesen war und als heftiger Gegner des

Anschlusses Südtirols an Italien galt. 1934 stieg Waitz zum Erz-

73


Die Option wurde zu einem der tiefsten Einschnitte in der Südtiroler

Geschichte: im Bild Auswandererfamilien in Brixen 1940 beim Warten auf

die Abreise; die Männer mit Armbandschleife sind AdO-Beamte.

bischof von Salzburg auf. Für den Südtiroler Teil der Diözese Brixen

wurde 1921 Johannes Raffl zum Bischof ernannt, er erkrankte aber

bald und verstarb schon 1927. Dies betraf aber nur einen kleinen

Teil des Landes, denn die Diözese Brixen reichte von Norden her

nur bis knapp unterhalb von Klausen, dazu kam noch ein kleiner,

geographisch völlig abgetrennter Teil im Westen des Landes. Der

Großteil Südtirols gehörte zur Diözese Trient.

Ein erster Versuch, eine einheitliche Diözese für das Gebiet von

Südtirol zu schaffen, scheiterte am Veto der römischen Regierung,

so dass sich ein Teil der Südtiroler Bevölkerung zusätzlich von der

Kirche entfremdet fühlen mochte. Der Trientner Bischof Celestino

Endrici war unter den Habsburgern noch als Förderer des Irredentismus

nach Heiligkreuz in Niederösterreich verbannt worden.

Obwohl er sich in Rom besorgt über die minderheitenfeindliche

Politik der Regierung äußerte, wurde er in Südtirol als Vertreter

italienischer Interessen wahrgenommen, vor allem als er sich der

Abtretung des Gebietes südlich von Bozen an die Diözese Brixen

widersetzte. Endrici, heftig angefeindet von der deutschsprachigen

Bevölkerung, fand 1929 einen Ausweg aus seiner Befangenheit,

74


indem er mit Joseph Kögl einen Vizegeneralvikar für die Südtiroler

Gebiete der Trientner Diözese einsetzte.

Die institutionelle Schwächung der Kirche schuf zugleich

Freiraum für einige profilierte Priester, die sich des gekränkten

Süd tiroler Volkstums leidenschaftlich annahmen, so vor allem

Kanonikus Michael Gamper, der durch seine Zeitung über alle

Diözesangrenzen hinaus wirkte. In der Brixner Diözese hatte der

aus Sand in Taufers stammende und beim Volk beliebte Generalvikar

Josef Mutschlechner eine starke Position, nach dem Tod

Raffls führte er als Administrator drei Jahre lang die Amtsgeschäfte.

Grund war ein Machtkampf zwischen Vatikan und Regierung: Die

Regierung drängte auf einen italienischen Bischof, die profiliertesten

Südtiroler Kandidaten Johannes Geisler und der Ladiner Felix

Roilo lehnte sie strikt ab, worauf der Vatikan die Nachbesetzung

für Raffl schlicht nicht vornahm. Erst als die Regierung – in Folge

des Konkordats zwischen Mussolini und dem Vatikan von 1929 –

im Jahr 1930 die Ernennung von Geisler akzeptierte, bekam die

Diözese Brixen einen neuen Fürstbischof. Damit gerät der sehr

populäre Kirchenmann Mutschlechner wieder ins Abseits, wohl

auch deshalb, weil er durch souveräne und selbstbewusste Amtsführung

auch den italienischen Machthabern Grenzen gesetzt hatte.

So verhinderte er 1926 die Auflösung des Vinzentinum und ließ im

Diözesanblatt die verbotenen deutschen Ortsnamen verwenden.

Gegen den Druck des Faschismus war die Kirche trotz ihrer

Machteinbuße eines der wenigen Schutzschilder. Den eigenen

Einflussverlust in der Bevölkerung spürend, verstärkte die Kirche

ihre Verbandsarbeit durch die Gründung der „Katholischen

Aktion“, einer Art Dachverband für kirchliche Vereinigungen,

Laien bewegung und Kirchenblätter. Durch die Wiederzulassung

der Zeitungsgruppe von Kanonikus Gamper wurde 1927 mit dem

„Katholischen Sonntagsblatt“ eine Kirchenzeitung geschaffen. Die

größte Herausforderung für die Katholische Aktion war das Werben

um die vom technokratischen Zeitgeist faszinierte Jugend,

für die der Faschismus und in Südtirol besonders der Nationalsozialismus

auch das Versprechen größerer Freiheiten bereithielten.

So war die kirchliche Jugendarbeit ein Gegenprogramm auch

gegen die nationalistische Versuchung der Zeit, vorangetrieben

75


von weltoffenen und weitsichtigen Geistlichen. Zu nennen sind

Alfons Ludwig als erster Vorsitzender der Katholischen Aktion,

der spätere Schulamtsleiter Josef Ferrari als Jugendseelsorger,

aber auch Laien wie Diözesanjugendführer Josef Mayr-Nusser,

der später dem NS-Terror zum Opfer fiel. Führend dabei waren

auch schon Pepi Posch und Toni Kaser, die nach dem Krieg eine

wichtige Rolle beim Neuaufbau des zerstörten sozialen und politischen

Lebens spielten.

Im Doppeldruck zwischen faschistischer Verfolgung und nationalsozialistischer

Versuchung war der Stand der Kirche aber letztlich

zu schwach. An der Kirche vorbei, zum Teil auch aus ihrer

Jugendarbeit hervorgehend entwickelten sich die NS-orientierten

Jugendgruppen viel kräftiger. Dass die Amtskirche in Fragen von

Lebensstil, Moral und auch Sexualität als einengend und stickig

empfunden wurde, mochte dazu beigetragen haben. Über die illegalen

Gruppen hieß es, sie wären sexuell zu freizügig, wobei damit

auch nur ein freierer Umgang mit dem Körper gemeint war, wenn

sie verleumdet wurden, bei ihren Treffen auf den Almen „nackig

herumzugehen“, wie es etwa einer Gruppe in Göflan widerfuhr:

Die Burschen waren mit nacktem Oberkörper in der Sonne gelegen.

Eine wichtige Rolle spielte aber zweifellos auch der Umstand,

dass die Kirche zwar hinter den Kulissen viel Schaden von Südtirol

abwendete, aber scharfe nationalistische Töne vermied. Die

„illegale“ Bewegung, die sich im Völkischen Kampfring Südtirols

zusammenfand, konnte mit ihrem offensiven Patriotismus und

ihrer zunehmend nationalsozialistisch durchsetzten Propaganda

viel stärker bei der Jugend punkten. Am sichtbarsten zum Ausdruck

kommt dies in der Entscheidung des späteren VKS- Führers

Peter Hofer, von der Katholischen Aktion zur nationalsozialistischen

Bewegung überzuwechseln.

Folgenreich wirkte sich die Schwächung der Kirche bei der

Entscheidung zur Option von 1939 aus. Für die Achse Rom-Berlin

war Südtirol ein ständiger Unsicherheitsmoment, vor allem Italien

wurde gegenüber Deutschland zunehmend misstrauischer – schon

1934, als in Österreich ein erster nationalsozialistischer Putsch versucht

wurde, umso mehr aber als Hitler 1938 in Österreich einmarschierte

und den „Anschluss“ erzwang. Schon vorher hatte es

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Handschlag vor dem Siegesdenkmal: Herzog Filiberto di Pistoia

empfängt 1932 zur 10-Jahresfeier der faschistischen Machtergreifung

auch nationalsozialistische Parteifunktionäre (in Hitler-Uniform).

sowohl auf deutscher als auch auf italienischer Seite Überlegungen

gegeben, wie man das „Problem Südtirol“ für beide Reiche zufriedenstellend

aus der Welt schaffen könnte. Auch Umsiedlungspläne

gab es schon früh, zum Teil wohl angeregt durch ähnliche ethnische

Säuberungsaktionen zwischen Griechenland und der Türkei

1920. Nach dem „Anschluss“ Österreichs schrieb der italienische

Außenminister Galeazzo Graf Ciano in sein Tagebuch, dass man

wohl „den Deutschen über die Opportunität der Rücksiedlung ihrer

Leute einen Wink“ geben müsse: „Da Südtirol geographisch gesehen

italienisches Gebiet ist, die Berge nicht versetzt und der Lauf

der Flüsse nicht geändert werden können, ist es eben notwendig,

dass die Menschen verpflanzt werden.“ Der zynische Plan war für

beide Regime verlockend: Hitler brauchte für Kriegspläne und

Kriegsindustrie Soldaten und Arbeitskräfte, die italienische Regierung

verband mit der Umsiedlung die Vorstellung, die Italianisierung

nicht mehr langwierig, sondern durch einen totalen Bevölkerungsaustausch

umzusetzen.

Am 23. Juni 1939 war das Abkommen handschlagreif: Hitler

hatte „Reichsführer SS“ Heinrich Himmler mit den Verhandlun-

77


gen zur Umsiedlung der Südtiroler Bevölkerung beauftragt, das

entscheidende Treffen mit der italienischen Delegation fand in

Berlin am Sitz der Gestapo statt. Das Abkommen, das in seinen

technischen Details noch auszuhandeln war und daher auch nicht

unterschrieben wurde, sah drei Stufen für die Umsiedlung vor:

Zuerst sollten die in Südtirol lebenden Reichsdeutschen gehen,

dann die „nicht bodengebundenen“ Volksdeutschen, schließlich

die „bodengebundenen“ Volksdeutschen, also jene, die Immobilienbesitz

hatten. Die ersten Reaktionen in Südtirol waren empörte

Ablehnung. Auch der VKS und sein Anführer Peter Hofer stellten

sich zunächst gegen das Umsiedlungsabkommen, wurden aber

innerhalb weniger Wochen „umgedreht“. Ausschlaggebend war

wohl das völlig illusorische Versprechen Himmlers, die Südtiroler

in einem geschlossenen Gebiet anzusiedeln, in dem sie sich – ohne

faschistische Repression, „daheim“ im deutschen Reich – eine neue,

letztlich gleich schöne Heimat aufbauen könnten. Damit den Auswanderern

in der neuen Heimat auch wirklich alles ersetzt würde,

wurde eine aufwendige und akribische Bürokratie zur Dokumentation

der verlassenen Häuser und Höfe in Gang gesetzt, eine eigene

Wertfestsetzungskommission führte präzise Buch über Bauernstuben,

Kachelöfen (für diese war der spätere Landeshauptmann

Silvius Magnago zuständig) und sonstige mobile und immobile

Besitzstände. Die eigens eingerichtete Amtliche Deutsche Ein- und

Rückwanderungsstelle ADERST eröffnete in allen Städten und

Talschaften Zweigstellen, Himmler übernahm selbst die Oberaufsicht

über die Durchführung der Umsiedlung. Als Ansiedlungsgebiet

für Südtirol wurde an eroberte Ostgebiete gedacht, die dazu

freilich erst von ihrer angestammten Bevölkerung „bereinigt“ werden

mussten. Der Historiker Stefan Lechner verweist auf den naheliegenden

Zusammenhang „zwischen den Umsiedlungen der ‚Volksdeutschen‘

und der Entscheidung zum Holocaust“.

Der VKS, der noch am 27. Juni mit dem Deutschen Verband

beschlossen hatte, „unter allen Umständen“ die Auswanderung

zu verhindern, begann – von Himmler überzeugt – schon am Tag

danach mit der Auswanderungspropaganda: „Angesichts der

Not seines von Feinden umringten Volkes hat sich der Führer entschlossen,

das Wohl Südtirols dem Wohle Deutschlands zu opfern.“

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Die Schlussfolgerung aus dieser bitteren Erkenntnis war der Aufruf,

möglichst geschlossen zu gehen. Obwohl der Deutsche Verband

bei seiner Opposition gegen die Auswanderung blieb, schlug

die Stimmung auf eine nicht mehr steuerbare Weise zugunsten der

Auswanderung um. Ein Grund dafür war die sogenannte „sizilianische

Legende“, das Gerücht, dass jene, die nicht nach Deutschland

auswandern, in südliche Provinzen umgesiedelt würden. Die Herkunft

dieses Gerüchtes lässt sich kaum noch mit Sicherheit feststellen,

es kam auf jeden Fall dem VKS zugute, der es in Umlauf

brachte, es wurde aber anfangs offenbar auch von faschistischen

Funktionären verstärkt. Als der Geistliche Rudolf Posch im Auftrag

von Kanonikus Michael Gamper im Juli 1938 beim Präfekten Giuseppe

Mastromattei vorsprach, zerstreute dieser zwar das Gerücht,

verweigerte vorerst aber eine öffentliche Erklärung.

Zu diesem Zeitpunkt glaubte die italienische Regierung wohl

noch, den Druck auf die deutsche Bevölkerung möglichst hoch

halten zu müssen, damit die Auswanderung in Gang kommt. Allerdings

zielte die italienische Strategie nach der ersten Euphorie

nicht mehr auf eine Totalumsiedlung ab. Zum einen erkannte man

die Schwierigkeit, die Land- und Berggebiete ausreichend schnell

und effizient neu zu besiedeln, zum anderen wurde das Ausmaß

der im Abkommen festgelegten Entschädigung für den frei werdenden

Südtiroler Besitz erst nachträglich bewusst. Die Summe

wurde auf 15 bis 20 Milliarden Lire geschätzt, das wären inflationsbereinigt

um die 15 Milliarden Euro. Hauptziel der „Option“ war

aus faschistischer Sicht die Abwanderung der irredentistischen

Elemente und möglichst auch der Stadtbevölkerung. Als Mastromattei

im November 1938 angesichts der massiven Auswanderungspropaganda

die Bewegung der „Dableiber“ stärken wollte

und die Sizilien-Legende offiziell dementierte, war es bereits zu

spät. Das Dementi bewirkte eher noch das Gegenteil, war Mastromattei

doch 1933 von Mussolini eingesetzt worden, um die nicht

ausreichend erfolgreiche Italienisierungspolitik zu forcieren. Sein

Vorgänger Giovanni Battista Marziali war abgesetzt worden, weil

er zu wenig hart durchgegriffen hatte, mit Mastromattei hatte die

forcierte Zuwanderungspolitik begonnen. Selbst wenn die Sizilien-

Legende nur ein Mittel der deutschen Propaganda gewesen sein

79


sollte, war es für die Südtirolerinnen und Südtiroler offenkundig,

dass sie bei einem Verbleib in Italien kulturell schutzlos sein

würden. Ein verzweifelter Versuch des Deutschen Verbandes, von

Mussolini persönlich die Zusicherung zu erhalten, dass die Dableiber

in Südtirol bleiben können, blieb erfolglos, in Abstimmung

mit den deutschen Behörden verweigerte Mussolini die Audienz.

Die Propaganda für die Auswanderung war beispiellos, in den

Dörfern begann eine Hetze gegen alle, die nicht gehen wollten. Der

Riss zwischen „Optanten“ und „Dableibern“ ging mitten durch die

Dörfer, häufig auch mitten durch Familien. Es war schon sehr bald

eine einseitige Auseinandersetzung, die Dableiber gerieten in die

Minderheit, der Gruppendruck zur Auswanderung war enorm. Die

Mittel der Propaganda waren ungleich verteilt. Wohl hatten die

Dableiber auf ihrer Seite Kanonikus Michael Gamper und dessen

Zeitung, aber es war dies beinahe die letzte Bastion: Der Deutsche

Verband hatte jegliches Gewicht eingebüßt und wie die Kirchenspitze

den Kontakt zum Volk weitgehend verloren. Dagegen gründete

der VKS mit deutscher Unterstützung die Arbeitsgemeinschaft

der Optanten für Deutschland (AdO). Mit einer kapillaren,

militärisch strukturierten Organisation trat die AdO mit Beratung

und Hilfestellung in Rechts- und Besitzfragen auf. Da ihr gewissermaßen

im Schutze Hitlers die Verwaltung der Auswanderungsprozedur

oblag, war die AdO auch dem Zugriff der italienischen

Behörden entzogen.

Welche Umdeutung das Heimatgefühl in der Option erfuhr, zeigt

sich in der Geschichte der Lieder, die von Optanten und Da bleibern

aufgeboten wurden. 1926 hatte Karl Felderer das Bozner Bergsteigerlied

geschrieben, bekannt geworden mit dem Eingangssatz

„Wohl ist die Welt so groß und weit ...“, in dem die Heimat Süd tirol

mit ihren Schönheiten besungen wird. In der Auseinandersetzung

zwischen Dableibern und Auswanderern schrieb Felderer nun aber

auch das Auswandererlied „Die brennende Lieb“ mit dem Schlüsselsatz

„Die Treue zu Deutschland war stärker“. Von Hans Egarter,

dem späteren Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime, stammt

mit demselben Motiv der Geranie als „brennende Lieb“ und derselben

Metrik eine eigene Fassung. Im Dableiber- Gedicht lautet

der Schlüsselsatz: „Die Treue zur Heimat war stärker.“

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Für und gegen die Option: Propagandakarte mit Verratsvorwurf an Hitler-

Deutschland, Optionsgegner Kanonikus Michael Gamper (oben rechts) und

Friedl Volgger (links unten neben Mutter und Bruder), AdO-Anführer und

künftiger „Volksgruppenführer“ Peter Hofer bei einem Besuch im Sarntal.

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Ein starkes Argument des VKS war, dass ein möglichst hoher

Prozentsatz für die Auswanderung von Hitler als Treuebekenntnis

verstanden würde. Es gehe also darum, Hitler durch eine möglichst

geschlossene Entscheidung fürs Deutsche Reich umzustimmen,

dann werde sich seine Haltung zugunsten eines Verbleibs aller

Südtiroler ändern: „Wenn alle gehen“, lautete die Formel, „geht niemand.“

So wurden die Dableiber zu Verrätern. Wer für das Dableiben

das Wort ergriff, war örtlichen Schikanen ausgesetzt, wurde

beschimpft und verprügelt, ja selbst Kinder von Dableibern wurden

„porchi italiani“ genannt und waren auf dem Schulweg nicht

mehr sicher. Dableibern wurden, wie Friedl Volgger als einer der

führenden Dableiber in seinen Memoiren schreibt, nachts die Fensterscheiben

eingeschlagen, der Hund erschossen, die Haustür mit

Kot beschmiert, das landwirtschaftliche Gerät beschädigt: „Wenn

ein Kirchenstuhl fast voll war und ein Dableiber sich noch hineingesellte,

verließen alle anderen die Bank.“

Die Kirche war überrumpelt und verhielt sich zwiespältig. Von

den einfachen Geistlichen waren die meisten für das Dableiben,

aber ihr Mahnen gegen die Abwanderung versagte gegenüber der

Wirkung der sizilianischen Legende und vor allem gegenüber der

starken nationalsozialistischen Bewegung, die an der Kirche vorbei

im Land gewachsen war. Die Diözese Trient erhob zwar die

Stimme gegen die nationalsozialistische Gefahr, gestützt auf die

Enzyklika von Papst Pius XI. von 1937 unter dem Titel „Mit brennender

Sorge“. Doch von dieser Seite waren die Südtiroler wohl

kaum noch zu überzeugen, wohl auch deshalb weil von Seiten der

„deutschen“ Diözesanspitze in Brixen die Verurteilung des Nationalsozialismus

praktisch unterblieb. Bischof Johannes Geisler und sein

Generalvikar Alois Pompanin aus Ampezzo hatten in der Ära Mastromattei

zäh die Übergriffe des Faschismus auf deutsche Priester

und auf die letzte Nische des Deutschunterrichtes in Südtirol

abgewehrt, nämlich auf die katholischen Institute. Im Nationalsozialismus

sahen sie, bei allem Argwohn gegen dessen Ideologie,

eine Chance auf kulturellen und sprachlichen Schutz. Geisler und

Pompanin dürften schon im Oktober 1939 entschieden haben, selbst

ebenfalls auszuwandern. Auch wenn sie dies nicht kundtaten, entzog

ihr Schweigen den Pfarrern in den Dörfern jede Unterstüt-

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Bischof Geisler auf dem Weg zur Unterschrift für die Auswanderung:

Die Entscheidung wurde propagandistisch in Szene gesetzt, der Bischof

vom Leiter der Brixner Auswanderungsstelle begrüßt.

zung und gewährte der Propaganda für die Auswanderung freien

Raum. Als Bischof Geisler im Oktober 1940 mit dem berühmten

Satz „Der Hirte geht mit seiner Herde“ für Deutschland optierte,

beugte er sich scheinbar einer unvermeidlichen Entwicklung, zu

deren Ab wehr er nichts beigetragen hatte. Mit Geisler optierte

auch Generalvikar Pompanin.

Das Ergebnis der Option war eindeutig, zwischen 85 und 90 Prozent

der Südtiroler unterschrieben für die Auswanderung, wobei

die Entscheidung den Familienvätern zukam, lediglich erwachsene

Söhne und Töchter konnten selbst entscheiden. Die ersten

bekannt gewordenen Ergebnisse waren manipuliert, von italienischer

Seite war von 70 Prozent für die Auswanderung die Rede,

der VKS gab zunächst 90,7 Prozent an – wohl nicht zufällig das

exakte Ergebnis der Saar-Abstimmung. In manchen Dörfern war

der Prozentsatz noch höher, erreichte sogar die hundert Prozent.

So wäre etwa das Dorf Truden im Unterland ein Geisterdorf ge worden,

wenn die Option konsequent umgesetzt worden wäre. In den

ladinischen Gebieten waren die Mehrheiten weniger eindeutig.

In Gröden, das sich stärker am Deutschtum Südtirol orientierte,

83


Spatenstich für die Südtiroler-Siedlung in Lienz: Häufig standen die

Ausgewanderten aber auch vor verschlossenen Türen oder übernahmen

Höfe, die ihren Besitzern mit Gewalt weggenommen worden waren.

entschieden sich rund 80 Prozent für die Auswanderung, im Gadertal

nur rund 30 Prozent. 1939 wanderten bereits um die 12.000 Menschen

aus, gemäß dem Drei-Stufen-Plan vor allem jene, die bereits

österreichische oder deutsche Staatsbürger waren. Rund 2000 Soldaten,

die durch die Option den italienischen Wehrdienst beenden

durften, wechselten ebenfalls mit der ersten Welle die Staatsbürgerschaft,

sie wurden nahezu unmittelbar für die Wehrmacht

rekrutiert. Bis 1940 wanderten rund 60.000 Menschen aus, allen

voran einfache Arbeiter und Besitzlose. Sehr viele machten enttäuschende

Erfahrungen, mussten in Auffanglagern in Nord- und

Osttirol auch viel Kränkung über sich ergehen lassen. Andere wurden

in österreichischen und deutschen Gebieten verstreut angesiedelt,

manche kamen tatsächlich in die Ostgebiete auf Höfe, deren

rechtmäßige Besitzer vertrieben wurden. Viele Familien erlitten

nie mehr heilende Brüche.

Dass nicht alle rund 200.000 Optanten für Deutschland das

Land verließen, ist auf ein Zusammenspiel von glücklichen und

weniger glücklichen Umständen zurückzuführen. Druck übten

die faschistischen Behörden vor allem auf jene Optanten aus, die

84


man wegen ihres bekennenden Deutschtums loswerden wollte.

Die AdO dagegen versuchte zunehmend, die Auswanderung bürokratisch

zu verschleppen, zunächst aus ganz praktischen Gründen,

weil sich die Umsiedlung nicht so einfach durchführen ließ. Das

geschlossene Siedlungsgebiet stand schlicht nicht zur Verfügung.

Als zu Beginn des Jahres 1940 die Grödner Optanten geschlossen

nach Osttirol auswandern wollten, stellte sich die AdO dagegen.

Noch im Juli 1940 besichtigten Peter Hofer und Karl Tinzl ein vermeintliches

Siedlungsgebiet in Burgund, wo die Orte Besançon in

Bozen, Charlos in Meran, Dole in Brixen, Pontarlier in Bruneck

umbenannt werden sollten. Je nach Kriegsverlauf war auch von

der Halbinsel Krim oder von Südpolen die Rede. Die Schätzung

des Optantenbesitzes war weit aufwändiger als gedacht. Dazu kam

allmählich auch ein heimlicher politischer Boykott der Auswanderung,

geduldet und unterstützt vom Gauleiter für Tirol-Vorarlberg

Franz Hofer. Auch die deutsche Reichsvertretung in Mailand

nahm eine bremsende Haltung gegenüber der Auswanderung ein.

Der Kriegseintritt Italiens im Juni 1940 veränderte die geopolitische

Lage und verlagerte die politischen Interessen, der Sturz

Mussolinis 1943 und die Besetzung Oberitaliens durch die deutschen

Truppen setzten der Option ein Ende. Ein glückliches Ende

war es nicht, zumindest noch nicht.

85


„Befreiung“ als Trauma

Die Operationszone Alpenvorland –

Schreckensherrschaft der Nazis und Bombenkrieg

Die Zerreißprobe zwischen Gehen und Bleiben, der viele Menschen,

Familien, ganze Dörfer durch die Option ausgesetzt waren, fällt

nahezu mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zusammen. Mit

dem Angriff Deutschlands auf Polen am 1. September 1939 machte

Hitler seine Kriegspläne wahr, auf die er seine ganze Politik – von

der Rassenideologie und Expansionspropaganda über die Außenpolitik

zur kriegsorientierten Wirtschafts-, Bau- und Investitionsstrategie

– ausgerichtet hatte. Der schnelle Einmarsch in Polen, als

Blitzkrieg gerühmt, nährte die Illusion der deutschen Überlegenheit

und den damit verbundenen Anspruch auf die Vorherrschaft

in Europa und möglichst in der Welt. Nur drei Jahrzehnte nach

der Katastrophe des Ersten Weltkrieges erfasste wieder Kriegsbegeisterung

weite Teile der Bevölkerung, vor allem in Deutschland

und Österreich, aber auch in Südtirol. Die Aussicht, durch

die Option in ein kriegführendes Land zu übersiedeln, schreckte

nicht ab, sondern förderte vermutlich den Auswanderungstaumel.

Es war, als würden die Schrecken einander aufheben: Bis zur

Option standen die Südtiroler Jungmänner im Dilemma, beim

italienischen Heer einrücken zu müssen, mit der Möglichkeit des

Kriegseinsatzes in den Afrika-Feldzügen, aber auch im Spanischen

Bürgerkrieg von 1936 bis 1939, wenngleich dies nur wenige tatsächlich

betraf. Im italienischen Kontingent von 70.000 Soldaten, mit

denen Mussolini – ebenso wie Deutschland – dem Verbündeten

General Franco beistand, stellte Südtirol nur rund 50 Mann. Dass

Deutschland und Italien Schulter an Schulter an denselben Fronten

kämpften, konnte nationale Fremdheitsgefühle nicht beseitigen.

Für Deutschland optieren bedeutete nun für die Südtiroler

Rekruten die Entlassung aus dem italienischen Heer und die Überstellung

zur Wehrmacht – ein Uniformwechsel, der vielfach mit

Jubel und Begeisterung angestrebt wurde. Daheim zu bleiben,

„unabkömmlich“ gemeldet zu sein, wurde weniger als Schutz vor

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Jubel nach dem deutschen Einmarsch: im Bild Volksgruppenführer Peter

Hofer mit Ritterkreuzträger Helmut Valtiner bei einer Fahrt durch Bruneck.

Spalierstehen für Hitler: Trotz des Optionsabkommens und seinem

Bündnis mit Mussolini blieb der „Führer“ Hoffnungsträger für Südtirol.

Im Bild mit Gauleiter Franz Hofer anlässlich des Treffens mit Mussolini

am 4. Oktober 1940 am Brenner.

87


dem Kriegsdienst empfunden, sondern als Schande. Sich freiwillig

für den Krieg zu melden, war dagegen mit Vorstellungen von

Männlichkeit, Tapferkeit, Ehre verbunden. Binnen kürzester Zeit

meldeten sich rund 4000 junge Südtiroler freiwillig zur Wehrmacht,

rund 1000 zur SS und zur deutschen Polizei.

Ein weiterer Umstand milderte das Trauma der bevorstehenden

Auswanderungswelle ab: Im Zuge der Option geriet Südtirol –

vorübergehend – in ein nationales Zwischenstadium, für die Optanten

griff vorab die deutsche Staatsbürgerschaft. Ein erster Schritt

war die Einrichtung von Deutschkursen für die Optanten-Kinder,

so dass mit der Entscheidung zur Auswanderung der Italianisierungsdruck

durch die Schule für die allermeisten Südtiroler ein

Ende fand. Während den Dableiber-Kindern weiterhin nur die

italienische Schule offenstand, hätten die Optanten-Kinder zwar

diese zusätzlich besuchen können, aber der Großteil beschränkte

sich auf den Besuch der Deutschkurse. Nach der Schließung der

deutschen Schule durch die faschistischen Gesetze und dem Aufbau

einer ausschließlich italienischen Schule bestanden somit in

Südtirol erstmals zwei sprachlich getrennte Unterrichtsstrukturen

nebeneinander – das nach Sprachen getrennte Schulsystem

der späteren Autonomiezeit wurzelt in der Übergangslösung der

Option. Auf ähnlich paradoxe Weise erfuhr das Südtiroler Kulturleben

gewissermaßen kurz vor der geplanten Versprengung einen

künstlich forcierten Auftrieb. Das SS-Ahnenerbe, mit dem „Reichsführer

SS“ Heinrich Himmler das „arische“ Kultur- und Naturerbe

für alle Zeiten bergen wollte und dessen pseudowissenschaftlicher

Ehrgeiz bis zu Experimenten an KZ-Häftlingen getrieben wurde,

erkor Südtirol im Zuge der Option zu seiner wichtigsten Auslandsmission.

Eine eigene „Kulturkommission“ sollte die „Aufnahme des

gesamten dinglichen und geistigen Kulturgutes“ in die Bestände

des SS-Ahnenerbes sichern. Die mit über 50 Mitarbeiterinnen und

Mitarbeitern besetzte Kommission mit 14 Arbeitsgruppen entwickelte

eine ehrgeizige Tätigkeit, die zusätzlich angetrieben war von

der Hoffnung, gerade hier im preisgegebenen Grenzland so etwas

wie das Urdeutsche zu finden. So wurde möglichst alles, was mit

Südtiroler Kultur verbunden wurde, fotografiert, auf Tonband aufgenommen,

gefilmt, dokumentiert, kartographiert, katalogisiert.

88


Einen Großteil der praktischen Arbeit übernahm der „Kulturdienst“

der AdO unter der Leitung von Nobert Mumelter. Allein die Arbeitsgruppe

„Volksmusik“ machte über 3000 Tonbandaufnahmen vom

Südtiroler Liedgut. Die propagandistische Kraft des Mediums Film

kennend und erkundend, leitete SS-Hauptsturmführer Hellmut

Bousset persönlich die Arbeitsgruppe für filmische Dokumentation.

Sagen wurden nach Möglichkeit tontechnisch aufgezeichnet,

zumindest aber schriftlich festgehalten. Im Übereifer, alles

zu retten, was bald verloren sein könnte, wurden Bräuche zum

Teil erfunden wie manche Volkstänze, zum Teil ästhetisiert und vor

allem germanisiert, etwa durch heidnisch inspirierte Fackelläufe

und NS-Kulte anstelle religiöser Elemente. Die versessene Dokumentationsarbeit

auf so vielen kulturellen Feldern bewirkte im

Empfinden jener, die sich auf die Auswanderung vorbereiteten, eine

enorme emotionale Aufwertung all dessen, was unter dem Faschismus

extrem eingeschränkt, wenn nicht ganz verboten worden war.

So geriet alles Kulturschaffen in den Sog der NS-Ideologie, gut

nachzuvollziehen auch dies an der Vita des an sich privilegierten

Luis Trenker. Obwohl von den höchsten NS-Behörden zunächst

gefeiert, leistete sich der aufstrebende Star einige unvorsichtige

Aussagen gegen die Vertreibung der Juden in Deutschland und

über die Schwierigkeit für ihn als Regisseur, jüdische Schauspieler/innen

zu engagieren. Als er mit seiner Optionsentscheidung

zögerte, schrieb Goebbels in sein Tagebuch: „Ich trage dem Führer

den Fall Trenker vor. Dieses Schweinestück hat in Südtirol nicht für

uns optiert. Hinhalten, freundlich sein, aber abservieren.“ Schließlich

optierte Trenker doch noch für Deutschland, in einem persönlichen

Brief an Hitler versicherte er: „Sie, mein Führer ... können

sich verlassen, daß ich zu gegebener Stunde genau weiß, wo ich

hingehöre und wo ich zu stehen habe.“ Liebkind des NS-Regimes

wurde Trenker trotzdem nicht mehr. Als ihm zunehmend Filmprojekte

abgelehnt wurden, zog er von Berlin nach Rom, wo er sich

– vom faschistischen Italien – mehr Förderung versprach. Als im

September 1943 die deutschen Truppen in Italien einmarschierten,

wurde über Trenker ein Aufenthaltsverbot in Südtirol verhängt.

Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kriegsverlauf für Deutschland

und für Italien dramatische Wendungen erfahren. Im Novem-

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Deutsche „Tiger“-Panzer in Brixen, 1943: Das Kampffahrzeug war

erst 1942 in Produktion gegangen und galt als neue deutsche Geheimwaffe

für den Endsieg.

ber 1942 erlebte die deutsche Armee bei Stalingrad ihre bis dahin

schwerste Niederlage. Obwohl sie hoffnungslos eingekreist war,

verbot Hitler die Kapitulation. In der Folge starben 90.000 deutsche

Soldaten, noch einmal so viele gerieten in Gefangenschaft.

Während die NS-Propaganda weiterhin Endsieg-Visionen verbreitete

und Goebbels den „totalen Krieg“ ausrief, waren die deutschen

Truppen an vielen Fronten schon entscheidend geschwächt. Im

Mai 1943 erlitten die deutschen und die italienischen Truppen bei

El Alamein in Ägypten eine schwere Niederlage durch das amerikanisch-britische

Truppenbündnis. Mit der dadurch erleichterten

Landung der Amerikaner in Sizilien endete Mussolinis große

Zeit. Er wurde am 25. Juli vom faschistischen Großrat abgesetzt,

die Regierung wurde Marschall Pietro Badoglio anvertraut. In derselben

Nacht wurden in Hamburg durch amerikanische Bomberangriffe

30.000 Menschen getötet. Während Italien unverzüglich

Verhandlungen mit den Alliierten aufnahm und nach der Landung

der Briten auf Kalabrien am 3. September einen zunächst geheimen

Waffenstillstand abschloss, führte Deutschland den „totalen

Krieg“ unerbittlich weiter.

90


Am 8. September wurde der italienische Waffenstillstand bekannt

gegeben, Italien trat damit unverzüglich an die Seite der

Alliierten in den Krieg ein, König Viktor Emanuel III. ließ Mussolini

verhaften, am frühen Morgen des nächsten Tages rückten

die Alliierten von Süden her vor. Die bereits in Italien stationierten

deutschen Truppen waren darauf vorbereitet, sie entwaffneten die

eben noch verbündeten italienischen Truppen und besetzten binnen

weniger Tage den von den Alliierten noch nicht befreiten Teil

Italiens. Ein Fallschirmjäger-Kommando („Unternehmen Eiche“)

stürmte Mussolinis Gefängnis und brachte ihn in Sicherheit. In Salò

am Gardasee wurde die „Republica Sociale Italiana“ ausgerufen,

der Mussolini mehr als Marionette Hitlers denn als Machthaber

vorstand. Das hinderte ihn nicht, sich an all jenen Parteigängern

zu rächen, die von ihm abgefallen waren. Sofern er ihrer habhaft

werden konnte, ließ er sie hinrichten, einschließlich seines eigenen

Schwiegersohnes Galeazzo Ciano. Hitler seinerseits nahm nach

Möglichkeit Rücksicht auf das Image des gestürzten Diktators.

Wohl waren schon am 8. September die deutschen Truppen auch

in Südtirol einmarschiert, freudig begrüßt von jubelnden Menschen

am Straßenrand und Blumen streuenden Kindern. So sehr

die allermeisten aber glaubten, dass Hitler nun Südtirol dem Reich

anschließen würde, so sehr wurden sie erneut enttäuscht. Südtirol

wurde zusammen mit den Provinzen Trient und Belluno zur

„Operationszone Alpenvorland“ zusammengeschlossen, die zwar

dem Gauleiter von Tirol und Vorarlberg Franz Hofer als oberstem

Kommissar unterstellt und von deutschen Behörden verwaltet

wurde, aber italienisches Hoheitsgebiet blieb. Hofers Forderung

nach einem Anschluss Südtirols an das Reich wurde abgelehnt.

Die italienische Bevölkerung reagierte ähnlich gelähmt auf den

Machtwechsel wie das italienische Heer. In Trient hatte es Versuche

gegeben, die Kasernen vor den Deutschen zu verteidigen,

dabei kamen 48 Soldaten ums Leben. In Bozen gab es keine ähnlichen

Widerstandsversuche. Die Errichtung der „Operationszone“

hatte das Ziel, die Lage möglichst zu beruhigen und die Anhänger

Mussolinis nicht zu arg vor den Kopf zu stoßen. Eine ähnliche

Operationszone gab es für die an den Osten grenzenden Provinzen

Udine, Görz, Triest, Pola, Fiume, Quarnaro und Ljubljana, die unter

91


Gauleiter Franz Hofer wurde Oberster Kommissar der „Operationszone

Alpenvorland“. Das Bild zeigt ihn bei einem Auftritt 1944 in Gossensaß.

Kaderschmiede auch für junge Südtiroler: die „Volksdeutschen“ sollten

in Rouffach (Bild) und in Achern zu richtigen Deutschen erzogen werden.

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Führung des Kärntner Gauleiters zur „Operationszone Adriatisches

Küstenland“ zusammengefasst wurden.

Trotzdem fühlten sich viele Südtiroler, die unter dem Faschismus

gelitten hatten, erleichtert und befreit. Die Provinz Bozen

bekam mit dem „Volksgruppenführer“ Peter Hofer einen eigenen

Präfekten, der nur dem „obersten Kommissar“ unterstand. Hofer

war zuvor schon Leiter der AdO gewesen, die nun – da die Option

ausgesetzt war – in „Deutsche Volksgruppe“ umbenannt wurde.

Seine Amtszeit währte nur kurz, schon Anfang Dezember 1943

kam er bei einem Bombenangriff ums Leben. Neuer Präfekt wurde

Karl Tinzl.

Im Gebiet der Provinz Bozen wurde die Zweisprachigkeit eingeführt,

die italienischen Beamten behielten zwar großteils ihre

Stellen, die Schalthebel gingen aber an deutsche Vorgesetzte über.

Straßen und Plätze bekamen zur italienischen Übersetzung ihren

ursprünglichen Namen wieder dazu. Die italienischen Podestà

wurden durch deutsche Kommissare ersetzt. Das zuvor an das

Trentino angeschlossene Unterland kam zu Südtirol, ebenso die

ladinischen Gebiete im Belluno (Ampezzo und Buchenstein),

während Fassa beim Trentino blieb. Die italienische Schule blieb

bestehen, zusätzlich wurden die deutschen Sprachkurse schon ab

Oktober 1943 zu einer deutschen Schule ausgebaut. Für Gröden

und Enneberg wurde eine deutsch-ladinische Schule geschaffen.

Durch ein allgemeines Parteienverbot wurde der Faschistischen

Partei der Boden entzogen, zugleich innerhalb der Operationszone

auch auf die Gründung der NSDAP verzichtet. Die Sicherung der

Ordnung wurde einer eigenen Behörde anvertraut, dem „Südtiroler

Ordnungsdienst“ (SOD).

Revancheakte gegenüber der italienischen Bevölkerung und

Beamtenschaft blieben nahezu aus, sie standen unter dem Schutz

des NS-Regimes. Eine der wenigen Ausnahmen waren Prügel für

faschistische Exponenten in Gröden und ein Anschlag auf das

Sieges denkmal, wobei bezeichnenderweise vor allem die Büsten

von Cesare Battisti, Fabio Filzi und Damiano Chiesa beschädigt

wurden. In der Folge musste der SOD das Siegesdenkmal be wachen,

um eine weitere Brüskierung des Mussolini-treuen Italien zu vermeiden.

Keine Rücksichten gab es dagegen gegenüber jenen, die

93


in der Auseinandersetzung um die Option nicht auf der Seite der

neuen Machthaber gestanden hatten. SOD-Funktionäre führten

sich vor Ort herrisch auf und drangsalierten ehemalige Dableiber.

166 führende Persönlichkeiten der Dableiber-Bewegung wurden

in Konzentrationslager deportiert, die bekanntesten sind Friedl

Volgger und Rudolf Posch, die nach Dachau kamen. Viele weitere

wurden unter Aufsicht gestellt, Jugendseelsorger Josef Ferrari

wurde in „Schutzhaft“ genommen. Kanonikus Michael Gamper

musste sich zunächst zwei Monate in einem Pfarrhaus am Ritten

verstecken, danach entzog er sich der Verhaftung durch Flucht

in den befreiten Teil Italiens. Die Verlagsanstalt Athesia wurde

geschlossen, auch alle kirchlichen Presseorgane verboten. An ihrer

Stelle erschienen nun nationalsozialistisch ausgerichtete Blätter,

so das „Bozner Tagblatt“, die Jugendzeitung „Edelweiß“ und der

Kalender „Alpenheimat“. Die kirchlichen Schulen, die unter dem

Faschismus fortbestanden hatten, wurden ausnahmslos geschlossen,

so das Vinzentinum in Brixen, das Johanneum in Dorf Tirol,

das Franziskanergymnasium und die Marcelline-Schule in Bozen,

das Kapuziner-Gymnasium in Salurn, die Heime der Englischen

Fräulein und der Benediktiner in Meran. Die Schulgebäude wurden

beschlagnahmt. Dem optionsgegnerischen Klerus drohten Nachstellungen.

In den öffentlichen Schulen, Rathäusern, Amtssitzen

wurden die Kruzifixe entfernt, Prozessionen und religiöse Bräuche

eingeschränkt, der Religionsunterricht wurde gestrichen. Die

Gottesdienste wurden bespitzelt, oppositionellen Priestern drohte

die Verhaftung. Dies war das andere Gesicht der „Befreiung“.

Besonders schwer traf es die jüdische Bevölkerung, die vor

allem in Meran angesiedelt war. Begonnen hatte die Judenverfolgung

schon mit dem Inkrafttreten der faschistischen Rassengesetze

vom November 1938. Zu diesem Zeitpunkt waren in Meran

155 jüdische Familien gemeldet, zusätzlich aber dürften zahlreiche

Juden aus Deutschland in das zunächst für sicherer gehaltene

Italien geflüchtet sein. Juden, die nach dem 1. Jänner 1938 die italienische

Staatsbürgerschaft erworben hatten, verloren sie wieder

und mussten Italien binnen 23. März 1939 wieder verlassen. Jüdische

Kinder durften nicht mehr zur Schule gehen, auch bestimmte

Berufe waren Juden nicht mehr zugänglich. Vielen alteingesesse-

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Eidverweigerer und NS-Opfer Josef Mayr Nusser, beim Transport ins KZ

gestorben; die Häftlingskarte von Friedl Volgger nach seiner Deportation ins

KZ Dachau.

nen Juden in Meran und auch in anderen Südtiroler Gemeinden

blieb fast nur die Auswanderung. Schon vor dem deutschen Einmarsch

schlug vielen jüdischen Familien zusätzlich der Hass NSorientierter

Kreise in Südtirol entgegen, so dass etwa die Toblacher

Familie Glauber es vorzog, ihre Radiofabrik Unda an den Comer

See zu verlegen. Neben der Nähe der Schweizer Grenze und der

dadurch leichteren Flucht im Ernstfall hatte dies auch mit Gehässigkeiten

vor Ort zu tun.

Als am 8. September 1943 die Deutschen in Südtirol einmarschierten,

waren die Juden die ersten Opfer. Schon am 12. September

erging an die Kreisleiter der Befehl, die in ihrem Gebiet befindlichen

Juden zu verhaften. In Meran lebten zu diesem Zeitpunkt

nur noch 50 Juden, die Hälfte wurde am 16. September von Südtiroler

SOD-Funktionären und SS-Polizisten verhaftet. Immobilien

und Vermögen wurden enteignet und an „verdiente Volksgenossen“

verteilt. Im Oktober wurde die Judenverfolgung auf ganz Italien

ausgedehnt. Dabei wurden auch viele von jenen aufgespürt und

deportiert, die sich in Meran noch in extremis der Haft entziehen

konnten. Die in Südtirol Verhafteten wurden zunächst in den

95


Keller räumen des GIL-Gebäudes eingesperrt, von dort kamen sie

in das „Arbeitserziehungslager“ Reichenau in Innsbruck. Wer nicht

schon dort starb, hatte nur noch die Endstation der Vernichtungslager

vor sich: Alle verhafteten Südtiroler Juden wurden ermordet.

Im Juli 1944 bekam Bozen, ähnlich dem Lager Reichenau, ein

eigenes Lager. Dazu wurde das faschistische Kriegsgefangenenlager

in Fossoli (Modena) von der nationalsozialistischen Verwaltung

übernommen und nach Bozen verlegt. Viele überlebten die

Grausamkeiten im „Polizeilichen Durchgangslager“ nicht, den

anderen stand die Überführung in die Todeslager bevor. Mindestens

13 große Transporte von Bozen nach Auschwitz, Mauthausen,

Flössenburg, Dachau und Ravensbrück sind belegt. Die Belegschaft

kam zum Teil aus dem Lager in Fossoli, aber auch Südtiroler

gehörten zum Wachpersonal.

Der NS-Terror griff zunehmend auf politische Gegner über. Ab

November 1943 waltete in der Bozner Dantestraße ein Sondergericht

seines Amtes, das erste Todesurteil wurde im März 1944

gegen den Tagelöhner Ettore Stenico aus San Michele im Trentino

verfügt, weil er eine Telefonleitung der Wehrmacht durchtrennt

hatte. Von März 1944 bis Kriegsende wurden zwischen 25 und

30 Südtiroler hingerichtet oder kamen in einem KZ ums Leben.

Psychisch kranke und geistig Behinderte wurden ausgeforscht

und in „Euthanasie“-Anstalten im Reich getötet, aus den zwei

Alt tiroler Heilanstalten Pergine und Hall wurden die Insassen in

Sonder zügen in die auf „Euthanasie“ spezialisierten Krankenhäuser

gebracht. Die Zahl der ermordeten Südtiroler Behinderten wird

auf 350 geschätzt. So kosteten die nicht einmal zwei Jahre NS-

Herrschaft ein Vielfaches mehr an Menschenleben auch in der Südtiroler

Zivilbevölkerung als die über zwei Jahrzehnte währende

faschistische Herrschaft.

Hart durchgegriffen wurde gegen Kriegsdienstverweigerer,

Partisanen und Deserteure. Auch Dableiber, die eigentlich italienische

Staatsbürger waren, wurden willkürlich zur Wehrmacht

oder zu deutschen Polizeieinheiten eingezogen. Wer sich weigerte,

wurde erschossen, so der Gewissensverweigerer Markus Dapunt

aus dem Abteital. Auch bei Einberufung in die SS gab es kein Entkommen,

Deserteure mussten im Falle einer Ergreifung mit dem

96


sicheren Tod rechnen, im Falle einer gelungenen Flucht mit der

Inhaftierung ihrer nächsten Verwandten. So kamen auch viele

Schwestern geflohener Männer in NS-Haft. Der ehemalige Diözesanführer

der katholischen Jugend Josef Mayr-Nusser wurde

für seine religiös begründete Verweigerung des Eides auf die SS

nach Dachau deportiert und starb noch auf dem Weg dorthin. Auch

seine Bereitschaft, den Eid auf die Wehrmacht zu leisten, weil dies

jeder Staat verlangen dürfe, brachte ihm keine Gnade ein.

Der Südtiroler Widerstand gegen das NS-Regime war entsprechend

schwach ausgebildet, er konnte sich fast nur aus der verschwindenden

Minderheit der Dableiber heraus entwickeln und

stand einem mörderischen Regime gegenüber. Erster Obmann des

Andreas-Hofer-Bundes (AHB) war Friedl Volgger, der wegen seines

Einsatzes gegen die Option deportiert worden war; als Widerständler

aufgegriffen zu werden, hätte ihm ein noch schwereres

Schicksal beschert. So überlebte Volgger das Lager wie auch andere

deportierte Dableiber, so der Sarner Franz Thaler, der diesem Stück

Südtiroler Geschichte mit seinen Erinnerungen „Unvergessen“ ein

trauriges Denkmal stiftete. Volggers Nachfolge im Andreas-Hofer-

Bund übernahm Hans Egarter, der wie Friedl Volgger als Journalist

für den Athesia-Verlag gearbeitet hatte und sich im Kreis

von Kanonikus Gamper bewegte. Neben der vorwiegend kirchlich-religiös

motivierten Kerngruppe wurde die Widerstandsbewegung

auch von bürgerlichen Liberalen wie Erich Amonn und

Josef Raffeiner unterstützt. Die wichtigsten Widerstandsoperationen

bestanden darin, Kontakte zu den Alliierten herzustellen,

teilweise über die Schweiz, teilweise über französische und britische

Geheimdienste, teilweise über NS-Funktionäre, die am eigenen

System irre wurden. Kontakte hielt Egarter auch zu Deserteuren,

wie etwa die Passeirer Gruppe um Karl Gufler.

Im Schutz der Industriezone Bozen wuchs auch im Gebiet von

Südtirol eine italienische Widerstandsbewegung heran. Die großen

Fabriken, die noch in der Hand italienischer Unternehmer waren,

versteckten Flüchtlinge, Deserteure, Verfolgte. Sie standen auch

in Verbindung mit dem Comitato di Liberazione Nazionale (CLN)

in den großen italienischen Industriestädten, vor allem Mailand.

Der aktive Widerstand des Bozner CLN beschränkte sich weitge-

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Durchgangslager „Sigmundskron“ bei Bozen – grausame Zwischenstation

zu den Todeslagern.

hend auf kleine Sabotageaktionen, wichtig waren vor allem der

Schutz für Verfolgte und versteckte Hilfeleistungen für Insassen

des Durchgangslagers. Die Bozner CLN-Gruppe wurde von Manlio

Longon geleitet, der in den Magnesiumwerken eine leitende Stelle

innehatte. Zum engsten Kreis gehörten der Priester Daniele Longhi

und die Kommunisten Enrico Pedrotti und Rinaldo Dal Fabbro.

Im Dezember 1944 flog die Führungsgruppe auf, deren Mitglieder

wurden verhaftet, Longon während eines Verhörs ermordet.

Damit brach auch die Häftlingshilfe für die Insassen des Durchgangslagers

ein. Longon hatte auch zu deutschsprachigen Widerstandskreisen

Kontakte gesucht, vor allem zu Erich Amonn. Nach

dem Krieg fehlten durch seine Ausschaltung Ansprechpartner vor

Ort, der wichtigste CLN-Funktionär Bruno De Angelis kam erst

im März 1945 aus Mailand nach Bozen.

Die Bekämpfung der italienischen Partisanenbewegung war

unheilvoll auch mit Südtirol verknüpft. Unmittelbar nach dem

Einmarsch 1943 waren vier Polizeiregimenter gegründet worden

(Bozen, Alpenvorland, Schlanders und Brixen), die nun besonders in

der Partisanenbekämpfung zum Einsatz kamen. So waren auch Südtiroler

Soldaten an Massakern wie etwa in Riva am Garda see betei-

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Den Naziterror überlebt: Die Roveretaner Schwestern Maria und Gemma

Marsilli am Tag der Befreiung aus dem Durchgangslager Bozen, sie tragen

noch den Häftlingsoverall, Maria hält den Essensnapf unterm Arm. Sie retten

das „Verzeichnis der Intendanz“ für die Nachwelt.

Im Bild rechts italienische Zivilisten und Partisanen in Bozen nach ihrer

Befreiung aus der Internierung, 4. Mai 1945.

Italienische Gefangene nach ihrer Befreiung bei einer Sammelstelle der

Partisanenvereinigung Comitato di Liberazione Nazionale in Bozen (12. Mai

1945).

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ligt, als die Gestapo in Blitzaktionen reihenweise junge Burschen

aus den Häusern holte, die des Widerstandes verdächtig waren.

Durch die deutsche Besetzung Südtirols war das Land praktisch

an die Front gerückt. Die Bombardierungen Bozens durch

die amerikanischen Truppen hatten schon am 2. September 1943

eingesetzt, in der Folge kam es zu immer neuen, schweren Luftangriffen.

Ziel war vor allem das Bahnhofsgelände in Bozen und

die gesamte Brennerbahnstrecke, um den Nachschub für die deutschen

Truppen in Italien zu erschweren. Einer der schwersten

Angriffe fand am 2. Dezember 1943 statt, der Bombenhagel verwüstete

anstelle des Bahnhofsgeländes einen dicht besiedelten

Streifen von der Oswaldpromenade bis zur Talferbrücke. 45 Menschen

fielen allein diesem Angriff zum Opfer, darunter Präfekt

Peter Hofer. Fast 200 Menschen wurden verwundet. Viele Familien,

die Bekannte oder Verwandte auf dem Land oder in Bergtälern

hatten, flohen aus der Landeshauptstadt.

Der Rohheit, mit der das NS-Regime nach innen auftrat, stand

das Zerbröckeln an seinen Kriegsfronten gegenüber. Spätestens

ab 1944 zeichnete sich die deutsche Kriegsniederlage ab, die Landung

der Alliierten in der Normandie und Einbrüche an der Ostfront

ließen das Kriegsende greifbar werden. Das 2. Polizeiregiment

Bozen wurde zur Partisanenbekämpfung im Bellunesischen

abkommandiert, es führte 85 Einsätze durch, denen in der Regel

grausame Hinrichtungen folgten. In der Valle del Bios wurden am

20. und 21. August 1944 ganze Dörfer niedergebrannt und 46 Menschen

getötet. Manche Soldaten der Polizeiregimenter nutzten

Möglichkeiten für menschliche Gesten, wenngleich das mörderische

System, dem sie dienten, kaum Spielräume gewährte. So wurden

da und dort die heimgesuchten Gebiete vorab gewarnt, damit

sich die Menschen in Sicherheit bringen konnten. Das Polizeiregiment

Brixen, das erst in den letzten Kriegsmonaten gebildet worden

war und großteils aus älteren Herren bestand, leistete sich

eine kollektive Eidverweigerung auf dem Appellplatz. Sie wurden

nach Schlesien strafversetzt, die meisten kamen dort ums Leben.

Zu einem Stachel im öffentlichen Gedächtnis Italiens und Südtirols

wurde die Tragödie um das 3. Bataillon des Polizeiregimentes

Bozen, das im Februar 1944 in Rom mithelfen sollte, die bedrohte

100


Hauptstadt zu halten. Bei einem Anschlag am 23. März in der Via

Rasella starben 33 Soldaten. SS-Obersturmbannführer Herbert Kappler

verfügte einen Vergeltungsschlag durch die Erschießung von

335 Geiseln, nachdem sich die Attentäter nicht freiwillig gestellt

hatten. Damit überzog er sogar die grausame Formel, dass für jeden

beim Attentat getöteten Soldaten zehn Unschuldige sterben sollten.

Die Geiseln wurden wahllos aus den Gefängnissen geholt und in

den Fosse Ardeatine in einem römischen Außenbezirk erschossen.

Ursprünglich hätte die Massenhinrichtung von den Über lebenden

des Polizeiregimentes Bozen vorgenommen werden sollen. Diese

konnten sich dem Befehl entziehen, mit Verweis auf ihren katholischen

Glauben wurden sie für nicht geeignet befunden, die Exekutionen

durchzuführen.

Spürbar löste sich die einstige Begeisterung für Führer, Krieg

und Heldentod in schiere Verzweiflung aus, die Zahl der Südtiroler

Deserteure stieg binnen kurzer Zeit in die Hunderte. Das

Kriegsende wurde schon für Herbst 1944 erwartet, Hitlers blinde

und rücksichtslose Durchhaltestrategie verlängerte den Krieg und

brachte für die Geflohenen die zusätzliche Schwierigkeit, den Winter

in den Bergen zu überleben. In der Grausamkeit des Krieges

kam es zu menschlichen Tragödien ebenso wie zu Taten gelebter

Solidarität, indem Deserteuren trotz der auf sie ausgeschriebenen

Todesstrafe Unterschlupf geboten wurde. In der allgemeinen

Auflösung glaubte Gauleiter Franz Hofer an eine seiner Meinung

nach kriegsrettende Idee einer „Alpenfestung“. In dieser sollte

sich die Führungsspitze des Reiches zurückziehen und sich mit

britischen und amerikanischen Kriegsgefangenen als lebenden

Schutzschildern vor Bombardierungen schützen. Durch einen eisernen

Verteidigungswall entlang der Linie Füssen-Arlberg-Ortler-

Garda see-Karawanken-Leoben könne so zwei Jahre durchgehalten

werden; auch die Rüstungsindustrie und riesige Vorratskammern

sollten in diesem Gebiet zusammengezogen werden. Hofers Brief

an Hitlers Sekretär Martin Bormann wurde von diesem nicht ernst

genommen. Erst Tage vor seinem Selbstmord kam Hitler auf die

nie konkret angegangene Idee zurück.

Eines der letzten Kampf- und Rückzugsgebiete war Südtirol in

einem gewissen Sinne aber doch. Nahezu pausenlos fanden entlang

101


Bombenangriff auf Bozen, 2. September 1943: In der Stadt brach Panik aus,

Gebäude stürzten ein, Feuer breitete sich aus.

102


der Brennerbahnstrecke Luftangriffe mit schweren Bombern statt,

um die Brücken entlang der Bahnlinie zu zerstören und die Bahnhöfe

Innsbruck, Bozen, Trient, Verona auszuschalten. Zur Abwehr

der Luftangriffe wurden zwischen Verona und Innsbruck über

500 Flakgeschütze postiert, die zum Teil von Jugendlichen bedient

wurden und mäßigen Erfolg hatten. So waren im März 1945 rund

1900 Kampfflugzeuge der Alliierten im Luftraum zwischen Innsbruck

und Verona im Einsatz, abgeschossen wurden 14 Maschinen.

Dagegen gelang es der US-Luftflotte unter anderem, Brücken

bei Brixen, Albeins und Auer zu zerstören, schwer getroffen wurden

auch die Bahnhöfe von Gossensaß, Sterzing, Franzensfeste,

Brixen, Bozen, Auer. Eine Aktion, die auf die Idee der Alpenfestung

verweisen könnte, war die gezielte Unterbringung prominenter

Kriegsgefangener im Pragser Tal. Es handelte sich um 136 „Sonderund

Sippenhäftlinge“ aus 22 Ländern, von deren „Tauschwert“ sich

die Gestapo Vorteile im äußersten Notfall erhoffte. So wurden sie

aus den deutschen Konzentrationslagern, die durch das Anrücken

der Alliierten nicht mehr sicher waren, nach Prags gebracht. Für

den Fall, dass die Geiseln keine Verhandlungsvorteile bringen würden,

war deren sofortige Exekution vorgesehen, die Leichen sollten

im Pragser Wildsee versenkt werden. Das Massaker wurde in einer

etwas veränderten Verhandlungslogik verhindert: Wie Margareth

Lun in ihrer Rekonstruktion des Kapitels Pragser Wildsee aufzeigt,

bekamen die Oberbefehlshaber der deutschen Streitkräfte

in Bozen Wind von der Absicht. Da diese, ebenso wie die Gruppe

um Erich Amonn, schon lange mit den Alliierten in Verhandlung

standen, wäre eine solche Massenhinrichtung auf Südtiroler Boden

verheerend gewesen. In Zusammenarbeit mit höchsten Funktionären,

die auf Distanz zum NS-Regime gegangen waren, so vor

allem mit Stabschef Herbert Thalhammer und dem Tiroler Quartiermeister

Anton Ducia, konnte eine Panzergrenadierkompanie

nach Prags gesandt werden. Sie entwaffnete die SS und befreite

die Häftlinge, Präfekt Karl Tinzl ließ sie mit Lebensmitteln und

Kleidern versorgen. Unterstützt worden war die Aktion auch von

Partisanengruppen.

Mit der Befreiung Mailands am 25. April 1945 wurde auch in Italien

das Ende der NS-Herrschaft eingeleitet. Mussolini versuchte,

103


in die Schweiz zu flüchten, wurde aber am Comer See von Partisanen

erkannt und festgenommen. Schon am nächsten Tag, dem

28. April 1945, wurde er zusammen mit seiner Geliebten Clara

Petacci und seinen letzten getreuen Begleitern ohne ordentlichen

Prozess erschossen, anschließend wurden die Leichen des Diktators,

seiner Geliebten und seiner Begleiter auf dem Piazzale Loreto

in Mailand mit dem Kopf nach unten aufgehängt. Auf eben diesem

Platz waren zuvor Partisanen hingerichtet worden. Als Hitler

noch am 29. April davon erfuhr, diktierte er sein privates Testament,

an der Schwelle zum 30. April heiratete er seine Lebensgefährtin

Eva Braun, Stunden später fügte er ein politisches Testament

an, verteilte Giftampullen an seine letzten Begleiter und erprobte

das Serum an seiner Schäferhündin. Danach vergiftete sich Eva

Braun, Hitler erschoss sich. Bekanntgegeben wurde der Tod erst

am 1. Mai, am 2. Mai kapitulierte die Wehrmacht in Italien, einige

Tage später folgte die Kapitulation in Deutschland.

Damit endete beinahe ein Vierteljahrhundert des Schreckens.

Für viele Menschen, auch in Südtirol, brach aber zunächst eine

Welt zusammen: „Alles war umsonst. Ich bin zutiefst erschüttert.

Bin am Ende meiner Lebensphilosophie“, schrieb etwa der spätere

Unterlandler Politiker Robert von Fioreschy in sein Tagebuch.

Auch eine Tagebucheintragung von Hans Dietl zeugt davon, wie

schwer sich eine von Nationalsozialismus und Kriegstreiben in den

Bann gezogene Generation tat, sich neu zurechtzufinden. Dietl war

nach schwerer Verwundung in der Kesselschlacht von Demjansk

vom Kriegsdienst entlassen und in der NS-Verwaltung in Trient

angestellt worden, vor dem Krieg hatte er zum Kreis der Illegalen

gehört. Am 24. Jänner 1945, als sich die Niederlage abzeichnete,

schrieb er: „Erkennen wir unseren größten Fehler? Dass unsere

Führung große Ideen, die einer neuen Weltordnung Grund und

festen Bestand zu geben vermöchten, vor den Wagen eines überspitzten

Nationalismus gespannt hat, das ist der größte Fehler.

Dadurch verloren diese Ideen bei uns an Gehalt, den übrigen Völkern

aber wurden sie verhasst.“ Das mag noch ein mildes Urteil

über ein System von Gewaltherrschaft, Massenmord und Kriegsterror

sein, aber es war mehr an Distanzierung, als vielen dieser

Generation damals möglich war.

104


Das Kriegsende verlief nicht ohne letzte Opfer. In Meran schossen

noch am 30. April Nationalsozialisten auf eine Gruppe von Italienern,

die den Vormarsch der resistenza feierten, es kam zu neun

Toten. In Laas wurden am Tag der deutschen Kapitulation in Italien

neun italienische Arbeiter erschossen. Am folgenden Tag eröffneten

Arbeiter der Lancia-Fabrik in Bozen das Feuer auf heimkehrende

Wehrmachtssoldaten, 45 Menschen starben. Bei einem

Feuergefecht zwischen italienischen und deutschen Soldaten im

Kampf um ein Lebensmittellager zwei Tage später kam es zu sieben

Todesopfern. Die Soldaten waren ausgemergelt, hatten Hunger,

sehnten sich wohl nach Frieden und waren noch gefangen von

der mörderischen Logik des Krieges. Auf über 50 Millionen Menschen

wird die Zahl geschätzt, die in Europa und in Japan durch

Kriegshandlungen getötet wurden. Werden auch die Opfer von

Kriegsfolgen und Verbrechen während des Krieges eingerechnet,

reichen die Schätzungen bis zu 80 Millionen Toten. Die höchsten

Verluste an Soldaten und Zivilpersonen weisen Russland und China

mit 15 bis 20 Millionen Menschen auf, Deutschland und Polen

erlitten Verluste zwischen 6 und 7 Millionen Menschen, wobei in

Polen der Großteil Zivilisten und davon fast die Hälfte jüdische

Opfer des Holocaust waren. Für Italien wird die Zahl der Toten auf

400.000 geschätzt, für Österreich auf rund 270.000. Von den schätzungsweise

25.000 Südtirolern im Kriegseinsatz ist mit 8000 Toten

fast ein Drittel gefallen, für die vorwiegend in der letzten Kriegsphase

betroffene Zivilbevölkerung liegen keine genaueren Angaben

vor. Durch Holocaust, schwerste Kriegsverbrechen und den Einsatz

der Atombombe im Krieg gegen Japan hinterließ der Zweite

Weltkrieg ein tiefes Erschrecken der Menschheit über die eigene

Zerstörungsgewalt. Allein den deutschen Massenverbrechen

– jene der Roten Armee beispielsweise sind kaum erforscht – fielen

vor allem durch die planmäßige Systematik des Holocausts schätzungsweise

6 Millionen Juden, 4 Millionen nichtjüdische (meist

politische) Deportierte und Zwangsarbeiter, 3 Millionen sowjetische

Kriegsgefangene, 200.000 Sinti und Roma, 250.000 Behinderte

zum Opfer.

105


Ein schwankender Neuanfang

Südtirols neue Stunde Null –

Unter amerikanisch-italienischer Verwaltung

Das Ende des Krieges und der demokratische Neuanfang tragen

für Südtirol kein klares Datum. Nach dem Partisanenaufstand vom

25. April 1945 hatte sich die deutsche Besatzungsmacht in Truppenverbände

aufgelöst, die sich unkoordiniert zumeist über Südtirol

zurückzogen. Anders als in der letzten Kriegsphase angedacht,

wurde Südtirol nicht zur Alpenfestung, sondern eher zur letzten

Fluchtburg des zerfallenden Dritten Reiches. Das Hauptquartier der

Heeresgruppe C der Wehrmacht wurde von Recoaro nach Bozen

verlegt, ein Ausweichquartier in der Herbstenburg in Toblach eingerichtet.

Das Kommando der SS in Fasano del Garda kam nach

Meran. Die nachrückenden alliierten Truppen stoppten dagegen

zunächst in Trient. Erst als die Deutsche Wehrmacht am 2. Mai 1945

um 14 Uhr ihre bedingungslose Kapitulation erklärte, erhielten

die amerikanischen Divisionen im Norden und Süden des Landes

den Befehl, bis zum Brenner vorzurücken. In der Nähe von Gossensaß

trafen sie aufeinander – für die US-Armee wohl ein erhebender

Moment.

Für Südtirol begann ein Interregnum der unsicheren Verhältnisse.

Die Reaktion auf den Einmarsch der Amerikaner war unterschiedlich.

Für die italienische Bevölkerung Südtirols endete das

„existenzielle Trauma“ (Leopold Steurer) der deutschen Besatzung,

die US-Soldaten wurden begeistert begrüßt. Auch auf deutschsprachiger

Seite überwog, nach der weit verbreiteten Niedergeschlagenheit

der letzten Kriegsmonate, ein hoffnungsvolles Aufatmen,

gedämpft aber von Angst vor Ahndung und Internierung

wegen der Kollaboration mit den Nazis oder dem Dienst in der

Wehrmacht. Die Amerikaner gingen behutsam vor, selbst der im

Bozner Herzogspalast residierende Bevollmächtigte General der

Deutschen Wehrmacht in Italien, SS-Obergruppenführer Karl

Wolff, wurde zunächst nicht belangt. Wehrmachtssoldaten wurden

für die Verkehrsregelung in Bozen eingesetzt, daneben über-

106


Amerikanische Soldaten und italienische Partisanen am Dorfplatz von

Niederdorf, 2. Mai 1945. Bild unten: Vielfach wurden die Amerikaner als

Attraktion empfunden.

107


nahmen italienische Partisanen und amerikanische Soldaten die

Polizeidienste.

Noch am 2. Mai fanden in Anwesenheit der höchsten deutschen

Offiziere die Verhandlungen zwischen dem Andreas-Hofer-Bund

und dem italienischen Comitato di Liberazione Nazionale statt.

Die kleine Südtiroler Dableiber- und Widerstandsbewegung stand

dem italienischen Partisanenverband ohnmächtig gegenüber. Der

nach der Ermordung von Manlio Longon bestimmende CLN-

Bevollmächtigte für das Gebiet „Alta Italia“ war Bruno De Angelis,

der sich gegenüber den Befindlichkeiten der Südtiroler Minderheit

wenig zimperlich zeigte. Er drohte mit dem Einmarsch von

50.000 Partisanen in Südtirol, falls ihm nicht unverzüglich die

Verwaltung des Landes übertragen werde. Unter diesem Druck

blieb dem Andreas-Hofer-Bund nichts anderes übrig, als der Forderung

nachzugeben. Unterzeichnet wurde das Übergabepapier

von SS-Obergruppenführer Wolff und Generaloberst Heinrich von

Vietinghoff. Erich Amonn, der an den Verhandlungen teilnahm,

schrieb zerknirscht in sein Tagebuch: „Schwerster Tag meines

Lebens.“

So fanden die US-Truppen bei ihrem Einmarsch eine italienisch

verwaltete Provinz vor. De Angelis konnte sich den Amerikanern

als zumindest provisorisch legitimierter Gesprächspartner vorstellen,

am 12. Mai wurde er von der alliierten Militärbehörde AMG

(Allied Military Government) formell als Präfekt bestätigt. Schon

am nächsten Tag, dem 13. Mai, wurde General Wolff verhaftet, während

er gerade im Park des Palastes seinen 45. Geburtstag feierte.

Damit ging auch die Zurückhaltung gegenüber der Wehrmacht zu

Ende. Rund 20.000 deutsche Soldaten wurden als Kriegs gefangene

nach Modena überführt, am 19. Mai folgte die Massenevakuierung

deutscher Einheiten in die Kriegsgefangenenlager von Ghedi und

Bassano. Zur Wahrung der Ruhe wurden Ausgangssperren verhängt.

Die Fahndung nach hochrangigen SS-Offizieren, die in Südtirol

Unterschlupf gefunden hatten, wurde intensiviert.

Im allgemeinen Chaos gelang trotzdem vielen die Flucht, Südtirol

wurde für hohe Nazis – wie Gerald Steinacher minutiös recherchiert

hat – zu einer Art Drehtür ins Ausland, vor allem nach

Übersee. Dies entsprang weniger einer zentral organisierten

108


Fluchthilfe, als vielmehr dem Zusammenspiel von allgemeinem

Chaos, karitativen Überlegungen, Strategien amerikanischer Geheimdienste

und den Geschäftsinteressen spontan entstandener

Schlepper- Organisationen. Rotes Kreuz und kirchliche Organisationen

wie die päpstliche „Pontifica Commissione Assistenza“ stellten

oft im guten Glauben Papiere aus, die auch NS-Ver brechern

die Ausreise ermöglichte. Zum einen sollte die Flüchtlingshilfe

nicht durch zu strenge Kontrollen erschwert werden, zum anderen

gab es auch eine stillschweigende Hoffnung auf Bekehrung

und Re-Christianisierung, gewissermaßen eine „Entnazifizierung

durch Taufe“ (Steinacher). Für die US-Geheimdienste waren die

aus dem Land geschmuggelten Nazis teilweise wertvolle und auf

Lebenszeit abhängige Mitarbeiter, eine „Humanressource“ im früh

beginnenden Wettlauf mit dem Osten vor dem Hintergrund des

aufziehenden Kalten Krieges.

In Südtirol waren ortskundige Fluchthelfer aktiv, die Netzwerke

stützten sich vielfach auf die noch frische Kriegskameradschaft,

auf Beziehungen zu Priestern, auf Zugänge zu Klöstern. Ideologische

Skrupel gab es kaum, waren doch die allermeisten dem NS-

Wahn erlegen, das Ausmaß der Kriegsverbrechen wurde erst nach

und nach bewusst. Auf manchen Bauernhöfen wurden Flüchtlinge

aus spontaner Hilfsbereitschaft heraus versteckt, Kontrollen

gab es zwar, aber in entlegenen Dörfern war die Möglichkeit, erwischt

zu werden, verhältnismäßig gering. Ein Fahndungserfolg

betraf nicht versteckte Nazis, wohl aber deren Raubgut: In der

Festung Franzensfeste wurden einige tausend Goldbarren der

Banca d’Italia sichergestellt. Ebenfalls gefunden wurden 264 Bilder

berühmter Maler wie Tizian, Rubens, Raffael, Rembrandt, Bellini

und Caravaggio, die von den Nazis aus dem Palazzo Pitti und den

Uffizien in Florenz in die „Alpenfestung“ gebracht worden waren,

als die Lage in Italien zu unsicher geworden war.

Gegenüber örtlichen Nazis gab es anfangs sehr wohl ein Bedürfnis

nach Abrechnung, Partisanenverbände und auch der Andreas-

Hofer-Bund suchten zunächst gezielt nach ihnen. Mancherorts

kam es zu willkürlichen Verhaftungen, vereinzelt auch zu blutigen

Säuberungen. So wurden in Gröden fünf Südtiroler SOD-Offiziere

durch italienische Partisanen kurzerhand exekutiert. Eine legi-

109


timierte Instanz wurde erst mit der Kommission für die „Epurazione“

in Bozen geschaffen, in der sich sehr bald die Haltung

durchsetzte, das unrühmliche Kapitel möglichst bald und möglichst

versöhnlich zu schließen. Die Fahndungen erlahmten. Es

setzte sich die Stimmung durch, dass man den Schrecken hinter

sich lassen und nach vorne schauen solle. Eine konsequente Entnazifizierung

hätte ebenso wie eine konsequente Entfaschisierung

wohl zu viele betroffen. So war es im beiderseitigen Interesse,

die Vergangenheit soweit wie möglich auf sich beruhen zu

lassen. Im Vordergrund der politischen Auseinandersetzung stand

die Zukunft Südtirols.

Präfekt De Angelis verfolgte von Anfang an eine klare Strategie:

Er wollte Südtirol für Italien sichern. Der Mailänder Industrielle

war führendes Mitglied der Faschistischen Partei gewesen

und, wie viele andere ehemalige Faschisten, rechtzeitig zur Sozialistischen

Partei übergetreten. Dies erklärt auch die nationale Haltung

der CLN-Vertretung in Südtirol, deren erste Amtshandlung

nach dem Einmarsch der Amerikaner das Hissen einer Tricolore

am Brenner gewesen war. Schon von den ersten Tagen an wurden

deutschsprachige Beamte aus ihren Büros vertrieben und durch

italienische ersetzt. Dies entbehrte zwar jeder rechtlichen Grundlage,

aber da auch die Anstellung der deutschen Beamten in der

Zeit der NS-Besatzung nicht legitim erfolgt war, gab es auch gegen

die Willkürakte des Präfekten keine Handhabe. Zugute kam De

Angelis sein freundschaftliches Verhältnis zur alliierten Militärregierung,

die den Südtirolern zwar korrekt, aber aufgrund der

zweijährigen NS-Herrschaft doch argwöhnisch gegenüberstand.

Die Südtiroler Politik musste sich – nach den schweren Zerwürfnissen

in der Optionszeit und NS-Ära – erst neu organisieren.

Als nahezu einzige politische Klasse, die noch einigermaßen intakt

und handlungsfähig war, übernahm das liberale Bozner Bürgertum

um Erich Amonn die Initiative. Hauptanliegen Amonns war

es, die tiefe Spaltung der deutschen und ladinischen Bevölkerung

durch Option und Nazizeit zu überwinden. Vorbild war der ehemalige

Deutsche Verband, in dem nach dem Anschluss Südtirols

an Italien die Christlichsozialen und Konservativen, die Freiheitlichen

und Liberalen zusammengearbeitet hatten.

110


Unter den Gründern der SVP befanden sich nahezu alle wichtigen Persönlichkeiten

der Nachkriegszeit, von links: Josef Raffeiner, Obmann Erich

Amonn, Vizeobmann Josef Menz-Popp, Otto von Guggenberg und Toni Ebner

(bei der Fronleichnamsprozession 1946).

Schon am 8. Mai 1945, wenige Tage nach Kriegsende, wurde

die Südtiroler Volkspartei (SVP) als Sammelpartei aller deutschen

und ladinischen Südtiroler gegründet. Lediglich die Sozialdemokraten

standen erneut abseits und gründeten erst im Herbst 1945

eine eigene Partei. Im offiziellen Gründungsakt der SVP schienen

vorwiegend Namen von Dableibern auf, auch Andreas-Hofer-Bund-

Obmann Hans Egarter befand sich darunter. Tatsächlich aber waren

gut ein Drittel der Gründungsmitglieder prominente Optanten, so

der ehemalige Präfekt Karl Tinzl und die von den Nazis eingesetzten

Bürgermeister von Bozen und Brixen, Fritz Führer und Hans

Stanek. Maßgeblich an der Gründung der SVP beteiligt war auch

Kanonikus Michael Gamper, der mit Rücksicht auf sein Priesteramt

nicht genannt wurde.

Das CLN sah die Gründung der SVP mit Unbehagen und

schwärzte die Sammelpartei bei der amerikanischen Militärregierung

an, zum Teil mit gefälschten Listen, auf denen auch Widerstandskämpfer

als angebliche Nazis aufgelistet wurden. Ein wichtiger

Gewährsmann für die alliierte Militärverwaltung war der

111


Dachau-Häftling und Andreas-Hofer-Bund-Gründer Friedl Volgger.

Die SVP berief ihn zum Organisationsleiter, Generals ekretär

wurde Josef Raffeiner. Das SVP-Programm bestand aus drei Punkten:

„1. Nach 25jähriger Unterdrückung durch Faschismus und

Nationalsozialismus den kulturellen, sprachlichen und wirtschaftlichen

Rechten der Südtiroler auf Grund demokratischer Grundsätze

Geltung zu verschaffen; 2. Zur Ruhe und Ordnung im Lande

beizutragen. 3. Seine Vertreter zu ermächtigen – unter Ausschluss

aller illegalen Methoden – den Anspruch des Südtiroler Volkes auf

Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes bei den alliierten Mächten

zu vertreten.“

Trotz heftiger italienischer Proteste gegen den dritten Punkt

genehmigte die AMG das Parteiprogramm und gestand der SVP

die Herausgabe einer Parteizeitung zu, des „Volksboten“. Dar über

hinaus wurde mit den „Dolomiten“ auch die Herausgabe einer

deutschsprachigen Tageszeitung erlaubt. Die italienische Lokalpresse

wurde auf eine einzige Zeitung beschränkt, den „Alto Adige“.

Das italienische Blatt musste neu aufgebaut werden, nachdem mit

dem deutschen Einmarsch 1943 die faschistischen Blätter „La provincia

di Bolzano“ und „Alpenzeitung“ eingestellt worden waren.

Die Herausgeberschaft des „Alto Adige“ übernahm zunächst der

CLN selbst, später ging die Zeitung an die Genossenschaft „Seta“

über (Società editrice tipografica atesina). In den folgenden Jahren

erhielt der „Alto Adige“ neben den offiziellen staatlichen Förderungen

auch heimliche Zuwendungen aus dem Innenministerium.

Für die italienische Bevölkerung Südtirols, die in der NS-Zeit über

keine Zeitung mehr verfügt hatte, wurde das Blatt zu einem wichtigen

Bezugspunkt. Es verstand sich als Sprachrohr der italienischen

Interessen in Südtirol.

Die „Dolomiten“, ebenso wie das SVP-Organ „Volksbote“ von

der Athesia herausgegeben und von Kanonikus Michael Gamper

geleitet, standen sowohl personell als auch politisch in enger Beziehung

mit der Südtiroler Volkspartei. In der ersten Ausgabe vom

19. Mai 1945 veröffentlichten sie in großer Aufmachung den Aufruf

der neugegründeten Partei: „Das unvermeidliche, an Furchtbarkeit

alle Vorstellungen und Ausmaße übersteigende Ende des Nationalsozialistischen

Regimes ist eingetreten. Ströme vergossenen Blutes,

112


blühende Städte und Dörfer in Schutt und Asche gelegt, Hunger

und Elend, unsägliches Leid und der Abscheu der ganzen Welt

vor den wahrhaft teuflischen Methoden der Vergewaltigung und

Ausrottung unzähliger unschuldiger Menschen durch die Gestapo

sind das traurige Erbe des Dritten Reiches, das ein tausendjähriges

sein wollte, aber schon nach zwölfjährigem Bestande zusammenbrach.“

Die Option wurde nicht ausdrücklich erwähnt, wohl aber

die „Weissagungen und Versprechungen falscher Propheten“. In

dieser „schicksalsschweren Stunde“ sollte die „freie Einheit und

Geschlossenheit der Südtiroler zu neuem Leben entstehen“.

Ende Mai 1945 betrachtete die AMG die „Normalisierungsmaßnahmen“

für abgeschlossen. Die Lage schien unter Kontrolle zu

sein. Während die Menschen in vielen Gebieten Europas, besonders

auch in Österreich und Deutschland Hunger litten, zog Südtirol

Nutzen von einer Rekordgetreideernte 1944 in der Poebene.

Einzig die Bombeneinschläge auf die Bahn- und Straßenverbindung

zwischen Brenner und Verona erschwerten die Versorgungsmaßnahmen.

Als die Trasse wieder einigermaßen instand gesetzt

war, gab es kaum noch Lebensmittelengpässe. Einzelne Waren wie

Fette, Salz und Zucker wurden zwar weiterhin rationiert, konnten

aber verhältnismäßig problemlos auf dem Schwarzmarkt erworben

werden. Die Instandsetzungsarbeiten schufen auch wieder

Arbeitsplätze.

So übergab Divisionskommandant Major General Paul W.

Kendall am 5. Juni 1945 vor dem Siegesdenkmal in Bozen formell

das Kommando über das Südtiroler Territorium an die italienische

Heeresgruppe Folgore. Einzelne Einheiten der Folgore, so

die Regimenter San Marco und Nembo, sorgten durch willkürliche

Übergriffe für Empörung und Protest in der deutsch- und

ladinisch sprachigen Bevölkerung. Um Feindseligkeiten zu verhindern,

erzwang der amerikanische Militärgouverneur Ende Mai

ein gegenseitiges Still halteabkommen zwischen CLN und SVP,

das im September noch einmal erneuert wurde. Auch die Chefredakteure

der Lokalzeitungen, Lino Ziller für den „Alto Adige“,

Rudolf Posch für die „Dolomiten“ und für das SVP-Parteiorgan

„Volksbote“, mussten die „militärbehördlich angeordnete Pazifizierung“

(Leopold Steurer) unterzeichnen. Beide Seiten bekann-

113


ten sich ausdrücklich zum friedlichen Zusammenleben der Volksgruppen

in Südtirol. Als vertrauensstiftende Maßnahme erfolgte

der Abzug der Folgore aus Südtirol und deren Ersatz durch andere

italienische Truppenverbände. Auch Präfekt De Angelis und reguläre

Carabinieri-Ein heiten wollten und konnten die vielen Provokationen

von Folgore-Truppen nicht mehr mittragen.

Trotz der Übergabe von immer mehr Aufgaben an italienische

Dienststellen zogen die Amerikaner zunächst noch nicht ab. Das

346. Infantry Regiment wurde in Südtirol belassen. Eine wichtige

Aufgabe war die Koordination und Betreuung der Flüchtlings- und

Heimkehrerströme. Zugleich diente die amerikanische Präsenz

als Puffer zwischen den ethnischen Lagern. Auch die AMG wurde

nicht unmittelbar aufgelassen. Ausdrücklich wurde versichert, dass

die militärischen Weichenstellungen die politische Lösung für Südtirol

nicht präjudizieren würden. Genau dies aber war die – nicht

unberechtigte – Sorge der SVP. Die unmittelbare Nachkriegszeit

unter amerikanischer Hoheit hatte für ihr Hauptziel, die Ausübung

des Selbstbestimmungsrechtes und die Rückkehr zu Österreich,

nicht zielführend genutzt werden können. Neue Hoffnungen taten

sich erst auf, als im Oktober die alliierte Militär regierung von den

amerikanischen an die britischen Einheiten überging. Diese zeigten

sich gegenüber den Südtiroler Anliegen ausgesprochen aufgeschlossen.

114


Hoffnung Selbstbestimmung

Eine Herzensfrage in Tirol und ganz Österreich –

Die Optanten als italienisches Druckmittel

Die Hoffnung auf Selbstbestimmung im Herbst 1945 scheint angesichts

der deprimierenden Lage geradezu verwegen. Trotzdem

beseelte sie alle politischen Anstrengungen zur Lösung der Südtirol-Frage

in Südtirol, in Tirol und auch in Wien. Der bürgerlichliberalen

SVP-Führung in Bozen war die Selbstbestimmung wohl

ebenso ein Anliegen, sie scheute aber zugleich jede Radikalisierung

der Bevölkerung.

Die stärksten Impulse für den Stimmungswandel kamen aus

Innsbruck. Am 4. September 1945 demonstrierten 25.000 Tirolerinnen

und Tiroler für die Wiedervereinigung Tirols. Die französische

Militärverwaltung, der Tirol unterstellt war, hatte die Kundgebung

genehmigt. Der französische Generaladministrator Pierre

Voizard saß während der Kundgebung unmittelbar neben Landeshauptmann

Karl Gruber auf dem Landhausbalkon. Auch Bischof

Geisler stellte sich hinter die Forderung. Schon am folgenden Tag,

dem 5. September, befasste sich in Wien die Regierung unter Staatskanzler

Karl Renner erstmals mit der Südtirol-Frage. In einem

Memorandum für die Friedensverhandlungen, das Renner mit

der Bitte um eine geschlossene Haltung allen Parteien vorlegte,

ersuchte er um eine Volksabstimmung über die künftige staatliche

Zugehörigkeit Südtirols.

Die Leidenschaft, mit der in Österreich für die Selbstbestimmung

gearbeitet wurde, war nicht selbstverständlich. Die unter

dem Schutz der Roten Armee am 27. April 1945 gebildete Provisorische

Staatsregierung stand vor unlösbar scheinenden Aufgaben.

In Österreich, besonders in Wien, litten viele Menschen an

Hunger und mangels Heizmaterials im folgenden Winter auch an

bitterer Kälte. Auch in Tirol war die Ernährungslage keineswegs

gesichert. Die Flüchtlingsströme hatten die Einwohnerzahl in manchen

Dörfern vervielfacht. Die westlichen Bundesländer hatten

zunächst kein Vertrauen in die Wiener Regierung. Sie hielten sie für

115


Eindrucksvolle Massenkundgebung für Südtirol am 22. April 1946 vor

dem Landhaus in Innsbruck; im Bild darunter Eduard Reut-Nicolussi als

Redner bei einer Kundgebung in Linz.

116


eine Marionette der Sowjets. Erst nach und nach – auch dank der

Wiederherstellung der Verkehrs- und der Verbindungsmöglichkeiten

– erwarb sich Renner das Vertrauen der einzelnen Länder.

Aber erst mit einer Konferenz der westlichen Bundes länder vom

24. bis 26. September in Wien wurde die Provisorische Staatsregierung

durch Vertreter der Bundesländer erweitert. Der Tiroler

Landeshauptmann Karl Gruber trat als Unterstaatssekretär für

Auswärtige Angelegenheiten in das Kabinett ein, im Dezember 1945

wurde er erster Außenminister Österreichs; Leopold Figl wurde

erster Bundeskanzler der Zweiten Republik.

Die Tiroler Landesregierung war aus dem von Karl Gruber

geleiteten „Ordnungsausschuss“ der Widerstandsgruppen gegen

den Nationalsozialismus hervorgegangen. Weitere maßgebliche

Persönlichkeiten waren der aus Südtirol emigrierte Eduard Reut-

Nicolussi, Hans Gamper und Alfons Weißgatterer, der Stellvertreter

und dann Nachfolger Grubers als Landeshauptmann wurde. Dass

die Tiroler Widerstandsbewegung in den letzten Kriegswochen

Innsbruck aus eigener Kraft befreit hatte, verschaffte der politischen

Repräsentanz in Tirol einen erweiterten Handlungsspielraum

und erhöhtes Selbstbewusstsein.

Genährt worden war die Hoffnung auf Selbstbestimmung auch

durch frühere und noch nicht verklungene politische Signale. Schon

am 1. November 1943 hatten die Alliierten in der „Moskauer Deklaration“

ihren Willen zur Wiedererrichtung eines demokratischen

Österreich kundgetan und Österreich zum Opfer Hitlers erklärt.

Dahinter stand die Absicht, den Widerstand in Österreich zu stärken.

Für die Nachkriegsverhandlungen konnte dies von Vorteil sein.

Auch die amerikanische Haltung schien zunächst vielversprechend.

Am 8. Juni 1944 empfahl ein vom State Departement eingesetztes

Sondierungsgremium die Rückgabe Südtirols an Österreich. Am

12. August 1944 einigten sich der amerikanische Präsident Franklin

Delano Roosevelt und der britische Premier Winston Churchill an

Bord des US-Kriegsschiffes „Augusta“ vor Neufundland auf eine

gemeinsame Prinzipienerklärung für die Nachkriegszeit. In Punkt 2

der „Atlantik-Charta“ wird der frei geäußerte Wunsch der jeweiligen

Bevölkerung als Prinzip für etwaige territoriale Änderungen

festgehalten. Das rief das 1919 von US-Präsident Woodrow Wilson

117


feierlich verkündete (wenn auch nicht durchgesetzte) Selbstbestimmungsrecht

als künftiges internationales Ordnungsprinzip in

Erinnerung. Auf der Dreimächtekonferenz von Potsdam (17. Juli

bis 2. August 1945) führten Äußerungen des US-Außenministers

James Byrnes ebenfalls zu positiven Deutungen der amerikanischen

Haltung.

Die negativen Zeichen waren trotzdem nicht zu übersehen. In

London beendete die Labour Party im Juli 1945 die Ära des Konservativen

Winston Churchill. Hatte dieser noch auf einer Bestrafung

Italiens für den Faschismus beharrt, zeigte sich die neue Londoner

Elite als weitaus konzilianter gegenüber der italienischen Nachkriegsregierung.

In Potsdam wurde beschlossen, die Friedenspläne

für Deutschlands Verbündete auf einer Konferenz der Außenminister

von USA, Großbritannien, Frankreich, Sowjetunion und China

auszuhandeln. Italien sollte als Erstes drankommen, da es sich auch

als Erstes von Faschismus und Nationalsozialismus befreit habe

und sich auf gutem Weg zur Demokratisierung befinde. Gegenüber

Österreich erhoben die Westmächte dagegen Vorbehalte aufgrund

der sowjetischen Besatzung. Wohl gab es Sympathien für Südtirol.

Italien aber hatte den Vorteil seiner für die westliche Allianz strategisch

wichtigen Lage im Mittelmeerraum. Die günstige Haltung

der französischen Militärverwaltung in Tirol fiel dagegen kaum

ins Gewicht, da Frankreichs Interessen vorwiegend dem Aostatal

und umstrittenen Gebieten in den Westalpen galten.

Die Ausgangslage für die Außenministerkonferenz in London

vom 11. September bis 2. Oktober 1945 war deshalb für Italien weit

günstiger als für Österreich. Schon am 12. September trafen die

Außenminister die – lange geheim gehaltene – Vorentscheidung,

dass die Brennergrenze aufrechterhalten werden sollte; lediglich

die Möglichkeit kleinerer Grenzberichtigungen wurde offengelassen.

In Unkenntnis dieser Vorentscheidung begann die endlich

handlungsfähig gewordene Regierung Renner ihre Mobilisierung

für Südtirol zu einem Zeitpunkt, als es eigentlich schon zu spät war.

Die Bevölkerung machte begeistert mit. Am 3. Oktober fand eine

eindrucksvolle Großkundgebung für Südtirol in Wien statt, die

von allen Parteien – einschließlich der Kommunistischen Partei

KPÖ – mitgetragen wurde. Karl Renner appellierte mit eindring-

118


Demonstration für die Einheit Tirols in Klausen: Ähnliche Kundgebungen

fanden trotz des Argwohns der Behörden an vielen Orten im Lande statt,

heimlich wurden Unterschriften für die Selbstbestimmung gesammelt.

lichen Worten an die Alliierten: „Gebt den Südtirolern ihre Heimat,

gebt den Südtirolern ihr Vaterland Österreich wieder!“ Der

angehende Bundeskanzler Leopold Figl erklärte Südtirol zur „Herzensangelegenheit“

aller Österreicher.

Das richtete die Moral auch in Südtirol auf. Eine so kraftvolle

Fürsprache, glaubte man, würde international nicht überhört werden

können. Die Selbstbestimmung schien plötzlich doch erreichbar.

Dementsprechend begann die italienische Politik, nervös zu

reagieren. In einer Sitzung des Ministerrates der italienischen

Regierung (unter Ferruccio Parri) äußerte sich der sozialistische

Vizepremier Pietro Nenni besorgt darüber, dass der österreichische

Außenminister ein Tiroler sei und Südtirols Position dadurch

gestärkt werde. Alcide Degasperi, 1944 zum Außenminister der

ersten nachfaschistischen Allparteienregierung berufen, ab 1945

Ministerpräsident, stimmte dieser Sorge zu. Er wies darauf hin,

dass Italien – anders als etwa die Tschechoslowakei durch die

Vertreibung der Sudetendeutschen – gegen die deutschstämmigen

Einwohner auf italienischem Staatsgebiet keine Sanktionen

ergriffen habe.

Darin klang eine subtile Anspielung auf die Südtiroler Optanten

durch, der bald konkrete Drohungen folgen sollten. Kommunisten-

119


führer Palmiro Togliatti sprach es unverhohlener aus: „Wir sind ein

Land, das gegen Deutschland gekämpft hat, und müssen das Recht

beanspruchen, die Deutschen so zu behandeln wie die anderen

Völker, die sie bekämpft haben.“ Von den rund 75.000 Optanten, die

tatsächlich ausgewandert waren, befanden sich viele in einer prekären

Situation. In Österreich erkannten die Alliierten sie zunächst

nicht als Österreicher an. In Italien aber wurden ihnen wegen ihrer

Rechts- und Staatenlosigkeit Wohnung und Lebensmittelkarten

vorenthalten. Rückwanderer nach Südtirol wurden vom italienischen

Heer abgefangen und in Lagern gesammelt.

Mit den Schicksalen der Optanten hatte Italien einen starken

Trumpf für die Friedens- und auch für die künftigen Autonomieverhandlungen

in der Hand. Die italienische Regierung begann,

Gesetzeslösungen auszuarbeiten, die auch den fast 140.000 nicht

ausgewanderten Optanten die italienische Staatsbürgerschaft vorenthalten

hätten, was auf eine Ausweisung hinausgelaufen wäre.

Dies hätte den Vollzug der Optionslösung von Hitler und Mussolini

bedeutet, letztlich die Auslöschung der deutschen und ladinischen

Minderheit. Die Optanten wurden zu „Geißeln“ (Franz

Widmann) der italienischen Südtirol-Politik.

Ein zweiter Trumpf, den Degasperi geschickt ausspielte, war

paradoxerweise das von Jugoslawien besetzte Triest mit der

Halbinsel Istrien. Die langjährige Südtirol-Expertin der Tiroler

Landes regierung Viktoria Stadlmayer weist dem italienischen

Ministerpräsidenten in ihrem Buch „Kein Kleingeld im Länderschacher“

nach, dass er bewusst eine vorübergehende Verschlechterung

der italienischen Position in Triest hinnahm, um damit

den Anspruch auf die Brennergrenze zu verstärken. Der Hintergedanke

war: Wenn Italien in Triest von den Alliierten harte Friedensbedingungen

auferlegt bekomme, dürfe es nicht ein zweites Mal

an der Brennergrenze bestraft werden. Das gewagte Spiel ging

langfristig einigermaßen auf: Istrien wurde zwar definitiv unter

den jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien und Kroatien aufgeteilt,

Triest aber fiel, nach einem Intermezzo als „freies Territorium“,

unter die Hoheit der Vereinten Nationen und konnte so

1954 wieder in die uneingeschränkte Souveränität Italiens überführt

werden.

120


Die Selbstbestimmungseuphorie in Südtirol wurde zum Jahresende

jäh gedämpft. Mit 31. Dezember 1945 erhielt die italienische

Regierung die volle Souveränität über das offiziell immer noch

von der AMG kontrollierte Gebiet der Provinz Bozen zurück. Ein

wenig Hoffnung blieb: Die Moskauer Außenministerkonferenz vom

16. bis zum 26. Dezember 1945 erkannte Italien nicht als verbündeten

Kriegsteilnehmer an, sondern lediglich als befreites Land.

Die Wahlen zum ersten österreichischen Nationalrat am 25. November

1945 überzeugten auch die skeptischen Repräsentanten der

Siegermächte von der festen Verankerung Österreichs im Westen:

Die christlichsoziale Österreichische Volkspartei (ÖVP) erreichte

die Mehrheit, die Sozialdemokraten (SPÖ) wurden zur zweitstärksten

Kraft, gefolgt von den als „Unabhängige“ angetretenen Nationalliberalen,

den späteren Freiheitlichen. Die Kommunisten erlitten

eine schwere Niederlage. Die neue Regierung unter Leopold Figl

wurde vom Alliierten Rat anerkannt, Karl Gruber stieg vom Unterstaatssekretär

zum Außenminister auf. Gleichzeitig war durch die

gefestigte Position der italienischen Christdemokraten auch ein

Ausbruch Italiens aus dem Westbündnis kaum noch zu befürchten.

Das italienisch-österreichische Kräfteverhältnis schien wieder

so weit ausgewogen, dass die Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes

für Südtirol möglich schien. Anfang 1946 wurde sowohl

in Washington als auch in den USA gelegentlich die Möglichkeit

eines Plebiszits für Südtirol erwähnt.

Die italienische Politik in Südtirol schien in dieser Zeit nicht

nur irritiert, sondern auch gespalten. An den sozialistischen und

kommunistischen Kräften im CLN vorbei hatte die Democrazia

Cristiana ihre Vormachtposition ausgebaut. Dominanteste

Persön lichkeit war Lino Ziller als Bürgermeister von Bozen, Präsident

der Partisanenvereinigung und Direktor der CLN-Zeitung

„Alto Adige“. Als Ziller im CLN durch den Kommunisten Andrea

Mascagni abgesetzt wurde, fiel die Partisanenbewegung in die

Bedeutungslosigkeit. Auch der zu den Sozialisten gewechselte De

Angelis kam unter Druck. Der Präfekt hatte keinen guten Draht

zum DC-Führer Alcide Degasperi. Den Sozialisten wurde, ebenso

wie dem Partito d’Azione, sogar unterstellt, die italienische Position

in Südtirol preiszugeben, falls Italien von Österreich gut abgefun-

121


Präfekt Bruno De Angelis (links) mit dem amerikanischen Militärgouverneur

in Südtirol, William McBratney; De Angelis wurde vom Degasperi-Vertrauten

Silvio Innocenti abgelöst.

den und den Siegermächten mit Besserstellungen an der jugoslawischen

Grenze entlohnt werden würde. Der Partito d’Azione war

aus liberalen und sozialen Kräften in der Widerstandsbewegung

hervorgegangen, stellte mit Ferruccio Parri den ersten Ministerpräsidenten

der Nachkriegszeit, büßte aber nach der Wahlniederlage

1946 gegenüber der Democrazia Cristiana jede Bedeutung ein.

Degasperi, der als Trentiner mit der Brennergrenze auch die Stärkung

seines Heimatgebietes im Auge hatte, verfolgte die gegenteilige

Strategie. Kurzerhand ersetzte er Präfekt De Angelis durch

einen persönlichen Gewährsmann, Staatsrat Silvio Innocenti. De

Angelis, der Südtirols Stunde Null geprägt und in der Folge manchen

Lernprozess mitgemacht hatte, geriet ins Abseits, wenige

Jahre später verübte er Suizid.

Ab Frühjahr 1946 kam es in Südtirol zu einer – zunächst stillen –

Mobilmachung für die Selbstbestimmung. Mit der Unterstützung

der Kirche wurden von den SVP-Bezirken in allen Südtiroler Ortschaften

heimlich Unterschriften für die Selbstbestimmung und

die Rückkehr zu Österreich gesammelt. Obwohl der neue Präfekt

Innocenti Wind davon bekam und viele altfaschistische Gemeinde-

122


sekretäre den Verantwortlichen mit Anzeigen und Verhaftung

drohten, kamen 158.600 Unterschriften zusammen. Es war fast

die gesamte erwachsene deutsch- und ladinischsprachige Bevölkerung

– eine buchstäbliche Vorwegnahme des Plebiszits.

Ein britischer Verbindungsmann des amerikanischen Geheimdienstes

OSS (Office of Strategic Services), der Südtirol-Freund

Edgeworth Murray Leslie, schmuggelte die Mappen mit den Unterschriften

im April 1946 über den Brenner. Mit Blick auf die Außenministerkonferenz

in Paris (25. April bis 16. Mai) kam es erneut

zu großen Kundgebungen in Südtirol, Tirol und ganz Österreich.

Eindrucksvoll trugen bei einer Massenkundgebung am 22. April

Kinder in Tracht die Mappen mit den Unterschriften durch Innsbruck

und übergaben sie stoßweise Bundeskanzler Figl. Bei Demonstrationen

für das Selbstbestimmungsrecht in Südtirol kam

es zu schweren Zusammenstößen mit italienischen Einheiten, in

Bruneck gab es am 5. April 1946 einen Toten und mehrere Verletzte.

Über den Schlagabtausch zwischen den „Dolomiten“ und

dem „Alto Adige“, zu dessen Autoren auch ausgewiesene Faschisten

gehörten, kam es zunehmend zu Verhärtungen zwischen den

Sprachgruppen. Die italienische Bevölkerung konnte die Süd tiroler

Politik durch die Brille des „Alto Adige“ kaum anders wahrnehmen

denn als nationalsozialistisch inspirierte Agitation und Bedrohung

ihres Existenzrechtes. Für Zwischentöne war auf beiden Seiten

wenig Platz.

Eine Serie von Sprengstoffanschlägen heizte die Stimmung an.

Ein erster Anschlag am 20. Februar 1946 auf das Andreas-Hofer-

Denkmal in Meran schien ein italienischer Einschüchterungsversuch

gegen die Südtiroler Forderungen zu sein. Entsprechend

kommentierten die „Dolomiten“: „Die Wirkung des Anschlages

dürfte allerdings eine ganz andere sein, als seine Urheber in ihrem

kurzsichtigen nationalistischen Wahn sich erwarten mögen: Die

Detonation von Meran hört man voraussichtlich wohl auch in

London.“ Erst Jahrzehnte später konnte der Historiker Michael

Gehler anhand von Aufzeichnungen aus dem Archiv von Ludwig

Steiner nachweisen, dass die Innsbrucker Gruppe der Widerstandsbewegung

O5 hinter dem Anschlag stand (die 5 stand für E als fünftem

Buchstaben im Alphabet: OE stand für Österreich). Steiner

123


– später ein vehementer Gegner von Attentaten – bekannte sich

nach Gehlers Publikation offen zu den Aktionen. Man habe – noch

in der Logik des Krieges – gehofft, durch die Anschläge Stimmung

für Südtirol zu machen. Der Anschlag auf das Andreas-Hofer-Denkmal

sollte den Siegermächten den Eindruck vermitteln, dass italienische

Faschisten alles Tirolerische ausmerzen würden, falls

Südtirol bei Italien bleibe. Der Anschlag fiel behutsam aus, das

Denkmal wurde kaum beschädigt.

Im Vorfeld der internationalen Entscheidung versuchte Außenminister

Karl Gruber die italienischen Argumente durch taktisch

zum Teil kluge, zum Teil aber auch unkoordinierte Gegenvorschläge

abzufangen. Der damit beginnende „Zickzackweg“ (Viktoria

Stadlmayer) könnte sich dadurch erklären, dass Gruber ungefähr

ab Ende Jänner 1946 vom Londoner Beschluss Wind bekam

und die große Lösung – möglicherweise zu früh – für verloren hielt.

Am 21. Jänner übergab Gruber dem Alliierten Rat in Wien noch

ein Memorandum, das ganz von der Hoffnung auf Selbstbestimmung

getragen war. Gruber ging darin gezielt auf Italiens Hauptargumente

gegen die Selbstbestimmung ein – die für die oberitalienische

Industrie wichtige Wasserkraft und die Zukunft der

italienischen Bevölkerung vor allem in Bozen und im Südtiroler

Unterland. Gruber machte das wirtschaftliche Angebot, die Wasserkraftwerke

bei Italien zu belassen; zukünftige Wasserkraftwerke

sollten durch italienisch-österreichische Gesellschaften

geführt werden; Italien würden an der Donau Freihandelsrechte

eingeräumt. Der italienischen Bevölkerung Südtirols wurde weitgehendes

Entgegenkommen zugesichert. Die in Südtirol lebenden

Italiener sollten zwischen der österreichischen und der italienischen

Staatsbürgerschaft entscheiden können, im ersten Fall würde

ihnen kultureller Schutz gewährt, im zweiten Fall ein privilegierter

Sonderstatus zugesprochen. Südtirol sollte den Vereinten Nationen

unterstellt werden.

Im nächsten Memorandum vom 12. April 1946 leitete Gruber

dann schon jene Strategie von Teillösungen ein, mit der er auch

die Südtiroler verunsicherte: Im Falle einer Rückgabe Südtirols an

Österreich sollten die Bozner Industriezone und einige Gebiete

im Südtiroler Unterland ausgeklammert werden.

124


Mit der Eröffnung der Außenministerkonferenz am 25. April

begann eine Anschlagsserie, die nun eine eindeutige Bekennerbotschaft

enthielt. Schon am 16. April wurde mit Gewehrkugeln

auf die Eisenbahn-Stromleitung zwischen Bozen und Meran und

zwischen Trient und Bozen geschossen. Am 1. Mai, für den die Entscheidung

der Außenminister über Südtirol erwartet wurde, kam

es zu einem Anschlag auf das faschistische Reiterstandbild in Waidbruck.

Als die Entscheidung der Außenminister bekannt wurde,

war die Enttäuschung in Südtirol für viele niederschmetternd: Die

Außenminister entschieden für den Verbleib Süd tirols bei Italien

und ließen lediglich die Möglichkeit geringfügiger Grenzberichtigungen

(minor rectifications) offen. Noch am 2. Mai wurde in

Kampenn bei Bozen ein Strommast gesprengt, am 3. Mai wurde

ein Anschlag auf die Quästur in Bozen verübt. Es folgten Anschläge

im Juni und Juli auf die Bahnlinie Trient-Bozen und im August auf

einen Hochspannungsmast in Kaltern.

Eindrucksvoll waren die Zeichen des friedlichen Protestes. In

Südtirol, Tirol und in ganz Österreich kam es zu Kundgebungen

mit breiter Beteiligung der Bevölkerung. Tirol stand still: Spontan

legten Arbeiter und Angestellte, aber auch Bauern die Arbeit nieder,

die Geschäfte blieben geschlossen, die öffentlichen Dienste

wie Post-, Telegraphen- und Telefonverkehr, Strom und Gasversorgung

wurden eingestellt. Am 5. Mai demonstrierten 15.000 Südtiroler

in Brixen, 16.000 in Meran, 20.000 auf Schloss Sigmundskron.

Erich Amonn rief am Schluss seiner Rede mit zum Himmel

gehobenen Händen einen historisch gewordenen Satz aus: „Wir

alle richten heute zu dem, der die Geschicke der Völker lenkt, die

heiße Bitte: Herr, mach uns frei.“ Bei der Kundgebung in Wien

am 14. Mai füllte die Menschenmenge den Rathausplatz bis in die

angrenzenden Straßen.

In extremis versuchte Gruber noch einmal eine Teillösung.

Italien sollte wenigstens das Pustertal mit Brixen und Wipptal an

Österreich abtreten. Dieser Vorschlag trug Gruber auch von Südtiroler

Seite heftige Kritik ein, da auf diese Weise das Land noch

einmal geteilt und der bei Italien verbleibende Großteil Südtirols

geschwächt und schutzlos Italien überlassen werde. Auch wurde

die Preisgabe einer klaren Linie durch wechselnde Kompromiss-

125


modelle als Schwächung der Selbstbestimmungsforderung empfunden.

Gruber rechtfertigte sich damit, dass er mit seinem Vorschlag

das Prinzip der Brennergrenze aushebeln wollte. Sei dieses

erst einmal gefallen, wären in der Folge weitere Fortschritte eher

möglich geworden. Mit der Brennergrenze hätte Österreich ein

starkes Pfand in die Hand bekommen und sich von Italien für die

Anerkennung militärischer Rechte am Brenner eine umfassende

Autonomie für ganz Südtirol einhandeln können. Der Streit erwies

sich als müßig. Die Außenminister lehnten am 24. Juni 1946 auch

die „kleine Lösung“ ab. Für die Pariser Friedenskonferenz (29. Juli

bis 15. Oktober 1946) wichen alle Hoffnungen der Ernüchterung.

Außenminister Gruber und die SVP bereiteten sich auf eine möglichst

umfassende Autonomielösung vor. Von einer „Alles-oder-

Nichts“-Haltung rückte man sowohl in Bozen als auch in Innsbruck

und Wien notgedrungen ab.

126


Pokerpartie um die „Provinz“

Der Pariser Vertrag von 1946 –

ein mühseliger Aufbruch zur ersten Autonomie

Bei den Friedensverhandlungen in Paris standen sich Italien und

Österreich mit schier unversöhnlich scheinenden Positionen gegenüber.

Karl Gruber stand unter einem enormen moralischen Druck

und sein Rahmen war eng gesteckt: Es konnte nur noch um eine

umfassende Autonomie für das ganze Land gehen. Doch wie groß

war Südtirol? Aufgrund der unter dem Faschismus vorgenommenen

Neuordnung waren ganze Talschaften von Südtirol abgetrennt:

das Südtiroler Unterland, die vier Gemeinden des Deutschnonstales

und das ladinische Fassatal gehörten administrativ zur Provinz

Trient, die ladinischen Gebiete von Ampezzo und Buchenstein

mit Colle Santa Lucia (Fodom/Col) zur Veneto-Provinz Belluno.

Eindrucksvoll demonstrierten Bevölkerung und politische

Repräsentanz in diesen Gebieten im Vorfeld der Pariser Verhandlungen

ihre Zugehörigkeit zu Südtirol. Auf Castelfeder bei Neumarkt

versammelten sich im Juni 1946 trotz strömenden Regens

3500 Menschen. Am Sellajoch hissten einen Monat später Ladiner

aus allen Dolomiten-Tälern – ähnlich wie 1920 am Grödner Joch –

die ladinische Fahne und forderten den Zusammenschluss aller

ladinischen Täler im Gebiet der Provinz Bozen und die Gleichstellung

mit der deutschen und der italienischen Sprachgruppe.

Degasperi verfolgte ein anderes Ziel. Die ladinischen Täler

betrachtete die italienische Regierung – in ungebrochener Fortsetzung

der faschistischen Politik – als das am leichtesten zu assimilierende

Gebiet, Ladinisch galt weiterhin nur als minderer italienischer

Dialekt. Degasperi wies alle Forderungen zurück, auch

den untergeordneten Antrag der bellunesischen Täler, wenigstens

der Provinz Trient angegliedert zu werden (deren Gebiet ja ebenfalls

zum alten Tirol gehört hatte). Für ganz Südtirol galt, dass

klare Gebietszusagen bei den Pariser Verhandlungen möglichst

ver mieden wurden, meist war nur von einer vage definierten „Provinzautonomie“

ohne sichere territoriale Zuordnung die Rede. Der

127


Kundgebung der Ladiner am Grödner Joch: Die Ladiner strebten

vergeblich eine Einheit innerhalb Südtirols an, Maximalforderung war

die Rückkehr zu Österreich.

sybillinischen Formulierung über eine „verwaltungsmäßige Erweiterung

von Grenzen“ im italienischen Vertragsentwurf lag eine

verschleierte Absicht Degasperis zugrunde: die Autonomie auf das

Trentino auszudehnen und der Provinzautonomie eine Regionalautonomie

mit italienischer Mehrheit überzustülpen.

Die Südtiroler Delegierten Friedl Volgger und Otto von Guggenberg

durften an den Verhandlungen offiziell gar nicht teilnehmen,

waren aber hinter den Kulissen sehr aktiv. Über einen Monat lang

wurde in Paris um jeden Satz gefeilscht, bis es am 5. September 1946

zu einer Einigung kam. Das Ergebnis war das 40 Zeilen knappe

Gruber- Degasperi-Abkommen. Den „deutschsprachigen Einwohnern

der Provinz Bozen und der benachbarten zweisprachigen

Gebiete der Provinz Trient“ wurden „volle Gleichberechtigung“ und

„Maßnahmen zum Schutze der volklichen Eigenart und der kulturellen

und wirtschaftlichen Entwicklung der deutschen Sprachgruppe“

zugesichert. Es sollte sich herausstellen, dass Degasperi

mit dem Hinweis auf die „benachbarten zweisprachigen Gebiete

der Provinz Trient“ nicht – wie von der SVP gefordert und erhofft –

eine Angliederung des Unterlandes und des Deutschnonsberges an

128


Ein lange als fragwürdig empfundener Handschlag: Österreichs Außenminister

Karl Gruber und Italiens Ministerpräsident Alcide Degasperi einigen

sich auf den „Pariser Vertrag“.

Südtirol im Blick hatte, sondern die Ausdehnung der Autonomie

ins Trentino bezweckte. Eine Erwähnung der ladinischen Gemeinden

und Bevölkerungsgruppen war abgelehnt worden, die von den

Faschisten vorgenommene Dreiteilung des ladinischen Gebietes

wurde aufrechterhalten.

Auch nach dieser Einigung blieben die Verhandlungen ein Krimi:

Degasperi lehnte es ab, dass dem Abkommen eine Landkarte beigelegt

werde. Und am Tag nach Vertragsschluss erklärte er, er sehe

sich nach einer schlaflosen Nacht außerstande, die Aufnahme des

Abkommens in den italienischen Friedensvertrag vorzuschlagen;

alles, was er tun könne, sei diese passiv hinzunehmen, falls die

Konferenz die Aufnahme beschließe. Degasperi konnte darauf hoffen,

dass sich die Sowjetunion dagegen aussprechen würde. Ohne

Anbindung des Abkommens an den Friedensvertrag aber wäre es

beinahe ohne Wert gewesen.

Die österreichische Delegation unter der Leitung von Karl Gruber

suchte einen Ausweg darin, das Abkommen dem Friedensvertrag

wenigstens als Anhang beizulegen. Erst im Dezember, nach

weiteren monatelangen Verhandlungen, stimmte die Sowjetunion

129


diesem Vorschlag zu. Gruber erwirkte dazu noch eine Erklärung,

dass alle Anhänge „wesentliche Bestandteile des vorliegenden Vertrages“

seien. Am 10. Februar 1947 unterzeichneten die „alliierten

und assoziierten“ Mächte den Friedensvertrag mit Italien. Das

Gruber-Degasperi-Abkommen wurde als Annex IV genehmigt. Der

Vertrag wurde vom italienischen Parlament ratifiziert und trat am

16. September 1947 in Kraft. Österreich verzichtete bewusst auf

eine Ratifizierung des Abkommens durch den Nationalrat, damit

dies nicht als Verzicht auf die aufrechterhaltene Forderung nach

Selbstbestimmung ausgelegt werden konnte.

Der „Pariser Vertrag“, wie das Gruber-Degasperi-Abkommen

auch genannt wird, entzieht sich einer sicheren historischen

Wertung. Bei seiner Rückkehr aus Paris erhielt Gruber von einem

erbosten Landsmann eine schallende Ohrfeige. Der Vorwurf, er

habe Südtirol in Paris durch eine unsichere Strategie schlecht

vertreten oder gar „verraten“, erfuhr immer wieder Neuauflagen.

Die Ausgangslage war ungleich: Italien stand als Land, das den

Faschismus früh abgeschüttelt und gegen den Nationalsozialismus

aufgestanden war, weit besser da als Österreich. Degasperi

vertrat eine international anerkannte, mittlerweile auch demokratisch

legitimierte Regierung, Gruber vertrat ein Land, das noch

in vier Besatzungszonen aufgeteilt war und erst zehn Jahre nach

Kriegsende einen Staatsvertrag erhalten sollte. Gruber benötigte zur

Anfahrt nach Paris eine Genehmigung der Besatzungsbehörde.

300.000 Österreicher befanden sich noch in Kriegsgefangenschaft,

fast 1,5 Millionen Flüchtlinge stellten die Zweite Republik vor eine

existenzielle Herausforderung.

So dürfte Grubers Leistung weniger an der einen oder anderen

Formulierung des Vertrages gemessen werden, sondern daran, dass

dieser überhaupt zustande gekommen war. Die Südtiroler Beobachter

in Paris, Volgger und von Guggenberg, versicherten später

immer wieder, dass Gruber das maximal Mögliche erreicht habe.

Gerade die Knappheit des Abkommens betone dessen Grundsätzlichkeit

und habe den Vorteil gehabt, spätere Entwicklungen und

Verbesserungen nicht zu blockieren. So war sich Gruber bewusst,

dass es vor allem auf die Umsetzung des Vertrages ankommen

würde. Degasperi hatte mit einem Schreiben zugestanden, die dies-

130


bezüglichen Vorschläge der österreichischen Regierung für „die

beste Lösung“ zu prüfen. Allein das Schreiben war de facto ein Einbekenntnis,

dass der Vertrag internationale Tragweite und Österreich

ein Mitspracherecht hatte. Gruber hoffte, dass Österreich

schon bald einen Staatsvertrag bekommen und dann als gleichberechtigter

Partner Besserstellungen erwirken könne – eine Vision,

die erst mit großer Verspätung Wirklichkeit wurde.

Die Südtiroler Politik war 1946/1947 noch von wesentlichen

demokratischen Grundrechten ausgeschlossen. Bei der Abstimmung

über die künftige Staatsform Italiens und den zeitgleich stattfindenden

Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung (Costituente)

am 2. Juni 1946 durften erstmals in der Geschichte Italiens

die Frauen wählen, die meisten Südtirolerinnen und Südtiroler aber

nicht. Das Gebiet Südtirols war, mit Ausnahme der zum Trentino

gehörenden Grenzgebiete und der ladinischen Gebiete im Trentino

und im Bellunesischen, von der Wahlbeteiligung ausgeschlossen.

Der formale Grund dafür bestand darin, dass Südtirols staatliche

Zugehörigkeit vor Inkrafttreten des Pariser Abkommens nicht offiziell

geklärt war. Für die Südtiroler Volkspartei bedeutete dies den

letzten Funken Hoffnung auf die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes

und die Rückkehr zu Österreich. Es hatte aber auch

den Preis eingeschränkter demokratischer Möglichkeiten. Auch in

den deutschsprachigen Gemeinden blieben noch jahrelang italienische,

zum Teil altfaschistische Bürgermeister im Amt.

So ging die Rückkehr der Demokratie nach Diktatur und Krieg

ausgerechnet dort am zähesten, wo Eigenverantwortlichkeit seine

Wurzeln hat – in den Gemeinden. Unter dem Faschismus war

die stark ausgebildete Südtiroler Gemeindenlandschaft radikal

zusammen gestutzt worden, die 233 Gemeinden wurden 1928 so

zusammengelegt, dass nur mehr 104 übrig blieben. Nach dem Krieg

wurden die Gemeinderäte zunächst gar nicht gewählt, sondern von

den Präfekten eingesetzt. Die unter dem Faschismus eingeführten

Gemeindenamen blieben, ebenso wie alle anderen Orts- und

Flurnamen, erhalten, der Pariser Vertrag sieht eine „zwei sprachige“

Ortsnamensgebung, aber keine Tilgung der Tolomei’schen „Übersetzungen“

vor. 1950 ermöglichte ein Gesetz die Neubildung von

1928 aufgelösten Gemeinden, aber nur die wenigsten machten da von

131


Gebrauch. Zum einen erwies sich die Zusammenlegung da und

dort als sinnvoll, zum anderen fehlten meist die finanziellen Voraussetzungen.

So erwirkten zunächst nur sechs Gemeinden die

Selbstständigkeit, etwa Kurtinig im Unterland, das mit eigenen

Gemeindegründen eine solide wirtschaftliche Grundlage hatte. In

den folgenden Jahren folgten weitere Gemeinden diesem Beispiel,

so dass die Anzahl der Gemeinden auf 117 anstieg, bis 1974 zwei

Kleinstgemeinden – St. Felix und Unsere liebe Frau im Walde –

aus Gründen der Rationalisierung zusammengeschlossen wurden.

Ein wichtiger Schritt für das Wiedererlangen kommunalen Selbstbewusstseins

war 1954 die Gründung des Südtiroler Gemeindenverbandes.

Auf römischer Ebene hatte Südtirol in der ersten Nachkriegszeit

einen einzigen politischen Vertreter. Es war der aus dem Unterlandler

Dorf Branzoll stammende Rechtsanwalt August Pichler. Dieser

hatte sich ursprünglich ebenfalls für das Selbstbestimmungsrecht

eingesetzt, ging aber zunehmend auf Abstand zur SVP, weil

diese von ehemaligen Nationalsozialisten unterwandert worden

sei. Auf Vorschlag des Bozner DC-Bürgermeisters Ziller wurde er

in die Consulta berufen, der Vorgängerinstitution der Costituente.

Trotz der grundsätzlichen Distanz zur SVP, die er um den Preis

eines frühen Rückzugs aus der Politik aufrecht hielt, war er für

diese ein wertvoller Vermittler.

Die SVP selbst verweigerte jede Form von institutioneller Mitarbeit.

Im Unterland, das aufgrund der Zugehörigkeit zum Trentino

wählen durfte, setzte die SVP eine nahezu hundertprozentige

Wahlverweigerung der deutschsprachigen Bevölkerung durch. Es

sollte verhindert werden, dass die Beteiligung an den Wahlen als

Zustimmung zur administrativen Zugehörigkeit zum Trentino ausgelegt

werden könnte. Der Aufruf zur Wahlenthaltung reichte über

das Südtiroler Gebiet hinaus bis in die ladinischen Täler Ampezzo

und Buchenstein. Obwohl hier nicht einmal der Verkauf der Tageszeitung

„Dolomiten“ erlaubt war, betrug die Wahlbeteiligung nur

50 Prozent.

Für die SVP hatte der Ausschluss von den Wahlen den Nachteil

einer fehlenden demokratischen Legitimierung, was sich wohl

auch auf die Ausarbeitung des vom Pariser Vertrag vorgesehenen

132


Autonomiestatutes niederschlug. Eine von Degasperi eingesetzte

Siebener-Kommission verwarf kurzerhand den Autonomieentwurf,

den Karl Tinzl für die SVP ausgearbeitet hatte. Für den Historiker

Claus Gatterer war dies eine versäumte Chance auf frühe

Versöhnung zwischen Minderheit und Staat, auch mit Blick auf

das Verhältnis der Sprachgruppen in Südtirol: „Keine Spur von

Arbeiter feindlichkeit, keine Spur von Feindseligkeit gegenüber den

Italienern. Man darf sich mit vollem Recht die Frage vorlegen, ob

die Südtiroler Entwürfe nicht in der Tat eine auch für Italien und

die Italiener Südtirols bessere Lösung dargestellt hätten als das

schließlich von der Costituente beschlossene Statut.“

In der Autonomiekommission gab Degasperis Vertrauter Silvio

Innocenti den Ton an. Dessen Entwurf sah den Zusammenschluss

der beiden Provinzen Bozen und Trient in der Region „Trentino-

Alto Adige“ vor. Die Provinzen blieben zwar aufrecht, die wichtigsten

Verwaltungszuständigkeiten wurden aber der Region

zuge sprochen, in der eine italienische Mehrheit garantiert war.

Die Schule blieb staatliche Domäne. Die vier Deutschnonsberger

Gemeinden sollten der Provinz Bozen angegliedert werden, vom

Unterland sollten die Berggemeinden Truden und Altrei an Südtirol

angeschlossen werden, Neumarkt und Salurn aber beim Trentino

bleiben. Auf der außerordentlichen Landesversammlung am

9. Dezember 1947 wies die SVP den Entwurf zurück, am 16. Dezember

stürmten rund 700 SVP-Funktionäre mit einer Protestadresse

die Bozner Präfektur. Im Unterland kam es am 28. Dezember 1947

– nach der ersten Kundgebung 1946 auf Castelfeder – zu einer zweiten

Demonstration in Neumarkt.

Für Nachbesserungen war der Spielraum zeitlich und politisch

äußerst eng. Spätestens am 31. Jänner 1948 sollte der Entwurf im

Plenum der Verfassungsgebenden Versammlung behandelt werden,

und zwar ausdrücklich auch ohne Zustimmung der Südtiroler.

Deren wesentliche Forderungen waren die Einführung des Landesnamens

„Südtirol“, die Einbeziehung von Salurn und Neumarkt in

das Gebiet der Provinz Bozen, die administrative Abgrenzung zwischen

Trient und Bozen und eine finanzielle Absicherung der Provinzautonomie.

Erst unmittelbar vor dem Stichtag signalisierte der

Vertreter der Regierung und Verfassungsrechtler Tomaso Perassi

133


ein gewisses Entgegenkommen, falls die SVP bereit sei, in einem

an ihn zu richtenden Schreiben ihre Forderungen und den Pariser

Vertrag für erfüllt zu bezeichnen. Erich Amonn notierte dazu in

seinen persönlichen Aufzeichnungen: „Wenn wir dies täten, dann

würden wir bald zu einem für uns vorteilhaften Ergebnis kommen,

ansonsten sollten wir lieber ... unsere Koffer packen.“

Praktisch hieß es „friss oder stirb“. Über den Verhandlungen

schwebte zudem das Damoklesschwert der noch ausstehenden

Optantenregelung. Schon im November 1947 hatten Italien und

Österreich ein Optantengesetz vereinbart, doch zögerte die italienische

Regierung den Erlass während der Autonomieverhandlungen

gezielt hinaus. An der Zustimmung zur Autonomielösung hing

somit auch das Schicksal der Optanten. Resigniert unterzeichneten

Erich Amonn und Generalsekretär Otto von Guggenberg am

28. Jänner 1948 das im Wortlaut vorgefertigte Schreiben an Perassi.

Der Sekretär der Sozialdemokratischen Partei Südtirols Anton Foglietti

unterzeichnete einen separaten, gleichlautenden Brief.

Am Tag nach der Unterzeichnung der Briefe, am 29. Jänner 1948,

genehmigte die Verfassungsgebende Versammlung das Autonomiestatut

für die Region „Trentino-Alto Adige“. Die deutsche Bezeichnung

der Region lautete nicht, wie gefordert, „Trentino/Südtirol“

sondern „Trentino/Tiroler Etschland“. Erst nach und nach wurde

„Südtirol“ als Markenname für die Tourismuswerbung erlaubt, die

ersten Südtiroler Fremdenverkehrsprospekte aber erschienen noch

mit der Bezeichnung „Tiroler Etschland/Dolomiten“.

Die von der Regierung gewährten Verbesserungen am Autonomiestatut

waren der Anschluss des gesamten Unterlandes mit

Neumarkt und Salurn an die Provinz Bozen, die Ausweisung eines

eigenen Südtiroler Wahlkreises, der Übergang der (dünnen) regionalen

Schulkompetenzen auf die Provinz, eine Art Vetorecht der

Mehrheit der Südtiroler Abgeordneten in der Region bei Haushaltsabstimmungen

(aber mit der Letztentscheidung im Innenministerium)

sowie die schrittweise Übertragung von Verwaltungszuständigkeiten

von der Region auf die Provinz Bozen. Dieser „Artikel 14“

wurde in den folgenden Jahrzehnten zum Schlüsselbegriff für den

politischen Kampf um eine reale Umsetzung des ohnehin schwachen

Autonomiestatuts.

134


Entgegen der zugesicherten Vertraulichkeit erwähnte Perassi

in der Verfassungsgebenden Versammlung die Dankesbriefe der

Vorsitzenden der Südtiroler Parteien, was für die Unterzeichner

peinlich war: Amonn und von Guggenberg hatten zwar im Namen

ihrer Partei, aber ohne Rücksprache in den Parteigremien unterschrieben.

Trotz der widrigen Umstände wurde das neue Autonomiestatut

wie ein Strohhalm betrachtet. So zerbrechlich dieser auch war, so

sehr klammerte man sich mangels Alternative daran: Endlich hatte

die Südtiroler Politik wenigstens etwas in der Hand. So überwog

auf Seiten der SVP eine Mischung aus Katerstimmung und Zweckoptimismus.

Die meisten italienischen Parteien rühmten das italienische

Entgegenkommen, meldeten aber auch schon Bedenken

an, ob Italien nicht zu großzügig gewesen sei.

Am 25. Februar 1948 stimmte die SVP-Landesversammlung

dem Autonomiestatut zu. Als wichtigste Errungenschaft nannte

Obmann Erich Amonn die Lösung der Optantenfrage, die ebenfalls

wenige Tage nach der Unterzeichnung der Perassi-Briefe erlassen

worden war. Die erhoffte Aufhebung des Hitler-Mussolini-Abkommens

von 1939 war nicht erfolgt, wohl aber wurde ausgewanderten

Südtirolern die Möglichkeit eingeräumt, um die Wiedererlangung

der italienischen Staatsbürgerschaft anzusuchen. Die Möglichkeit,

Antragstellern die Staatsbürgerschaft zu verweigern, war auf Druck

der SVP stark eingeschränkt worden. Bei drohendem Ausschluss

konnten vor einer eigenen Kommission, der sogenannten „Optionskommission“,

Rechtfertigungsgründe angeführt werden. Amonns

Hoffnung, dass alles vom Geist abhänge, mit dem die Regelung

durchgeführt werde, sollte sich in vielerlei Hinsicht bewahrheiten.

Das Optantengesetz betraf 80.000 Südtiroler, die im Zuge der

Option ausgewandert waren. Viele waren schon zwischen 1943

und 1945 zurückgekehrt, als Südtirol durch den Einmarsch der

Hitler-Truppen unter deutsche Verwaltung kam. Für jene, die auf

das Gesetz warten mussten, war viel Zeit vergangen, die meisten

hatten den Wunsch nach Rückkehr schweren Herzens aufgegeben

und sich auf den Verbleib in Österreich und Deutschland eingerichtet.

Die Zahl der Rückwanderer wird auf 25.000 bis 30.000

geschätzt. Die Verweigerung der Staatsbürgerschaft wurde in vielen

135


Fällen zu einem Instrument gegen politisch missliebige Südtiroler.

So musste auch der vor Kriegsende heimgekehrte Vinschger SVP-

Politiker Hans Dietl seine Staatsbürgerschaft erst über die Optionskommission

erkämpfen. Bis zur glücklichen Klärung musste er

auf die Landtagskandidatur 1948 verzichten, die ihm ein sicheres

Mandat eingebracht hätte.

Rückwanderern schlug vielfach auch von Südtiroler Seite

Geringschätzung entgegen. Sie mussten in Auffanglagern und

Kasernen unter oft unwürdigen Umständen auf ihre endgültige

Beheimatung warten. Manche Bürgermeister gaben den Rücksiedlern

zu verstehen, dass sie nicht erwünscht waren, andere empfahlen

den Hausbesitzern ihrer Gemeinde unter der Hand, ihnen

keine Wohnungen zu vermieten oder nur solche Rücksiedler aufzunehmen,

die eine sichere Existenzgrundlage vorzuweisen hatten.

Den heimgekehrten Optanten hing nun der Vorwurf des „Landesverrates“

nach. Wenn bedacht wird, dass ja nicht nur sie, sondern

nahezu 90 Prozent für die Auswanderung „optiert“ hatten, wurden

die Rücksiedler wohl zu Sündenböcken für das politisch ansonsten

eher verdrängte Drama der Option. In den neu ausgewiesenen

Rücksiedlerzonen in mehreren Südtiroler Gemeinden (die meisten

davon in Rentsch und Haslach in Bozen, andere in Bruneck,

Brixen und Sterzing) waren sie zunächst häufig sozialer Kälte und

Isolation ausgesetzt.

Zugleich brachte das Jahr 1948 mit dem Autonomiestatut, der

Optantenregelung und den ersten demokratischen Wahlen etwas

Normalisierung in die bewegte Nachkriegszeit. Zu den ersten

Parlamentswahlen am 18. April 1948 trat nun auch die Südtiroler

Volkspartei an. Eindrucksvoll unterstrich die SVP mit 62,7 Prozent

der Stimmen für die Abgeordnetenkammer ihren Alleinvertretungsanspruch

für die deutschen und ladinischen Südtiroler. Im

vorwiegend deutschen Senatswahlkreis Brixen kam die SVP auf

82,55 Prozent. Unter den italienischen Parteien setzte sich die

Democrazia Cristiana mit 21,8 Prozent der Stimmen deutlich vor

den Linksparteien durch, der „Blocco Nazionalista“ kam nur auf

1,9 Prozent. Im Trentino etablierte sich die DC mit über 70 Prozent

der Stimmen eindrucksvoll als italienische Volkspartei. Eine

Hoffnung für die SVP war die starke Trentiner Autonomiebewe-

136


Eine starke Autonomiebewegung gab es auch im Trentino. In Opposition

zu Degasperis Democrazia Cristiana mobilisierte die ASAR Tausende

begeisterter Menschen, schlussendlich aber setzte sich die DC durch.

gung ASAR mit ihrem legendären Wortführer Enrico Pruner aus

der altbairischen Sprachinsel der „Mocheni“ im Fersental. Bei den

Regional- und Provinzialratswahlen kam der aus dem ASAR hervorgegangene

Partito Popolare Trentino Tirolese auf 16,83 Prozent,

die DC konnte aber mit 57 Prozent ihre Dominanz wahren.

Auch in Südtirol stimmten bei den Regional- und Landtagswahlen

am 28. November 1948 die italienischen Wählerinnen und

Wähler differenzierter ab: Die DC erreichte mit 10,78 Prozent als

einzige der italienischen Parteien zwei Mandate, Sozialisten, Kommunisten,

Unabhängige, eine linke Arbeiterpartei und der neofaschistische

„Movimento Sociale Italiano“ (MSI) kamen auf je

einen Sitz. Diese Zersplitterung der italienischen Stimmen, die

sich von da an fortsetzte, erschwerte es der italienischen Politik

in Südtirol, eine gemeinsame Haltung zur Autonomie einzunehmen

und eine auch von der übermächtigen Trentiner DC unabhängige

Richtung einzuschlagen. Die SVP konnte mit 67,6 Prozent

ihre Position sogar noch festigen. Die Sozialdemokratische

Partei ging leer aus und löste sich auf. Ebenso scheiterten die Versuche

ladinischer Gruppen, eine eigene Partei zu gründen. Bis 1964

137


Die ersten beiden Landeshauptleute Südtirols: Karl Erckert (1948–1955)

und Alois Pupp (1956–1960); rechts August Pichler, zunächst einziger Südtiroler

Vertreter in Rom.

blieb die SVP einzige Partei der deutsch- und ladinischsprachigen

Minder heit im Südtiroler Landtag.

An die Spitze der Landesregierung wurde als erster Landeshauptmann

Südtirols der Meraner Rechtsanwalt Karl Erckert

gewählt. Erckert hatte für Deutschland optiert und war während

der NS-Zeit als kommissarischer Verwalter seiner Stadt auserkoren

worden, erhielt aber nach Kriegsende dank wohlwollender italienischer

Fürsprecher sofort seine Staatsbürgerschaft zurück. Auch

zu den Dableiber-Kreisen um Erich Amonn hatte er, wie übrigens

auch Karl Tinzl, gute Beziehungen. Dadurch fiel ihm die Rolle

eines Vermittlers und Ausgleichers zu. Erckert verstarb 1955 während

einer Sitzung der Landesregierung. Sein Nachfolger wurde

der aus dem Gadertal stammende Alois Pupp, dem seitdem einzigen

Ladiner in diesem Amt. Obwohl er von 1958 bis 1961 erster

Landes kommandant der Südtiroler Schützen war, galt er als Repräsentant

einer gegenüber Rom und Trient zu nachgiebigen Politik.

Nach der Wahl von Silvius Magnago zum SVP-Obmann 1957 wurde

er 1960 von diesem auch im Amt des Landeshauptmannes ab gelöst.

Bis 1968, einem Jahr vor seinem Tod, blieb er – zwischen Präsident-

138


schaft und Vizepräsidentschaft rotierend – Mitglied des Südtiroler

Landtages.

Landtag und Landesregierung hatten in der ersten Autonomiephase

mangels Kompetenzen und Geldmittel kaum Möglich keiten

der politischen Gestaltung. Von der im Autonomiestatut vorgesehenen

schrittweisen Übertragung von Zuständigkeiten von der

Region auf die Provinz war jahrelang keine Rede. So musste Karl

Erckert in seiner ersten Haushaltsrede 1948 von kümmerlichen

Zuständigkeiten berichten, die „Provinz“ verfüge nicht einmal über

genügend Räumlichkeiten für die bestehenden, geschweige denn

für weitere Kompetenzen: Dadurch sei „eine weitere Entwicklung

sehr erschwert“. Alle wichtigen Zuständigkeiten blieben auf die

Region in Trient konzentriert, wo die Südtiroler Vertreter sowohl

im Regionalrat als auch in der Regionalregierung chronisch überstimmt

wurden. Die Personalaufnahme auch für Regionalstellen

in Südtirol wurde an den deutschen Assessoren vorbei durchgeführt,

Förderungsmittel gingen in höherem Maße an Beitragsempfänger

im Trentino.

139


Aufbruchsstimmung

und „Todesmarsch“

Südtirol auf dem Weg in die 1950er Jahre –

zwischen Wirtschaftsaufschwung und Zukunftsangst

In Zeittafeln zur Geschichte in Südtirol gibt es meist einen chronologischen

Sprung: 1948 – Genehmigung des Autonomiestatutes,

1956/1957 – Beginn des Autonomiekampfes. Auch bei feineren

Rastern klafft zwischen dem Inkrafttreten des ersten Autonomiestatutes

und der sich schon früh ankündigenden politischen Krise

in der Regel eine Lücke. Möglicherweise hat dies auch damit zu

tun, dass Lebensgefühl und politische Wahrnehmung in der frühen

Autonomiezeit auseinanderdriften.

Noch vor dem Abschluss des Pariser Vertrages und dem Erlass

des Autonomiestatuts hatte es für die kulturelle Absicherung der

deutschen Sprachgruppe eine außerordentliche Leistung gegeben –

den Wiederaufbau der deutschen Schule. Die unter der NS-Besatzung

eingerichteten deutschen Schulen wurden nach der Kapitulation

im Frühjahr 1945 vorübergehend geschlossen. Schon Ende

Juni 1945 aber sicherte die italienische Regierung der deutschen

Bevölkerung einen Unterricht in ihrer Muttersprache zu. Die Alliierten

sollten davon überzeugt werden, dass Italien den kulturellen

und sprachlichen Schutz der deutschen Minderheit ernst nehme.

Gegenüber der ladinischen Sprachgruppe gab es ein solches Entgegenkommen

nicht, die ladinische Sprache wurde schulpolitisch

weiterhin wie ein Dialekt behandelt.

Das erste Volksschuldekret vom Oktober 1945 sah eine muttersprachlich

ausgerichtete deutsche Schule vor. Für das zum Trentino

gehörende Unterland erließ der Trentiner Schulamtsleiter

Giovanni Gozzer in Absprache mit den Alliierten eine Verordnung,

mit der ebenfalls ab Herbst 1945 der deutsche Schulbetrieb aufgenommen

werden konnte. Gozzers Initiative war vor allem deshalb

beachtlich, weil er sie ohne Zustimmung der provisorischen

italienischen Regierung in Angriff nahm.

140


Noch gegen 1950 waren

in Bozen die Kriegsschäden

sichtbar.

In Südtirol tat sich der Geistliche Josef Ferrari durch beherztes

Zupacken hervor. Formal war Ferrari als deutscher Vizeschulamtsleiter

ohne genau definierte Zuständigkeiten dem italienischen

Schulamtsleiter für Südtirol Erminio Mattedi unterstellt, praktisch

aber nahm Ferrari den Aufbau der deutschen Schule selbst

in die Hand. Ohne Genehmigung des Unterrichtsministeriums

und trotz mancher Widerstände eröffnete er ab November 1945

auch deutsche Mittel- und Oberschulen. Durch eine nachträgliche

Ermächtigung von Seiten der alliierten Behörde sicherte er

die Sekundarschulen auch nach der Übergabe des Landes an die

italienische Verwaltung ab. Freilich dauerte es noch Jahre, bis es

in allen Südtiroler Tal- und Ortschaften ein ausreichendes Angebot

auf allen Schulstufen gab, aber grundsätzlich war der Unterricht

in deutscher Sprache von der ersten Volksschulklasse bis zur

Matura gesichert. Pariser Vertrag und Autonomiestatut brachten

– außer der institutionellen Absicherung – keine zusätzlichen Fortschritte,

die primären Schulkompetenzen blieben in Rom.

141


Während die Südtiroler aus der öffentlichen Verwaltung konsequent

vertrieben wurden, konnte für die deutsche Schule auch

das Personal weitgehend gerettet werden. Eine großzügige Entnazifizierung

hielt sich mit einer ebenso nachsichtigen Entfaschisierung

auch in der Schule die Waage. Nationalsozialistische Lehrer

wurden kaum behelligt oder schnell wieder rehabilitiert, faschistische

Lehrer meist ohne Beanstandung im Amt belassen. So wie die

SVP einer möglichst einheitlichen politischen Vertretung zuliebe

auch ehemalige Nazis aufnahm, bot sich auch ihr italienisches Pendant,

die Democrazia Cristiana, als Auffangbecken für alle Italiener

an. Viele Faschisten sahen in der DC die aussichtsreichere politische

Heimat als im neofaschistischen Movimento Sociale Italiano.

Für die Parlamentswahlen 1948 traf die DC sogar eine Absprache

mit dem MSI, um dessen Stimmen auf ihren Kandidaten Angelo

Facchin umzulenken, einem ehedem glühenden Faschisten.

Waren die Neofaschisten auch bei den Wahlen mäßig erfolgreich,

so trugen sie doch viel zur Stimmung in der italienischen Bevölkerung

bei. 1947 gründeten die Brüder Andrea und Pietro Mitolo

auch in Bozen den MSI, bei den Landtagswahlen 1948 erreichten

sie mit 2,7 Prozent der Stimmen prompt ein Mandat. Von den frühen

50er Jahren an traten der MSI und seine Jugendbewegung „Fronte

della Gioventù“ mit Protesten gegen die Autonomie und provokanten

Veranstaltungen wie der „Festa Tricolore“ auf. Damit gab der

MSI einem diffusen Lebensgefühl vieler Italiener in Bozen und

Meran Ausdruck, die nicht einsehen wollten, warum das eroberte

Land nicht ein ganz normales Stück Italien sein sollte. Der Vater

der Brüder Mitolo hatte zu den Offizieren gehört, die 1918 triumphierend

in Bozen einmarschiert waren. Von diesem Erlebnis bezogen

viele der zugewanderten italienischen Familien ihre politische

Identität. Wer nicht mit dem Heer gekommen war, hatte sich

vom Stellenangebot durch die staatlich geförderte Industrialisierung

zur Migration in den Norden verlocken lassen, viele waren

einfache Arbeiterfamilien, die sich an ihre neue Existenz klammerten.

Für ein größeres Verständnis gegenüber der deutschen und

ladinischen Minderheit, die sich durch die Zuwanderung bedroht

und wirtschaftlich an den Rand gedrängt fühlte, fehlten die politischen,

kulturellen und sozialen Voraussetzungen.

142


Die Südtiroler klagten über Schikanen und Benachteiligungen

durch die vorwiegend italienisch besetzte Staatsverwaltung, vom

öffentlichen Dienst bis hin zur Sozialfürsorge. Wohnbau, Staatsdienst

und Industrie waren die wichtigsten Steuerungsinstrumente

der Regierung, um die Zuwanderung italienischer Arbeitskräfte

weiter zu forcieren – und für diese bedeuteten sie Lebens- und

Zukunftschancen. Die deutschen und ladinischen Südtiroler

dagegen blieben weitgehend davon ausgeschlossen.

Auf dem Höhepunkt der faschistischen Zuwanderungspolitik

unmittelbar vor dem deutschen Einmarsch 1943 hatten in Süd tirol

176.000 Deutsche, 104.766 Italiener und 10.635 Ladiner gelebt. 1951

war die italienische Bevölkerung um weitere 10.000 Personen angewachsen,

bis 1961 kamen noch einmal rund 15.000 Italiener dazu.

In einem italienischen Regierungspapier von 1954 war unverhohlen

von der „politica del 51 per cento“ die Rede: Sobald die Italiener

in Südtirol einen Bevölkerungsanteil von 51 Prozent erreicht

haben würden, ließe sich das Südtirol-Problem vom Tisch wischen.

In dieser Stimmung prägte Kanonikus Michael Gamper 1953 den

legendären Satz vom „Todesmarsch“ der Südtiroler.

Die düstere politische Stimmung stand im Gegensatz zum allgemeinen

Lebensgefühl Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre.

Denn es war auch eine Zeit des Wiederaufbaus, der Pionierleistungen,

des Aufbruchs. Technische Errungenschaften wie Waschmaschine,

Kühlschrank, Tiefkühltruhe, Elektroherd, Staubsauger,

Grammophon, Radio und – noch selten – Fernsehapparate veränderten

allmählich, aber nachhaltig die Alltagswelt. Zeitungsinserate

priesen die neuen Errungenschaften an, mit dem Import

von Kühlschränken und Küchengeräten mauserten sich Südtiroler

Kleinbetriebe wie der Ladenhersteller Schweitzer zu national

und bald auch international operierenden Unternehmen. Motorrad

und etwas verzögert auch das Auto wurden zum Symbol für

eine neue, individuelle Beweglichkeit. Von knapp 2500 Motorrädern,

die 1952 in Südtirol gemeldet waren, schnellte die Zahl binnen

dreier Jahre auf über 15.000 hoch. Die Zahl der Autos verdoppelte

sich von 1952 bis 1956 auf 8000. Vespa-Ausflüge traten an die

Stelle der Radlausflüge, mit denen sich noch die Zwischenkriegsgeneration

vergnügt hatte. Kino, Tanzabende und Bälle wurden

143


Modernisierung erfasste und faszinierte in den urbanen Zentren vor

allem die italienische Jugend (im Bild Circolo Universitario Cittadino, 1951),

die Vespa eroberte aber auch die deutsche Bevölkerung.

zu beliebten Freizeitveranstaltungen. In Meran kam es 1952 zur

Miss-Italia-Wahl, 1958 nahm schon die erste Südtirolerin (Erika

Haller) daran teil, im selben Jahr konkurrierte Helene Steinbacher

um die „Miss Cinema Bolzano“. Südtiroler Sportvereine blühten

auf, der FC Bozen spielte in der zweiten italienischen Fußballliga,

Südtiroler Hockeyclubs beherrschten die A-Meisterschaft. Italienische

Sportgrößen wie die Radlegende Fausto Coppi begeisterten

auch viele Südtiroler.

Die Wirtschaft erhielt nach der Stagnation neuen Auftrieb.

Die Ausfuhr von Wein etwa in die Schweiz, nach Österreich und

Deutschland, die bei Kriegsende fast zum Erliegen gekommen war,

erholte sich ab 1948 wieder, ebenso der Export von Obst, Gemüse,

Wolle, Grödner Schnitzwaren und chemischen Produkten. Mit

Kriegsende war die Handels-, Industrie- und Landwirtschaftskammer

Bozen wieder aktiviert worden. Am 12. September 1948 fand

erstmals wieder die Bozner Messe statt, italienische und überregionale

Wirtschaftsinteressen trafen sich hier – etwa bei der Viehzuchtschau

oder dem großen Trachtenumzug – mit Bekundungen

des Südtiroler Wirtschaftslebens und Volkstums. 1949 schlossen

Italien und Österreich – in Durchführung einer Bestimmung des

Pariser Vertrages – das „Accordino“ („kleines Abkommen“) zur

Erleichterung des Warenaustausches. Der Tourismus blühte wie-

144


der auf, 1949 waren die Nächtigungszahlen der Vorkriegsjahre

wieder erreicht. Die Gäste waren zunächst zu 80 Prozent Italiener,

die Urlaub im Gebirge suchten, ab 1950 nahmen aber auch die

Touristenströme aus Österreich und Deutschland wieder stark zu.

Der Brenner wurde an besonderen Reisetagen zum Nadelöhr, am

Mitsommertag 1955 passierten 20.000 Autos den Alpenpass Richtung

Süden. Schrittweise wurde das Straßennetz ausgebaut. Wie

in Innsbruck, wo schon 1948 der Flughafen am heutigen Standort

eröffnet wurde, gab es auch für den Bozner Flughafen frühe,

wenn auch nicht verwirklichte Ausbaupläne. Südtiroler wurden

zunehmend auch selbst zu Touristen, die adriatischen Badeorte

wie Caorle, Jesolo und Rimini wurden zum Sommerziel von immer

mehr Badeurlaubern.

Erst auf den zweiten Blick zeigt sich im beschwingten Stimmungsbild

der 50er Jahre ein brüchiger Untergrund. Die Südtiroler

Landwirtschaft schien nach dem Krieg im Vergleich zu

anderen Alpenländern einigermaßen krisenfest zu sein. Während

der Beschäftigungsstand in der Landwirtschaft in den österreichischen

Alpengebieten zwischen 1934 und 1951 um mehr als

15 Prozent zurückgegangen war, betrug der Rückgang in Südtirol

gerade zwei Prozent. Dagegen hatte der Arbeitsplatzanteil der

Industrie in Südtirol stärker abgenommen als etwa in Tirol und

im Trentino. Darin zeigen sich aber gegenläufige Entwicklungen:

Die bäuerlichen Arbeitsplätze waren in Südtirol angesichts des

realen Bedeutungsverlustes der Landwirtschaft unnatürlich viele,

weil Bauernkinder kaum Ausweichmöglichkeiten in der Industrie

und im öffentlichen Dienstleistungssektor fanden. So blieben

viele trotz wirtschaftlicher Verschlechterungen notgedrungen in

der Landwirtschaft tätig, auch wenn diese sie nur mehr schlecht

ernähren konnte. In den Industriebetrieben nahmen die Arbeitsplätze

ab, weil die künstliche Anheizung durch den Faschismus

nicht durchgehalten werden konnte. Das Ungleichgewicht in den

wirtschaftlichen Perspektiven zeigte sich schon wenige Jahre später,

als sich den Südtirolern das verlockende Angebot von Arbeitsmöglichkeiten

im Wirtschaftswunderland Deutschland bot. Viele

verließen ihre Höfe. Nicht wenige nahmen auch Chancen in den

oberitalienischen Wirtschaftshochburgen wahr.

145


Wohlstand und Modernisierung wurden erst verspätet zum

Allgemeingut. Noch 1961 hatten 2300 Südtiroler Haushalte keinen

Stromanschluss, 32.600 diente er nur für das elektrische Licht.

Fernseher wurden für viele erst Ende der 60er Jahre zur erschwinglichen

Errungenschaft, die erste Mondlandung 1969 erlebten die

meisten Menschen in öffentlichen Lokalen, die sich für das Ereignis

ein Fernsehgerät zugelegt hatten. 1950 besaßen erst 41 Südtiroler

Bauern einen Traktor. Der Aufschwung war sichtbar geworden,

aber noch war er eine Verheißung, die vielleicht dem bessergestellten

Nachbarn vergönnt war, für die meisten in Südtirol aber

außer Reichweite schien.

Das könnte erklären, warum die Stimmung drückend blieb

und die politische Konfrontation zunehmend schärfer wurde. Die

Volk-in-Not-Stimmung band im Kulturleben auch nach 1945 viele

kreative Kräfte an konservative Grundhaltungen. Exemplarisch

zeigte sich dies in den – von den Nazis hochgeschätzten – Werken

des Malers Rudolf Stolz und des Autors Hubert Mumelter. Trotzdem

zeigten sich gerade in der Kunst Versuche, eine Kontinuität

zum Nationalsozialismus zu vermeiden, wenngleich auf eine nicht

minder fragwürdige Weise. Als sich nach dem Krieg 140 Süd tiroler

Künstler, Bildhauer und Architekten zum „Südtiroler Künstlerbund“

zusammenschlossen, war nicht Rudolf Stolz führend, sondern

sein Bruder Albert, der Aufträge und Anerkennung von den

Faschisten bekommen hatte. Als Albert Stolz 1947 verstarb, wurde

der Bildhauer Hans Piffrader sein Nachfolger, dessen Mussolini-

Relief am heutigen Gerichtsplatz bis in die Gegenwart für Anstoß

sorgt. Piffrader orientierte sich in seinem Schaffen an der Wiener

Secession, nun wandte er sich – wohl zur Verarbeitung seiner

Kriegserlebnisse und seiner Kollaboration mit dem Faschismus –

dem Makaberen zu. Von den Ideologien und Regimen ihrer Zeit

waren die allermeisten Künstler teils gebannt, teils gefangen

gewesen, in ihren Werken versuchten viele aber doch einen Neuanfang.

Symbolträchtig war der Kunstskandal 1945 um Max Weilers

Fresko „Lanzenstich“ aus dem Zyklus für die Theresienkirche auf

der Hungerburg in Innsbruck. Die Darstellung eines Söldners in

Bauerntracht, der den Gekreuzigten durchbohrt, sorgte für der-

146


art heftige Reaktionen, dass Weiler für Jahre aus Innsbruck verschwand

und das Fresko verhüllt wurde. Der Lanzenstich stellte

eine Verletzung des Grundkonsenses dar, auf den sich Tirol – diesseits

und jenseits des Brenners – nach 1945 geeinigt hatte: Opfer

von Unrecht, nicht Täter gewesen zu sein.

Erst 1954 traten Künstler mit der Meraner Gruppe um Peter

Fellin, Karl Plattner und Oswald Kofler mit einem Manifest gegen

das unreflektierte Heimatpathos ihrer Zeit auf. Eine neue Formensprache

suchten auch Bildhauer, die Faschismus, Nationalsozialismus

und Krieg zumindest als Kinder miterlebt hatten. Die

meisten gingen durch die Grödner Schule, so die Grödner Martin

Demetz und David Moroder, aber auch die Schnalser Martin Rainer

und Friedrich Gurschler. In Wien nahm Oswald Ober huber

eine kritische künstlerische Haltung ein, in Innsbruck begann

der aus Glurns stammende Karikaturist und Zeichner Paul Flora

liebevoll-ironisch am Tiroler Wesen zu sticheln.

In der politischen Debatte war für solche Zwischen- und Gegenstimmen

kein Platz, sie stand im Zeichen des Überlebenskampfes

der Südtiroler Minderheit im italienischen Staat. Dies wirkte

sich auch auf die Entwicklung des Medienwesens aus. „Dolomiten“

und „Alto Adige“ verstanden sich als politische Leitmedien ihrer

Bevölkerungsgruppe. Die Gründung weiterer deutsch sprachiger

Zeitungen erfolgte weniger aus dem Bedürfnis nach Meinungsvielfalt

als vielmehr aufgrund staatlicher Lenkung: So versuchte schon

1946 die „Alto-Adige“-Gruppe Seta, mit dem „Bozner Tagblatt“ auch

die deutschsprachige Bevölkerung zu erreichen und regierungsfreundlicher

zu stimmen. Der Versuch scheiterte am Misstrauen

der Südtiroler Leserschaft gegenüber einer deutschen Zeitung mit

italienischem Herausgeber. Ein ähnliches Projekt war 1947 die

Gründung der Wochenzeitung „Der Standpunkt“. Sie konnte auf

einige hervorragende Journalisten zurückgreifen, die zum Teil

schon in der NS-Zeit nach Südtirol gekommen waren. Auch der

Südtiroler Industrielle Hans Fuchs trug das Blatt mit. „Der Standpunkt“

wollte sich durch gediegene Kulturberichterstattung vom

ethnischen Konfrontationskurs der „Dolomiten“ abheben, das Autonomiestatut

von 1948 wurde positiv bewertet. Die Mittel kamen

weitgehend aus dem „Grenzzonenamt“, das von Alcide Degasperi

147


Graun versinkt im Reschenstausee: die Vollendung eines faschistischen

Projektes im demokratischen Italien (1950).

für Südtirol eingerichtet worden war und von Silvio Innocenti

ge leitet wurde. Von 1951 bis 1957 erschien bei der „Alto-Adige“-

Gesellschaft Seta schließlich die „Alpenpost“, offiziell herausgegeben

von Obst- und Weinhändlern, die aufgrund der staatlichen

Ausfuhrkontrolle auf einen guten Draht zur Regierung in Rom

angewiesen waren. Die „Alpenpost“ versuchte die Südtiroler

Leserschaft durch boulevardartige Aufmachung zu erreichen, auch

einige glaubwürdige Südtiroler Journalisten ließen sich dafür gewinnen.

Finanziert wurde die Zeitschrift ebenfalls über Mittel des

Innen ministeriums, Erfolg war auch ihr keiner beschieden. „Alpenpost“

und „Standpunkt“ gingen mit der Zuspitzung des Autonomiekampfes

ein. Der kulturelle und ethnische „Überlebenskampf“,

von dem die Südtiroler Politik geprägt war, ließ auf deutscher und

ladinischer Seite keinen Platz für Pluralismus, sondern forderte

Geschlossenheit.

In der demographischen Entwicklung bestätigten sich die Südtiroler

„Todesmarsch“-Ängste rein statistisch nicht. Letztlich blieb

das Verhältnis der Sprachgruppen konstant: Was an Italienern

zuwanderte, machten die Deutschen und Ladiner durch höhere

Geburtenraten wett. Wohl aber erschwerten die fehlenden Aus- und

148


Aufstiegsmöglichkeiten aus dem traditionellen Wirtschaftsgefüge

die Lebensbedingungen der Südtiroler Familien. Das Gefühl und

vielfach auch reale Erleben, dass vor allem den deutschsprachigen

Südtirolern die Existenzgrundlagen entzogen wurden, während

den Italienern Staatsstellen und Wohnbauförderung vorbehalten

waren, überlagerte den Aufbruchsgeist der Nachkriegszeit.

Ein eindrückliches Symbol dafür war die Vollendung des unter

dem Faschismus geplanten Staubeckens am Reschen für das Kraftwerk

der Montecatini: Am 26. Juli 1950 versank das geräumte Dorf

Graun im Stausee. Lediglich der herausragende Kirchturm erinnerte

noch an das Opfer, das Südtirol für die staatliche Energiegewinnung

leisten musste, im Namen eines Fortschritts, von dem

sich die meisten ausgeschlossen fühlten.

149


Wende in der Volkspartei

Umkämpfter Generationswechsel – Von Dietls Protesthaltung

zur „Palastrevolte“ – Magnagos Wahl zum SVP-Obmann

Die lange verdeckten Brüche in der Südtiroler Gesellschaft sorgten

Mitte der 50er Jahre auch innerhalb der Südtiroler Volkspartei für

Reibungen und Spannungen. Die liberal-städtischen Gründer väter

begannen den Druck nachdrängender Generationen, aber auch

aufbegehrender sozialer Gruppen zu spüren, die bis dahin kaum

Möglichkeiten der politischen Mitgestaltung hatten.

Mit Silvius Magnago und Alfons Benedikter wurden schon bei

den Landtagswahlen von 1948 zwei Politiker gewählt, die sich als

Hoffnungsträger einer neuen Generation profilierten. Magnago kam

aus einer Bozner Richterfamilie, war eher von strenger altösterreichischer

Beamtenmentalität denn von liberaler Bürgerlichkeit

geprägt, Glanz und Glamour waren ihm nicht nur fremd, sondern

auch suspekt. Alfons Benedikter stammte aus einem politischen und

wirtschaftlichen Randgebiet, dem Vinschgau, von der Ausbildung

her ein Jurist wie Magnago. In Schlanders, wo Benedikter herkam,

war der noch vom CLN eingesetzte altfaschistische Bürgermeister

bis 1947 im Amt geblieben. Maßgeblich beteiligt am Sturz des

italienischen Bürgermeisters war der junge Göflaner SVP-Ortsobmann

Hans Dietl. Alfons Benedikters Vater wurde erster deutscher

Bürgermeister des Vinschgauer Hauptortes.

In der SVP verkörperten Magnago und Benedikter einen Politikertypus

neuen Stils. Sie gehörten einer jüngeren Generation an,

beide waren Optanten und Wehrmachtsoldaten gewesen, der beinamputierte

Magnago Kriegsinvalide, Benedikter Russland-Heimkehrer

nach schwerer Gefangenschaft. Und beide waren in der

von Bozens Bürgertum gegründeten „Honoratiorenpartei“ (Anton

Holzner) zunächst eher Außenseiter. Magnago fiel bei seiner ersten

Kandidatur, den Parlamentswahlen 1948, als erster Nichtgewählter

durch: Weder die volkstumspolitisch orientierte Gruppe

um Kanonikus Michael Gamper, noch die liberalen Parteigranden

stützten ihn. Aber schon bei den im selben Jahr folgenden Bozner

150


Protagonisten der politischen Wende: Alfons Benedikter und Silvius Magnago

nach ihrer Wahl in den Landtag 1948 (um 1952), im Bild darunter Hans Dietl

und Peter Brugger (links von Karl Tinzl und Magnago).

151


Gemeinde- und Landtagswahlen bestach er durch seine Vorzugsstimmenergebnisse.

Er wurde deutscher Vizebürgermeister in der

italienisch verwalteten Landeshauptstadt und erster Landtagspräsident.

1951 übertrumpfte er bei den internen Parteileitungswahlen

den Parteigründer Erich Amonn.

Die erste Amtsperiode von Regionalrat und Landtag verlief enttäuschend.

Von einer Umsetzung der versprochenen Autonomie

konnte keine Rede sein. Das von Degasperi ins Leben gerufene „Spezialamt

für die Grenzregionen“, geleitet vom früheren Präfekten

Silvio Innocenti, vereitelte konsequent einen konstruktiven Dialog

zwischen Bozen und Rom. Die Lösung der Optantenfrage wurde

weiter verzögert, mit dem Ergebnis, dass viele, die gern rückgewandert

wären, diesen Wunsch schließlich aufgaben. Die schon vom

Autonomiestatut vorgesehene Zweisprachigkeit im öffentlichen

Dienst wurde systematisch unterlaufen. Das Postministerium etwa

widersetzte sich der Aufnahme zweisprachigen Personals. An den

meisten Bahnhöfen war es unmöglich, auf Deutsch eine Fahrkarte

zu erwerben. Der Zugang zum öffentlichen Dienst wurde Südtiroler

Bewerbern durch Benachteiligung bei den Wettbewerben versperrt,

bei vielen Ausschreibungen kam kein einziger Südtiroler

zum Zug. In der Region wehrte sich die DC gegen die Anwendung

des Artikels 14, der so wichtige Bereiche wie die Wirtschaftsförderung,

die Landwirtschaftsinspektorate, die Arbeitsämter und den

Wohnbau dem Land übertragen sollte. Durch gezielte Wohnbaupolitik

wurde im Zusammenspiel zwischen Rom und Trient die

italienische Zuwanderung nach Bozen weiter forciert.

Bei den Landtagswahlen 1952 wurde der Erneuerungsschub

innerhalb der SVP unübersehbar. Eine Reihe von Kandidaten der

Gründergeneration trat nicht mehr an, unter ihnen Gründungsobmann

Erich Amonn. Magnago und Benedikter schnitten hervorragend

ab. Von den neuen Kandidaten erhielt Hans Dietl, 1948 wegen

der Anfechtung seiner Staatsbürgerschaft noch von der Liste gestrichen,

die meisten Stimmen. Ein neues Gesicht war der Bauernkandidat

Peter Brugger aus dem Ahrntal. Dietl und Brugger waren

ebenfalls Optanten, Wehrmachtsoldaten und Juristen. Während

Magnago wieder Landtagspräsident wurde, besetzten Benedikter

und Dietl gegen den Widerstand der Parteiführung die wichtigsten

152


Die Zuwanderung zwischen menschlichen Bedürfnissen und staatlicher

Strategie: Die Arbeitskräfte für die Industriebetriebe mussten zunächst

in Baracken hausen, womit die Regierung in der Folge den zusätzlichen

Baubedarf in Bozen begründete.

zwei Ämter in der Regionalregierung, Brugger wurde Regionalratssprecher

der SVP und Landwirtschaftsassessor in Bozen. Der

Hausfrieden in der Region, um den sich die SVP-Gründer zähneknirschend

bemüht hatten, war damit praktisch aufgekündigt.

Treibende Kraft des Kurswechsels war Dietl. Die Trentiner

DC hatte in der Region weitgehend freie Hand gehabt, besetzte

wichtige Stellen auch in Südtirol mit ihren Leuten, schleuste bedeutende

Geldmittel an den Südtirolern vorbei. Dietl begann Statistiken

über die ungleiche Förderung der Landwirtschaft in Trient

und Bozen zu erstellen, vereitelte Gefälligkeitsentscheidungen bei

Personalaufnahmen und begann auf die bis dahin verschleppte

Durchführung des Artikels 14 des Autonomiestatutes zu pochen.

Als die DC die Verwaltungsübertragungen von Trient nach Bozen

weiter verzögerte, begann Dietl für einen Rücktritt aller SVP-

Assessoren in der Region zu werben.

Die SVP reagierte zögerlich. Die Sammelpartei tat sich schwer,

die vielen politischen Kräfte zu bündeln, die in ihr vereinigt waren.

Allein die schnellen Obmannwechsel nach dem freiwilligen Ver-

153


zicht von Erich Amonn 1948 zeugen von der Schwierigkeit der

SVP, personelle und inhaltliche Orientierung zu finden: Der Burggräfler

Josef Menz Popp blieb drei Jahre im Amt, sein Nachfolger

Toni Ebner nur ein Jahr, gefolgt von Otto von Guggenberg, der nur

zwei Jahre blieb.

Einer der einflussreichsten SVP-Politiker der Nachkriegszeit

war Karl Tinzl, der aber erst nach Erhalt der lange nicht gewährten

Staatsbürgerschaft offiziell auftreten durfte: 1953 wurde er erstmals

ins Parlament gewählt, 1954 übernahm er die SVP-Führung.

1956 folgte ihm erneut Toni Ebner ins Amt, der als junger Protegé

von Kanonikus Michael Gamper einerseits das patriotische

Lager vertrat, andererseits auch in den bürgerlichen Kreisen gut

eingeführt war. Unmittelbar darauf verstarb am 15. April 1956 mit

Gamper die überragende Persönlichkeit des friedlichen Südtiroler

Widerstandes unter dem Faschismus und auch der Aufbauarbeit

nach dem Krieg. Für Ebner tat sich durch seine Ehe mit der

Kanonikus-Nichte Martha Flies das Erbe der Athesia auf. Er wurde

durch die direkte Kontrolle über die Tageszeitung „Dolo miten“

zu einem der mächtigsten Männer Südtirols. Zugleich rückte er

– politisch offenbar sich freier fühlend – weiter an das bürger liche

Lager heran.

Einen Einheitsblock bildete auch die Gruppe um Benedikter,

Dietl und Brugger nicht. Der Konflikt in der Region war aufreibend,

die Widerstände in der eigenen Partei wirkten zermürbend.

Benedikter und Brugger scheuten vor dem von Dietl geforderten

demonstrativen Amtsverzicht zurück. Silvius Magnago warnte

vor dem totalen Bruch mit der DC in der Region, weil die SVP

dann möglicherweise erst recht von jeder Mitsprache ausgeschlossen

sei. Auch müsse sich die SVP vor drastischen Schritten vergewissern,

dass sie damit nicht Österreich als Vertragsmacht des

Gruber- Degasperi-Abkommens überfordere. Nach jahrelangem

vergeblichen internen Druck trat Dietl schließlich am 6. Mai 1955

im Alleingang als Regionalassessor zurück und setzte seine Partei

unter Zugzwang.

Für die politische Stimmung war es ein zündender Funke.

Dietl wurde zum Hoffnungsträger einer Generation, die sich nicht

mehr alles gefallen lassen wollte. Die SVP ließ ihn zwar noch ein-

154


mal im Regen stehen: Anders als von Dietl erhofft, kam es nicht

zum Auszug der SVP aus der Region. Aber um Dietl herum kristallisierte

sich der Wunsch nach einer offensiveren politischen Strategie.

Vor allem der Bozner Franz Widmann, ein damals nahezu

unbekannter, aber gewiefter Stratege im Hintergrund, begann mit

Dietl den Führungswechsel in der SVP vorzubereiten. Da die Wahlen

der Parteispitze bis dahin praktisch mit vorgefertigten Listen

vorgegeben waren, bedurfte es einer mehrmonatigen Vorarbeit im

Stillen. Von Ortsgruppe zu Ortsgruppe wurden Vertrauensleute

aufgebaut, um für die nächsten Parteiwahlen die Wende herbeizuführen.

Die Zeit arbeitete für einen Richtungswechsel. 1955 erhielt

Österreich den Staatsvertrag und damit neue Handlungsfähigkeit.

Die Augen vieler Südtiroler richteten sich nach Wien, wo

mit dem Tiroler Franz Gschnitzer als Staatssekretär ein kräftiger

Fürsprecher gefunden worden war. Der hochrangige Jurist, Universitätsprofessor

und Abgeordnete zum österreichischen Nationalrat

wurde zu einer der wichtigsten Persönlichkeiten in den

Südtirol-Verhandlungen, zuerst im Bundeskanzleramt, später im

Außenministerium. Die Tiroler Landespolitik hatte sich nach der

Enttäuschung über die gescheiterte Wiedervereinigung, ähnlich

wie jene in Südtirol, auf den notwendigen Wiederaufbau des Landes

konzentriert. Die Landeshauptleute jener Zeit haben sich in der

Erinnerung der Südtiroler keinen Platz gesichert: Alfons Weißgatterer,

auf Karl Gruber nachgerückt, stand im Schatten des Tiroler

Außenministers. Nach Weißgatterers Tod 1951 wurde Alois Grauß

Landeshauptmann, der 1957 – knapp vor dem politischen Aufbruch

in Südtirol – wieder abtrat. In der nächsten Landesregierung

unter Karl Tschiggfrey nahm zwar nicht der Landeshauptmann

selbst, wohl aber dessen Stellvertreter Aloys Oberhammer

eine aktive Rolle im neuen Autonomiekampf ein.

Abgerissen war der Faden zwischen Bozen und Innsbruck nie,

ab Mitte der 50er Jahre wurden die Verbindungen wieder fester

geknüpft. Kanonikus Michael Gamper hatte 1953 am Rande einer

Südtirol-Kundgebung die Gründung eines „Schutzverbandes für

Südtirol“ angeregt, wohl spürend, dass der erstaunlicherweise nie

erloschenen Solidarität für Südtirol auf Dauer institutionell nach-

155


Silvius Magnago prägte über die Jahrzehnte die Südtirol-Politik: Im Bild bei

einer 1809-Gedenkfeier 1959 mit SVP-Generalsekretär Hans Stanek, dahinter

Landeshauptmannstellvertreter Robert von Fioreschy.

geholfen werden müsse. Am 5. März 1954 wurde der „Bergisel-

Bund – Schutzverband für Südtirol“ gegründet. An einem der ersten

größeren Treffen im Dezember desselben Jahres nahm Friedl

Volgger teil, wie Toni Ebner ein Schützling des Kanonikus, nach

dessen Tod aber bei Athesia ins Abseits geraten. Franz Gschnitzer

gab den Ton an: „Wir müssen Wien vorwärtstreiben.“ Dass Karl Gruber

im Zuge des Regierungswechsels (von Leopold Figl zu Julius

Raab) aus dem Außenministerium schied, wurde als Erleichterung

aufgenommen. Da der neue Außenminister Figl kein Tiroler war,

fühlte sich die Tiroler Politik freier. Gschnitzer rückte zum Staatssekretär

im Außenamt auf.

Zunehmender polizeilicher und gerichtlicher Druck verstärkte

in Südtirol die Bereitschaft zu einem härteren Kurs. Die italienischen

Behörden gingen völlig unsensibel gegen patriotische Äußerungen

der Südtiroler Jugend vor, das Singen deutscher Lieder

wurde ebenso geahndet wie das Hissen der Tiroler Fahne. Es kam

zu lächerlichen Strafprozessen wegen weiß-rot gestrichener Fensterläden

und eines mit dem Mund vorgetäuschten Furzes eines

Südtirolers in der Nähe einer Polizeistreife. Der Linzer Egon Mayr

156


Die Vorgangsweise der Justiz gegen die „Pfunderer Buam“ wurde

zum zündenden Funken in bereits explosiver Stimmung.

wurde neun Monate in Untersuchungshaft gehalten, weil er bei

Brixen Kopien eines Zeitungsartikels über Italiens Unrecht an Südtirol

aus dem fahrenden Zug geworfen hatte. Der leitende Bozner

Staatsanwalt Faustino Dell’Antonio hatte seine Karriere unter dem

Faschismus begonnen. Er ging mit aller Härte vor, für Egon Mayr

forderte er 14 Jahre Haft; das Gericht erteilte immer noch drei

Jahre Gefängnis. Der traditionelle Trachtenumzug zur Eröffnung

der Bozner Messe wurde 1956 abgesagt, nachdem neofaschistische

Gruppen Störungen angekündigt hatten. Statt Musikkapelle und

Feuerwehr marschierte eine „banda musicale“ vom Comer See

durch Bozen. Innenminister Fernando Tambroni bestritt in seiner

Eröffnungsrede, dass es ein Südtirol-Problem gebe. Eine Kundgebung

der SVP zum zehnjährigen Jahrestag des Pariser Vertrages

auf dem Landhausplatz wurde verboten, den Schützen ein Protestmarsch

durch Bozen untersagt.

Solche Nachrichten stachelten auch das Interesse vieler Südtirol-Freunde

in Tirol an. Empörung löste die Verhaftung und vor

allem die drakonische Bestrafung der Pfunderer Burschen aus,

denen die Ermordung des Finanzbeamten Raimondo Falqui am

16. August 1956 zur Last gelegt wurde. Falqui und seine Kollegen

157


hatten mit den Burschen im Gasthaus lange gezecht, über die Anmahnung

der Sperrstunde war es dann zum Streit gekommen. Am

nächsten Tag wurde der Finanzer tot im Bachbett gefunden. Wie

genau Falqui zu Tode gekommen ist, ließ sich nie restlos aufklären,

möglicherweise war es ein Totschlag infolge eines Handgemenges

auf dem Heimweg, möglicherweise war er in der Dunkelheit

unglücklich in den Abgrund gestürzt. Verurteilt wurden Luis Ebner,

Bernhard Ebner, Isidor Unterkircher, Florian Weißsteiner, Georg

Knosseisen, Johann Huber und Paul Unterkircher am 16. Juli 1957

wegen Mordes zu Haftstrafen von zehn bis 24 Jahren.

Die in schweren Ketten abgeführten „Pfunderer Buam“ wurden,

obwohl nie politisch aufgetreten, zu Symbolfiguren des aufflammenden

Autonomiekampfes. Das gerichtliche Vorgehen wurde als

Willkür empfunden. Für eine Gruppe um den Bozner Buchdrucker

Hans Stieler war dies einer der Anlässe für die ersten Sprengstoffanschläge

im Herbst 1956. Stieler kontaktierte vorher in Innsbruck

Franz Gschnitzer und Aloys Oberhammer und fühlte sich zum Handeln

ermutigt. Die Stieler-Gruppe, von der einzelne Aktivisten auch

schon Kontakte zu den späteren Leitfiguren Sepp Kerschbaumer

und Luis Amplatz hatten, führte zwischen Herbst 1956 und Jänner

1957 sechs Anschläge aus. Die Anschlagwelle, die nur geringe

Schäden anrichtete, endete mit der Verhaftung von 14 Südtirolern.

Beweise gab es nur gegen eine kleine Gruppe um Stieler.

Ihre eigentliche Brisanz erhielten die Attentate erst nachträglich,

als am 1. Februar 1957 Friedl Volgger als mutmaßlicher Drahtzieher

verhaftet wurde. Als Redakteur der „Dolomiten“ kannte

Volgger den Zeitungssetzer Stieler gut, der oft auch den Kanonikus

chauffierte. Dass er mit der Stieler-Gruppe tatsächlich unter einer

Decke steckte, ist nicht gesichert, wohl aber pflegte er, wie in weit

aktiverem Ausmaß auch Hans Dietl, tatsächlich Kontakte zur Attentäterszene.

Mangels Beweisen musste er wieder enthaftet werden.

Volggers Verhaftung und Freilassung unmittelbar vor der Neuwahl

der SVP-Spitze machten ihn zum Mann der Stunde auch

für die Dietl-Gruppe. Als Obmannkandidat lief alles auf Silvius

Magnago zu, der einerseits das Vertrauen der alten Garde genoss,

aufgrund seines Charismas aber auch Dietl als der richtige Mann

für die politische Wende schien. Anders als die Amonn-Gruppe,

158


die vorwiegend die Obmannfrage im Auge hatte, zielte Dietl auf

eine neue Mehrheit in den Leitungsgremien. Der Plan ging auf:

Drei von vier Obmannstellvertretern gingen mit Dietl, Benedikter

und Volgger an die Herausforderer. Einzig Karl Tinzl, auch

von der Dietl-Gruppe geschätzt, konnte sich von der „alten Garde“

als Stellvertreter durchsetzen, Gründungsobmann Erich Amonn

fiel als sicher geglaubter Vizeobmannkandidat dagegen durch. Im

Partei ausschuss sicherte sich die Dietl-Gruppe eine breite Mehrheit.

Mit der „Palastrevolte“ war der erste Schritt zur Aufkündigung

des unbefriedigenden Autonomiefriedens getan.

159


Glanz und Schatten

von Sigmundskron

Sternstunde am Rande eines Scherbenhaufens – Schwere Konflikte

in der SVP – Das belastete Verhältnis zur Kirche

„Mander, es ist Zeit“, schrieb Sepp Kerschbaumer in einem Rundschreiben

zu Neujahr 1957. Der Frangarter Kaufmann und SVP-

Ortsobmann war zu diesem Zeitpunkt landesweit bekannt. Bei

SVP-Landesversammlungen trat er mit mahnenden Stellungnahmen

regelmäßig ans Rednerpult. In Vorsprachen bei Politikern

redete er ihnen ins Gewissen, dass es einen schärferen Kurs brauche.

Allmählich versammelte Kerschbaumer eine Bewegung um

sich, die einer politischen Wende auch gewaltsam nachzuhelfen

gewillt war. Aus einer kleinen Kerngruppe entwickelte sich der

Befreiungsausschuss Südtirol (BAS). Kerschbaumer war kein fanatischer

Hetzer, sondern ein tief religiöser und von seinem Anliegen

überzeugter Mensch. Seine ersten Aktionen waren noch fried licher

Art. Aus Protest gegen die hohen Haftstrafen für die Pfunderer

Buam begab er sich etwa nach Pfunders und trat im dortigen Pfarrhaus

einen Hungerstreik an. Am Andreas-Hofer-Tag 1957 hisste er

die verbotene Tiroler Fahne demonstrativ am helllichten Tag, um

seine Verhaftung zu provozieren. Als er 1958 dafür tatsächlich verurteilt

und eingesperrt wurde, trat er wieder in den Hungerstreik.

1957 wäre die Eskalation des Südtirol-Konflikts durch politisches

Einlenken vermutlich noch zu stoppen gewesen. Kerschbaumer

entschied sich erst Ende des Jahres für den gewaltsamen

Aufstand. Bis dahin zeichnete er seine Flugschriften noch mit vollem

Namen, danach verwendete er das Kürzel „BAS“. Auch andere

Attentätergruppen, vor allem um den Passeirer Schützenhauptmann

Jörg Klotz, warteten noch zu. Die Hoffnungen richteten

sich vor allem auf die Wende in der Volkspartei.

Silvius Magnago hatte nach seiner Wahl einen schweren Stand.

Die abgewählte Führung wollte ihn unmittelbar nach der Wahl wieder

zum Rücktritt zwingen, um ihre Abwahl rückgängig machen

160


Die Kundgebung von Sigmundskron ist im Rückblick ein Highlight der

Autonomiegeschichte: Die Stimmung war geladen, eine Eskalation drohte.

zu können. Von der anderen Seite drängte die Dietl-Gruppe auf

eine energischere Kurskorrektur. In Österreich und auch in Tirol

war man irritiert und besorgt, stärkte aber – nach intensiven Beratungen

– schließlich eindeutig der neuen Führung um Magnago

den Rücken.

Dass die italienische Regierung ihre Zuwanderungspolitik noch

weiter auf die Spitze trieb, klärte zumindest vorübergehend die

Situation. Im Oktober 1957 schreckte ein Wohnbauprojekt der

Regierung für Bozen die SVP auf. Der nach dem Minister für öffentliche

Arbeiten benannte „Togni-Plan“ sah 2,5 Milliarden Lire für

den Bau eines neuen Stadtteiles mit 5000 Wohnungen, Kirchen,

öffentlichen und sozialen Diensten vor. Eine Protestkundgebung

der SVP wurde zunächst von der Quästur untersagt, was die Stimmung

noch mehr anheizte. In Bozen demonstrierten italienische

Oberschüler gegen die Autonomie und die Südtiroler Forderungen.

Am 9. November wurde ein Anschlag auf das Grabmal des faschistischen

Senators Ettore Tolomei in Montan verübt.

Während die bürgerlichen Kreise in der SVP davon abrieten,

machte vor allem Hans Dietl Druck für eine mächtige Demonstration.

Schließlich setzte er sich mit Magnagos Unterstützung durch.

161


Die Kundgebung auf Schloss Sigmundskron am 17. November 1957

wurde zu einer eindrucksvollen Willensäußerung der Südtiroler

Bevölkerung. Die offizielle Forderung lautete „Los von Trient“ als

erster Schritt zu einer eigenen Landesautonomie. Damit verbunden

war für viele auch die Hoffnung auf das Selbstbestimmungsrecht.

Die Veranstaltung auf Sigmundskron war – nach mehrmaligem

Verbot von Versammlungen in Bozen – nur genehmigt worden, weil

sich Magnago gegenüber dem Quästor persönlich und schriftlich

dafür verbürgt hatte, dass es keine Ausschreitungen geben würde.

Zu befürchten war ein – von radikaleren BAS-Aktivisten tatsächlich

geplanter – Aufruf zum demonstrativen Marsch auf Bozen mit

der Gefahr gewaltsamer Zusammenstöße mit Neofaschisten und

dem enormen Polizeiaufgebot in der Stadt. Einzelne BAS-Aktivisten

trugen Schusswaffen bei sich.

In Autos, die mehrfach hin- und herfuhren, mit Motorrädern,

mit Rad, Bus und Zug, aber auch zu Fuß strömten am Morgen des

17. November 35.000 Menschen auf den Burghügel über Bozen.

Einzelne BAS-Aktivisten trugen Schusswaffen bei sich. Unter dem

enormen Druck hielt Magnago, aufgrund des Verkehrsandranges

auch noch zu spät gekommen, in dem brodelnden Kessel des

Schlosshofes eine eher dämpfende, besonders für viele BAS-Aktivisten

enttäuschende Rede. Mit dem legendär gewordenen Ausruf,

er habe nicht nur sein Wort, sondern auch sein „deutsches Wort“

gegeben, dass es keine Ausschreitungen geben würde, konnte er

die Menge im Zaum halten. Karl Tinzl hatte ihm noch auf dem

Weg zum Rednerpult zugeraunt, ja nicht die Forderung nach einer

„Landesautonomie“ zu erheben, da dies politisch zu brisant sei. So

beließ es Magnago, dafür heftig von Dietl kritisiert, beim negativ

formulierten Ziel des „Los von Trient“. Erich Amonn und sein

Bruder Walter sowie die SVP-Senatoren Carl von Braitenberg und

Josef Raffeiner waren der Veranstaltung demonstrativ ferngeblieben.

In maßgeblichen politischen Kreisen in Österreich wurde

durch verzerrte Informationen von Seiten der abgesetzten SVP-

Führung der Eindruck erweckt, als wäre Sigmundskron ein Schlag

ins Wasser gewesen.

Erst nachträglich zeigte sich die Strahlkraft des Tages von Sigmundskron.

Der Aufmarsch so vieler Menschen, die friedlich und

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geordnet wieder heimzogen, vermittelte das Bild einer ernsten,

tief besorgten, aber auch verantwortungsbewussten Bevölkerung,

die um ein existenzielles Anliegen kämpft. Magnago hatte sich

vor der breiten Bevölkerung als verlässliche und vertrauensbildende

Führungspersönlichkeit bewährt. Die Fähigkeit, schwierigste

Momente notfalls auch allein durchzustehen und das Ziel

nicht aus den Augen zu verlieren, wurde zum Erfolgsgeheimnis

des hageren, asketisch wirkenden Parteiobmannes und angehenden

Landeshauptmannes.

Innerhalb der SVP hatte Magnago weiter mit Opposition zu

rechnen, setzte aber mit Nachdruck und oft eisernen Nerven seine

politische Strategie durch. Dietl, Benedikter und Brugger unterstützten

einerseits Magnago, reagierten aber argwöhnisch auf jedes

vermutete Abweichen von einem schärferen Kurs. Die abgewählte

Führung versagte lange ihre Mitarbeit. Karl Tinzl musste vom Parteiausschuss

mit Mehrheitsbeschluss geradezu genötigt werden,

den Entwurf für eine neue Landesautonomie auszuarbeiten. Als

er nach anfänglichem Widerstand tatsächlich ein „faszinierendes

Autonomieprojekt“ (Franz Widmann) vorlegte, weigerten sich die

anderen SVP-Parlamentarier hartnäckig, den Gesetzentwurf im

Parlament einzubringen. Erst nach einem neuerlichen Beschluss

des Parteiausschusses, den Magnago mit einem Machtwort durchsetzte,

reichten die SVP-Kammerabgeordneten Tinzl, Ebner und

Guggenberg am 4. Februar 1958 den Entwurf für ein neues Autonomiestatut

ein. Der Tinzl-Entwurf wurde erwartungsgemäß nie

behandelt, stellte aber einen ersten formellen Akt für die Forderung

nach einer Landesautonomie dar, der auch Österreich eine

Handhabe für diplomatische Interventionen gab. Noch im selben

Frühjahr stimmte die SVP zusammen mit den Trentiner Autonomisten

und der Linksopposition gegen den Haushaltsentwurf

der Regionalregierung. Damit war der Bruch mit der DC vollzogen.

Zugleich stand die SVP selbst am Rand einer Parteispaltung.

Im Versuch, ihren Einfluss auf die Parteilinie zurückzugewinnen,

erhielt die abgewählte Führung Unterstützung von den

katholischen Verbänden. Der Richtungswechsel in der Südtiroler

Kirche hatte schon 1952 begonnen, als Joseph Gargitter auf Bischof

Johannes Geisler folgte. Geisler trat am 5. April 1952 zurück, am

163


Bischofswechsel: Der scheidende Bischof Johannes Geisler (rechts) erhält

die Urkunde zum Ehrenbürger von Brixen, neben ihm Joseph Gargitter als

bereits designierter Nachfolger.

5. September desselben Jahres verstarb er. Hatte Geisler die Südtiroler

Selbstbestimmungsforderung nicht nur massiv gestützt,

sondern immer wieder auch aktiv vorangetrieben, setzte Gargitter

von Anfang an einen anderen Schwerpunkt. Besorgt um das

politische Klima in Südtirol, trat er für einen Ausgleich zwischen

den Sprachgruppen und zwischen Minderheit und Staat ein. Wohl

stand Gargitter – hinter einer Fassade von Unnahbarkeit – den

Belangen der Südtiroler Minderheit aufgeschlossen gegenüber, er

sah aber auch die Bedürfnisse der zugewanderten Italiener und

die Gefahr zweier Parallelgesellschaften in ständiger Konfrontationsstellung.

Vor allem die linkskatholischen Kräfte der DC, der

Arbeiterbewegung Acli und die deutschen katholischen Vereine

versuchten eine Brücke der Verständigung zu bilden.

Von der Versöhnungsbotschaft des Bischofs zur direkten Einflussnahme

auf die Tagespolitik war es aufgrund der politischen

Verhärtung zwischen den Lagern oft nur ein kleiner Schritt. Wiederholt

musste Magnago beim Bischof vorsprechen, um diesen von

einer offenen Torpedierung seiner Politik abzuhalten oder Attacken

der – unter kirchlichem Einfluss stehenden – „Dolomiten“ vor-

164


zubeugen. Zum offenen Machtkampf kam es bei den Parlamentswahlen

im Mai 1958. Die Dietl-Gruppe setzte den Generalsekretär

der SVP Hans Stanek als Kandidaten für den sicheren Senatswahlkreis

Brixen durch. Ein Veto Gargitters zwang Stanek, auf diesen

Listenplatz zu verzichten und auf die Liste für die Abgeordnetenkammer

auszuweichen, bei der aber die persönlichen Vorzugsstimmen

über Wahl oder Nichtwahl entschieden. Mit einer massiven

Propaganda vereitelten die katholischen Verbände schließlich

Staneks Wahl.

Im „Fall Stanek“ spielten alte Wunden und neue Verunsicherungen

zusammen. Gegen Stanek wurde seine Vergangenheit als

Bürgermeister von Brixen in der NS-Ära vorgebracht. Diese hatte

bei der Gründung der SVP ebenso wenig wie bei Fritz Führer und

Karl Tinzl eine Rolle gespielt, aber damals war die Haltung der

Kirche noch von Geisler und Pompanin geprägt, die beide mit der

Mehrheit ihrer Bevölkerung für Deutschland optiert hatten. Und

während vor allem Tinzl in der Folge durch seine ausgleichende

Art zu einer Integrationsfigur für Liberale und Klerikale wurde,

galt Stanek durch seine Nähe zur Dietl-Gruppe diesen als Feindbild.

Dass sich der verschärfte Kurs der SVP in erster Linie gegen

die Democrazia Cristiana mit ihren Verbindungen bis in den Vatikan

hinein richtete, trug zur Skepsis des Bischofs bei. Für den in

Rom geschulten Gargitter stand die große Auseinandersetzung

zwischen Katholizismus und Kommunismus in Italien im Vordergrund

seines politischen Denkens. Im Kampf der SVP-Spitze

gegen die DC sah er eine Schwächung der katholischen Position.

Dies erklärt auch so manche mitunter geradezu schräge Warnung

Gargitters, dass hinter den patriotischen Kreisen der Kommunismus

lauere. Für diese wurde er zum „walschen Seppl“.

Sorge bereitete der Kirche auch ihr schwindender Einfluss

auf breite Gesellschaftskreise und vor allem die Jugend. Die von

der Kirche kontrollierten „Dolomiten“ behaupteten sich zwar als

politisches Leitmedium. Aber die gesellschaftlich ausgerichteten

Athesia- Blätter wie „Die Frau“ und „Jugendwacht“ sowie das kirchliche

„Katholische Sonntagsblatt“ bestimmten nicht länger die

Wertebildung in der Bevölkerung. In vielen Südtiroler Familien

165


und in Dorfgasthäusern lagen Illustrierte aus Deutschland auf, in

denen Sexsymbole wie Brigitte Bardot und das laszive Leben der

High Society dargestellt wurden. Wie sehr freiere Stil- und Lebensvorstellungen

auf strenge Moralvorschriften prallten, zeigte sich

am allmählichen Siegeszug des 1946 von einem französischen

Modeschöpfer entworfenen Bikini. Noch 1960 war das Tragen

des Zweiteilers im Brixner Schwimmbad verboten.

Zur Lockerung von Geschmack und Lebensstil trug auch das

italienische Fernsehen bei. Filme mit Sophia Loren und Gina Lollobrigida

oder auch Übertragungen des „Festival di Sanremo“ be geisterten

auch viele Südtirolerinnen und Südtiroler. Die Sendungen der

staatlichen Rundfunkanstalt RAI fanden aufgrund der Monopolsituation

dankbare Aufnahme auch in bäuerlichen und einfachen

Gesellschaftsschichten. Die deutschsprachigen RAI-Programme

des „Senders Bozen“ wurden zunächst politisch skeptisch betrachtet,

da sie nicht – wie die „Dolomiten“ – dem Volkstumskampf verpflichtet

waren. Wohl aber erreichten die Dokumentationen, Hörspiele,

Sendungen „aus Berg und Tal“ und „auf dem Dorfplatz“

immer höhere Beachtung. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des

Senders Bozen begannen sich hoher Popularität zu erfreuen, eine

von ihnen war Sofia Magnago, aus dem Rheinland stammende Ehefrau

des Parteiobmannes und Landeshauptmannes.

Argwöhnisch reagierte die Kirche auf das Bedürfnis der politischen

und vorpolitischen Organisationen nach einem eigenen Vereins-

und Gesellschaftsleben. Sowohl vom Bauernbund als auch

von der SVP wurden immer wieder Versuche unternommen, eine

Jugendorganisation auf die Beine zu stellen. Gargitter verhinderte

dies mehrmals mit einem Veto, das Magnago – um den Ausgleich

mit der Kirche bemüht – lange beherzigte. Dass aus kirchlicher

Sicht sowohl in der SVP als auch im Bauernbund die „radikalen“

Kräfte an die Macht gekommen waren, dürfte neben der Sorge um

die Jugend wohl ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Dietl war 1956

zum Obmann des Bauernbundes gewählt worden, Peter Brugger

war einer der populärsten Landwirtschaftspolitiker.

Wie delikat das Verhältnis zwischen Politik und Kirche war, zeigt

sich an einem Versuch von Peter Brugger, wenigstens in Zusammenarbeit

mit der Kirche eigene Jugend- und Bildungsinitiativen

166


der Landesverwaltung durchzuführen. Die Generalvikare Josef

Kögl für den deutschsprachigen Anteil der Erzdiözese Trient und

Johann Untergasser für die Diözese Brixen stellten dafür die Forderung,

dass ausschließlich Jugendliche zu solchen Kursen zugelassen

werden dürften, die „von Pfarrämtern oder Jugendseelsorgern

und besonders auch von den Katecheten der landwirtschaftlichen

Berufsschulen [...] entsandt werden“. Teilnehmer, die nicht von der

Diözese bestimmt worden seien, müssten dieser mitgeteilt werden.

Ebenso musste sich die Landesverwaltung verpflichten, der

Diözese sämtliche Lehrmaterialien vorzulegen.

Noch anlässlich der Landtagswahlen von 1956 schickte die Diözesanstelle

der katholischen Laienbewegung den SVP-Kandidaten

ein Merkblatt zu, in dem die moralischen und religiösen Pflichten

der Mandatare aufgelistet waren. Punkt 1: „Der katholische Volksvertreter

muss willens sein, als Amtsträger nur für Maßnahmen

einzutreten, in denen die Hoheitsrechte Gottes und der Kirche

nicht angetastet werden.“ Punkt 5: „Das katholische Volk erwartet

von seinen Vertretern, dass sie in Treue zu den Bischöfen stehen

und in Treue sich an die Weisungen halten, welche die Bischöfe in

ihrer Sorge für das Wohl des Volkes als gottgesetzte Hirten erlassen.“

Ohne Umschweife wurde deklariert, dass „die Zuständigkeit

der Kirche für weltanschauliche Belange […] auch auf den Gebieten

des kulturellen, sozialen, politischen und wirtschaft lichen Lebens

anzuerkennen“ sei.

Als Magnago SVP-Obmann wurde, ersuchte er Bischof Joseph

Gargitter um Audienz. Dieser verabschiedete ihn mit dem Hinweis,

er werde ihm eine „Liste dessen, was er nicht tun dürfe, zustellen“.

Magnago antwortete – laut den Aufzeichnungen von Hans

Dietl – zwar keck, er hätte „lieber ein Verzeichnis dessen, was ihm

bewilligt sei“. Aber der neue Parteiobmann und künftige Landeshauptmann

achtete bei allen seinen Schritten sehr genau darauf,

die Kirche und ihren Bischof nicht gegen sich aufzubringen. So

gab er schließlich nach mehreren Vorstößen vorerst auch die Idee

auf, eine Jugendorganisation der SVP zu gründen. Gargitter hatte

kategorisch dagegen Stellung genommen: „Es wird deshalb dringend

ersucht, vom Versuche der Gründung einer Parteijugend

abzusehen.“

167


Eine noch friedliche Aktion

von Sepp Kerschbaumer:

Er hisste am helllichten

Tag in Frangart die Tiroler

Fahne und provozierte

seine Inhaftierung.

Die Angst vor einer politisch organisierten Jugend mochte teilweise

noch von der Erfahrung mit der Hitler-Jugend herrühren. In

den 50er Jahren ging es neben der Hoheit in Moral- und Sittenfragen

aber auch um die Möglichkeit einer direkten Einflussnahme

auf die Politik durch die Erteilung oder Vorenthaltung bischöflichen

Segens. Als Dietl Bauernbund-Obmann wurde, war es ihm

trotz wiederholter Anläufe nicht möglich, zu einer Audienz beim

Bischof vorgelassen zu werden. Ein Ansuchen von Peter Brugger

um eine Audienz zusammen mit Dietl wurde von der Diözese mit

einer Einladung an Brugger allein beantwortet. Ebenso verweigerte

der Bischof dem Tiroler ÖVP-Obmann Aloys Oberhammer

eine Aussprache.

Dietl bestärkte die kirchliche Haltung darin, dass es zur Veränderung

der politischen Verhältnisse in Südtirol eines Kampfes auf

allen Ebenen bedürfe. Schon gegen die Anti-Stanek-Propaganda

der katholischen Verbände von 1958 griff er zusammen mit Franz

168


Widmann auf die Hilfe des BAS um Sepp Kerschbaumer zurück.

Gemeinsam mit Kerschbaumer wurde eine anonyme Flugblattaktion

gegen die katholischen Verbände durchgeführt. Nach und

nach wurden Dietl und Widmann zu den wichtigsten politischen

Verbindungsmännern des BAS und dessen Tiroler Sympathisanten

wie Aloys Oberhammer, Wolfgang Pfaundler, später auch Eduard

Wallnöfer und Felix Ermacora. Der als lose Bewegung entstandene

BAS entwickelte sich zu einer kampfbereiten Organisation.

Der entscheidende Funke kam einmal mehr von der Härte der

Justiz in Südtirol. Am 27. März 1958 wurde das Berufungsurteil

gegen die Pfunderer bekanntgegeben. Statt der erhofften Milderung

sah es für die meisten Angeklagten eine Strafverschärfung

vor. Die SVP-Landesversammlung verabschiedete am 1. April 1958

eine Resolution, in der sie – die Bluttat bedauernd – das Urteil

mit den Worten kritisierte, es erinnere „an die dunkelsten Zeiten

unmenschlicher Strafjustiz“. In Tirol wurde am 2. April für fünf

Minuten landesweit die Arbeit eingestellt, im Radio sprach Landeshauptmann

Hans Tschiggfrey: „Das Tiroler Volk denkt, von tiefstem

Leid erfasst, an jene sechs jungen Bauernsöhne eines entlegenen

Südtiroler Bergdorfes, deren Leben durch einen Richterspruch ganz

oder teilweise vernichtet wird.“ Renommierte deutsche und österreichische

Medien kommentierten das Urteil, einer der Berichterstatter

war der Tiroler Journalist und Fotograf Wolfgang Pfaundler,

der seinen Chefredakteur Gerd Bacher und den Ver leger Fritz

Molden zu Ostern 1958 mit Sepp Kerschbaumer zusammenbrachte.

Es war der Beginn der Tiroler und österreichischen Unterstützung

für die Finanzierung, Vorbereitung und Durchführung der Attentate

mit dem Ziel der Selbstbestimmung für Südtirol. Die Mahnung des

Bischofs an den Frieden fand in diesen Kreisen kein Gehör mehr.

169


Ein Land brennt

Die Feuernacht 1961 –

Verhaftungen, Folter, neue Verhandlungen

Das Jahr 1959 stand als Tiroler Gedenkjahr im Zeichen der Erinnerung

an die Freiheitskämpfe von 1809. Im ganzen Land fanden

mit breiter Teilnahme der Bevölkerung Andreas-Hofer-Spiele statt,

gipfelnd in der Aufführung des Heldendramas von Carl Wolf bei

den Meraner Volksfestspielen. Selten dürfte die Verdichtung von

politischem Alltag und dem Empfinden vieler Menschen so stark

gewesen sein. Manche der späteren Attentäter waren auf der Bühne

dabei, einer von ihnen, Sepp Innerhofer, bekannte später, dass das

Spiel zur Wirklichkeit wurde, man habe Andreas Hofer „nicht nur

gespielt, sondern gelebt“.

Der Befreiungsausschuss Südtirol (BAS) begann 1959 mit der

Vorbereitung der Anschläge. Die genaue Strategie war noch offen,

aber die Kontakte zwischen Südtirol und der Innsbrucker Unterstützerszene

wurden intensiviert. Der Landesfestumzug am

13. September 1959 mit der von Schützen durch Innsbruck getragenen

Dornenkrone wurde zu einem ergreifenden Bekenntnis vieler

Tirolerinnen und Tiroler aus allen drei Landesteilen zur Landeseinheit.

Direkt gegenüber der Ehrentribüne entrollten Kurt Welser,

Herlinde und Klaudius Molling mit einem Böllerknall ein Spruchband

mit der Aufschrift „Freiheit für Südtirol“. Am Rande der Veranstaltung

wurden Gespräche geführt und Kontakte geknüpft.

Siegfried Steger etwa, einer der Pusterer Attentäter, wurde beim

Landesfestumzug „angeworben“.

Kurz vorher, Mitte Juli 1959, war in Österreich nach dem Wahlsieg

der SPÖ bei den Nationalratswahlen Bruno Kreisky zum

Außenminister der neuen ÖVP-SPÖ-Koalition geworden. Schon

zum Amtsantritt erklärte er Südtirol zum „Thema Nr. 1 der österreichischen

Außenpolitik“, am 1. August traf er sich in Innsbruck

mit den ranghöchsten Landespolitikern von Süd und Nord zu einer

Lagebesprechung. Obwohl Kreisky die Hoffnung auf eine Selbstbestimmungsoffensive

dämpfte, gewann er prompt das Vertrauen

170


Flammenschrift und Dornenkrone: Die 1809-Gedenkfeiern 1959 lösten einen

politischen Stimmungsumschwung aus.

171


der einem „Roten“ gegenüber doch skeptischen Südtiroler Delegation.

Magnago wertete es sogar ausdrücklich positiv, dass Kreisky

als Sozialdemokrat gegenüber den italienischen Christdemokraten

weniger Verhandlungsscheu haben würde als die ebenfalls christlich

ausgerichtete ÖVP. Mehr als ein Bonmot am Rande dürfte es

sein, dass Kreisky – zu dem auch der Verleger Molden einen guten

Draht hatte – sich auf der Rückfahrt von Innsbruck nach Wien von

Wolfgang Pfaundler begleiten ließ.

Über Kreiskys Haltung zu den Anschlägen ist viel spekuliert

worden. Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass er mit den Attentätern

erstaunlich unbefangene Kontakte pflegte und diese in keiner

Weise von ihrem Vorhaben abbrachte. Kreiskys Ziel war es, den

Fall Südtirol vor die UNO zu bringen. Im September 1959 hielt

er den ersten Erfolg in der Hand: Gegen den Widerstand Italiens

nahm der Leitungsausschuss der UN-Generalversammlung die

Südtirol-Frage auf die Tagesordnung für die Debatte im Oktober

des darauffolgenden Jahres 1960. Die Anschläge wurden zum strategischen

Mittel, den nötigen internationalen Druck aufzubauen.

Schon am 27. Jänner 1960 sprach Jörg Klotz in Begleitung von Wolfgang

Pfaundler bei Kreisky in Wien vor. Pfaundler hatte eine klare

Vorliebe für den draufgängerischen Klotz, da ihm Kerschbaumer für

einen gewaltsamen Aufstand zu konfus und zögerlich vorkam. Auch

befürwortete Pfaundler in den Strategiedebatten des BAS einen

Partisanenkampf, für den Kerschbaumer im Unterschied zu Klotz

nicht zu begeistern war. Kerschbaumer fand Zugang zu Kreisky

über den Tiroler SPÖ-Politiker Rupert Zechtl. Ein erstes Mal kehrte

Kerschbaumer noch auf dem Ballhausplatz um, ein zweites Mal war

er in Begleitung, aber der Portier ließ die Südtiroler nicht durch.

Schließlich schrieb Kreisky an Zechtl, dessen Freunde mögen am

besten zu ihm in seine Privatwohnung in die Armbrustgasse 15 kommen.

Dort empfing er am 27. November 1959 die BAS-Aktivisten Sepp

Kerschbaumer, Karl Tietscher und Jörg Pircher, Luis Amplatz konnte

diesmal nicht mitkommen, weil ihm der Pass gesperrt worden war.

Überliefert sind von diesem Treffen unterschiedliche Aussagen

Kreiskys, so zum Beispiel „Wenn ihr was macht’s, dann gefälligst

was Ordentliches“ oder „Ich sage euch nicht, tut’s etwas, ich sage

aber auch nicht, tut’s nix“. Kontaktmann Rupert Zechtl, selbst bes-

172


Österreichs neuer Außenminister Bruno Kreisky (rechts) mit einem der

profiliertesten Südtirol-Politiker Österreichs, dem Tiroler Staatssekretär

Franz Gschnitzer (Mitte).

tens in die Vorbereitungen des BAS eingeweiht, bestätigte wiederholt,

dass Kreisky selbstverständlich über die Attentate informiert

gewesen sei. Laut Fritz Molden habe Kreisky auch unmissverständlich

seine Zustimmung erteilt, „dass es ein bisschen tuschen

muss, aber nicht zu viel“ und „auf ein paar Masten mehr oder weniger

soll’s mir net ankommen“. Zu den Toten habe Kreisky gesagt:

„Die Zyprioten haben auch Tote gehabt und die Algerier.“ Der

algerische Unabhängigkeitskrieg (1954–1962) und die Befreiung

Zyperns 1959 waren ermutigende Ereignisse, die sowohl unter den

Attentätern als auch am Diplomatentisch gern zitiert wurden.

Dass etwas in der Luft lag, war spürbar. Am 2. Februar 1960 rief

Bischof Joseph Gargitter in einem Hirtenbrief zu Mäßigung und

Ablehnung von Gewalt auf. Doch die Eskalation war nicht mehr

aufzuhalten. Am 18. Februar wurde auf einen noch unbewohnten

Neubau für italienische Zuwanderer in Meran ein Anschlag verübt.

Die Polizei verhängte ein Versammlungsverbot für die Dauer

von 30 Tagen, so dass auch alle für 20. und 21. Februar geplanten

Andreas-Hofer-Feiern untersagt waren. Als am 21. Februar Kirch-

173


Bozner „Knüppelsonntag“

1960: Die italienische

Südtirol-Politik war

lange weitgehend den

Justiz- und Polizeibehörden

überlassen.

gänger nach dem Verlassen des Bozner Domes trotzdem das Andreas-Hofer-Lied

anstimmten, ging die Polizei mit Knüppeln auf

sie los, viele der 2000 Messbesucher wurden wahllos verhaftet.

Der „Bozner Knüppelsonntag“ wurde zum Symbol für die staatlichen

Willkürakte in Südtirol. Die letzten, längst gespannten Verbindungen

zwischen SVP und DC rissen. Am 10. Mai 1960 brachte

die SVP mit einem Misstrauensantrag den Präsidenten des Regionalausschusses

Tullio Odorizzi zu Fall. Hans Dietl schrieb in sein

Tagebuch: „Seit sechs Jahren diesen Augenblick ersehnt.“ Als Odorizzi

sich demonstrativ wieder der Wahl stellte und mit Hilfe der

Neofaschisten gewählt wurde, erzwang die SVP durch systematisches

Fernbleiben an den Sitzungen des Regionalrates erneut

seinen Rücktritt.

Der BAS löste sich nicht nur strategisch, sondern auch inhaltlich

immer stärker von der Südtiroler Volkspartei. Auf der Landesversammlung

am 7. Mai 1960 versuchten BAS-Aktivisten in der

SVP, allen voran Sepp Kerschbaumer und Luis Amplatz, mit Flugblättern

und Stellungnahmen am Rednerpult eine Resolution mit

174


Sepp Kerschbaumer und Jörg Klotz hatten unterschiedliche Vorstellungen

vom „Freiheitskampf“. Der Großteil der Bewegung stellte

sich hinter Kerschbaumer.

der Forderung nach Selbstbestimmung durchzusetzen. Magnago

brachte sie durch Rücktrittsdrohung zu Fall, worauf Kerschbaumer

aus der SVP austrat. Auf eine Wiederkandidatur als SVP-Ortsobmann

hatte er schon 1958 verzichtet, nachdem ihm Magnago bei

einer vertraulichen Aussprache ins Gewissen redete, er könne ihn

wohl nicht von seinen Ideen abhalten, aber er bitte ihn, wenigstens

nicht die Partei zu belasten. Im Ziel, Südtirols Lage zu verbessern,

waren sich Magnago und Kerschbaumer wohl einig, in der Wahl

der Mittel und in der strategischen Vorgangsweise nicht. Kerschbaumer

und seine Aktivisten glaubten nicht mehr an politische

Fortschritte durch Vernunft und Geduld allein.

Am 31. Oktober 1960 prägte Bruno Kreisky vor der UNO eine

Sternstunde für Südtirol. Zunächst der Politische Ausschuss, dann

die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten

auf Antrag Österreichs eine Resolution, in der Italien und Österreich

zu Verhandlungen aufgefordert wurden. Das war weniger,

als viele sich erhofft hatten, aber es war viel mehr, als Skeptiker befürchtet

hatten. Ursprünglich hätte der BAS vor der UNO-Debatte

zuschlagen sollen, um international für Druck zu sorgen. Doch

175


waren die Vorbereitungen dafür schlichtweg noch nicht weit genug

gediehen. Ein Führungs- und Strategiestreit zwischen Bozen

und Innsbruck, zwischen Kerschbaumer und Klotz, zwischen

Kerschbaumer- Unterstützern und Klotz-Unterstützern in Tirol,

zwischen Befürwortern einer Schonung von Menschen leben um

jeden Preis und Theoretikern des Partisanenkampfes hatte viel

Kraft und Zeit geraubt.

Der Streit nahm regelrecht skurrile Ausmaße an. Verletzte Eitelkeiten

und Geldfragen belasteten die BAS-Führung. Im Dezember

1960 kam es zum Krach – und zu einer Klärung: In Innsbruck zog

sich Pfaundler in die zweite Reihe zurück, im Tiroler BAS übernahm

Heinrich Klier die Führung. Für ihn und den neu dazugekommenen

Helmut Heuberger war Kerschbaumer der einzige

Ansprechpartner in Südtirol, Klotz hielten sie für einen idealistischen,

aber unberechenbaren Abenteurer. Als im März 1961 ein

von Pfaundler angelegtes Munitionsdepot des BAS in Innsbruck

aufflog, weil dieser den Mietvertrag vor der Räumung des Lokals

gekündigt hatte, war Pfaundler zunächst ganz ausgeschaltet. Der

Szene blieb er gewogen und half als Verbindungsmann zur Tiroler

Politik in vielen menschlich schwierigen Situationen. Mit Pfaundler

zogen sich aber schon im Dezember 1960 Molden und Bacher

zurück. Bemerkenswert ist, dass Kreisky jetzt, da die Wiener Verbindung

abgerissen war, Kerschbaumer und seine Leute zu sich

nach Hause einlud. Die UN-Resolution hatte Kreisky ohne Bomben

erzielt. Ging es jetzt darum, den Druck hochzuhalten, damit die

von der UNO angeregten Verhandlungen nicht wieder im Sande

verlaufen würden?

Für 27. und 28. Jänner 1961 war – im Sinne der UNO-Resolution

– in Mailand die erste neue Verhandlungsrunde zwischen

Österreich und Italien anberaumt. Viel war nicht zu erwarten, da

die italienische Regierung im Vorfeld der Verhandlungen eine noch

härtere Haltung gegenüber Österreich einnahm. Am 24. Jänner

verhängte die italienische Regierung ein Einreiseverbot für Franz

Gschnitzer, Aloys Oberhammer und den Obmann des Bergisel-

Bundes Eduard Widmoser. Dies war vor allem deshalb ein Affront,

weil Gschnitzer und Oberhammer als österreichische Delegierte

an der Mailänder Konferenz teilnehmen hätten sollen.

176


Die Konferenz endete ohne Verhandlungsfortschritt, aber auch

in verfahrener Stimmung. Laut Erinnerungen von Viktoria Stadlmayer

hatte die italienische Delegation selbst Kreisky respektlos

behandelt. Eine direkte Verbindung zur österreichischen Verhandlungsdelegation

hatte der BAS über den Völkerrechtler und

Diplomaten Felix Ermacora, der oft sogar in Verhandlungspausen

seine Innsbrucker Kontaktleute anrief, um die Opportunität

von Anschlägen zu besprechen. Unmittelbar nach dem Scheitern

der Konferenz wurde in der Nacht vom 29. auf den 30. Jänner 1961

in Waidbruck das zu Ehren Mussolinis als „Genio del Fascismo“

errichtete Reiterstandbild gesprengt, der sogenannte „Aluminium-

Duce“. Maßgeblicher Täter war Heinrich Klier. Den ganzen Frühling

über hielt die zwischen Bozen und Innsbruck vereinbarte „Strategie

der feinen Nadelstiche“ an. Die spektakulärsten Anschläge

trafen das Tolomei-Haus in Montan (verübt von Josef Fontana an

einem nicht bewohnten Trakt), die von einem Italiener geführte

Ferrari-Bar in Tramin und Rohbauten für Arbeitersiedlungen.

Die Polizei ging zunächst ziellos und willkürlich vor. In Tramin

wurde das Gasthaus „Zum Löwen“ beschlagnahmt und in einen

Polizeisitz umfunktioniert, Ähnliches geschah später an anderen

Orten. Ein Attentat auf die Kaserne in Schlanders war Anlass, das

Tragen der Schützentrachten zu verbieten. Ein Anschlag in Bundschen

im Sarntal, von Luis Amplatz verübt, führte zur Verhaftung

des Sarner SVP-Obmannes Helmut Kritzinger. Ein Brief von Viktoria

Stadlmayer, der bei Kritzinger gefunden wurde, führte am

30. April zu Stadlmayers Festnahme, als sie nach Südtirol fahren

wollte. Der Brief war unverfänglichen Inhalts, Stadlmayer gehörte

zu den Gegnern eines gewaltsamen Aufstandes. Demonstrativ ließ

Bruno Kreisky beim nächsten bilateralen Außenministertreffen in

Klagenfurt (24./25. Mai) einen Stuhl für die einsitzende Leiterin

des Südtirol-Referates der Tiroler Landesregierung frei. Stadlmayer

wurde am 10. Juni wegen erwiesener Haltlosigkeit der Anklage

nach 42 Tagen Haft freigelassen. Helmut Kritzinger gehörte

nach Aufzeichnungen von Hans Dietl zum politischen Unterstützerkreis

des BAS, Beweise konnten aber auch gegen ihn keine

gefunden werden, so dass auch er schließlich – wenn auch erst am

25. November 1961 – freigelassen wurde.

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Anschläge auf das faschistische Reiterstandbild in Waidbruck und auf

Rohbauten für Arbeitersiedlungen läuteten das Bombenjahr 1961 ein.

Obwohl die italienischen Behörden durch die ersten Attentate

alarmiert waren, konnte der BAS seine Aktionen beinahe ungestört

fortsetzen. Das Sprengmaterial kam – ebenso wie die Flugblätter –

vorwiegend aus Österreich und Deutschland, die Uhren für die

in der Regel selbstgebastelten Zeitzünder waren in der Schweiz

gekauft worden. Vor allem die Tiroler BAS-Aktivisten betrieben

– meist getarnt als Wochenend- und Osterausflügler mit hübschen

Blondinen im Auto – über Monate hinweg einen regen Grenzverkehr

mit Sprengstoff und zum Teil auch Waffen im Auto. Manche Lieferung

wurde im Kinderwagen zu Fuß über den Brenner geschoben.

Treibende Kraft der Vorbereitungen auf die Feuernacht war

der Innsbrucker Kaufmann Kurt Welser, der 1965 beim Bergsteigen

mit Heinrich Klier tödlich abstürzte. Unterstützt wurden die

Innsbrucker BAS-Aktivisten von ihren Frauen, die Botendienste

verrichteten, bei Sprengstofflieferungen nach Italien zur Ablenkung

der Grenzbeamten am Nebensitz saßen und im Kinder wagen

„Material“ über den Brenner schoben. Besonders aktiv waren Henriette

Klier, die beste Freundin einer Tochter des legendären Josef

Noldin, Adelheid Heuberger, Elisabeth „Lilo“ Welser und auch

Pfaundlers Ehefrau Gertrut Spat. Herlinde Molling war mit ihrem

178


Mann Klaudius von Anfang an dabeigewesen und verübte noch

über die Feuernacht hinaus Anschläge im Alleingang. Von 1960

an gab es Ausbildungstreffen in Österreich und Bayern, getarnt als

Ausflugsfahrten der Bauern- und Alpenvereinsjugend. Das Bergsteigen

war zwischen Südtiroler und Tiroler Aktivisten eine verbindende

Leidenschaft und gute Gelegenheit, sich auf unverdächtige

Weise zu treffen.

Aufgrund unvorsichtiger Überweisungen von Fahrtgeld des

Bergisel-Bundes an einzelne Attentäter gelang der Bozner Staatsanwaltschaft

im Mai ein Glücksgriff, dessen sie sich gar nicht

bewusst war. Sie ließ am 20. und 21. Mai die Empfänger der Rückvergütungen

wegen der Kontakte zum Bergisel-Bund verhaften.

Unter ihnen befanden sich auch mehrere BAS-Aktivisten, so der

Brixner Anton Gostner und der Unterlandler Josef Fontana, der

schon eine Reihe von Anschlägen durchgeführt hatte. Luis Amplatz,

der ebenfalls verhaftet werden sollte, konnte flüchten.

Der BAS ließ sich auch durch diese Verhaftungen, die zunächst

keine weiteren Folgen hatten, nicht aufhalten. Schon am 6. Mai

hatten sich am Goyenhof des Sepp Innerhofer in Schenna die Südtiroler

und Tiroler BAS-Gruppen auf die Durchführung eines „großen

Schlages“ geeinigt, am 1. Juni wurden in Zernez in der Schweiz

die konkreten Absprachen für die „Feuernacht“ getroffen.

In der Nacht vom 11. auf den 12. Juni 1961, der Nacht des Herz-Jesu-

Sonntags, verübte der BAS über 40 Anschläge, 37 Strommasten wurden

zerstört, mehrere beschädigt. Die ersten Anschläge begannen

gegen 1 Uhr. Die Einstellung der Zeitzünder war so gestaffelt, dass

noch über zwei Stunden lang immer neue Detonationen ertönten.

Im Sarntal und in Völlan wurden Anschläge auf Kraftwerke verübt,

in Eppan brannte das militärische Munitions depot. Acht Kraftwerke

standen am Morgen nach der Feuernacht still, sieben von neun Überlandleitungen

waren unterbrochen. Die Stromversorgung brach

für einige Gebiete Südtirols völlig zusammen, auch die Versorgung

der Industriegebiete Oberitaliens wurde empfindlich getroffen.

Das eigentliche Ziel, die Stromversorgung so lange lahmzulegen,

bis auch die Notstromaggregate versagen und die Hochöfen durch

Erkaltung unbrauchbar werden, wurde knapp verfehlt. Einige

entscheidende Masten waren nicht gekippt. Mehrere Attentäter-

179


Die Anschläge auf die Strommasten sollten den Staat symbolisch und

wirtschaftlich treffen: im Bild oben ein Anschlag in Bozen-Haslach und

unten links auf eine Wasserbrücke im Sarntal.

Rechts: Schutzmaßnahmen für Strommasten nach der Feuernacht.

180


gruppen – vor allem im Vinschgau – waren nicht ausgerückt. Im

Eisacktal hatten sich die meisten BAS-Aktivisten wegen der Fahndungen

nach dem Anschlag auf den „Aluminium-Duce“ zurückhalten

müssen, auch war die vorzeitige Verhaftung Gostners wohl

ein schwerer Rückschlag. Im Pustertal führte eine Kommunikationspanne

dazu, dass die Gruppe um Siegfried Steger zu spät informiert

wurde und nur wenige Anschläge verüben konnte. In einem

Flugblatt bekannte sich der BAS zu den Attentaten: „Landsleute!

Die Stunde der Bewährung ist da!“ Das Bekennerschreiben endete

mit einem Zitat von Kanonikus Michael Gamper: „Ein Volk, das

um nichts anderes kämpft als um sein natürliches und verbrieftes

Recht, wird den Herrgott zum Bundesgenossen haben.“

Die Feuernacht konnte jene Hoffnungen, die sich Sepp Kerschbaumer

und seine Leute gemacht hatten, nicht erfüllen. Von einem

Volksaufstand, der in den kühnsten Träumen erwartet worden war,

war keine Rede. Die italienische Bevölkerung reagierte mit Schrecken

auf die Feuernacht, viele fühlten sich durch die Anschläge

auch persönlich physisch bedroht. Es kam zu empörten Kundgebungen

und dabei auch zu nationalistischen Entgleisungen, aber

die vom BAS angestrebte Eskalation durch Lahmlegung der Industriezone

und entsprechende Gefährdung der dortigen Arbeitsplätze

blieb aus. Sympathiebekundungen von Seiten der deutschsprachigen

Bevölkerung gab es umgekehrt ebenfalls keine. Die politischen

Parteien einschließlich der SVP verurteilten erwartungsgemäß

die Gewaltanwendung aufs Schärfste. Von den prominenten Südtiroler

Politikern erhob auf der außerordentlichen Landesversammlung

der SVP vom 19. Juni lediglich Hans Dietl die Forderung

nach Selbstbestimmung. Dies stellte den ersten offenen Bruch mit

Silvius Magnago dar, wenngleich die Allianz noch einige Zeit halten

würde. In Innsbruck scherte Aloys Oberhammer, der in der Feuernacht

die heimkehrenden Tiroler Attentäter am Brenner erwartet

hatte, aus dem Verurteilungschor aus. Am 10. August musste der

politische Gewährsmann des BAS in der Tiroler Landes regierung

deshalb zurücktreten. Allerdings bekam der BAS mit der Wahl des

gebürtigen Südtirolers Eduard Wallnöfer zum Landes hauptmann

bald darauf einen privilegierten Zugang zur Tiroler Landespolitik.

181


Dass es trotz aller Vorsätze, Blutvergießen zu vermeiden, schon

am Morgen nach der Feuernacht einen Toten gab, mag die Wahrnehmung

der Anschläge beeinträchtigt haben. Der Straßenarbeiter

Giovanni Postal entdeckte direkt an der südlichen Provinzgrenze

bei Salurn eine nicht gezündete Sprengladung an einem

Baum. Dessen Sprengung hätte symbolisch die Abtrennung Südtirols

von Italien darstellen sollen. Im April hatte es an derselben

Stelle ebenfalls einen Anschlag gegeben, schon damals hatte Postal

die Ladung entdeckt, die in der Folge von der Polizei entschärft

wurde. Diesmal machte er sich selbst an der Vorrichtung zu schaffen

und löste die für ihn tödliche Explosion aus.

Auch das internationale Echo war nicht so weitreichend, wie es

in der mythologischen Verklärung der Feuernacht angenommen

wird. Wohl aber war die Feuernacht ein Schock für die italienische

Politik. Unmittelbar nach den Anschlägen wurde in Rom eine Krisensitzung

der Sicherheitsbehörden einberufen, am 18. Juni kam

Innenminister Mario Scelba zu einem Sicherheitsgipfel nach Bozen.

Scelba ging nach der Strategie von Zuckerbrot und Peitsche vor:

hartes Durchgreifen gegenüber den Attentätern einerseits, erstes

ernsthaftes Verhandlungsangebot an Silvius Magnago andererseits.

So kam es am 1. September zur Einsetzung der Neunzehnerkommission,

in der Vertreter der Regierung und der SVP gemeinsam

Vorschläge für eine Lösung des Südtirol-Problems erarbeiten

sollten. Gewiss beabsichtigte Scelba damit auch, eine Internationalisierung

des Südtirol-Problems zu verhindern und Österreich

möglichst auszuschalten, was aber weiterhin nicht gelang. Gegenüber

Österreich war das Auftreten Italiens nach der Feuernacht so

schroff wie vorher. Für den 13. Juni waren – als einziges Ergebnis

der Konferenz von Klagenfurt im Mai 1961 – Expertengespräche

zur Vorbereitung einer neuen Außenministerkonferenz anberaumt.

Sie fanden trotz der Anschläge planmäßig statt. Beim folgenden

Außenministertreffen in Zürich brach Italien die Verhandlungen

ab, als die österreichische Delegation die Forderung nach einer

Landesautonomie erhob. Die Forderung nach Selbstbestimmung

kam für die politischen Verantwortungsträger weder vor noch nach

der Feuernacht in Betracht.

182


Die Fahndung nach den Tätern bot ein Bild der Verunsicherung

und Panik. Wohl wurde Südtirol durch die Entsendung von Truppen

und Spezialeinheiten in ein Militärlager verwandelt, die meisten

Soldaten aber waren unerfahren, des Landes und der Sprache

unkundig, viele hatten Angst und gerieten bei realer oder vermeintlicher

Gefahr in Panik. Ein nächtlicher Schießbefehl für Personen,

die sich in der Nähe möglicher Attentatsziele bewegten (Strommasten,

Kasernen, Seilbahnen), kostete Sepp Locher im Sarntal

und Hubert Sprenger in Mals das Leben. Am Sarntaler Weißhorn

wurde der Jagdaufseher Walter Haller vom Hubschrauber aus beschossen,

die Verletzungen kosteten ihn ein Bein. Er konnte seinen

Beruf nicht mehr ausüben und erholte sich nie mehr von diesem

Schlag. Mehrere Soldaten wurden aus Versehen von Kommilitonen

getötet. Jörg Klotz, der aufgrund seiner Entzweiung mit Kerschbaumer

von der Feuernacht nicht einmal informiert worden war,

wurde zwar verhaftet, nach vier Tagen aber wieder freigelassen.

Eine Wende in den Ermittlungen brachte erst der auch im BAS

umstrittene Mordanschlag auf den Journalisten Benno Steiner.

Der Redakteur des „Deutschen Blattes“ in der italienischen Tageszeitung

„Alto Adige“ hatte Jahre zuvor mit Jörg Klotz und Franz

Muther an der 1958 gegründeten, aber erfolglosen Oppositionsliste

„Roter Adler“ mitgearbeitet. Danach wandte sich Steiner von

den patriotischen Kreisen ab. Seine spöttischen Kommentare über

die „Fuierlemacher“ empörten viele Attentäter. Betrachteten sie

Attacken in den italienischen Medien letztlich als unvermeidbar,

reagierten sie gekränkt und gereizt auf Kritik von deutschsprachiger

Seite. So gab es sogar einen Mordplan gegen den „Dolomiten“-

Chefredakteur Toni Ebner, der seinen ersten Kommentar nach der

Feuernacht mit „Geschändetes Herz-Jesu-Fest“ übertitelte und in

einem zweiten Leitartikel dem BAS das Recht absprach, sich auf

Kanonikus Gamper zu berufen. Dass die Racheakte, abgesehen von

Einschüchterungsversuchen und Auflauerungen, nicht ausgeführt

wurden, ist vor allem auf Kerschbaumers Einspruch zurückzuführen,

aber auch Dietl und Widmann legten ein Veto ein.

Dessen ungeachtet wurde am Auto von Benno Steiner in der

Nacht auf den 9. Juli eine Sprengladung angebracht, die dieser nur

durch die Vorsicht seiner von Morddrohungen verängstigten Frau

183


entdeckte. Er erstattete Anzeige und erzählte den Ermittlungsbehörden,

dass in der Roten Adler-Partei zwischen Klotz und Muther

auch von Anschlägen die Rede gewesen sei. Am nächsten Tag,

dem 10. Juli, wurde Muther verhaftet. Unter schweren körperlichen

Misshandlungen gab er die Namen der ihm namentlich bekannten

BAS-Aktivisten preis.

Die Geheimhaltung war im Südtiroler BAS zu locker gehandhabt

worden. Unter Folter erzwangen die Ermittler Aussagen über

Aussagen. So wurden binnen zehn Tagen rund 70 mutmaßliche

Attentäter festgenommen. Die zwischen dem Südtiroler und dem

Tiroler BAS getroffene Vereinbarung, dass alle wichtigen Verantwortungs-

und Geheimnisträger fliehen sollten, war in den Wind

geschlagen worden. Die meisten – allen voran Sepp Kerschbaumer

– harrten in ihren Wohnungen aus. Wenigen gelang noch in

extremis die Flucht, so den „Pusterer Buam“ Siegfried Steger und

Sepp Forer, aber auch Jörg Klotz bei einem weiteren Festnahmeversuch.

Die Meraner Attentäter Siegfried Carli und Sepp Mitterhofer

vereinbarten, sich gemeinsam über die Berge nach Österreich

durchzuschlagen, Mitterhofer besuchte noch einmal seine

Familie und wurde verhaftet, Carli dagegen gelang die Flucht. Die

Verhaftungswelle traf den BAS mitten in einer zweiten Offensive.

In der Nacht auf den 11. Juli verübten Tiroler BAS-Leute um Helmut

Heuberger, Günther Andergassen, Herlinde und Klaudius

Molling Anschläge auf Überlandleitungen der italienischen Bahn

an den oberitalienischen Strecken Verona-Trient, Mailand-Chiasso,

Domodossola-Brig und Luino-Pino. In der Nacht auf den 12. und

13. Juli wurden bei der „Kleinen Feuernacht“ sieben Hochspannungsmasten

in Südtirol gesprengt.

Am 12. Juli führte Italien die Visumpflicht für Österreicher ein.

Zugleich wurde erneut auf das Druckmittel der Optantenregelung

zurückgegriffen. Schon im April 1961 war – unter dem Druck der

„Nadelstiche“ – im italienischen Parlament ein Gesetzentwurf eingebracht

worden, der die Staatsbürgerschaft auch von Rückwanderern

in Frage stellte. Unmittelbar nach der Feuernacht urgierte die

sozialdemokratische Partei (PSDI) die Behandlung des Gesetzentwurfes,

nach den Anschlägen in Oberitalien wurde ein Schnellverfahren

beantragt. Dass das Gesetz letztlich doch in der Schublade

184


blieb, ist ein weiteres Zeichen dafür, dass die italienische Regierung

unter dem Schock der Feuernacht zwar zu politischen Drohgebärden

gegenüber Österreich und der SVP griff, letztlich aber

den von Scelba offiziell eingeschlagenen Weg der Verhandlung

und Vernunftlösung nicht mehr verlassen wollte.

Gegen die Attentäter aber wurde mit enthemmter Härte vorgegangen.

Schon im Juni war der Trentiner Livio Pergol im Verhör

brutal misshandelt worden. Er hatte dem BAS in dessen Frühzeit

Sprengstoff vermittelt, den die Bauern vom Entwurzeln der

Bäume übrig hatten. Er erwies sich als nahezu unbrauchbar, weshalb

die Lieferungen aus Nord- und Osttirol organisiert wurden. Mit

Pergol wurden auch die Kurtatscher Brüder Jakob und Karl Peer

bereits im Juni „schwer angefasst“. Nach der Verhaftung Muthers

erreichten die Verhörmethoden eine neue Ebene der Grausamkeit:

Den Häftlingen wurde Salzwasser eingeflößt, sie wurden in alle

Körperteile geschlagen und getreten, manchen wurden die Hoden

angesengt oder mit Gewichten behängt, viele mussten stundenlang

stehen und bekamen bei jeder Bewegung Schläge mit dem

Gewehrkolben. Seelisch und körperlich gebrochen wurden einige

zwecks Demütigung zu Lokalaugenscheinen auf ihre Höfe gebracht

oder, wie Sepp Innerhofer und Sepp Mitterhofer, ihren Frauen

vorgeführt: Diese erkannten ihre Männer kaum wieder. Manchen

Angehörigen, so der Familie Gutmann in Tramin, wurde die blutige

Wäsche der Häftlinge übergeben.

Berüchtigte Folterkasernen waren jene in Eppan, Neumarkt

und Meran, aber auch Brixen. Manche Häftlinge – wie Sepp Innerhofer

und Luis Steinegger – wurden aus dem Gefängnis wieder in

die Kaserne zurückgebracht und erneut der Folter unterzogen, in

der Hoffnung, doch noch ein Geständnis erzwingen zu können. In

einigen Kasernen, so vor allem in Neumarkt, konnten die Dorfbewohner

die Schreie der Häftlinge auf die Straße hinaushören,

trotzdem kam es kaum zu Protesten. Eine Ausnahme war erst 1962

der Aufmarsch von Frauen vor der Hofburg in Brixen nach dem

Tod des gefolterten Häftlings Anton Gostner.

Offiziell gab es lange keine politischen Reaktionen. Für die

Häftlinge in den Gefängnissen entstand der Eindruck, als würde

ihr Schicksal niemanden kümmern. Diese Verbitterung über die

185


Bischof Gargitter mit Innenminister Scelba nach

einer Auseinandersetzung über die Folterungen.

Der aufgebahrte Franz Höfler.

186


schweigenden Politiker und Kirchenoberen heilte bei manchen

Attentätern nie mehr aus. Der SVP waren mehrere Dutzend Folterbriefe

zugegangen, zum Teil unter Gefahren aus dem Gefängnis

geschmuggelt, manche auf Toilettenpapier geschrieben. Magnago

aber war – wie er in internen Gesprächen bekundete – der

Ansicht, dass ein offensiver Umgang mit den Folterbriefen wenig

Sinn habe. Gerichtliche Nachforschungen würden letztlich niedergeschlagen

und den Häftlingen nur Erschwernisse einbringen.

Bei einem Südtirol-Gipfel am 5. September in Innsbruck stimmte

auch Kreisky diesen Bedenken zu, ein öffentliches Ausschlachten

der Folterbriefe würde schnell verpuffen. „Andererseits könnte

das Material, im richtigen Moment verwendet von besonderem

Nutzen sein. Es müsse daher alles zuerst gesammelt und dann gut

überlegt werden, wie man es verwendet. [...] Diese Verwendung

sei vielleicht besser als durch die Presse.“

Untätig blieb Magnago trotzdem nicht. Von Anwalt Luis Sand

auf die Folterungen aufmerksam gemacht, schrieb er schon am

20. Juli einen Brief an Vizeregierungskommissär Francesco Puglisi,

er habe Kenntnis von Misshandlungen der Südtiroler Häftlinge.

Am 21. Juli folgte ein Telegramm an Ministerpräsident Amintore

Fanfani, an den Justizminister und an die Präsidenten von Kammer

und Senat. Die kaltschnäuzigen Antworten von Scelba („Was

wollen Sie, alle Polizisten der Welt schlagen …“) und von Fanfani

(Magnago solle sich besser dafür einsetzen, dass die Attentate aufhören)

empörten Magnago. Er hielt es aber weiterhin für sinnvoller,

auf den richtigen Moment zu warten.

Am 15. November begann vor dem Politischen Sonderausschuss

der UNO die zweite Südtirol-Debatte. Italien widersetzte

sich erneut vehement einer Resolution, der Ausgang war ungewiss.

Ein Resolutionsentwurf der Außenseiterstaaten Zypern, Indien

und Indonesien zugunsten Südtirols schien chancenlos. Die meisten

arabischen, afrikanischen und kommunistisch kontrollierten

Länder signalisierten eine neutrale Position, alle NATO-Staaten

und fast alle lateinamerikanischen Staaten standen mit den USA

auf der Seite Italiens. Mit einer Kompromissformel, dass beide

Staaten zu „weiteren Anstrengungen“ aufgefordert werden sollten,

konnte Kreisky die amerikanische Haltung noch einmal auf-

187


brechen, Italien aber widersetzte sich weiterhin jeder Resolution.

Mitten in den Verhandlungen verstarb, am 22. November 1961, der

Häftling Franz Höfler aus Lana an den Folgen der Misshandlungen.

Kreisky verwies nun auf „Dokumente, die Zeugnis ablegen von den

grässlichen Folterungen, wie wir sie nur aus der nazistischen und

faschistischen Ära kennen. Die Zeugnisse stammen von Priestern

und Ärzten“. Damit brach das Eis. Die Folterungen wurden zwar

nicht diskutiert, die USA erhöhten aber ihren Druck auf Italien.

So hielt Kreisky innerhalb eines Jahres – und trotz der mittlerweile

angelaufenen internen Verhandlungen zwischen SVP und

Regierung im Rahmen der Neunzehnerkommission – die zweite

Südtirol-Resolution als diplomatisches Druckmittel in der Hand.

Als am 7. Jänner 1962 auch Anton Gostner, Vater von fünf Kindern,

an den Folgen der Folterungen starb, brach das öffentliche

Schweigen. Während nach dem Tode Höflers „Dolomiten“-Redakteur

und BAS-Mitglied Franz Berger seinen Artikel in der „Tiroler

Tageszeitung“ veröffentlichen musste, berichteten diesmal die

„Dolomiten“ offensiv über die Misshandlungen. Bischof Gargitter,

der Distanz zu den Häftlingen wahrte und auch menschliche Kontakte

an Weihbischof Heinrich Forer delegierte, forderte in einer

ausführlichen Stellungnahme die Achtung und Wahrung der Menschenrechte.

In einem Vieraugengespräch mit Scelba hatte er diesen

bei Bekanntwerden der Folterungen eindringlich an seine Verantwortung

als christlicher Politiker gemahnt. Im Landtag verlas

Hans Dietl – nun mit der Zustimmung Magnagos – einen Folterbericht

von Sepp Innerhofer. Im Regionalrat zitierte der Anwalt

und Links-Abgeordnete Sandro Canestrini aus Briefen von Unterlandler

Häftlingen. Die SVP-Parlamentarier in Kammer und Senat

forderten die Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission.

Die Folterungen brachten nachträglich das, was der

Feuernacht misslungen war – menschliche Solidarität und Sympathie

für die Attentäter, sie mobilisierten humane Hilfsaktionen

und finanzielle Unterstützung für die Familien. In der politischen

Wirkung waren sie möglicherweise weittragender als zuvor die

Dynamitladungen.

188


Von der Feuernacht

zum Mailänder Prozess

Folter, „Tränenbus“ und Häftlingshilfe – Magnagos Kraftprobe

mit dem „Aufbau“ – Erste Anzeichen einer politischen Lösung

Mit der Verhaftungswelle im Juli 1961 war der BAS weitgehend zerschlagen.

Von den rund 200 Aktivisten in Südtirol war die Hälfte

verhaftet oder enttarnt worden. Die meisten, die unentdeckt waren

oder sich rechtzeitig nach Österreich absetzen konnten, zogen sich

zurück. Nur einzelne Täter und kleine Gruppen führten vorwiegend

von Österreich aus den Kampf weiter. Einer von ihnen war

Luis Amplatz, der mit wechselnden Begleitern, häufig aber auch

allein Anschläge vor allem im Bozner Raum verübte. In den Bergen

um den Bozner Talkessel daheim, legte er dort Verstecke an

und schlug aus dem Untergrund heraus zu. Als Priester oder als

Frau verkleidet, wagte er sich bis in die Altstadt und sogar so weit

in die Nähe seines Wohnhauses, dass er seine Kinder beim Spielen

beobachten konnte. Um Jörg Klotz bildete sich eine Gruppe

von Exilsüdtirolern, die von Österreich aus vor allem im Westen

operierte. Im Pustertal sorgten die „Pusterer Buam“, aber auch

andere nie enttarnte Gruppen für nahezu permanenten Alarmzustand.

Wohl zogen sie sich immer wieder nach Österreich zurück,

hielten aber auch über längere Zeit die Stellung in Felsverstecken

und Höhlen, unterstützt und verpflegt von Sennern, Bauern und

Dorfleuten. In der Gruppe um den rechtsnationalen Universitätsdozenten

Norbert Burger, der mit seinem Anhang von Studentinnen

und Studenten der Uni Innsbruck schon an der Feuernacht

beteiligt gewesen war, wurde der Gmundener Radiotechniker Peter

Kienesberger zum Frontmann mit Überraschungsangriffen auch

im Hochgebirge. Immer wieder überlappten sich die Gruppen,

schlugen gemeinsam zu oder trennten sich wieder. Der Plumeshof

der Mutter von Kurt Welser bei Wilten/Natters war für viele

Zufluchtsstätte und zweite Heimat.

189


Die Häftlinge warteten eineinhalb Jahre auf ihren Prozess und wurden immer

wieder von Gefängnis zu Gefängnis verlegt: im Bild Sepp Kerschbaumer bei

einem Abtransport.

Die Dezimierung der Bewegung, die Erfahrung von Exil und

Entfremdung, die Nachricht von den Folterungen, die Enttäuschung

über die Haltung von Politikern und Diplomaten führte

zu einer Radikalisierung und einer Verschärfung in der Wahl der

Mittel. Am 22. August unternahm Jörg Klotz zusammen mit Peter

Kienes berger den ersten Feuerüberfall. Nach der Sprengung eines

Mastes wurde – zunächst noch zur Einschüchterung – von einer

sicheren Anhöhe herab auf die herbeieilenden italienischen Soldaten

geschossen. Beim „Kinderkreuzzug“, auch „Aktion Panik“

oder „Zizi“-Aktion genannt, zündeten deutsche und österreichische

Studenten am 8. und 9. September in Rom, Rimini, Monza,

Verona, Rovereto und Trient Brandbomben auf öffentlichen Plätzen,

in Bussen und Bahnhöfen. Es war der Beginn einer fortschreitenden

Eskalation, die mit dem Auf und Ab der Verhandlungen um

eine neue Südtirol-Lösung einherging.

In der SVP verschaffte sich Ende September 1961 eine Gegenbewegung

zur Mehrheit um Magnago Luft und Gehör. In aller

Stille wurden Unterschriften namhafter Exponenten und zahl-

190


reicher Bürgermeister für eine Deklaration gesammelt, in der die

Entschärfung der Volkstumspolitik zugunsten eines stärker wirtschaftlich

ausgerichteten „Aufbau“-Programms gefordert wurde.

Die Veröffentlichung auf einer ganzen Seite in den „Dolomiten“ war

für den 30. September 1961 geplant. Magnago wurde sie unmittelbar

vorher von Roland Riz unterbreitet, wohl in der Annahme, ihn

damit auf die eigene Seite ziehen zu können. Der SVP-Obmann

aber sah in der Aktion einen Angriff auf seine Führungsposition

und auf den eingeschlagenen politischen Kurs. Er forderte von

Riz, die Veröffentlichung zu stoppen, andernfalls müsse er ihm

die Freundschaft aufkündigen. Als das „Aufbau“-Programm dennoch

erschien, begann in der SVP eine mehrwöchige politische

Krise, an deren Ende Magnago – gestützt von den volkstumspolitischen

Exponenten Dietl, Benedikter, Brugger – als eindeutiger

Sieger hervorging. Viele Unterzeichner zogen ihre Unterschrift

zurück, weil sie diese nur in der Annahme geleistet hätten, Magnago

stünde hinter dem neuen Programm.

Rein machtpolitisch war der „Aufbau“ ein Gegenputsch der alten

Führung mit verjüngtem Personal. Die maßgeblichen Exponenten

waren, neben den abgesetzten Granden, Roland Riz und Toni

Ebner. Für die SVP stellte der Konflikt just zu Beginn der Autonomieverhandlungen

eine „Schwächestunde“ (Franz Widmann)

dar, die Innenminister Scelba zu nützen versuchte. Seine privilegierten

Ansprechpartner waren die im „Aufbau“ engagierten

Parlamentarier, während er Magnago von der Neunzehnerkommission

ausschließen wollte. Dieser konnte sich zwar sein Sitzund

Stimmrecht erkämpfen, saß aber bei den Fahrten nach Rom

für lange Zeit allein in seinem Abteil, da sich die SVP-Parlamentarier

von ihm absonderten.

Im Riss, der durch die SVP ging, zeigten sich aber auch Interessenkonflikte

und gesellschaftliche Brüche. Die sachpolitische

Forderung der „Aufbau“-Bewegung, den vom Volkstumskampf verengten

Blick zugunsten einer wirtschafts- und gesellschaftspolitischen

Modernisierung zu öffnen, entsprach durchaus sozialen und

ökonomischen Notwendigkeiten. Die in ihrem sozialen Gefüge und

in ihrer technischen Ausstattung veraltete Landwirtschaft konnte

ihren hohen Beschäftigungsanteil nicht halten, vielen jungen Leu-

191


ten fehlten schlicht die Perspektiven. Im „Freiheitskampf“ fanden

auch Existenzängste ein Ventil, die einer sozial- und wirtschaftspolitischen

Antwort bedurften. Da biss sich freilich die Katze in

den Schwanz: Für einen wirtschaftspolitischen Aufbau bedurfte

die geradezu mittel- und rechtlose Südtiroler Landesverwaltung

einer Ausstattung mit neuen Gestaltungsmöglichkeiten.

Die Verhandlungen waren zäh. Mehrmals erwog Kreisky, erneut

die UNO anzurufen, um den Druck auf die italienische Regierung

zu erhöhen, sah dann aber – trotz eindringlichen Ersuchens Magnagos

– davon ab. Umgekehrt musste Kreisky den mitunter resignierenden

Magnago bitten, ja nicht die Neunzehnerkommission für

gescheitert zu erklären. Die mit großer Geste einberufene Autonomiekommission

war schon bald eingeschlafen. Dass sie ihre Arbeit

nicht ganz einstellte, lag – wie Magnago anerkannte – an ihrem

sozialdemokratischen Vorsitzenden Paolo Rossi. Die italienische

Politik schien auf ihren alten Kurs einzuschwenken: 1962 wurden,

im Gedenken an die Feuernacht, die Herz-Jesu-Feuer verboten,

die Einreiseverbote für auch nur vage verdächtige österreichische

Staatsbürger wurden aufrechterhalten, die „Schwarzen

Listen“ immer länger. Zu Herz Jesu 1962 knotete Sepp Kerschbaumer

im Bozner Gefängnis ein weißes und ein rotes Taschentuch

an sein Gitterfenster, im ganzen Land wehten wieder die verbotenen

Tiroler Fahnen. Die Neunzehnerkommission traf sich erst

nach drei Monaten Stillstand wieder, eine in Salzburg geplante

österreichisch-italienische Konferenz wurde von Italien ganz abgesagt.

Bis zum nächsten Außenministertreffen sollte wieder ein

Jahr vergehen.

Das war Nährboden für den Terror. Die versprengten BAS-

Gruppen schlugen immer wieder überraschend zu, in einer Bahnhofstoilette

in Bozen (8. Juli 1962), trotz einer acht Meter hohen

Schneedecke am Stilfser Joch (20. März 1962), mit einem Brandanschlag

in derselben Nacht auf die Kaserne in Toblach. Bei einem

Anschlag auf dem Bahnhof von Verona am 20. Oktober 1962 wurde

der Bahnarbeiter Gaspare Enzen getötet, 20 Menschen verletzt.

Der BAS distanzierte sich von diesem Anschlag. Eine Rolle dabei

spielte womöglich der deutsche Staatsbürger Hasso von Langen,

der sich bei seiner Festnahme mit der Pistole in den Mund schoss.

192


Faschistischer Gegenterror in Österreich: Markanteste Ereignisse

waren der Anschlag auf das Bergiseldenkmal (1961) und eine Attentatserie

in Ebensee (1963).

Es gab aber auch Hinweise auf die Beteiligung einer Kampfgruppe

um Peter Kienesberger.

Was in der Feuernacht noch klare Konturen hatte, wurde nun

undurchschaubar. Mit der Sprengung des Andreas-Hofer-Denkmals

am 1. Oktober 1961 in Innsbruck kündigte sich ein italienischer

Gegenterror an, der wohl schon am 24. Mai 1961 mit der Sprengung

des Andreas-Hofer-Denkmals in Mantua begonnen hatte.

Der italienische Geheimdienst begann Südtirol als Exerzierfeld

für die später in Italien bis zum Putschversuch getriebene „Strategie

der Spannung“ zu nutzen. Schlüsselfigur war Giovanni De

Lorenzo, der 1955 zum Chef des Geheimdienstes Sifar wurde und

maßgeblich am Aufbau des Sondergeheimdienstes Gladio beteiligt

war. Von 1962 bis 1966 war er oberster Kommandant der Carabinieri,

von 1966 bis 1967 Oberbefehlshaber des italienischen Heeres.

Die „Strategie der Spannung“ bestand darin, die Aufschaukelung

von Terror und Gegenterror durch gezielte Anschläge und eingeschleuste

Agent provocateurs so zu steuern, dass politische Gegner

kriminalisiert und harte Gegenmaßnahmen legitimiert wurden.

193


So stellte sich bei Blutbädern in den 70er und auch noch 80er Jahren

heraus, dass sie von neofaschistisch unterwanderten Geheimdienstzellen

verübt worden waren, um sie der italienischen Linken

in die Schuhe zu schieben.

Am 23. September 1963 wurden in Ebensee in Oberösterreich

mehrere Anschläge verübt. Zwei Sprengsätze an einer Kabine der

Feuerkogelseilbahn konnten entschärft werden. An der Saline

Ebensee waren an zwei Silos Sprengladungen angebracht worden,

ein Gendarmeriebeamter wurde getötet, ein Beamter verlor

das Augenlicht, vier Personen wurden verletzt. Als mutmaßlicher

Täter wurde am 24. Mai 1964 Kurt Welser verhaftet. Erst ein Jahr

später stellte sich heraus, dass die Täter italienische Neofaschisten

waren, beschlagnahmte Beweiselemente verweisen unzweifelhaft

auch auf den Anschlag am Bergisel im Oktober 1961. Wie

sich bei den Gladio-Ermittlungen um 1990 erwies, standen sie in

Verbindung mit dem Geheimdienst Sifar. Im 3. Grazer Prozess im

Mai 1965 konnte Kurt Welser moralisch rehabilitiert auftreten,

die Wiederaufnahme des Verfahrens im Herbst erlebte er nicht

mehr. Er stürzte am 15. August beim Klettern mit Heinrich Klier

am Zinalrothorn in der Schweiz tödlich ab. Der BAS verlor damit

einen der Sympathieträger aus der Feuernachtszeit.

Mit fortschreitender Eskalation wurde die Unterscheidung

zwischen „echten“ und „gesteuerten“ Attentaten immer schwieriger.

Immer mehr Attentate gaben Rätsel auf und nährten Verschwörungstheorien,

etwa der Anschlag von Friedrich Rainer aus

dem Passeiertal auf das Beinhaus in Reschen am 7. oder 8. Oktober.

Am Tatort wurde der zerfetzte Körper Rainers gefunden, für manche

war er in eine Falle gelockt und gezielt getötet worden. Wie

nah sich „autochthoner“ und „fehlgeleiteter“ Terrorismus sein

konnten, zeigt ein Anschlag am 15. November 1964 auf den Expresszug

E61 von München nach Rom. Im letzten Augenblick wurde

nach der Einfahrt des Zuges in Brixen der Grenzpolizei mitgeteilt,

dass sich im Zug eine Kofferbombe befinde. Der Gepäckwagen

konnte noch rechtzeitig abgekoppelt und auf ein Nebengeleis

gefahren werden, da ging schon die Sprengladung hoch. Täter war

zweifellos Heinrich Oberlechner, einer der vier „Pusterer Buam“.

194


Beteiligt an der Aktion war aber auch der in Innsbruck lebende

deutsche Innenarchitekt Carl Franz Joosten, ein Agent provocateur

des italienischen Geheimdienstes.

Ohnmächtig erlebten die Häftlinge von 1961 mit, wie die politische

Entwicklung einerseits, die Eskalation der Gewalt andererseits

einen ganz anderen Verlauf nahmen als ursprünglich angenommen.

Allein das Warten auf den Beginn ihres Prozesses war

zermürbend. Mit einem neuerlichen Hungerstreik versuchte Sepp

Kerschbaumer von der Justiz formale Korrektheit einzufordern.

Die Häftlinge wurden bei leisestem Protest versetzt, was für ihre

Angehörigen wegen der länger werdenden Anreise zu den Besuchen

erschwerend war. Die Hoffnung auf moralische Genugtuung

für die Folterungen zerstob im Trientner Prozess vom 20. bis zum

29. August 1963. Die meisten der 44 Häftlinge, die wegen Misshandlung

Anzeige erstattet hatten, zogen diese auf Anraten ihrer

Anwälte wieder zurück. Die angeklagten Carabinieri wurden, je

nach juristischer Opportunität, entweder freigesprochen oder

durch Bagatellisierung der Straftaten amnestiert.

Erst zweieinhalb Jahre nach den Verhaftungen begann am

9. November 1963 der Mailänder Prozess. Es wurde ein Mammutprozess,

für den der Schwurgerichtssaal in Mailand eigens umgebaut

wurde: 91 Angeklagte, davon 87 Südtiroler, einige flüchtig,

644 Seiten Anklageschrift, gestützt auf über 20.000 Aktenseiten,

470 geladene Zeugen, 94 Verhandlungstage.

Die vielen jungen Männer, die Familienväter in ihren schlichten

Anzügen machten in der italienischen Öffentlichkeit einen

unerwartet guten Eindruck. Die vermeintlich blindwütigen Terroristen

überraschten die Journalisten durch meist besonnene, von

großem Ernst begleitete Aussagen, wobei vor allem Sepp Kerschbaumer

hervorstach und beeindruckte. Der Kaufmann aus Frangart

verstand es, mit einfachen Worten die Anliegen der Südtiroler

darzulegen. Auch italienische Kunden seines Ladens in Eppan,

denen er immer großzügig die Einkäufe „aufgeschrieben“ hatte,

sagten zu seinen Gunsten aus. Die schlichte Art, mit der Kerschbaumer

die Verantwortung für die Anschläge übernahm und zugleich

jene des Staates ansprach, veränderte nachhaltig den Blick auf

die Süd tiroler Problematik. So wurde der Mailänder Prozess zu

195


einer durchschlagenden Aufklärung der italienischen Öffentlichkeit

über den „Fall Südtirol“, weitreichender als es auf der politischen

Ebene je gelungen war. Viele italienische Journalisten, Politiker,

Verantwortungsträger erlebten die Südtirol-Problematik erstmals

aus einer anderen, unerwarteten Perspektive. Wie auch immer an

der Wirkung der Feuernacht gezweifelt werden mag, ihre indirekten

Auswirkungen – der Schock über die Folterungen und der

nachhaltige Eindruck des Mailänder Prozesses – waren für das

Verständnis der Südtirol-Problematik in Italien ohne Zweifel bahnbrechend.

Der Mailänder Prozess stand politisch unter einem günstigen

Stern. In Italien kam es im Sommer 1963 zu einer Mitte-links-

Regierung, neuer Außenminister wurde der Sozialdemokrat und

spätere Staatspräsident Giuseppe Saragat. Er kündigte schon im

ersten Treffen mit Kreisky die Bereitschaft zum Entgegenkommen

„weit über das Pariser Abkommen hinaus“ an. Dazu aber sei

es nötig, dass Ruhe einkehre. Für den Mailänder Prozess werde er

beim Schwurgerichtspräsidenten Gustavo Simonetti intervenieren,

um eine weitere Eskalation zu vermeiden. Für die Bekämpfung

der noch aktiven Attentäter forderte Saragat die Mitarbeit

Österreichs ein.

Auch wenn es zur wirklichen Lösung noch Jahre brauchte, war

damit der Grundstein für ein neues Verhältnis zwischen Österreich

und Italien gelegt. Während Kreisky sich uneingeschränkt für die

Unterstützung der Häftlingsfamilien und für die volle Übernahme

der Prozess- und Anwaltskosten durch Österreich schlug, schloss er

die „zweite Woge“ davon aus. Die Familie von Siegfried Steger, der

zwar schon zur Feuernachtsgeneration gehörte, aber den Kampf

mit den „Pusterer Buam“ weiterführte, musste einen Kasten verkaufen,

um den Anwalt zahlen zu können, als Vater, Mutter und

Geschwister inhaftiert wurden.

Für die Mailänder Häftlinge band Österreich die Übernahme

der Anwaltskosten an eine zurückhaltende Verteidigungsstrategie.

So mussten sich manche Attentäter auf die Zunge beißen, um vor

Gericht zu deklarieren, sie hätten nicht für die Selbstbestimmung,

sondern für die Autonomie gekämpft. Dies sollte sie einerseits vor

einer Verurteilung wegen Hochverrats (mit dem Risiko lebens-

196


länglicher Haft) schützen, war aber auch ein politisch gewünschtes

Signal.

Gerichtsvorsitzender Simonetti, bei dem Saragat vorzusprechen

angekündigt hatte, sorgte für ein entspanntes, faires Prozessklima.

Die Anklage auf Hochverrat wurde fallengelassen, ebenso

die zunächst kollektiv erhobene Mordanklage wegen des Todes von

Giovanni Postal. Das Urteil wurde am 16. Juli 1964 gefällt: Von den

91 Angeklagten wurden 27 freigesprochen oder amnestiert, davon

waren 17 in Haft gewesen. 34 Angeklagte, darunter 29 Häftlinge,

erhielten Strafen bis zu vier Jahren, die sie durch die lange Untersuchungshaft

praktisch abgebüßt hatten. 46 der 68 inhaftierten

Südtiroler durften nach Hause, für 22 begann das Zählen der Tage.

Die letzten Häftlinge kamen erst im November 1969 nach Hause,

als die politische Lösung für Südtirol unmittelbar bevorstand.

Die höchsten Strafen erhielten die Flüchtigen: 25 Jahre und

sechs Monate für Luis Amplatz, 19 Jahre und elf Monate für Siegfried

Carli, 18 Jahre und zwei Monate für Jörg Klotz. Mit Ausnahme

von Amplatz wurden die Nordtiroler am schwersten verurteilt:

23 Jahre und zehn Monate für Kurt Welser, 22 Jahre und

zehn Monate für Wolfgang Pfaundler, ein Jahr weniger für Heinrich

Klier, 19 Jahre und vier Monate für Eduard Widmoser. Die

Leitungsfiguren des Tiroler BAS ab der Feuernacht, Helmut Heuberger

und Günther Andergassen, waren im Mailänder Verfahren

noch nicht aktenkundig, das Ehepaar Molling wurde überhaupt

nie belangt. Siegfried Steger und Sepp Forer, inzwischen als „Pusterer

Buam“ gefürchtet und gejagt, waren für die Mailänder Richter

noch Nebenfiguren, sie bekamen je ein Jahr und drei Monate

in Abwesenheit.

Von den Südtiroler Häftlingen erhielt Sepp Kerschbaumer mit

15 Jahren und elf Monaten Haft die schwerste Strafe. Jörg Pircher

wurde zu 14 Jahren und sieben Monaten, Sepp Mitterhofer

zu elf Jahren und elf Monaten, Oswald Kofler zu elf Jahren und

vier Monaten, Josef Fontana zu zehn Jahren und sechs Monaten

verurteilt. Für den Traminer Kofler schlug der Anschlag auf die

Ferrari-Bar ins Gewicht, für Fontana das Attentat auf die Tolomei-Villa

und eine polemische Äußerung über den faschistischen

Senator. Sepp Kerschbaumer zog sich im Gefängnis immer mehr

197


zurück, ließ sich im November 1964 nach Verona verlegen, wo er

in der Untersuchungshaft in einer Steigenwerkstatt eine erfüllende

Tätigkeit gefunden hatte. Er betete viel vor einem selbst erbauten

Altar. Neben der tief empfundenen Last der Verantwortung drückten

ihn auch familiäre Sorgen. Am 7. Dezember verstarb er, erst

51-jährig, an Herzversagen.

Für die Familien der inhaftierten Attentäter wurde mit viel Idealismus

und vorwiegend österreichischen Geldmitteln eine kapillare

Häftlingshilfe organisiert. Maßgebliche Kräfte waren Midl

von Sölder, Karl Masoner und Greta Koch, Ehefrau des inhaftierten

Attentäters Martl Koch. Die Caritas richtete ein Konto ein, die

Schützen erhoben den Bedarf der Familien, bei der SVP-Sekretärin

Maria Egger liefen die Fäden zusammen. Für die Besuche wurden

gemeinsame Fahrten im Bus organisiert, genannt der „Tränenbus“.

Der lange stillschweigende Schutz für die noch aktiven Attentäter

wurde, im Sinne von Kreiskys Ankündigung, dagegen aufgehoben.

Schon unmittelbar nach der Feuernacht hatte es zur Haltung

der österreichischen Justiz gegenüber den Attentaten unterschiedliche

Positionen gegeben. 1961 hatten die stellvertretenden Tiroler

Landeshauptleute Hans Gamper und Karl Kunst noch in einem

mit Wallnöfer abgesprochenen Brief an Bundeskanzler Alfons Gorbach

appelliert, von Gerichtsverhandlungen gegen die „Südtiroler

Freiheitskämpfer“ und ihre Unterstützer abzusehen. Justizminister

Christian Broda aber war Kreiskys ursprüngliche Strategie, die

Attentate für politischen Druck zu nutzen, von Anfang an fremd

gewesen. So ließ er den für Dezember 1961 angesetzten 1. Grazer

Prozess ungehindert durchführen. Der als einziger schon inhaftierte

Kurt Welser wurde bedingt zu einem Jahr Haft verurteilt,

seine Frau Lilo Welser, Ottokar Destaller und Ludwig Messerklinger

erhielten ebenso bedingt mehrere Monate schweren Kerker.

Im März 1962 wurde in Tirol Jörg Klotz zum ersten Mal wegen

Waffenbesitzes verhaftet, worauf ihn der stellvertretende Landeshauptmann

Gamper demonstrativ im Gefängnis besuchte. Den

stärksten Rückhalt bot den Südtirol-Attentätern der inzwischen

zum starken Mann in der Tiroler ÖVP aufgestiegene Eduard Wallnöfer.

1913 in Schluderns geboren, war er seit 1930 in der Tiroler

Landwirtschaftskammer tätig, saß seit 1957 in der Landesregierung

198


und wurde 1963 zum Landeshauptmann gewählt. „In Tirol“, erinnert

sich Herlinde Molling, „gab es auf der einen Seite das Gesetz

und auf der anderen Seite den Walli“. Innsbrucker Gendarmen

schauten auf Anweisung Wallnöfers regelrecht weg, wenn sie auf

offener Straße gesuchten Südtirol-Attentätern begegneten. Wallnöfers

Argument, dass österreichische Terrorprozesse auf keinen

Fall vor jenen in Italien durchgeführt werden dürfen, ließ sogar

Broda gelten, worauf alle verschiebbaren Verfahren vertagt wurden.

Lediglich der Prozess wegen des Innsbrucker Waffenlagers

von Wolfgang Pfaundler ließ sich nicht mehr verschieben. Dafür

wurde eine andere Strategie gewählt, die der Verteidigungslogik in

Italien diametral entgegenstand: Es wurde bewusst Anklage wegen

Hochverrats an einem ausländischen Staat erhoben, weshalb die

Verfahren vor das Schwurgericht kamen. Dort ließen sich die Laienrichter

für den Südtirol-Kampf begeistern, Pfaundler wurde beim

zweiten Grazer Prozess im Juni 1962 freigesprochen.

Die Bemühungen um eine politische Lösung wurden ab 1963

sichtbar ernsthafter, zugleich aber auch der Druck auf Österreich

stärker, gegen die Attentäter durchzugreifen. Unmittelbar vor dem

Amtsantritt der Mitte-links-Regierung hatte Italien im Juli 1963 das

Einvernehmen über Südtirol als Bedingung für die Zustimmung

zur Annäherung Österreichs an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

EWG gestellt. Nach seinem Amtsantritt forderte Saragat

ein Ende der Anschläge als Gegenleistung für das Entgegenkommen

der italienischen Regierung.

Ein Zeichen setzte die Kirche unter Papst Johannes XXIII.,

der als Patriarch von Venedig in Südtirol Urlaub gemacht und das

Land kennengelernt hatte. In der Enzyklika „Pacem in terris“ vom

11. April 1963 betonte er die Pflicht der Staaten gegenüber den Minderheiten.

Mit Bischof Gargitter pflegte er ein vertrautes Verhältnis.

Der Kirche lag ein Ausgleich zwischen Minderheitenschutz

und Versöhnung der Sprachgruppen am Herzen. So sehr sie die

Forderungen innerhalb der deutschen Sprachgruppe dämpfte, so

sehr wirkte sie gegenüber Rom mahnend im Sinne einer politischen

Lösung des Konflikts. Am 8. August 1964 gaben die Bischöfe der

Diözesen Trient und Brixen, Erzbischof Alexander Maria Gottardi

und Joseph Gargitter, in gleichzeitig abgehaltenen Presse-

199


konferenzen die Neuregelung der Bistumsgrenzen bekannt, die

jetzt mit den Landesgrenzen zusammenfielen. Bozen, Brixen und

Meran hatten – historisch bedingt – zum Bistum Trient gehört, der

nördliche Teil Südtirols zum Bistum Brixen, das offiziell immer

noch auch Nord- und Osttirol umfasste, wenngleich die österreichischen

Gebiete als „Apostolische Administratur“ einen eigenen

Bischof hatten. Die neu gezogenen Diözesangrenzen nahmen in

etwa die Autonomielösung vorweg: Das symbolische Festhalten

an der Tiroler Wiedervereinigung wurde aufgegeben zugunsten

einer Neuordnung und Aufwertung Südtirols.

200


Verhandlungen im Kugelhagel

Der lange Weg zum Südtirol-Paket –

Dramatische Stationen einer mühsamen Normalisierung

Am 2. April 1964 gelang der italienischen Terrorfahndung ein großer

Schlag. Sie verhaftete in Venedig den auf Wolfgang Pfaundler

und Heinrich Klier gefolgten Nordtiroler BAS-Chef. Der aus

Margreid im Südtiroler Unterland stammende Komponist Günther

Andergassen hatte mangels einer Führungsfigur in Südtirol

auch den Wiederaufbau von Kampfgruppen in Südtirol versucht.

Andergassen, der aufgrund der Auswanderung seiner Eltern in der

Optionszeit in Nordtirol aufgewachsen war, pflegte daher enge

Kontakte zur Südtiroler Attentäterszene. Seine wichtigste Bezugsperson

war Hans Dietl. Intensive Kontakte gab es auch mit dem

„Dolomiten“-Redakteur Franz Berger, dessen Bruder Heinrich Berger

– wie sich später herausstellte – ein Informant des italienischen

Geheimdienstes war. Franz Berger gehörte von Anfang an zum

engsten Kreis um Sepp Kerschbaumer. Er verwahrte auch einen

der BAS-Stempel, mit dem die Flugblätter gezeichnet wurden.

Andergassen war wohl schon länger aufgrund seiner verwegenen

Fahrten nach Südtirol ins Visier der Fahnder gekommen. Als

er im Frühjahr 1964 mit seinen Studenten eine Kulturreise nach

Italien plante, beantragte er beim italienischen Kulturinstitut in

Innsbruck eine Empfehlung für Gratiseintritte in den Museen und

Besichtigungsstätten. Im italienischen Kulturinstitut in Innsbruck

hatte sich damals der italienische Geheimdienst eingenistet. Zwar

ging Andergassen – begleitet von Franz Berger – aus Vorsicht bei

Winnebach zu Fuß über die Grenze von Osttirol nach Südtirol, trug

sich aber in Venedig mit vollem Namen ins Gästebuch des Hotels

ein, wo er am Tag darauf verhaftet wurde.

Eine politische Dimension erhielt der Fall Andergassen, als er

unter dem Druck der Verhöre Hans Dietl als politischen Verbindungsmann

nannte. Gegen Dietl wurde Anklage erhoben. Demonstrativ

verzichtete er auf seine Immunität als Parlamentarier. Zu gute

kam ihm, dass Andergassen seine Aussage einmal zurückgezogen,

201


dann wieder bestätigt und schließlich erneut zurückgezogen hatte.

Am Tag vor der Urteilsverkündigung im Verfahren gegen Hans

Dietl am 29. April 1966 entband dessen Ehefrau Martha Lechner

ihr 13. Kind. Das Verfahren endete mit Freispruch. Damit war Dietl,

der angesichts seiner intensiven Kontakte zum BAS hoch gepokert

hatte, wieder handlungsfähig für den Kampf gegen das Paket.

Der zweite Mailänder Prozess mit dem Hauptangeklagten

Andergassen dauerte vom 12. Jänner bis zum 20. April 1966. Mit

angeklagt waren 37 Südtiroler, zwölf Österreicher und neun Deutsche.

Davon waren 32 flüchtig. Das Verfahren entbehrte der politischen

Strahlkraft des ersten Mailänder Prozesses. Die Anwälte

der Mitangeklagten versuchten so gut es ging, die Taten abzustreiten,

oder aber Andergassen als Verführer darzustellen. Andergassen

wurde zu 30 Jahren Haft verurteilt, ebenso hohe Haftstrafen

erhielten in Abwesenheit die Tiroler Helmut Heuberger und

Aloys Oberhammer sowie Norbert Burger, Peter Kienesberger und

die vier „Pusterer Buam“, die erst in späteren Verfahren zu lebenslänglichen

Haftstrafen verurteilt wurden.

Mit Andergassens Verhaftung war der BAS endgültig führungslos

geworden. Als moralisch von allen anerkannte Integrations figur

galt noch Helmut Heuberger, der aber mit Rücksicht auf seine Existenzgrundlage

als Professor in Salzburg nicht mehr operativ tätig

sein konnte. Auf die Kampfgruppen von Klotz, Kienesberger und

die Pusterer hatte auch Heuberger nur einen beschränkten Einfluss.

Zudem war es dem italienischen Geheimdienst gelungen, den

BAS mit mehreren Agenten und Agent provocateurs zu unterwandern.

Bei den immer heftigeren Anschlägen und Feuerüberfällen

wurden wiederholt italienische Soldaten und Carabinieri verletzt.

Eine propagandistische Offensive von Luis Amplatz und Jörg

Klotz im Frühjahr 1964 zwang die österreichischen Behörden zu

handeln. Klotz ließ sich für ein Interview des „L’Europeo“ mit

Waffen ablichten, Amplatz bekannte sich in einem Interview mit

dem „Spiegel“ zum Freiheitskampf, dessen Fortsetzung ausschließlich

von Italien abhänge. Sie wurden nach Wien abgeschoben, wo

sich Klotz als Hotelportier, Amplatz in einem Heurigenlokal verdingte.

Von Heimweh und von der Überzeugung getrieben, in Südtirol

brauche es sie noch, setzten sie sich im August 1964 aus Wien

202


ab. Amplatz kündigte dies sogar bei den Polizeistellen an: Lieber

„verrecke“ er, als weiter in Wien zu bleiben. In einem „Testament“

hielt er, mit manchem fehlerhaften Datum, aber substanziell wahrheitsgetreu,

die anfängliche Unterstützung des BAS durch Kreisky,

Molden und andere politische Protegés fest.

Die Lösung der Südtirol-Frage schien im Sommer 1964 auf einen

Kompromiss hinauszulaufen. Ein erstes konkretes „Südtirol- Paket“,

das Kreisky mit Saragat persönlich ausgehandelt hatte, wurde von

der SVP als unzureichend zurückgewiesen, aber weitere Verhandlungen

standen an. Die noch aktiven BAS-Gruppen verfolgten mittlerweile

eine Doppelstrategie: Sie wollten Italien unter Druck

setzen, richteten ihre Anschläge aber auch gegen die für zu lau

empfundene Verhandlungsführung der Südtiroler und gegen die

österreichische Politik. Am 27. August fuhr bei Percha ein Militärjeep

über eine von den „Pusterer Buam“ ausgelegte Mine, vier der

sechs Insassen wurden verletzt. Zum gleichen Zeitpunkt brachen

Klotz und Amplatz über die Berge nach Südtirol auf, um dort

– Klotz im Passeiertal, Amplatz im Bozner Raum – neue Anschläge

zu verüben. Begleitet wurden sie von den Brüdern Christian und

Franz Kerbler, beide Nordtiroler Verbindungsleute des italienischen

Geheimdienstes.

Der Auftrag für die Kerbler-Brüder lautete, Klotz und Amplatz

auszuliefern. Unter dem Vorwand, Nahrungsmittel zu beschaffen

oder angebliche Unterstützer zu treffen, setzten sie sich immer

wieder ab und nahmen Kontakt zu den italienischen Dienststellen

in Bozen auf. Durch Glück und Geistesgegenwart entgingen

Amplatz und Klotz mehrmals ihrer Verhaftung. Am 30. August

schoss Klotz im Feuergefecht einen Finanzer an.

Am 3. September 1964 wurde in Mühlwald der junge Carabiniere

Vittorio Tiralongo erschossen. Die Tat wurde den in der

Gegend anwesenden Pusterern in die Schuhe geschoben. Für die

Familie von Siegfried Steger hatte der Verdacht schwere Folgen,

Mutter Frieda, Vater Johann und Schwester Lina wurden drei

Tage lang inhaftiert, die jüngste Schwester Elsa mit dem Gesicht

in die Blutlache Tiralongos gedrückt: „Der Mörder ist dein Bruder.“

Gerichtlich geklärt wurde der Tiralongo-Mord nie. Immer

wieder tauchten neue – wenn auch vage und nie bestätigte – Hin-

203


weise auf, es könnte auch eine Abrechnung innerhalb der Carabinieri-Truppe

oder eine Aktion des Geheimdienstes gewesen sein.

Siegfried Steger, der die Tat stets bestritt, schloss aber auch nie aus,

dass andere BAS-Gruppen im Pustertal Tiralongo getötet haben

könnten. Für Carabinieri-General Giovanni De Lorenzo war die

Ermordung Tiralongos der Anlass, ein starkes Signal in der Terrorbekämpfung

zu setzen. Er gab die Anweisung, zur Vergeltung für

Tiralongo „einige Attentäter zu liquidieren“.

Am Vormittag des 6. September erhielt Christian Kerbler in

der Quästur in Bozen den Auftrag, Klotz und Amplatz zu erschießen.

Dazu wurde ihm eine Dienstpistole vom Typ Beretta mit der

Matrikelnummer 616534 ausgehändigt. Dadurch sollte der Eindruck

entstehen, dass Amplatz und Klotz im Feuergefecht mit den

Carabinieri erschossen worden seien. In der Nacht vom 6. auf den

7. September erschoss Kerbler in einer Heuhütte auf den Brunner

Mahdern den neben ihm schlafenden Luis Amplatz mit drei

Schüssen aus nächster Nähe. Die anderen drei Kugeln schoss er

auf den erwachenden Jörg Klotz ab, der schwer, aber nicht tödlich

verletzt wurde. Während Kerbler von Panik erfasst wurde,

gelang Klotz die Flucht. In einem 42-Stunden-Marsch schleppte

er sich über die Berge bis ins Ötztal. Kerbler wurde zwar verhaftet,

konnte aber bei der Überstellung nach Bozen angeblich aus dem

fahrenden Jeep fliehen. 1971 wurde er in Perugia in Abwesenheit zu

21 Jahren Haft verurteilt. Damit bekam er dreieinhalb Jahre weniger,

als sein Opfer Amplatz für die Teilnahme an der Feuernacht

erhalten hatte. Um 1976 wurde Kerbler bei einem Ladendiebstahl

in Großbritannien verhaftet, aber wieder freigelassen, nachdem

die italienischen Behörden die Frist für einen Auslieferungsantrag

ungenutzt verstreichen ließen.

Die Beerdigung von Luis Amplatz am 10. September 1964 wurde

zu einer beeindruckenden Trauerfeier tausender Menschen auf

dem Höhepunkt einer neuen Gewaltwelle. Am 9. September verletzte

eine Minenfalle im Antholzer Tal fünf Carabinieri, einen

davon schwer. Am Tag der Beerdigung kam es im Weiler Tesselberg

bei Gais zu einem Schusswechsel zwischen drei der vier Pusterer

Buam und einer Patrouille. Zwei Carabinieri wurden schwer verletzt,

bei der Verfolgungsjagd kam es zu zwei Toten durch einen

204


sich überschlagenden Jeep und eine fehlgeleitete Kugel. Die Situation

geriet außer Kontrolle. Die Fahnder rückten mit einem Panzer

an, schossen Stadel in Brand, trieben die gesamte Bevölkerung

zusammen, warfen Granaten ziellos in Häuser, nahmen Bauern,

die noch auf dem Feld arbeiteten, unter Beschuss. Die Männer des

Dorfes wurden gefesselt und bäuchlings auf eine Wiese gelegt. Wer

sich bewegte, wurde geschlagen. Erst 1991 wurde durch die Gladio-

Ermittlungen bekannt, dass Oberst Francesco Marasco 15 Leute

an die Wand stellen und erschießen lassen wollte, danach sollte

das Dorf abgebrannt werden. Oberstleutnant Giancarlo Giudici,

der sich querstellte und das Massaker verhinderte, wurde wenige

Tage später aufgrund einer Intervention Marascos bei General Giovanni

De Lorenzo versetzt. Nach den Tagebuchaufzeichnungen

von General Giorgio Manes wollte De Lorenzo wollte für jeden

getöteten Italiener fünf Südtiroler erschießen lassen.

Das Szenario der Attentate wurde immer undurchschaubarer.

Bomben in Zügen und Bahnhofstoiletten machten es auch patriotisch

gesinnten österreichischen Geschworenen immer schwerer,

die Straftaten als Freiheitskampf durchgehen zu lassen. Manche

Aktionen dieser Gewaltwelle tragen die Handschrift der „Strategie

der Spannung“ italienischer Geheimdienste, manche deuten

auf Enthemmungen unter den Attentätern hin.

Die Zuordnung fällt im Einzelfall schwer. Am 26. August 1965

um 21 Uhr wurden in Sexten die Carabinieri Palmerio Ariu aus

Mogoro in Sardinien und Luigi De Gennaro aus Bari aus dem Hinterhalt

erschossen. Am 12. und 13. September wurde am Reschen

die Alpini-Kaserne sechs Stunden lang unter Beschuss genommen.

Am 15. September wurde in Lappach ein Angestellter der staatlichen

Energiegesellschaft Enel bei einem Anschlag verletzt, in

Mühlwald wurden Carabinieri durch die Sprengung eines Mastes

angelockt und dann beschossen. Am Portjoch wurde am 3. Oktober

ein Wachsoldat angeschossen, einer der Täter war der vom

Deutschnonsberg stammende, nach Innsbruck geflüchtete Karl

Außerer. Er gehörte zur letzten Kampfgruppe um Jörg Klotz. Am

23. Mai 1966 wurde ein Zollsoldat beim Betreten des Schutzhauses

am Pfitscher Joch durch eine Sprengfalle getötet. Am 24. Juli

wurden im Gsieser Tal zwei Finanzer erschossen. In einem ARD-

205


Staatsbegräbnisse und Trauerfälle waren die Folge immer heftigerer

Anschläge mit Todesopfern.

Interview bekräftigten Norbert Burger und Peter Kienesberger

die Notwendigkeit auch solcher Anschläge. Am 23. August 1966

genehmigte der österreichische Ministerrat geheime Treffen mit

den italienischen Behörden, um durch Informationsaustausch und

Kooperation die Anschläge zum Stillstand zu bringen.

Die schwersten Vorfälle standen noch bevor. Am 9. September

1966 kam es zu einer Detonation in der Zollstation auf der Steinalm.

Unter den drei getöteten Finanzbeamten befand sich neben Martino

Cossu und Franco Petrucci auch der Südtiroler Vizebrigadier

Herbert Volgger aus St. Jakob in Pfitsch. Aufgrund der extremen

Schwierigkeit für die Täter, in die von Soldaten besetzte Kaserne

einzudringen und einen Sprengsatz zu deponieren, bestehen bis

206


in die Gegenwart Zweifel, ob es sich bei der Explosion nicht eher

um einen Gasunfall handelte. Nach einem über mehrere Instanzen

gehenden Justizkrimi wurden Jörg Klotz, Richard Kofler, Luis

Larch und Luis Rainer für das Blutbad verantwortlich gemacht. Das

Urteil stützte sich auf die (später zurückgezogene) Aussage von

Rudolf Kofler; weitere Indizien waren, dass der BAS den Anschlag

in den Monaten davor immer wieder angekündigt hatte. In den

Tagen vor der Explosion war wegen eines erneut verstrichenen

Ultimatums die Bewachung wieder gelockert worden, auch hatte

die Steinalm-Truppe häufig Frauenbesuch. Wie schon nach dem

Tiralongo-Mord kam es erneut zu Sippenhaftmaßnahmen, da man

der Verurteilten nicht habhaft werden konnte und auch der verhaftete

Kofler sich nach einem Freispruch in erster Instanz nach

Österreich abgesetzt hatte. Die Ehefrau von Jörg Klotz, Rosa Klotz,

wurde am 10. Oktober 1966 verhaftet und über 14 Monate in Untersuchungshaft

gehalten. Ihre sechs Kinder mussten auf Verwandte

und Freunde aufgeteilt werden. Bis 1969 durfte sie Bozen nicht

verlassen, bis 1976 bestand gegen die Lehrerin ein Berufsverbot.

Erst als Jörg Klotz am 24. Jänner desselben Jahres verstarb, wurde

dieses aufgehoben.

Auch andere Frauen traf es schwer. Rosa Ebner war wegen

ihrer Kontakte zum Pusterer Heinrich Oberleiter 1963 ebenfalls für

14 Monate inhaftiert worden. 1966 wurde sie wegen „antinationaler

Tätigkeit im Ausland“ eingesperrt, weil sie vier Jahre vorher

in einem Leserbrief an „Die Presse“ die Folterungen angeprangert

hatte. Gretl Koch wurde 1965 eingesperrt, als in einer ihr gehörenden,

leerstehenden Wohnung der Attentäter Helmut Immervoll

bei einer Explosion ums Leben kam. Lina Steger, Schwester von

Siegfried Steger, wurde im März 1967 ein zweites Mal inhaftiert

und diesmal bis Juni 1970 in Haft gehalten. Maya Mayr, die an der

Häftlingshilfe mitwirkte, wurde 1967 verhaftet, nachdem die Attentäter

Hans-Jürg Humer und Karl Schafferer bei ihr am Ramlhof

in Bozen-Rentsch übernachtet hatten. Gewalt und Gegengewalt

schaukelten einander auf. Humer und Schafferer wurden schwer

gefoltert, ebenso der 1967 wegen der Sprengung des Alpini-Denkmals

(Kapuziner-Wastl) in Bruneck verhaftete David Oberhollenzer.

In einer neuen Anschlagserie von Oktober 1966 bis Frühling

207


1967 richteten sich mehrere Attentate gegen italienische Vereinslokale,

Kultureinrichtungen und Gaststätten, wie es sie seit dem

auch im BAS umstrittenen Anschlag auf die Ferrari-Bar in Tramin

1961 nicht mehr gegeben hatte.

Trotz der Kooperation in der Terrorbekämpfung kamen die in

Österreich gefassten Attentäter weiterhin nahezu ungeschoren

davon. Auch der dritte Grazer Prozess wurde gestoppt und an ein

Geschworenengericht weitergeleitet. Als das Verfahren am 31. Mai

1967 – auf dem Höhepunkt der Eskalation – in Linz wieder holt

wurde, endete es mit Freisprüchen für Norbert Burger, Peter Kienesberger

und weitere 14 Angeklagte. Nach der Urteilsverkündigung

wurde das Andreas-Hofer-Lied angestimmt. Trotz derart schwerer

Belastungen für die Beziehungen zwischen Österreich und

Italien gingen die Verhandlungen weiter, auf beiden Seiten waren

sich die Verantwortlichen wohl bewusst, dass es einer politischen

Lösung bedurfte, um den Konflikt zu entschärfen. Am 23. Juli 1967

schloss die Neunzehnerkommission endlich ihre Arbeit ab, aber die

Ergebnisse waren aus Sicht der SVP noch unbefriedigend. Silvius

Magnago versuchte – beargwöhnt von der internen Opposition –

in direkten Verhandlungen mit Aldo Moro weitere Verbesserungen

zu erzielen. Ein wertvoller Vermittler war ihm dabei der

Bozner DC-Politiker Alcide Berloffa, dessen wachsendes Verständnis

für die Südtiroler Anliegen zu einer guten Gesprächsbasis beitrug.

Am 12. Februar 1967 erhielt Magnago eine schriftliche Fassung

von Vorschlägen Aldo Moros für eine neue Südtirol-Autonomie, in

weiteren Verhandlungen bis 1969 wurde das Paket nach und nach

aufgebessert. Ebenso kam Moro dem Bedürfnis nach einer internationalen

Absicherung der Autonomie zumindest indirekt entgegen.

Die Paket-Maßnahmen sollten der österreichischen Botschaft

übergeben werden, damit der österreichische Nationalrat

ebenso wie das italienische Parlament darüber abstimmen konnten.

Trotzdem waren in der SVP die Zweifel am Paket und dessen

Absicherung groß. Mit Hans Dietl kam es zum endgültigen Bruch,

aber auch Peter Brugger und Alfons Benedikter stellten sich mit

großer Anhängerschaft klar gegen das von Magnago erreichte

Paket. Ganze Bezirke wie das Pustertal sprachen sich gegen das

208


Verhandlungsergebnis aus, im Bauernbund waren die Paketgegner

in der Mehrheit. Die früheren parteiinternen Allianzen hatten sich

verschoben, Magnago wurde nun von zahlreichen Exponenten

der ehemaligen „Gemäßigten“ gestützt, während viele der einstigen

„Scharfen“ von ihm abrückten. Friedl Volgger warb massiv

und einflussreich für Magnago, unter den ehemaligen Gegnern

der „Aufbau“-Bewegung profilierte sich Roland Riz an Magnagos

Seite. Toni Ebner dagegen, der 1961 mit Riz für eine politische

Mäßigung eingetreten war, unterstützte nun über die „Dolomiten“

unverhohlen den Paketgegner und Selbstbestimmungsbefürworter

Peter Brugger. Franz Widmann, der mit Hans Dietl 1957 die

Wende in der SVP-Politik eingeleitet hatte, zog sich aus der aktiven

Politik zurück, er wollte in so schwieriger Lage nicht Magnago

schwächen und Dietl nicht in den Rücken fallen.

Vermochte die österreichische Justiz auch nicht gegen die Attentäter

durchzugreifen, so versuchte sie nun, die letzten Aktiven

wenigstens von weiteren Anschlägen abzuhalten. Im Frühjahr 1967

wurden die Pusterer Sepp Forer und Heinrich Oberleiter verhaftet.

Ein entschiedenes Durchgreifen löste der Anschlag auf die Porzescharte

bei Obertilliach aus, einem Übergang von Osttirol in die italienische

Provinz Belluno. In der Nacht auf den 25. Juni 1967 war

auf der italienischen Seite der Scharte ein Strommast gesprengt

worden, um den herum Minen vergraben waren. Vier italienische

Soldaten starben bei der Untersuchung des Tatortes, ein fünfter

wurde schwer verletzt. Peter Kienesberger, Erhard Hartung und

der Bundeswehroffizier Egon Kufner hatten sich in der Nähe aufgehalten,

stellten das Attentat aber als Finte und Falle des Geheimdienstes

dar. Kufner hatte in einem ersten Verhör, laut Protokoll

unter Tränen der Reue, das Attentat gestanden.

Nach dem Anschlag auf die Porzescharte verschärfte Österreich

den Antiterrorkampf. Mit Beschluss vom 11. Juli 1967 entsandte

der Ministerrat Truppen des Bundesheeres (ohne Tiroler

Beteiligung) an die Grenze, den Soldaten wurde Schießbefehl erteilt.

Für Siegfried Steger war dies der Anlass, den Kampf einzustellen.

Aber noch im September 1967 kündigte eine Gruppe im Namen

des BAS einen „verschärften Kampf“ an. Am 30. September tötete

eine Kofferbombe am Bahnhof Trient zwei Beamte. Die Zahl der

209


Toten, die direkt oder indirekt durch Anschläge, Unfälle, Folter und

Gegenterror verschuldet wurden, wird auf 35 geschätzt.

Bei österreichisch-italienischen Geheimtreffen in London forderte

Italien ein Ende des Terrors, ansonsten könne es keine Paket-

Lösung geben. Als am 12. März 1968 die Pusterer Forer und Oberlechner

vom Geschworenengericht in Wien erneut freigesprochen

wurden, behalf sich das Innenministerium dadurch, dass es die beiden

trotz Freispruchs in Schubhaft nahm. Die italienischen Auslieferungsanträge

wurden zwar der Reihe nach abgelehnt, aber es

war eine Möglichkeit, die Attentäter für die letzte Verhandlungsphase

aus dem Verkehr zu ziehen. Die Prozesse wurden so lange

wie möglich hinausgeschoben, um weitere diplomatische Störfälle

zu vermeiden. Siegfried Steger und Heinrich Oberleiter konnten

sich nach Deutschland absetzen. Kienesberger, Hartung und Kufner

wurden – wie auch in Italien – in Österreich verurteilt, in der

Berufung 1971 aber freigesprochen. In der Zwischenzeit war das

Paket über die Bühne gegangen.

So hallten die Anschläge allmählich aus, während die politische

Debatte um die Annahme oder Ablehnung des Südtirol- Pakets

1969 alle Aufmerksamkeit auf sich zog. 1968 gab es vereinzelte Anschläge

im Stil der Feuernacht, der letzte aktenkundige An schlag

1969 traf am 4. Oktober die Bahnlinie bei Rabland. Für 22. November

stand auf der Landesversammlung der SVP die Entscheidung

über das Paket an. In zahlreichen Versammlungen in allen Tal- und

größeren Ortschaften traten Paketbefürworter und Paketgegner

gemeinsam auf, die Debatten wurden hart, aber auch äußerst ernsthaft

und sachbezogen geführt. Den Paketgegnern war Magnagos

Verhandlungsergebnis nicht weitreichend und nicht abgesichert

genug. Die Hauptsorge war, dass mit der Paketannahme die Südtiroler

Politik einmal mehr vertröstet würde und indirekt auf eine

weiter reichende Lösung bis hin zur Selbstbestimmung verzichte.

Für die Befürworter war das von Magnago mit Moro ausgehandelte

Maßnahmenpaket das Maximum des Erreichbaren, die De-facto-

Aushöhlung der Region und die Ausstattung der „Provinzautonomie“

mit weit mehr primären und sekundären Zuständigkeiten, als

dies im legendären Artikel 14 je vorgesehen war. Auch stelle das

Paket keinen Verzicht auf weitere Verbesserungen und auch nicht

210


Entscheidung auf Messers Schneide: Das Ja zum „Paket“ im SVP-Parteiorgan

„Volksbote“, mit dem legendären Händedruck zwischen Sieger Silvius

Magnago und Paketgegner Peter Brugger.

auf das Selbstbestimmungsrecht dar. Durch den „Operationskalender“,

der die Schritte der Paketdurchführung auch mit Einbeziehung

Österreichs bis hin zu einer Streitbeilegungserklärung vor

der UNO minutiös regelte, sei – anders als mit dem ersten Autonomiestatut

– die reale Durchführung und zumindest indirekt auch

eine internationale Verankerung gesichert.

Das Paket stand bis zuletzt auf des Messers Schneide. Im Oktober

stimmte der Parteiausschuss der SVP in einer dreitägigen Sitzung

dem Paket zu. Die endgültige Entscheidung blieb aber der

Landesversammlung vorbehalten. Das Ergebnis war nicht abzuschätzen,

weshalb die Stimmung im Meraner Kursaal aufs Äußerste

gespannt war. Für den Fall einer Niederlage wurde mit Magnagos

Rücktritt gerechnet. Mit Blick auf die zu erwartende knappe Entscheidung

setzte auch die italienische Regierung unter Aldo Moro

vertrauensbildende Zeichen. Für bereits entlassene Häftlinge, die

aufgrund der höchstrichterlichen Bestätigung höherer Strafen in

zweiter Instanz wieder ins Gefängnis hätten müssen, wurde stillschweigend

eine Begnadigung durch den Staatspräsidenten verfügt,

die Magnago erst auf der Landesversammlung bekannt gab.

211


Schon zu Weihnachten 1968 wurden vier der fünf noch inhaftierten

Pfunderer begnadigt, deren Verhaftung und Verurteilung 1955/1957

den Autonomiekampf entscheidend verschärft hatte. Unmittelbar

vor der Paketdebatte wurde mit Jörg Pircher der letzte Feuernacht-Attentäter

enthaftet.

Der knappe Sieg Magnagos in der Paketabstimmung vom 22. November

1969 gehört mittlerweile zu den mythischen Momenten der

jüngeren Südtiroler Geschichte: 583 Ja- gegen 492 Neinstimmen

bei 15 Enthaltungen. Das Ergebnis drückte die Zerrissenheit innerhalb

der Südtiroler Volkspartei aus. Der Handschlag zwischen dem

unterlegenen Brugger und dem knappen Sieger Magnago wurde

zum Symbol für einen gemeinsamen Neuanfang. Drei Tage nach

der Annahme des Paketes wurde am 25. November 1969 auch der

letzte Pfunderer Häftling begnadigt. Ein Jahr später begnadigte

Staatspräsident Giuseppe Saragat den letzten BAS-Chef Günther

Andergassen.

212


Brüche und Aufbrüche

Ansätze von Demokratisierung und Modernisierung –

Die Schubkräfte von Paketdiskussion und 68er-Bewegung –

Wirtschaftlicher Aufschwung

Zwischen Bomben und Paketstreit zeigten sich in Südtirol ab Mitte

der 60er Jahre vermeintlich gegenläufige Entwicklungen, die trotzdem

einander beflügelten. Ab 1965 erlebte Südtirol starke Modernisierungsschübe

durch den einsetzenden Fremdenverkehrsboom,

begleitet von einer nur skeptisch angegangenen Industrialisierung

und einer Professionalisierung des Handwerks auch auf dem Lande.

Bilder vom Land in Not, atemberaubend in Szene gesetzt durch

Bomben- und Revolverstorys in den großen deutschen Illustrierten,

förderten die Bekanntheit des Landes. Mit der Feuernacht von

1961 war der italienische Tourismus für einige Jahre stark eingebrochen.

Ab 1963 nahm er wieder zu, erreichte seine frühere Bedeutung

aber erst mit der friedlichen Konfliktlösung gegen Ende der

60er Jahre. Der Anteil deutscher Gäste stieg dagegen ab 1961 stark

an, zum einen aufgrund des „Wirtschaftswunders“ in der Bundesrepublik,

das die Deutschen reisefreudig und kaufkräftig machte,

zum anderen auch im Sinne einer Solidarität mit dem unterdrückten

Südtirol. Schließlich kamen beide Gästegruppen in Scharen.

Bis in die letzten Winkel des Landes und auf die letzten Höfe

kam mit den Urlaubern auch eine Konfrontation mit rasanten gesellschaftlichen

Veränderungen. Ortschaften, die bis Mitte der 60er

Jahre und länger nur mit dem Traktor erreichbar waren, wurden

durch neue Straßen erschlossen. 1964 wurde die Europabrücke

eröffnet, von Bauabschnitt zu Bauabschnitt verkürzte die Brennerautobahn

die Fahrzeiten von Deutschland und Österreich in den

Süden. 1974 war die Brennerautobahn von Modena herauf durchgehend

befahrbar.

Ein Indiz für den wirtschaftlichen Aufschwung war der sprunghafte

Anstieg von Autokäufen. 1956 waren in Südtirol noch keine

8000 gemeldet, 1967 waren es schon fast 60.000, fünf Jahre später

85.971. Der beginnende Wohlstand veränderte das Konsumverhal-

213


Zeiten im Umbruch – das wirtschaftlich rückständige Land wird von

Wirtschaftsaufschwung, Tourismus und Modernisierung erreicht.

ten, brach in eine Welt gefestigter kultureller Werte ein, verfremdete

Traditionen, ließ Brauchtum zur Folklore werden. Für den

Attentäter Luis Amplatz war es etwa ein beklemmendes Erlebnis,

als 1964 „seine“ Grieser Musikkapelle in Wien aufspielte und nur

wenige Musikanten ihm die Hand gaben. Für die meisten spielte

sein „Freiheitskampf“ schon keine Rolle mehr. Silvius Magnago

sorgte sich in dieser Zeit, ob die Südtiroler wohl noch lange genug

die Kraft haben würden, für eine politische Lösung zu kämpfen.

Der D-Mark-Tourismus bewirkte zwar einerseits eine Hinwendung

Südtirols zum deutschen Sprachraum, verschob aber auch

die emotionalen Beziehungslinien von Innsbruck und Wien Richtung

Bayern und BRD.

Zugleich führte die Auseinandersetzung um das Paket zu einer

Fokussierung vieler politischer Kräfte auf das neue, entstehende

Südtirol. An die Stelle der Forderungen nach Wiedervereinigung

mit Tirol und der Rückkehr zu Österreich trat eine Detaildiskussion

um die künftige Ausstattung und Absicherung der Südtirol-

Autonomie, die den Blick der politisch Verantwortlichen stärker

nach innen richtete und eine Südtiroler Identität zu bilden begann.

Zaungäste dieser Entwicklung waren die in Südtirol lebenden Ita-

214


liener. Sie verließen sich stark auf den staatlichen Schutz, verfolgten

kaum – oder höchstens fallweise von nationalistischen Parteien

mobilisiert – die politische Entwicklung. Wurde das Paket in der

Verhandlungsphase innerhalb der Südtiroler Volkspartei an der

politischen Position vorbeimanövriert, traf dies für die italienische

Bevölkerung umso mehr zu. Während die SVP-Basis wenigstens

im Endspurt auf die Abstimmung 1969 hin breitest eingebunden

und informiert wurde, blieb die Autonomiepolitik auf italienischer

Seite Sache der Regierung und ihrer Parteizentralen.

In der politischen Landschaft Österreichs schlug die Auseinandersetzung

innerhalb der SVP voll durch. Das ungeschriebene

Gebot der Einheit aller Parteien in der Südtirol-Frage war, zumindest

vorübergehend, außer Kraft gesetzt: Im Nationalrat stimmte

nur die ÖVP für die ausgehandelte Paket-Lösung. FPÖ und SPÖ

verweigerten dem Paket – wegen der mangelnden Absicherung

und Ausstattung – ihre Stimmen. So wurde das Ergebnis jahrelanger

Verhandlungen am 16. Dezember 1969 nach elfstündiger

Debatte mit 83 gegen 79 Stimmen freudlos zur Kenntnis genommen.

Dagegen hatte die italienische Abgeordnetenkammer das

Paket am 4. Dezember 1969 mit deutlich höherer Mehrheit angenommen:

269 Ja, 26 Nein, 88 weiß. Im Senat gab es am darauf

folgenden Tag in etwa dieselbe Mehrheit. Dafür stimmten neben

der SVP die DC, die Republikaner, Sozialdemokraten und Sozialisten,

dagegen waren lediglich die Neofaschisten und die Monarchisten.

Die Kommunisten, die Linksproletarier und die Liberalen

enthielten sich der Stimme. Bei der getrennten Abstimmung über

das Autonomiestatut als wesentlichen Teil des Paketes stimmten

auch die Linksproletarier und Kommunisten dafür, um die für ein

Verfassungsgesetz nötige hohe Mehrheit zu sichern. Als Gesetz im

Verfassungsrang war das „Statut“ damit gegen künftige rechtliche

und politische Anfechtungen auf eine juridisch robuste Weise abgesichert.

Möglich war dies durch Bezug auf Artikel 6 der italienischen

Verfassung, laut dem die Republik Italien die sprachlichen

Minderheiten schützt. Weitere Maßnahmen wurden nach und

nach mit einfachen Gesetzen oder Sonderdekreten erlassen. Die

Durchführung im Detail, die ursprünglich innerhalb von vier Jahren

geplant war, zog sich dann in Form von teils mühsam ausge-

215


handelten „Durchführungsbestimmungen“ noch zwei Jahrzehnte

hin.

Bis auf die harte Gegnerschaft der Neofaschisten wurde die

italienische Bevölkerung kaum mit dem Paket befasst. Im Vordergrund

für die meisten italienischen Parteien stand weniger die

Interessenlage in Südtirol, sondern die Beendigung eines internationalen

Konflikts als Staatsfrage. Dies sollte sich als Hypothek

herausstellen, als die Paketmaßnahmen konkret umgesetzt

wurden und die italienische Bevölkerung völlig unvorbereitet

trafen.

Innerhalb der SVP dagegen hatte sich die Debatte zwischen

Paketbefürwortern und Paketgegnern über Jahre hingezogen und

damit auch eine Kultur offener Auseinandersetzung belebt, die

bis dahin fast ausschließlich auf die Parteigremien beschränkt

gewesen war. Auch die Kraftprobe um den „Aufbau“ wirkte nach.

Beide Gruppen überlegten ab Ende 1961 immer wieder die Gründung

eigener Parteien. 1963 versuchte der SVP-Mitbegründer und

Senator Josef Raffeiner den Ausbruch mit der „Tiroler Heimatpartei“,

gestützt von den maßgeblichen Kräften der ehemaligen „Aufbau“-Bewegung

und den „Dolomiten“. Die SVP konnte dem Angriff

standhalten, Raffeiner scheiterte, seine Unterstützer zogen sich

zurück und blieben in der Volkspartei. Der offene Konflikt mit den

„Dolomiten“ ließ die Gruppe um Magnago an alternative Sprachrohre

denken. Einer der treibenden Kräfte war dabei Hans Dietl.

Dieser hatte schon 1960 mit der „Realtà Sudtirolese“ ein italienisches

Medium gegründet, um damit die italienische Bevölkerung

zu erreichen. Die Initiative scheiterte nach einem Jahr. Gestützt

von Magnago, gründete Dietl 1963 die „Südtiroler Nachrichten“.

Sie erschienen alle 14 Tage, sollten aber mit der Zeit zum Wochenblatt

ausgebaut werden.

Für den Fall, dass die von Wirtschafts- und Bürgerkreisen getragene

„Aufbau“-Richtung überhandnehmen würde, besprach Dietl

mit Innsbrucker und Wiener SPÖ-Politikern ab 1963 die Gründung

einer sozialdemokratischen Partei in Südtirol. Die lange vom

Autonomiekampf verdrängte soziale Frage bot sich geradezu an.

Als Zwischenschritte wurden – mit deutschsprachigen Funktionären

vor allem des Gewerkschaftsbundes CISL – der Autonome

216


Links: Das Pochen auf die Einheit als politische Konstante: SVP-Wahlplakate

von 1963. Rechts: Hans Dietl – vom Vorkämpfer für das „Los von Trient“ zum

Dissidenten.

Südtiroler Gewerkschaftsbund und ein Soziales Forum innerhalb

der SVP gegründet.

Eine Rolle dabei spielte auch das Zerwürfnis Magnagos mit

Kreisky, nachdem die SVP das Kreisky-Saragat-Paket zunächst

kritisch geprüft und schließlich abgelehnt hatte. Kreisky verzieh

diese Entscheidung lange nicht, ärgerlich äußerte er sich über

die „Bozner Pfeffersäcke“. 1964 bestand er in einem Schreiben an

Magnago darauf, dass die SVP die für links gehaltenen Kandidaten

Egmont Jenny und Anton Stockner auf die Liste nehme, da er

ansonsten die Gründung einer sozialdemokratischen Partei fördern

würde. Der aus Wien nach Südtirol zurückgekehrte Arzt und

Publizist Jenny hatte, wie auch Hans Benedikter nach seinem Studium

in Österreich, an den „Südtiroler Nachrichten“ mitgearbeitet.

Jenny kam tatsächlich auf der SVP-Liste in den Landtag, aber

schon 1966 wurde er aus der Sammelpartei ausgeschlossen. 1968

trat er sowohl zu den Parlaments-, als auch zu den Landtagswahlen

mit der neugegründeten Sozialen Fortschrittspartei (SFP) an.

Mit nur rund 5000 Stimmen verfehlte die „Jenny-Liste“ das Ziel

eines sozialdemokratischen Aufbruchs in Südtirol. Trotzdem gab

217


sie dem allmählich wachsenden Bedürfnis nach Parteienvielfalt

und Pluralismus Ausdruck. Der urban geprägte Jenny fand auch

in Tal- und Ortschaften zunächst begeisterte Mitarbeiterinnen

und Mitarbeiter.

Mit dem Bruch zwischen Hans Dietl und der SVP schien ein

politisches Potential ganz anderer Dimension freizuwerden. Dietl

weigerte sich strikt, im Parlament für das Verfassungsgesetz zu

stimmen, mit dem das von ihm abgelehnte Südtirol-Paket juridische

Form erhalten sollte. Anders als Brugger war er auch nicht zur

Stimmenthaltung oder taktischen Abwesenheit bereit. So wurde

er am 5. November 1971 vom SVP-Schiedsgericht aus der Partei

ausgeschlossen.

Dietl genoss hohes Ansehen in Südtirol, er wurde zum Bezugspunkt

für die volkstumspolitische Opposition und für die Anhängerschaft

Jennys gleichermaßen. Bei den Parlamentswahlen 1971

erreichte er im Senatswahlkreis Ost mit 20.000 Stimmen die Dominanz

der SVP. Zwar verfehlte Dietls „Wahlverband der Unabhängigen“

ein Mandat, aber er nahm der SVP in ihrem stärksten Wahlbezirk

über 20 Prozent an Stimmen ab. Einen Versuch, ihn in die

SVP zurückzuholen, wies Dietl zurück. 1972 gründete er die Sozialdemokratische

Partei Südtirols (SPS).

Mit einer „roten“ Partei konnten viele Dietl-Anhänger nichts

anfangen. Ein Teil sprang ab und gründete die Partei der Unabhängigen

(PDU). Auch die von Dietl ins Auge gefasste Übernahme der

SFP scheiterte trotz der vielen Sympathien, die Dietl an der Jenny-

Basis genoss. Die Tiroler und Wiener SPÖ scheuten davor zurück,

Jenny als bisherigem Vertrauensmann Kreiskys die Unterstützung

zugunsten von Dietl zu entziehen. So war der oppositionelle Aufbruch

von Anfang an durch Zersplitterung der Kräfte geschwächt.

Dietls SPS wurde bei den Landtagswahlen 1973 mit 12.000 Stimmen

stärkste deutschsprachige Oppositionspartei, Jenny sank auf

4000 Stimmen ab, konnte aber ein Mandat halten, die PDU ging

mit 2600 Stimmen leer aus. Der Bruderzwist raubte den kleinen

Parteien Kraft und Glaubwürdigkeit, Dietl wurde in der SPS massiv

unter Druck gesetzt. Von Krankheit und Enttäuschung gezeichnet,

verzichtete er 1975 auf sein Mandat, 1977 verstarb er. Jennys

SFP verschwand schon bei den nächsten Wahlen von der Bild-

218


fläche, die SPS bei der übernächsten Wahl. Die PDU konnte sich

als Einmann-Partei noch etwas länger halten, zunächst mit Hans

Lunger, dann mit Gerold Meraner, der die PDU für die Landtagswahlen

1988 in die Freiheitliche Partei Südtirols (FPS) umwandelte,

die 1993 in die „Union für Südtirol“ einging.

Die oppositionellen Anläufe von außen gegen die Bastion SVP

bewirkten innerhalb der Partei zaghafte demokratische Öffnungen.

Für die ehemaligen Paketgegner trat 1971 mit Peter Brugger

erstmals ein zweiter Kandidat für das Amt des Parteiobmannes

an, Magnago konnte sich nur mit 55 gegen 45 Prozent behaupten.

Vier Jahre später versuchte es Brugger erneut, gab aber nach

den enttäuschenden Vorwahlen, die Magnago wieder fest im Sattel

zeigten, vorzeitig auf. Er handelte sich aber eine dauerhafte

Statutenänderung zur Stärkung der internen Opposition heraus,

das sogenannte „Drittelwahlsystem“. Dadurch dass bei internen

Wahlen immer nur mehr ein Drittel der zu Wählenden angekreuzt

werden durfte, war es für die Zukunft weitgehend ausgeschlossen,

dass eine Mehrheit bei internen Wahlen alle Positionen besetzen

konnte. Parteiinternen Minderheiten war auf diese Weise eine gute

Vertretung garantiert. Auf diese Weise sicherte die SVP, so zerrissen

sie in Folge der politischen Richtungskämpfe auch wirken

mochte, ihren Sammelparteicharakter noch auf Jahrzehnte hin ab.

Die Sorge vor einem Wegbrechen der Wählerschaft am linken

Rand führte 1975 zur Gründung der „Arbeitnehmer in der SVP“,

die sich 1981 als „Landessozialausschuss“ konstituierten. 1967 hatte

die SVP, nach dem langen Clinch mit der Kirche, mit Erich Spitaler

erstmals auch einen „Jugendreferenten“ ernannt, binnen kürzester

Zeit wurden über 100 Ortsgruppen gegründet. 1970 wurde die

SVP-Jugend gegründet. Erster gewählter Landesjugendreferent

wurde der ehemalige Dietl- und Jenny-Mitarbeiter Hans Benedikter,

erster Landesjugendsekretär Oskar Peterlini.

Außerhalb der Partei wuchsen jugendliche Protestgruppen

neuer Art heran. Innerhalb der Südtiroler Studentenschaft begannen,

dem europäischen Trend zeitlich gar nicht so sehr hinterherhinkend,

Kritik und Gegenkultur zu fermentieren. Bis Mitte

der 60er Jahre stand die Südtiroler Hochschülerschaft, mit wenigen

Ausnahmemomenten, im Dienst von Traditionswahrung und

219


kultureller Abwehrhaltung gegenüber Italianisierungs- und Entfremdungstendenzen.

Noch 1966/1967 lehnte die SH unter ihren

Vorsitzenden Luis Durnwalder und Heinz Zanon jede Diskussion

über eine Universität in Südtirol strikt ab. Nach einer internen

Krise übernahmen Erneuerer die Leitung der Hochschülerschaft,

zunächst Joachim Bonell, dann Otto Saurer. Der Wechsel von der

konservativen Durnwalder-Ära zur fortschrittlicheren Saurer-Ära,

der eine später Landeshauptmann, der andere dessen Stellvertreter,

symbolisierte innerhalb der SH und der Südtiroler Jugend einen

Stimmungswechsel. Auch da war die Paketdebatte von mobilisierender

Wirkung gewesen: Luis Durnwalder gehörte der patriotischen

Paket-Opposition um Peter Brugger an, Otto Saurer stand

Dietl und dessen sozialdemokratischem Aufbruch nahe.

Abseits der Zerreißprobe um das Paket zeigten sich in der Südtiroler

Gesellschaft tiefere Brüche und radikalere Ausbrüche. Die

lange notgedrungen defensiv ausgerichtete Volkstumspolitik entsprach

nicht mehr den Bedürfnissen nach Anschluss an europäische

Entwicklungen, an Öffnung gegenüber Italien, an Auseinandersetzung

mit Zeitströmungen und Ideologien. 1967 verteilte eine

Gruppe von rund 50 Jugendlichen anlässlich der feierlichen Eröffnung

des „Waltherhauses“ in Bozen Flugzettel mit der Forderung

nach kultureller und auch ethnischer Öffnung. Das mit österreichischen

Kulturbeiträgen gestiftete Haus der Kultur „Walther von der

Vogelweide“ galt den Demonstranten bereits bei der Eröffnung als

vermiefter konservativer Kulturtempel, dem neue Initiativen entgegengestellt

werden müssten. Die SH-Aktivisten Siegfried Stuffer

und Josef Schmid gründeten zusammen mit dem 20-jährigen

Studenten Alexander Langer die Zeitschrift „die brücke“. Sie sollte

eine „Brücke“ für kulturelle Einflüsse und ethnische Begegnungen

sein. Neben der Herausgabe der Zeitschrift stellte die Gruppe mit

ungewohnter Provokationskraft und wachsender Anhängerschaft

die dominierende Leitkultur in Frage. Sie störte SVP-Kundgebungen

und Theateraufführungen, forderte die Schützen zur Rechtfertigung

ihrer Existenz auf, stellte das Monopol von Athesia und „Dolomiten“

in Frage. In Anlehnung an die Kampagne gegen den Springer-Verlag

in Deutschland wurde in Bozen „Enteignet die Ebner-Presse“

plakatiert. Die seit der SVP-Gründung 1945 im Autonomiekampf

220


verinnerlichte „Geschlossenheit“ von Volk, Partei, Zeitung wurde

von den „brücke“-Leuten nicht mehr als Notwendigkeit für das

Überleben der Südtiroler empfunden, sondern als Einheitszwang.

Für die italienische Bevölkerung stand die hart geführte Auseinandersetzung

zwischen Kräften einer neuen nationalen Ordnung

und den linken Bewegungen im Vordergrund der politischen

Wahrnehmung, wiederholt wurde Italien von Blutbädern und politischen

Morden erschüttert, später wurden auch rechtsextreme

Putschversuche und Geheimdienstintrigen bekannt. Auch in Südtirol

kam es 1968 zwischen linken Demonstranten und italienischen

Neofaschisten wiederholt zu Zusammenstößen. Der MSI

arbeitete emsig daran, eine starke Jugendbewegung in Südtirol

aufzubauen. Bei Zeltlagern, deren Betreuer – wie sich später herausstellen

sollte – zum Teil mit Geheimdiensten wie Gladio in

Verbindung standen, wurde die neofaschistische Jugend ideologisch

geschult. Die Feiern am 4. November 1968 zum 50. Jahrestag

des Kriegsendes 1918 – als Tag des italienischen Einmarsches in

Südtirol gleich beschworen wie umstritten – endeten in Raufereien.

Linke Studenten provozierten die Faschisten mit einem „Sit-in“

gegen Faschismus und für Demokratie. Unter den linken Demonstranten

fühlten sich erstmals deutsche und italienische Südtiroler

verbunden. Neben Alexander Langer, der aus fundamentalchristlichen

Jugendvisionen zur Linken gefunden hatte und sich

früh als Führungspersönlichkeit profilierte, waren auch weitere

Exponenten der zukünftigen linksalternativen Opposition dabei,

so Lidia Menapace, Gianni Lanzinger, Edi Rabini und Arnold Tribus.

Symbolträgerin für ein neues Selbstverständnis junger Südtiroler,

die sich über alle Grenzen hinweg fanden, war die Pazifistin

Irmtraud Mair, die mit Gitarre und grob gestrickter Sarner

Jacke für Frieden und Gerechtigkeit nicht nur in Südtirol, sondern

auch in der Welt auftrat.

Eine Südtiroler Universität war für die SH nicht mehr länger ein

Feindbild, sondern notwendiger Forschungs- und Diskussionspool

für gesellschaftliche Veränderung. An der Universitätsdiskussion

zeigte sich zugleich die Schwierigkeit der Südtiroler Politik, die

lange eingeübte Abwehrhaltung aufgrund neuer Entwicklungen

zu lockern. Lange Zeit waren die Universitätspläne italienischer

221


Wut-Literatur und Woodstock-Stimmung als Vorboten einer neuen Zeit:

Irmtraud Mair mit Liedern für Frieden und Gerechtigkeit, Norbert C. Kaser

als literarische Ikone des Aufbegehrens.

Regierungen und Hochschulinstitute ja tatsächlich vom Geist einer

„kulturellen Kolonisation“ getragen. Entsprechend argwöhnisch

stand die SVP Initiativen wie den Sommerkursen der Universität

Padua in Brixen gegenüber. Es wurde befürchtet, dass eine Universität

gleich einem „trojanischen Pferd“ zur intellektuellen Unterwanderung

Südtirols beitragen könnte und in Anspielung auf die

faschistischen Industrieansiedlungen der 30er Jahre zur „geistigen

Industriezone“ würde.

Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre kam für die etablierte

Südtiroler Politik die Sorge hinzu, die Universität könnte zur Brutstätte

kommunistischer und linksalternativer Ideen werden. Anstoß

dafür war die Universität in Trient, die 1962 als Institut für Sozialwissenschaften

(„Istituto superiore di Scienze Sociali“) gegründet

und 1972 zur Universität mit einer einzigen Fakultät (für Soziologie)

umgewandelt wurde. Den jungen Revoluzzern galt sie als

Hoffnung. „Dolomiten“ und SVP dagegen sorgten sich vor einem

Übergreifen der Studentenunruhen auf Südtirol. In Trient hatten

der Gründer der Roten Brigaden Renato Curcio und seine 1975

erschossene Lebensgefährtin Mara Cagol studiert.

222


Was in Trient die Universität war, wurden in Bozen die Oberschulen.

Die Schüler waren politisch motivierbar, es fanden Sitzstreiks

und Protestmärsche statt. Nationale und internationale

Themen vermischten sich mit Südtiroler Belangen und Konflikten.

1968 protestierten Oberschüler anlässlich eines Besuchs von

Unterrichtsminister Luigi Gui vor dem Bozner Rathaus gegen die

immer wieder verschobene italienische Schulreform, der Minister

verließ das Rathaus durch die Hintertür. 1969 wurde die Weihnachtsfeier

an der Handelsoberschule gestört.

Gegen Ende des Schuljahres 1970/71 kam es am Humanistischen

Gymnasium in Bozen zur Konfrontation zwischen Schülern und

Schulleitung. Direktor der Schule war Oswald Sailer, ein Ver treter

der Kriegsgeneration, junger Philosophielehrer war Alexander

Langer, der die Schüler begeisterte und den Argwohn des Direktors

erregte. Als zwei Schüler, denen neben schlechten Deutschkenntnissen

auch ihre klassenkämpferischen Parolen vorgeworfen

wurden, nicht zur Maturaprüfung zugelassen wurden, kam es zur

offenen Studentenrevolte. Vor der Schule wurden Zelte errichtet,

Mitschüler traten in den Hungerstreik. Die Nichtzulassung zur

Matura wurde vom Unterrichtsministerium wegen eines Formfehlers

annulliert. Als aber unter sechs durchgefallenen Maturanten

auch jene zwei waren, die ursprünglich ausgeschlossen worden

waren, wurde der Schülerstreik fortgesetzt. Die linken Studenten

wurden dabei immer wieder von neofaschistischen Demonstranten

provoziert, schließlich gab es sogar einen Bombenanschlag auf

das Sit-in. Zu Beginn des neuen Schuljahres bestreikten Schüler

den Griechischunterricht des Lehrers Emil Sepp, der darauf den

Unterricht in dieser Klasse einstellte. Langer wurde nach Meran

versetzt. Die Schülerproteste in Südtirol hatten Beachtung in ganz

Italien gefunden. Langer, der zuvor in Florenz und Trient studiert

hatte, ging nach Rom und wurde zu einer der Leitfiguren der außerparlamentarischen

Bewegung „Lotta Continua“.

Einen schrillen Ton gegen die herrschende Kultur schlug bei

der 13. Studientagung der Südtiroler Hochschülerschaft im August

1969 in Brixen der Dichter Nobert C. Kaser an. In einer Kampfrede

gegen die literarische (und implizit auch politische) Vätergeneration

forderte er wörtlich dazu auf, den Tiroler Gigger zu rupfen und

223


die heiligen Kühe der Landeskultur zu schlachten. Die „Brixner

Rede“ wirkte ansteckend, sie war Impuls und Ermutigung für

Gleichgesinnte. So wurde das lange zahm gebliebene SH-Organ

„Skolast“ von Hans Wielander aus Schlanders mit Unterstützung

des Vinschger Künstlers Luis Stefan Stecher umgestaltet und zu

einem Forum kritischer Meinungen und experimenteller Literatur

ausgebaut. Die Schriftsteller Herbert Rosendorfer und Joseph

Zoderer publizierten darin frühe Texte. Später gründete Wielander

mit Roland Kristanell, Norbert Florineth (einem Weggefährten

Dietls), Michael Höllrigl, Volker Oberegger und Markus Vallazza

die Kulturzeitschrift „Arunda“, die vor allem mit ihren Monographien

bestach. Ein wichtiger „Arunda“-Autor war Kristian Sotriffer.

Glanzlichter der „Arunda“ waren Schriften über Franz Tumler,

Peter Fellin und Anton Frühauf. Fast von Anfang an arbeitete auch

Gianni Bodini mit, der mit Wielander zum Faktotum der „Arunda“

wurde. Als Sohn italienischer Zuwanderer, der sich im Vinschgau

beheimatet fühlte, und an einer deutschen Kulturzeitschrift mitarbeitete,

war er unausgesprochen so etwas wie der Prototyp eines

italienischen Südtirolers.

Ein zaghafter Kulturfrühling und politische Agitation überschlugen

sich, fanden zusammen oder stießen sich wieder ab.

Feind bilder der jungen Wilden waren der in Innsbruck lehrende,

in Südtirol vielfach als „Kulturpapst“ auftretende Eugen Thurnher,

Kulturlandesrat Anton Zelger, die „Dolomiten“ und ihr Kommentator

Josef Rampold, der seinerseits keine Gelegenheit ausließ,

gegen die „Revoluzzer“ und „Chaoten“ mit spitzer Feder zu Felde

zu ziehen. Nur wenige aus der Vätergeneration ließ man als Vorbilder

gelten. Neben Fellin und Tumler, dessen zeitweilige Nähe

zur NS-Kulturpolitik erst später problematisiert wurde, waren

dies vor allem die Künstler Karl Plattner und Willy Valier, aber

auch der Historiker und Journalist Claus Gatterer.

Ein wichtiges Forum bot der jungen Literatur die in Innsbruck

erscheinende Kulturzeitschrift „Das Fenster“, die vom ehemaligen

Widerstandskämpfer, Fotografen, Autor und Attentäter Wolfgang

Pfaundler herausgegeben wurde. Beraten wurde Pfaundler

von seinem Freund Paul Flora, der mit seinen Karikaturen in der

Wochenzeitung „Die Zeit“ das tradierte Bild vom aufrechten und

224


ewig kampfbereiten Tiroler ironisierte. Wenn auch von vielen belächelt,

zugleich doch geliebt war der Priester Alfred Gruber – ein

kirchlicher Patron freier künstlerischer und literarischer Äußerung.

Mit der Gründung des „Kreises für Literatur“ im Südtiroler

Künstlerbund versuchte er, das bunte Spektrum zu vereinen. Die

Gründung der alternativen „Südtiroler Autorenvereinigung“ 1981

als Gegenpol kränkte ihn zwar persönlich, seine offene Haltung

allen Künstlern und Literaten gegenüber bewahrte er sich aber.

Die meisten Initiativen liefen im „Südtiroler Kulturzentrum“

zusammen, das 1975 gegründet wurde und sich als Gegenkraft

zum „Kulturinstitut“ begriff. Mit einer künstlerischen Plakataktion,

maßgeblich von Christian Pardeller und Dominikus Andergassen

mit Kleister und Farbtopf durchgeführt, wurde die Haltung

der SVP zu Universitätsplänen angeprangert und ironisiert.

Die SVP hielt an ihrem Nein auch fest, als sich neue Perspektiven

eröffneten. So machte der Trientner Rektor Paolo Prodi 1974

das Angebot einer Universitätskooperation zwischen Trient und

Bozen zu fairen Bedingungen. Die SH griff die Idee unter ihrem

Vorsitzenden Sepp Kußtatscher begeistert auf, doch die SVP lehnte

die Vorschläge ab. Fast 20 Jahre später forderte Kußtatscher als

SVP-Arbeitnehmerabgeordneter im Landtag erneut ein Nachdenken

über eine Südtiroler Universität. Luis Durnwalder wies das

Ansinnen heftig zurück, befasste sich aber in den folgenden Jahren

intensiv mit den Möglichkeiten einer Universitätsgründung. 1997

nutzte er unter der Ministerpräsidentschaft von Romano Prodi, dem

Bruder des seinerzeitigen Trientner Rektors und selbst Dozent in

Trient, die politisch und juridisch günstige Lage für die Gründung

der Freien Universität Bozen.

In den 70er und 80er Jahren boten Landespolitik und vorherrschende

Kultur den alternativen Gruppen reichlich Angriffsfläche.

Mit einer Theatergruppe brachte das Kulturzentrum Tiroler

Gegenthemen auf die Bühne, so „Tyrol 1525 – Szenen aus dem

Bauernkrieg“, Brecht-Stücke, „Sonnwendtag“ von Karl Schönherr,

„Mensch Meier“ von Franz Xaver Kroetz. Das Stück „Was heißt hier

Liebe?“, das mit einer angedeuteten Koitusszene auch in Innsbruck

für einen Skandal sorgte, wurde nach einer Aufführung 1980 in

Lana von Kulturlandesrat Anton Zelger zur Anzeige gebracht, in

225


der Folge wurde die Aufführung verhindert. Proteste löste auch

eine Neuauflage des zweibändigen Biologiebuchs „Lebendige Welt“

des Westermann-Verlages aus, das an Südtirols Mittelschulen verwendet

wurde. Da in der Neuauflage des Buches ein nacktes Ehepaar

und eine Geburtsszene abgebildet waren, wurden diese Seiten

an vielen Schulen herausgeschnitten. Schließlich bestellte Schulamtsleiter

David Kofler eine bearbeitete Ausgabe für Südtirol, in

der die zehn betreffenden Seiten in Band 1 und die 15 Seiten in

Band 2 gar nicht mehr vorhanden waren. Im Inhaltsverzeichnis

wurden die entsprechenden Hinweise überklebt.

Starke Impulse für eine Kultur, die sich als politischer Gegenentwurf

begriff, kamen von den Meranern Jakob De Chirico, Franz

Pichler und Matthias Schönweger, die mit künstlerischen Performances

und poetischer Provokation auftraten. Die vielseitigen Töne

und Akzente aus der Kunst-, Literatur- und Kulturwelt veränderten

zwangsläufig auch die politische Soundkulisse des Landes. Was da

kreuz und quer inszeniert, plakatiert, publiziert wurde, ließ sich mit

Kulturverboten und medialer Ächtung auf Dauer nicht aufhalten.

Vom Kulturzentrum ging 1977 auch die Gründung des Filmforums

Bozen als Vorläufer des Filmclubs aus. Als Programmkino

setzte es dem (lange vorwiegend italienischsprachigen oder aber

äußerst seichten deutschsprachigen) Kommerzkino eine für Südtirol

neue Kinokultur entgegen, etwa mit Streifen von Rainer Werner

Fassbinder und Werner Herzog. Die 1964 von Ennio Casciaro

eröffnete „Galleria Goethe Galerie“ wurde zu einem Bezugspunkt

für Künstler beider Sprachgruppen, so für Karl Plattner, Josef Kienlechner,

Peter Fellin, Mario Dall’Aglio, Gina Javorski. Mit dem Teatro

Stabile verfügte die italienische Sprachgruppe in Bozen über

ein weltoffenes und politisch engagiertes Theater. Die italienische

Kulturpolitik zeigte weniger Verklemmung als die deutsche. So

wurde 1971 und auch in späteren Jahren immer wieder der Provokationskünstler

Dario Fò in die Messehalle nach Bozen eingeladen.

Die Besetzung des aufgelassenen Gebäudes für die Verwaltung

der Staatsmonopole durch Jugendliche im Oktober 1979 in der

Bozner Dantestraße sorgte einen Monat lang für eine bewegte Szenerie.

Zwar wies die Bozner Gemeindeverwaltung die Forderung

nach einem freien Jugendzentrum zurück und ließ das Gebäude

226


Neue Medien für neue Botschaften: „die brücke“, in der auch Alexander

Langer ein frühes Betätigungsfeld fand, und der „Skolast“, von Hans

Wielander und Luis Stefan Stecher inhaltlich umgekrempelt und mit

neuem Design versehen.

am 5. November abreißen. Die Hausbesetzung aber brachte viele

Jugendliche beider Sprachgruppen einander näher und ließ den

Wunsch nach Eigengestaltung und sozialem Freiraum aufblitzen.

Zu den Initiativen der italienischen Kulturszene gab es von den

deutschsprachigen alternativen Gruppen kaum mehr Berührungsängste.

In breiten Bevölkerungskreisen wurde dies noch anders

empfunden. Südtiroler Familien empfanden es in den 70er Jahren

häufig noch als Schmach, wenn ihre Töchter oder Söhne italienische

Partnerschaften knüpften. Auch in der Schulpolitik waren

Austausch und Gemeinsamkeit noch nicht erwünscht. Anton Zelger

lehnte Schüleraustauschprojekte bei einer Landtagsdebatte am

20. März 1979 mit einer legendär gewordenen Erklärung ab: „Ich

kenne keine Südtiroler Kultur, sondern nur eine deutsche, italienische

und ladinische Kultur in Südtirol. Viele Menschen sprechen

zwar viele Sprachen, kulturell leben tut man aber nur in einer

Kultur. […] Je klarer wir trennen, desto besser verstehen wir uns.

Wenn das jemand Apartheid nennen will, habe ich nichts dagegen.“

227


Die neue Leichtigkeit

des Südtiroler-Seins

Identitätsbildung durch Autonomie und Sport –

Gesellschaftliche Reibungen und Auflösungs erscheinungen

Die Welt war in Bewegung geraten und Südtirol bewegte sich

mit, politisch noch vereinnahmt vom Autonomiekampf und dem

Abgrenzungsbedürfnis einer Minderheit, zugleich mitgerissen von

den gesellschaftlichen Entwicklungen. 1961 war die Antibabypille

aus den USA nach Europa gekommen, Mitte der 60er Jahre meldete

sich auch in Südtirol verstärkt die italienische Frauenbewegung

zu Wort. Wenn sich diese mit ihren Forderungen zu Ehescheidung

und Abtreibung auch weitgehend auf das linke Lager beschränkte,

griff das Bedürfnis nach freierer Lebensgestaltung und gesellschaftlicher

Emanzipation doch auf die gesamte Frauenwelt über.

Die Südtiroler Kirche tat sich mit den veränderten Lebensstilen

schwer, verstärkte aber – auch im Sinne der von Papst Johannes

XXIII. eingeleiteten Erneuerung – ihren gesellschaftlichen

und sozialen Einsatz im vorpolitischen Raum. In der italienischen

Bevölkerung hatte die kirchliche Sozialbewegung Acli (Associazione

cristiane lavoratori italiani) bereits einen guten Stand. Nach

dem Vorbild der Acli war schon 1948 der Katholische Verband der

Werktätigen gegründet worden, um auch der deutschsprachigen

Bevölkerung ein Patronat anzubieten, mittlerweile arbeiten die

beiden Verbände im Patronatswesen zusammen. Auf deutscher

Seite wurde 1967 der Katholische Familienverband Südtirols (KFS)

gegründet, 1978 folgte die Südtiroler Katholische Jugend (SKJ).

Manche Dorfpriester stellten für offene Jugendgruppen Räume

zur Verfügung, in denen sie sich auch außerhalb von Ministrantengruppen

und Jungschar bewegen konnten.

Die wachsende Mittelschicht entzog sich freilich zunehmend

dem Einfluss der Kirche. Sonntagsausflüge mit dem neu erworbenen

Auto traten in Konkurrenz zum Sonntagsgottesdienst. Moralische

Tabus wie vor- und außereheliche Sexualität, Ehescheidung,

228


Aufhebung des Zölibats, Abtreibung zerbrachen an den erweiterten

Lebensbedürfnissen immer breiterer Schichten. Der Priesternachwuchs

erlitt 1967 seinen ersten deutlichen Knick. 1970 wurde

in Italien mittels Referendum die zivilrechtliche Unauflöslichkeit

der Ehe abgeschafft. Katholische Kirche und Democrazia Cristiana

erwirkten 1974 ein zweites Referendum zur Abschaffung der Ehescheidung.

In Südtirol stimmte eine knappe Mehrheit für die Aufrechterhaltung

des Scheidungsrechts. Im Vorfeld des 1981 durchgeführten

Referendums zur Abschaffung des 1977 eingeführten

Abtreibungsrechtes gingen Südtiroler Frauengruppen selbstbewusst

mit Fackelzügen für die Beibehaltung des Gesetzes auf die Straße.

Jahre vor der in Südtirol ab 1979 wirksamen gesetzlichen Einführung

und Finanzierung von Informationszentren richteten örtliche

Frauengruppen Beratungsstellen für Frauen und Familien ein

(AIED und Lilith). Führend tätig war lange vor ihrer Wahl in den

Landtag die Feministin und Anwältin Andreina Ardizzone Emeri.

Die weltweit Sitten und Lebensgefühl der Jugend revolutionierende

Rock- und Popbewegung ergriff auch die Südtiroler Jugend,

beargwöhnt von der lange verständnislosen und besorgten Elterngeneration.

Bands wurden gegründet und ahmten die Gitarrenriffs

der großen Idole nach, lange Haare und ausgefranste Hosen wurden

zum Code für Freiheit und eigene Lebensgestaltung. In vielen

Dörfern wurden kleine „Woodstocks“ organisiert. Aufgeschlossene

Priester ließen die Jugendbands Messen gestalten, mancherorts

dagegen sorgte der Auftritt von Rockgruppen im Kulturhaus für

einen Skandal und böse Kommentare in den „Dolomiten“, etwa

1971, als der Traminer Erich Sinner mit seiner Gruppe „Admiral“

im „Haus Unterland“ in Neumarkt ein Rock- und Popfestival organisierte

und Josef Rampold in den „Dolomiten“ von einer „Entweihung“

schrieb.

Nicht nur für die besorgten Eltern, auch für die Jugend lichen

selbst war es schwierig, sich in der umstürzenden Wertewelt

zurechtzufinden. Aufbegehrendes Lebens- und Lustgefühl vermischten

sich mit selbstzerstörerischem Drogenkonsum. Von neugierig

konsumierten ersten Haschischzigaretten zu LSD-Trips und

Heroinkonsum war es für viele ein fataler Schritt. Der Drogenkonsum

war ein neues gesellschaftliches Phänomen, das von allen

229


„Blumenkinder“ beim Brunecker Schlosskonzert 1970: Lustvolles Lebensgefühl

traf auf Argwohn und Kopfschütteln bei den älteren Generationen.

Beteiligten zunächst für Protest und Trotz gehalten wurde, bis es

in seiner Dimension erkannt wurde. Vom reinen Entsetzen über

dahinsiechende Heroinsüchtige und deren Beschaffungskriminalität

hin zu konkreten gesundheits- und jugendpolitischen Maßnahmen

bedurfte es einiger Zeit. Kirchliche Organisationen, mehr

noch einzelne Priester waren die Vorreiter, so Padre Giovanni

Barbieri in Bozen mit dem „Centro Giovani“. Die ersten Initiativen

waren noch hilflos und oft auch autoritär, medizinische und

sozialpsychologische Kenntnisse fehlten weitgehend. Todesfälle

von jungen Süchtigen waren Anlass für Protestmärsche gegen die

Isolation der Drogenabhängigen. 1977 wurde von Don Giancarlo

Bertagnolli der sprachgruppenübergreifende Drogenhilfsverein „La

Strada – der Weg“ gegründet. Die Übernahme der Präsidentschaft

durch Altsenator Friedl Volgger galt damals als überraschender,

mutiger Schritt, der eine offenere Haltung gegenüber der Drogenabhängigkeit,

von der Ächtung und Kriminalisierung hin zu therapeutischen

Hilfsangeboten förderte.

Auch außerhalb der Protestkultur gab es ab Mitte der 60er Jahre

einen Aufschwung im Kultur- und Gesellschaftsleben, angetrieben

230


Aufbrüche im Theater mit historischen Stücken wie „Der Kanzler von Tirol“

in Neumarkt und den auch in Südtirol beachteten Werken von Felix Mitterer

(im Bild „Kein schöner Land“).

231


von der wirtschaftlichen Entwicklung und gesellschaftlichen Öffnung.

Die ersten Diskotheken und manches Nachtlokal öffneten ihre

Tore. Das Ausgehen zum Pizzaessen wurde nicht nur für Jugendliche,

sondern auch für Familien zum beliebten und erschwinglichen

Abendprogramm. Das traditionelle Südtiroler Kulturleben

blühte auf, mitunter umrankt von Kitsch und Folklore, aber auch

mit Bemühungen um echte Volkskultur.

Zum Aufschwung von Kultur und Brauchtum trug freilich auch

die intensive Hilfe aus dem deutschsprachigen Ausland bei, vor

allem aus Österreich und Deutschland, zum Teil aus den öffentlichen

Fonds, zum Teil von privaten Organisationen mit dem Ziel

kulturellen Beistands für die Südtiroler Minderheiten. Die „Stille

Hilfe“ und das „Kulturwerk für Südtirol“ sammelten über Jahrzehnte

Spenden, mit denen – neben den noch lange fließenden

Mitteln aus Österreich – der Bau von Kindergärten, Kultur- und

Vereinshäusern in Südtirol ermöglicht wurde. Die neu erbauten Kulturhäuser

wurden von Heimatbühnen, Volkstanzgruppen, Schuhplattlern,

Traditionskapellen, Chören mit neuem Selbstwertgefühl

bespielt. Die Volksbühne Bozen erhielt durch ihren Einzug ins

Waltherhaus 1967 starken Auftrieb. Im Unterland gründete Luis

Walter, ebenfalls Mitglied der Volksbühne Bozen, 1968 die Freilichtspiele

Südtiroler Unterland, die mit historischen Stücken von

„Andre Hofer“ über „Der Judas von Tirol“ bis „Michael Gaismair“

die Tiroler Geschichte neu auf die Bühne brachten und sich – etwa

mit „Jedermann“ – auch an Klassiker heranwagten.

Im Theater waren die Fronten zwischen traditionell und fortschrittlich

naturgemäß oft verwischt. So gingen die Freilichtspiele

dazu über, Stücke bei Südtiroler Autoren in Auftrag zu geben. Josef

Wenter schrieb ein Stück über den „Kanzler von Tirol“, Jul Bruno

Laner über „Kardinal Cusanus“ und für die kurz darauf gegründeten

Rittner Sommerspiele über die als Hexe verbrannte „Pachlerzottl“.

Eine ähnliche Entwicklung zeigte sich mit der Gründung

der „Tiroler Volksschauspiele“ im Jahr 1982 auch in Tirol. Felix

Mitterers erster Theaterskandal mit „Stigma“ (1984 in Telfs) wurde

in Südtirol aufmerksam verfolgt. Manche Pionierleistung setzte

sich auf langen Umwegen durch: In Bozen gründeten 1966 Waltraud

Staudacher und Luis Benedikter die „Kleine Experimen-

232


tierbühne“, aus der 1969 die „Tribüne“, später die „Bozner Initiative“

wurde, die mit Uraufführungen Südtiroler Autoren (Albrecht

Ebensberger, Matthias Schönweger, Kuno Seyr, Oswald Waldner,

Luis Zagler) ebenfalls neue Wege wagte.

Die damaligen Aufbrüche wirken bis in die Gegenwart nach.

Die „Initiative“ schloss sich 1992 mit anderen Gruppen (Südtiroler

Ensembletheater, Kleinkunstbühne und Talferbühne) zu den Vereinigten

Bühnen Bozen zusammen, die das 1999 eröffnete Stadttheater

bespielt. In Brixen bezog 1975 die „Kulisse“ um den Schauspieler

Georg Kaser im Anreiterkeller ihre eigene Bühne, die – mit

der später gegründeten „Dekadenz“ – zur krisenfesten Dauereinrichtung

wurde. In Meran gründeten die von der Volksbühne kommenden

Brüder Franco und Raimund Marini 1977 das „Theater in

der Klemme“, das in dem von Rudi Ladurner geführten „Theater

in der Altstadt“ eine Fortsetzung fand. In Bruneck frischte das

„Kleine Theater Bruneck“ die Theaterszene auf, 1994 erfüllte sich

der Bühnenbildner Klaus Gasperi mit dem „Theater im Pub“ den

Traum einer eigenen Bühne, die schließlich in das Projekt eines

„Stadttheaters“ münden sollte. In Zusammenarbeit mit dem Brunecker

Jugendzentrum UFO führte das Stadttheater 2004 das seinerzeit

verbotene Stück „Was heißt hier Liebe?“ auf, erneut von

Protesten und Anzeigen belangt, aber ohne die damalige Wirkung.

Meist nur Insidern bekannt, dem Stolz des Landes aber doch

schmeichelnd, machten sich Südtiroler Künstler auch außerhalb

des Landes einen Namen: Walter Pichler, in Birchabruck geboren

und als Optantenkind in Telfs aufgewachsen, schaffte es 1975 zu

einer Einzelausstellung im „Museum of Modern Art“ in New York.

Gilbert Prousch aus St. Martin im Gadertal lernte in der School

of Art in London einen kongenialen Partner kennen, mit dem er

sich als „Gilbert & George“ zu einem lebenden Gesamtkunstwerk

zusammentat. Im musikalischen Showbusiness brillierte der Grödner

Giorgio Moroder, zunächst mit Hits für Donna Summer, später

mit Oscar-prämierter Filmmusik für „Midnight Express“ (1978)

und „Flashdance“ (1983).

Die letzten noch verschlossenen Türen zu weltweiten Entwicklungen

riss das Fernsehen ein, das zunehmend das Radio in den

Hintergrund drängte. Die erste Mondlandung 1969 war für viele

233


Familien ein Anlass, sich einen Fernseher zu kaufen, die Olympischen

Winterspiele von 1972 mit 60 Südtiroler Teilnehmerinnen

und Teilnehmern in 14 Sportarten verschafften dem TV-Markt

einen starken Schub.

Elektrohändler hatten schon in den frühen 60er Jahren damit

begonnen, abseits jeder rechtlichen Regelung Umsetzer aufzustellen,

mit denen deutsche, österreichische und Schweizer TV-

Programme empfangen werden konnten. Der lange zögerlich anlaufende

Verkauf von Fernsehgeräten konnte so allmählich in

Schwung gebracht werden, zunächst noch von der staatlichen

Rundfunkanstalt RAI mit Rechtsmitteln vehement bekämpft. So

wurden 1963 illegal aufgestellte Anlagen unter großem Protest stillgelegt.

Zugleich kam die RAI unter Druck, auch der deutschsprachigen

Bevölkerung Programme anzubieten. 1966 wurde mit dem

deutschsprachigen Sender Bozen der RAI das erste Regionalprogramm

Italiens ausgestrahlt. Dessen Kernstück war die tägliche

„Tagesschau“, noch lange einem biederen Blick auf Südtirol verhaftet,

aber von Anfang an für das wachsende Fernsehpublikum

eine wichtige zweite Informationsquelle neben den „Dolomiten“.

In den Autonomieverhandlungen erhielt das Land Südtirol

schließlich die Zuständigkeit für kulturelle Förderungen im Bereich

von Rundfunk und Fernsehen zugesprochen, davon ausgenommen

wurde lediglich die Gründung eigener Anstalten. 1973

trat die Durchführungsbestimmung zum Rundfunk- und Fernsehwesen

in Kraft, mit der die ausländischen Fernsehprogramme

offiziell empfangen werden durften. 1975 wurde, begrenzt auf den

Import der ausländischen Programme, die Rundfunkanstalt Südtirol

gegründet, erster Präsident war der Meraner SVP-Politiker

und spätere Staatsrat Klaus Dubis. Die Sendungen von ORF, ZDF

und SRG wurden zur dominierenden TV-Kost der deutschen und

ladinischen Südtiroler, die RAI verlor – bis auf die Zeitfenster für

den Sender Bozen mit den deutschen und (erst allmählich etwas

ausgebauten) ladinischen Programmen – ihre lange unangefochtene

Position.

Im Fernsehen erlebten die Südtiroler ab 1970 auch ein neues

Selbstbild, das schwungvoll die düstere Volk-in-Not-Stimmung hinwegfegte.

1970 feierte der 18-jährige Stilfser Skirennläufer Gustav

234


Thöni seine ersten Siege in Weltcuprennen, 1971 gewann er den

Gesamtweltcup, 1972 wiederholte er diesen Erfolg und eroberte bei

den Olympischen Spielen in Sapporo Gold und Silber. Die „Valanga

Azzurra“ war, bis auf den Aostaner Piero Gros, weitgehend eine

Südtiroler Angelegenheit, neben Gustav Thöni sorgten sein Cousin

Roland Thöni, Werner Stricker, Helmuth Schmalzl, Herbert Plank

und andere für neue, positiv besetzte Identifikationsmöglichkeiten.

Dass ihre Skifahrer mit der italienischen Hymne gefeiert wurden,

aber in Interviews rudimentäres Italienisch sprachen und sich mit

ihrem Dialekt als Angehörige einer Minderheit bekannten, erforderte

und förderte Identitätsbildung auch in der breiten Anhängerschaft.

Die Südtiroler begannen sich als Südtiroler zu fühlen,

die in der Welt auch noch einzigartige Leistungen vollbrachten,

italienische Staatsbürger zwar, aber doch etwas Besonderes.

Auch in anderen Sportarten trumpften Südtiroler Sportlerinnen

und Sportler auf. Im Rodeln hatte Erika Lechner schon 1968

in Grenoble Olympiagold geholt, in Sapporo trumpften Paul Hildgartner

und Walter Plaikner im Doppelsitzer auf, später holten sich

Karl Brunner und Peter Gschnitzer den Gesamtweltcup. Der HC

Bozen dominierte, in Konkurrenz zu den Clubs aus Mailand und

Cortina, immer wieder die Serie-A-Meisterschaft im Eis hockey, eine

starke Rolle spielte lange auch der HC Gröden. Ähnlich wie Gustav

Thöni wurde der Bozner Turmspringer Klaus Dibiasi, immer

freundschaftlich bedrängt von Giorgio Cagnotto, zum Prototyp

des stillen, disziplinierten, jahrelang die Welt bestechenden Spitzensportlers

aus einem kleinen, tüchtigen Land.

Auf 8.125 Metern Höhe begann am 27. Juni 1970 eine Südtiroler

Legende anderer Art, anhaltend heroisch und tragisch zugleich:

Reinhold und Günther Messner hatten den Nanga Parbat bestiegen,

beim Abstieg verloren sie sich. Günther kehrte nie mehr heim,

Reinhold wurde auf tragische Weise zum Illustriertenstar und Bestsellerautor

unter den Bergsteigern. Mit hervorragendem publizistischen

Gespür, mit Sinn für Risiko und Überlebenschancen, mit

kreativen Anstößen für das Extrembergsteigen wurde er zu dem

mit Abstand erfolgreichsten und bekanntesten Bergsteiger seiner

Zeit. Als erster Mensch stand er ohne Sauerstoffflasche auf allen

14 Achttausendern der Welt, mit Fußmärschen durch Grönland,

235


Die „Valanga Azzurra“ mit ihrem wortkargen Superstar Gustav Thöni

war mehr als ein Sporterfolg – sie wurde zum Symbol für ein neues

Selbstbewusstsein.

236


die Antarktis und die Wüste Takla Makan setzte er neue Maßstäbe,

mit dem Talent zur kühnen Reflexion bestach er in philosophischen

und politischen TV-Runden.

Anders als die sportlichen Vorbilder ließ sich Messner nicht so

ohne weiteres feiern. Anfangs noch eingebunden in die patriotisch

aufgeladene Alpenvereinsszenerie, begann er aus dem traditionellen

Bild des Heimatsohnes, wie Luis Trenker es bis ins hohe Alter

blieb, mit provokanten Äußerungen auszubrechen. Seine Verweigerung

gegenüber politischer Vereinnahmung, weil seine einzige

Fahne sein Taschentuch sei, seine mehrmalige Drohung auszuwandern

und schließlich seine Provokation, die Südtiroler hätten

im Zuge der Option 1939 die Heimat „verraten“, waren Ausdruck

für die Südtiroler Suche nach einer neuen Identität: beschäftigt

mit einer klärungsbedürftigen Vergangenheit, ausbrechend aus

alten Mustern, hadernd mit der Enge des Landes und doch gut

aufgehoben darin.

237


Lehrjahre der Autonomie

Das neue Autonomiestatut zwischen Gründergeist

und Krisen – Verhärtungen und neue Gewalt

Am 21. August 1978 verstarb, erst 31-jährig, der Dichter Norbert C.

Kaser. Der frühe Tod an Leberzirrhose wurde zu einem elektrisierenden

Ereignis für die bunte, aber auch versprengte jugendliche

Protestbewegung in Südtirol. Wenn sich auch Kaser durch exzessives

Trinken und schonungsloses Leben gesundheitlich selbst

schwer geschädigt hatte, so wurde sein Tod doch als Symbol für

die erstickende Enge und politisch-kulturelle Verkrustung Südtirols

empfunden. „wir sind ueberhaupt eine recht eingeklemmte

generation. rueckwaerts geht es nimmer & vor dem vorwaerts graut

uns“, hatte Kaser das Stimmungsbild seiner Generation eingefangen.

Auf der Beerdigung Kasers in Bruneck fasste Alexander Langer

den Entschluss, nach Südtirol zurückzukehren und die bunte, aber

versprengte Südtiroler Protestbewegung zu sammeln und politisch

zu organisieren.

Die Ausgangslage war günstig. In einem von der SH initiierten

„Brief der 83“ forderten schon im Frühjahr nicht nur linke Persönlichkeiten

eine gesellschafts- und kulturpolitische Öffnung in

Südtirol. Mit der Gründung der „Südtiroler Volkszeitung“ durch

eine Genossenschaft im selben Jahr war ein Sprachrohr geschaffen

worden, dessen Redaktion Treffpunkt und Schmelztiegel der

Bewegung wurde. Langers Aufruf in der „Volkszeitung“ zur Bildung

einer „Davidliste“, die „mit der Davidschleuder dem Giganten des

Südtiroler Regimes“ entgegentreten sollte, hatte Erfolg. Schon im

Herbst desselben Jahres trat die interethnische Liste „Neue Linke –

Nuova Sinistra“ bei den Landtagswahlen an und wurde mit fast

10.000 Stimmen vierte Kraft hinter der SVP, der DC und den Kommunisten,

weit vor den deutschen Oppositionsparteien SPS und

PDU, die sich nur durch Restmandate retten konnten. Als Landtagsabgeordneter

verunsicherte Langer durch provokante, intellektuell

meist brillante Beiträge die gesetzte politische Vertretung

der SVP. Zwar schied er, im Sinne des ethnischen Rotationsprin-

238


Mit dem Protest gegen die Sprachgruppenerhebung 1981 bündelte Alexander

Langer eine neue Oppositionsgruppe um sich: links, interethnisch und mit

aktiver Frauenbeteiligung.

Die „ethnischen Käfige“: Demonstration gegen die Trennung zwischen den

Südtiroler Sprachgruppen anlässlich der Volkszählung 1981.

239


zips seiner Liste, nach rund drei Jahren zugunsten des zweitgewählten

Leiferers Luigi Costalbano aus dem Landtag aus, blieb

aber unumstritten Bezugspunkt seiner Bewegung.

Das neue oder auch zweite Autonomiestatut, in dem die Paketmaßnahmen

– bis auf einige Sondergesetze – ihre juridische Form

als Verfassungsgesetz erhalten hatten, war 1972 in Kraft getreten.

Auf die Südtiroler Politik, die jahrzehntelang konkreter politischer

Instrumente entbehrt hatte, kamen Herkulesaufgaben zu.

Die neuen Selbstverwaltungsmöglichkeiten mussten in einer Flut

von Einzelmaßnahmen genutzt werden. Bis zum Erlass des Autonomiestatutes

hatte der Südtiroler Landtag je Legislaturperiode,

also innerhalb von fünf Jahren, im Schnitt rund 50 Gesetze erlassen,

allein im ersten Jahr der neuen Autonomie waren es schon 47. Der

Landeshaushalt schwoll rapide an: 1961 standen dem Land Südtirol

5,6 Milliarden Lire zur Verfügung, 1973 waren es 77,2 Milliarden

Lire. Selbst wenn die hohe Inflation in Italien berücksichtigt

wird, war es ein sprunghafter Anstieg. 1974 umfasste der Landeshaushalt

schon 103 Milliarden, im Jahr darauf 210 Milliarden Lire.

Amt für Amt musste aus dem Nichts aufgebaut, Zuständigkeitsbereich

um Zuständigkeitsbereich neu geregelt werden. In

der ersten Legislaturperiode wurden die Landesschulämter, das

Landes denkmalamt, die Rundfunkanstalt Südtirol (RAS), der Sonderbetrieb

für Bodenschutz, Lawinen- und Wildbachverbauung,

der Dienst des Landestierarztes, das Ladinische Kulturinstitut, das

Volkskundemuseum, die Musikinstitute, das biologische Landeslabor,

die Dienststellen für psychische Gesundheit, Einrichtungen

für Behinderte und gegen Drogenabhängigkeit und Alkoholsucht

aufgebaut.

Wie weit der Aktionsradius für die aus dem Autonomiekampf

hervorgegangene politische Führungsklasse ging, zeigt eine Auswahl

von Gesetzen und Maßnahmen allein im Jahr 1972: zur

Regelung des Pilzesammelns, zum Schutz der Alpenflora, zur

Neuordnung des Friseurgewerbes, zur Stromversorgung. Der

„Geschlossene Hof“ als Schutz der Mindestgröße für bäuerliche

Betriebe war gegen ein Urteil des Verfassungsgerichts zu verteidigen.

Die vom nationalen Arbeiterstatut auf die drei großen Gewerkschaften

CGIL (AGB), CISL (SGB) und UIL (SGK) begrenzte

240


Verhandlungslegitimation musste auf den ASGB ausgedehnt werden.

Von historischer Tragweite war das im Juli 1972 erlassene

„Landes wohnbaureformgesetz“, mit dem sich Südtirol zu einer

nach Sprachgruppen gerechten und eigenständigen Förderung

des sozialen Wohnbaus und der Eigenheimbildung aufmachte.

Die Bereinigung eines faschistischen Unrechts ermöglichte das

Gesetz zur Rückführung von übersetzten Vornamen in die deutsche

Form.

Ebenfalls schon 1972 wurden mit dem Landesraumordnungsgesetz

in zweifacher Hinsicht bedeutungsvolle Weichen gestellt.

Einerseits sollte durch restriktive Raumordnungsbestimmungen

die Zersiedelung der Landschaft gestoppt werden. Andererseits

war dies auch ein Instrument gegen etwaige neue Zuwanderung

aus anderen italienischen Provinzen. Der Baubedarf wurde durch

die Förderung von Altbausanierungen und durch die kontrollierte

Ausweisung von Wohnbauzonen gedeckt, die nach Möglichkeit

örtlichen Genossenschaften anvertraut wurden.

Südtirol wurde von Aufbaufieber erfasst, die lange angestauten

Kräfte fanden vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten. Die deutsche

Schule war zwar als einer der wenigen zentralen Bereiche

schon durch das erste Autonomiestatut garantiert gewesen, der

Bau von Schulen und Kindergärten aber war mangels klarer rechtlicher

Regelungen und ausreichender Finanzmittel auf die österreichische

Unterstützung und die Spendengelder der „Stillen Hilfe“

und des „Kulturwerkes für Südtirol“ angewiesen. 1974 traten die

Neuregelungen für Schulfürsorge, Stipendienwesen, Schulausspeisung,

Schülertransporte sowie für die Ausstattung der Schulen mit

Büchern in Kraft. 1976 folgte das Kindergartengesetz, das den Bau

von Betreuungsstätten mit Landesmitteln ermöglichte. Das neue

Schulbaugesetz von 1977 schob ein massives Schulbauprogramm

an, viele Schulen konnten um 1980 aus Notunterkünften in neue

Gebäude umziehen. Für die Pflichtschulen erhielten die Gemeinden

nun 90 Prozent der Baukosten vom Land zugeschossen, die

Oberschulen wurden zu 100 Prozent vom Land finanziert. Das

führte dazu, dass oft auch für kleine Weiler neue Schulen gebaut

wurden, die schon wenige Jahre später mangels Kindernachwuchses

wieder geschlossen werden mussten.

241


In der Landwirtschaft setzte eine durchgreifende Modernisierung

und auch eine Professionalisierung des Genossenschaftswesens

sein. Während die Arbeitsplätze in den unter dem Faschismus

gebauten Bozner Industriekolossen zurückgingen, stieg die

Beschäftigung in den Talschaften durch eine „hauseigene“ Industrialisierung

allmählich an. In den Bozner Industriebetrieben wurden

von 1972 bis 1982 rund 2000 Arbeitsplätze abgebaut, in Brixen,

Bruneck, Sterzing, Lana und auch im Vinschgau entstanden neue

Industriebetriebe. In den italienischen Bozner Vierteln breitete

sich eine gedrückte Stimmung aus, da den Arbeiterfamilien ihre

für gesichert gehaltenen Perspektiven abhandenkamen. Mit der

Umschichtung der wirtschaftlichen Prosperität von der Stadt auf

die Landgemeinden ging auch eine Schwächung der Gewerkschaften

einher, da die Arbeiterbewegung in den Talschaften keine Tradition

hatte. Verdienste für die Durchsetzung und Durchführung

erster Sozialgesetze erwarb sich als lange einzige Frau in der Südtiroler

Landesregierung die Landesrätin Waltraud Gebert-Deeg.

Aufbruchsstimmung und Fortschrittskepsis prallten aufeinander.

So begrüßte die Gemeinde Brixen 1970 die geplante Nieder lassung

der deutschen Continental-Gummiwerke, musste aber 1971 nach

massiven Protesten von Bauern und Bürgern die bereits erteilte

Zustimmung wieder zurückziehen.

Der Fremdenverkehr erlebte einen Höhenflug. Schon von 1960

bis 1970 war die Zahl der Gastbetriebe von 1500 auf 2700 angestiegen,

die Bettenzahl von 38.000 auf 70.000. Die im Landesraumordnungsgesetz

geschaffene Möglichkeit von Zubauten für Hallen bad,

Speisesaal, Küche und Zimmer bis zu 40 Betten entsprach dem

Bedürfnis nach einem aufgemöbelten touristischen Angebot. Mit

der Erlaubnis, auf Bauernhöfen bis zu 30 Gästebetten einzurichten,

sollten der landwirtschaftlichen Bevölkerung neue Einkommensmöglichkeiten

erschlossen werden. Ein eigenes Förderungsgesetz

– typisch für die nun einsetzende „Subventionitis“ aus dem voller

und voller werdenden Landestopf – gewährte finanzielle Beihilfen

für den Einbau von Duschen in die Gästezimmer.

Die wirtschaftliche Entwicklung in Italien heizte den Bauboom

zusätzlich an, die rasante Inflation zahlte bei festverzinsten Krediten

die Schulden praktisch von alleine ab. Nicht nur kleine Gast-

242


wirte, auch Bauern nahmen hohe Kredite auf und wurden beinahe

über Nacht zu Großhoteliers. Bis 1979 entstanden 2000 neue

Gastbetriebe, die Bettenzahl wuchs von 70.000 auf 120.000, die

Übernachtungen verdoppelten sich von zehn auf 20 Millionen. Im

Goldfieber, das den Tourismus erfasst hatte, gingen mahnende

Stimmen und auch das Unbehagen an einer Kultur des Ausverkaufs

gegenüber „den Fremden“ weitgehend unter. In manchen Gastbetrieben

zog die Familie in der Hochsaison in den Keller um, weil

die Betten für die Fremden freigemacht wurden. Werbe slogans

der 70er Jahre wie „Sag Du zu Südtirol“ ernteten manchen Spott,

erwiesen sich aber als überaus erfolgreich.

Die SVP geriet von wirtschaftlicher Seite her unter starken Druck,

der Hoteliers- und Gastwirteverband (HGV) forderte aufmüpfig

eine noch stärkere Öffnung und liberalere Handhabung der Raumordnungsgesetzgebung,

einen forcierten Ausbau der Straßen- und

Verkehrsverbindungen einschließlich eines Flugplatzes (mit Plänen,

diesen auf dem Salten einzurichten). Die Zersiedelung und

vielfach starke Beeinträchtigung des Landschaftsbildes sorgte und

empörte viele Heimat- und Umweltschützer. Josef Rampold wurde

in den „Dolomiten“ unter dem Kürzel „X“ zum „grünen“ Gewissen

des Landes. Mit ihrem ersten Landesentwicklungsplan (LEP) versuchte

die Landesregierung schon 1980 auf die Bremse zu treten.

Autor des neuen Planungsinstruments war Karl Nicolussi-Leck,

politisch verantwortlicher Landesrat Alfons Benedikter. Neben

dem Schutz von Landschaft und Ressourcen folgte der Entwicklungsplan

auch der alten Logik, italienische Zuwanderung und

Ausbreitung möglichst zu verhindern, vor allem die Stadt Bozen,

aber auch die Südtiroler Wirtschaft fühlte sich „abgewürgt“.

Bauwirtschaft und Tourismusbranche wurden schon im Vorfeld

des LEP von Torschlusspanik ergriffen. Noch einmal verschuldeten

sich viele alteingesessene und neue Gastwirte für Zu- und

Ausbauten. Mittlerweile aber waren die Zinsen für neue Kredite

bis auf 27 Prozent gestiegen, die Schulden erwiesen sich für

viele als nicht mehr rückzahlbar. Der Reihe nach gingen Hotels

in Konkurs, ehemalige Bauern standen vor den Trümmern eines

vermeint lichen Aufstiegs, in ihren Hoffnungen enttäuscht, in ihrer

Identi tät geknickt. Beispielhaft war der Aufstieg und Fall des Leo

243


Neue Zeiten, neue Sorgen: SVP-Altsenator Friedl Volgger als Präsident

des Drogenhilfsvereins „La Strada – der Weg“ mit dem Gründer der Initiative,

Don Giancarlo Bertagnolli.

Gurschler. Vom Schnalser Bergbauernkind und Hüterbuben war

er zum „Gletscher könig“ geworden: 1975 eröffnete er die Schnalstaler

Gletscherbahn, 1977 begann er mit dem Bau zweier Hotels

zugleich. Der Plan eines schrittweise zu verwirklichenden Bungalow-Dorfes

war im Sinne der Konzentration von Kubatur abgelehnt

worden. Gurschler baute, wie viele andere im Land, fast nur

mit Fremdkapital. 1982 brach sein Traum zusammen, 1983 verübte

er Suizid. Für viele zu spät, wirtschaftspolitisch äußerst fragwürdig

beschloss die Landesregierung auf Druck des langjährigen

Tourismuslandesrates Franz Spögler schließlich ein Subventionsgesetz

für „unverschuldet verschuldete Gastwirte“ – Synonym

für das schnelle, durch den Autonomieschub verursachte Wachstum.

Früh schon kam aber auch wieder politischer Sand in das Autonomiegetriebe.

„Rom nimmt mit der einen Hand wieder, was es

mit der anderen gegeben hat“, kommentierte der „Volksbote“ die

erste politisch schmerzliche Rückverweisung eines Landesgesetzes

noch im Mai 1972, also unmittelbar nach Inkrafttreten des neuen

Autonomiestatutes. Sie betraf das frisch verabschiedete „Elektro-

244


gesetz“. Ein jahrzehntelanges Feilschen um die Zuständigkeit für

die Energieversorgung begann.

Der politische Schwung der Paket-Lösung verhedderte sich

in einem juristischen Kleinkrieg. Der römischen Bürokratie ging

die Weitsicht der italienischen Paket-Väter Aldo Moro, Giuseppe

Saragat und Alcide Berloffa weitgehend ab. Auch politisch völlig

unverdächtige Gesetze wie die Schaffung eines Berufsalbums für

Gärtner wurden wegen Übertretung der Landeskompetenzen an

den Landtag „rückverwiesen“. Zum einen hatte dies mit politischen

Vorbehalten, zum anderen auch mit Gewöhnungsbedarf

und administrativer Verunsicherung zu tun. Das Paket war als

Flickwerk entstanden, in immer neuen Verhandlungen hatte Magnago

schließlich zu den 137 Maßnahmen noch 25 Submaßnahmen

und 31 Fußnoten erwirkt. Das daraus entstandene Autonomiestatut

war in vielen Passagen als ein Konstrukt des „institutionalisierten

Misstrauens“ (Joseph Marko) nicht auf die Aussöhnung

der Streitparteien angelegt, sondern auf eine kontrollierte Kooperation.

Die Grenzen zwischen Staat und Land waren im Detail oft erst

auszuloten und führten immer wieder zu Interpretationsverfahren

vor dem Verfassungsgericht. Die Verhandlungen über die nach

und nach zu erlassenden Durchführungsbestimmungen zum Autonomiestatut

erwiesen sich als langwierig. Ursprünglich hätte das

Paket innerhalb von zwei Jahren verwirklicht sein sollen, es wurden

20 Jahre daraus. Wichtige Durchführungsbestimmungen stießen

in Rom auf Widerstand, vor allem jene zum Gebrauch der deutschen

Sprache vor Gericht und Polizei sowie zu den Zukunftsbereichen

Energie und Kommunikation.

Die SVP, die das Paket gegen große innere Widerstände angenommen

hatte, reagierte auf die Anfangsschwierigkeiten mit Verhärtung.

Je mehr an den neuen Autonomiebestimmungen gerüttelt

wurde, desto mehr hielt sie an deren buchstabengetreuen

Durchführung fest. Die zwei wichtigsten Schutzinstrumente für

die ethnische Minderheit traten 1976 in Kraft. Mit den Bestimmungen

zum „ethnischen Proporz“ sollte im öffentlichen Dienst

bis zum Jahr 2002 das gerechte Verhältnis zwischen den Sprachgruppen

hergestellt sein. Die Pflicht zur Zweisprachigkeit aller

245


öffentlichen und halböffentlichen Bediensteten hob die deutsche

Sprache im Amtsverkehr auf dieselbe Ebene wie die Staatssprache.

1972 waren von 3000 Eisenbahnern im Gebiet der Provinz

Bozen nur 219 deutschsprachig.

Die Ausschreibung der ersten Stellen nach dem ethnischen

Proporz brachte ein Erwachen. Zum einen meldeten sich, da jeder

Tradition im Staatsdienst entbehrend, viel zu wenig deutsch- und

ladinischsprachige Bewerber für die Stellen, die ihnen aufgrund des

Aufholmechanismus reserviert waren. Zum anderen erschwerte die

staatliche Bürokratie deutschen und ladinischen Bewerbern den

Zugang zu den Stellen, ließ sie in erhöhtem Maße über ärztliche

Zeugnisse stolpern oder bei den Prüfungen durchfallen. Schließlich

wurde das Proporzdekret vorübergehend außer Kraft gesetzt,

weil es im Widerspruch zur staatlichen Reform des öffentlichen

Dienstes stehe. In langwierigen Verfahren musste das Land den

zentralen Grundsatz erkämpfen, dass das Autonomiegesetz aufgrund

seines Verfassungsranges staatlichen Reformen nicht untergeordnet

werden dürfe. Auf die italienische Bevölkerung in Südtirol

wirkte der Proporz wie ein Schock. Die Autonomie wurde als

Privilegienentzug erlebt, die Pflicht zur Zweisprachigkeit wie eine

Demütigung hingenommen, lebten die meisten Italiener Südtirols

doch im Gefühl des „siamo in Italia“.

So wurde 1981 die in Italien alle zehn Jahre stattfindende Volkszählung

zu einem ersten Härtetest der neuen Autonomie. Im Sinne

des Proporzes musste sich die in Südtirol ansässige Bevölkerung

erstmals offen und namentlich zu einer der drei Sprachgruppen

bekennen. 1971 war die Sprachgruppenerhebung noch anonym

und ohne Aufregung durchgeführt worden: Die deutsche und die

ladinische Sprachgruppe hatten sich nach dem zurückgenommenen

Zuwanderungsdruck und aufgrund ihrer höheren Geburtenrate

leicht erholt, die italienische hatte nur gering eingebüßt. 1981

war die Erklärung der ethnischen Zugehörigkeit plötzlich eine

Frage des Zugangs jedes einzelnen zum öffentlichen Arbeitsmarkt.

Der Staatsdienst war für die Italiener in Südtirol von vorrangiger

Bedeutung gewesen. Angesichts der schwindenden Großindustrie

hatten sie im Vergleich zur stark anziehenden „deutschen“ Wirtschaft

sonst kaum eigene Wachstumsbereiche.

246


Am 31. März 1978 wurde Südtirol aus seinem vermeintlichen

Autonomiefrieden gerissen. Mit einem Anschlag auf das Beinhaus

in Burgeis begann ein Schlagabtausch zwischen „deutschen“ und

„italienischen“ Attentaten. Am 23. Juli wurde gegen das Wohnhaus

von Silvius Magnago ein Molotowcocktail geschleudert. Am

30. September wurde ein Anschlag auf das Siegesdenkmal in Bozen

verübt. Wieder nur einen Monat später erfolgte ein weiterer auf

die Pfarrkirche Frangart bei Eppan, zu dem sich zwei unterschiedliche

Gruppen bekannten, die „Brigata Cesare Battisti“ und die

„Befreiungsfront Süd-Tirol“. Der „Dialog mit Detonationen“ schaukelte

sich bis 1982 ständig auf. Auf deutscher Seite waren es weitgehend

jugendliche Täter, die – unterstützt von einigen wenigen

Heimkehrern aus den 60er Jahren – von der Wiederaufnahme des

Freiheitskampfes träumten und dem Protest über die verschleppte

Autonomiedurchführung Ausdruck verliehen. Die „italienischen“

Attentate, meist professionell durchgeführt, erinnerten an die „Strategie

der Spannung“. Bekennerschreiben wiesen, wie sich später

herausstellte, Übereinstimmungen mit dem 1979 noch völlig unbekannten

Geheimdienst Gladio auf.

Für heftige Auseinandersetzungen sorgte 1979 die vom Ministerium

für öffentliche Arbeiten beschlossene Restaurierung des

Siegesdenkmals, das durch den Anschlag im Vorjahr leicht beschädigt

worden war. Die SVP forderte die Schleifung des faschistischen

Monuments, der SVP-Jugendpolitiker Franz Pahl trat am

2. März vor dem Denkmal einen mehrtägigen Hungerstreik an. Am

9. März zerstörte eine wuchtige Sprengladung das Grab von Ettore

Tolomei in Montan. Am 6. April versuchte der junge Erwin Astfäller,

Sohn des ehemaligen politischen Häftlings Oswald Astfäller,

das Siegesdenkmal in Bozen mit Gasflaschen in die Luft zu sprengen.

Im September 1979 traf es zunächst wieder Symbole der 60er

Jahre – zwei Strommasten im Vinschgau, das Alpini-Denkmal in

Bruneck (den „Kapuziner-Wastl“). Die Revanche war die Sprengung

des Andreas-Hofer-Denkmals in Meran zwei Wochen später.

Ein beeindruckendes Crescendo: Am 28. Oktober ein Anschlag

auf einen Rohbau für Volkswohnungen in Sarnthein (obwohl der

ehemals staatlich gelenkte soziale Wohnbau mittlerweile in Landeskompetenz

übergegangen war), am 30. Oktober ein Anschlag

247


auf das Hotel Post in Bruneck, das dem SVP-Bürgermeister gehörte.

Am 4. Dezember gab es sechs Anschläge hintereinander auf Seilbahnen

und Liftanlagen als Symbole des Südtiroler Tourismus;

ein siebter war gegen das Bahnhofshotel in Neumarkt gerichtet,

das sich im Besitz der Ehefrau des SVP-Bürgermeisters befand.

1980 wurden sieben Attentate verübt, 1981 – im Jahr der Volkszählung

– gab es noch einmal einen heftigen Schub italienischer Gewalt.

Bei vier Anschlägen in einer einzigen Nacht, am 31. Juli 1981,

wurden Symbole der Autonomie und des als zu nachgiebig angeprangerten

Staates getroffen: Landtag, Magnago-Villa, Regierungskommissariat,

DC-Büro. Die Verantwortung übernahm, mit

Bezugnahme auf die bevorstehende Volkszählung, die Gruppe

„API“ (Associazione Protezione Italiani), während sich zu früheren

Anschlägen die Gruppe „MIA“ (Movimento Italiani Alto Adige)

bekannt hatte. Am 10. Oktober 1981 – unmittelbar vor dem Stichtag

für die Volkszählung – wurden noch einmal drei Anschläge deutscher

Urheberschaft verübt: auf eine Kaserne in Meran, auf das

Beinhaus in Burgeis, auf das Gerichtsgebäude in Bozen.

Die Debatte um die Volkszählung war spannungsgeladen. Silvius

Magnago rief eindringlich dazu auf, sich zur eigenen Sprachgruppe

zu bekennen, er „würde jene Personen nicht achten, die aus

opportunistischen Gründen sich zu einer anderen Sprachgruppe

als der eigenen erklären“. Verweigerer hätten mit „schwerwiegenden

Folgen“ zu rechnen, nämlich mit dem Ausschluss von den

unter den Proporz fallenden öffentlichen Stellen und Wohnbauhilfen,

teilweise sogar mit dem Verlust des passiven Wahlrechts

(etwa für den Gemeinderat). Alexander Langer spitzte den Widerstand

und Boykottaufruf seiner Bewegung gegen die „ethnische

Aufschreibung“ mit plakativen Vergleichen zu („Apartheid“, „ethnische

Käfige“, „Option 1981“). Der Bischof und die katholische

Jugend, wiewohl um den ethnischen Ausgleich besorgt, stellten

sich auf die Seite der SVP. Das gerade erst erbaute Autonomiegebäude

sollte vor frühen Erschütterungen geschützt werden.

Die Auswertung der Volkszählung ergab eine Kräfteverschiebung:

64,9 Prozent hatten sich als deutschsprachig, 28,7 Prozent als

italienischsprachig, 4,1 Prozent als ladinischsprachig erklärt. Die

deutschsprachigen Südtiroler hatten gegenüber der noch anonym

248


Die Autonomiepolitik konnte die patriotischen Kräfte nie gänzlich zufriedenstellen:

Die Bewegung um Eva Klotz und die Schützen unternahmen immer

neue Anläufe zu weitergehenden Lösungen. Im Bild: zwei Titelbilder des

„südtirol profil“ in den 1990er Jahren.

vorgenommenen Erhebung von 1971 zwei weitere Prozent zugelegt,

die Ladiner um 0,4 Prozent. Die eher städtische und auch da her

weniger fortpflanzungsfreudige italienische Sprachgruppe erlitt

eine Kombination aus Pillen- und Autonomieknick: minus 4,6 Prozent.

Die Parole vom „Todesmarsch“ der Südtiroler wurde von

italienischer Existenzangst abgelöst, dem „disagio degli italiani“.

Zwischen den Lagern standen 2,2 Prozent der Südtiroler, die in

der Statistik von 1981 als „andere“ aufschienen, weil sie keine oder

keine korrekte Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung abgegeben

hatten. Langer machte aus dem „Anderssein“ sein politisches Programm

und den Namen seiner neuen Liste für die Landtagswahlen

1983. Die „Alternative Liste für das andere Südtirol – Lista alternativa

per l’altro Sudtirolo“ hatte als prominentesten Unterstützer

Südtirols gefeierten und verlorenen Sohn, Reinhold Messner.

Sie erreichte fast 13.000 Stimmen (4,5 Prozent), Langer kehrte in

den Landtag zurück.

Auf Gegenkurs zur Autonomiepolitik ging, von der anderen

Seite her, auch die Vereinigung der ehemaligen politischen Häft-

249


linge, der „Südtiroler Heimatbund“. Nach jahrelangen vergeblichen

Versuchen, innerhalb der SVP die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht

durchzusetzen, kam es zum Bruch. Statt um Kompromissformulierungen

zu ringen wie in den Jahren zuvor, fegte

Silvius Magnago bei der SVP-Landesversammlung 1981 den Resolutionsentwurf

der Selbstbestimmungsbefürworter als utopisch

vom Tisch. Dass Magnago trotzdem mit 93 Prozent der Stimmen als

Obmann bestätigt wurde, ließ den „Heimatbund“ auf Distanz gehen.

Mit dem Projekt eines „Freistaates“, der Süd-, Ost- und Nord tirol

umfassen sollte und von Magnago als „Hirngespinst“ bezeichnet

wurde, ging der „Heimatbund“ ab 1983 einen eigenen Weg. Damit

wurde erstmals auch die Forderung einer Rückkehr zu Österreich

aufgegeben zugunsten einer Tiroler Einheit, für die sich auch das

Bundesland Tirol von Österreich hätte verabschieden müssen. Zu

den Parlamentswahlen im Juni 1983 trat eine Gruppe von Heimatbündlern

um Obmann Hans Stieler mit der Liste „Süd-Tirol“ an.

Diese konnte zwar kein Mandat erringen, die 4,24 Prozent der

Wählerstimmen waren aber eine Ermutigung für die Landtagswahlen

im Herbst desselben Jahres. Der „Wahlverband des Heimatbundes“

kam im November 1983 auf 7285 Stimmen (2,54 Prozent)

und errang ein Mandat: Eva Klotz, Tochter des legendären Jörg

Klotz, 1980 noch als Unabhängige auf der SVP-Liste in den Bozner

Gemeinderat gewählt. Sie wurde – als „pasionaria del Tirolo“

auch von überregionalen Medien wahrgenommen – zur Symbolfigur

für den politischen Kampf um Selbstbestimmung.

Im Wahlergebnis von 1983 zeigte sich auch der wachsende Un -

mut in der italienischen Bevölkerung. Bei den Parlamentswahlen

im Juni kam der MSI auf 3,44 Prozent; das war ein leichtes Plus

von ca. 2000 Stimmen gegenüber 1979 (2,55 Prozent). Im Herbst

1983, nur fünf Monate später, waren es schon 5,88 Prozent und

noch einmal 7000 Stimmen mehr. Die Autonomiepolitik kam, während

sie sich im bürokratisch-juridischen Netz verfing, politisch

unter einen zweifachen Druck: Auf deutscher Seite war sie vielen

zu wenig, auf italienischer Seite immer mehr Menschen zu viel.

Zwischen den Lagern stand die Bewegung Langers, dessen Kritik

an der ethnischen Ausrichtung der Autonomie vom MSI vereinnahmt,

von der SVP als Volksverrat verketzert wurde.

250


Ein Tirol mit zwei Gesichtern

Die Wiederkehr der Gewalt – Paketabschluss unter dem Druck

von Politik und Bomben – Generationswechsel in der SVP

Das Tiroler Gedenkjahr 1984 stand im Zeichen einer patriotischen

Mobilmachung. Alte Wunden wirkten nach oder wurden neu aufgerissen.

Am 24. Februar 1984 verstarb der Fähnrich der Schützenkompanie

Lana Hermann Karnutsch im Alter von 39 Jahren: Er

war wenige Monate zuvor verhaftet worden, nachdem sich seine

Lebensgefährtin mit seiner (ordnungsgemäß gemeldeten) Pistole

umgebracht hatte. Karnutsch stand aber auch im Verdacht, mit den

Attentaten zu tun zu haben, seine Untersuchungshaft wurde ständig

verlängert. Seinem Bruder berichtete er, schwer misshandelt

worden zu sein, noch aus dem Gefängnis wurde er in ein Krankenhaus

überstellt, kurz vor seiner Entlassung verstarb er.

Unter ehemaligen Attentätern wurden Erinnerungen an die Folterungen

in den 60er Jahren wach. Der stellvertretende Landeskommandant

der Schützen Jörg Pircher forderte am 11. Mai 1984

auf einem Festkommers der schlagenden Studentenverbindungen

in Innsbruck von den Politikern „südlich und nördlich des Brenners

bis hinunter nach Wien: Wartet’s nicht mehr lang und tut mehr

für die Selbstbestimmung, bevor’s wieder Blut und Tränen gibt.“

Pircher stammte aus Lana, kannte Karnutsch, war als politischer

Häftling selbst gefoltert worden und als einer der Letzten heimgekehrt.

Knapp zwei Wochen später flossen in Lana tatsächlich

Blut und Tränen: Die Schützen Walter Gruber aus Lana und Peter

Paris aus Ulten kamen bei einer Explosion in Grubers Haus ums

Leben. In italienischen Medien wurde Pirchers Rede als Ankündigung

neuer Gewalt interpretiert, Pircher dagegen rechtfertigte

sich, er habe vor der drohenden Gewalt warnen wollen.

Am 9. September 1984 fand in Innsbruck der Landesfestumzug

als Höhepunkt des Gedenkjahres statt. 20 Schützen trugen eine

Dornenkrone durch die Stadt. Sie war dem Leidenssymbol des

Landesfestumzuges von 1959 nachempfunden und im Auftrag

einer Gruppe um Siegfried Steger heimlich von einem Nordtiroler

251


Das italienische „Unbehagen“ mit der Autonomiepolitik fand den

stärksten Ausdruck in den Erfolgen des Movimento Sociale Italiano (MSI),

später Alleanza Nazionale. Von links: Giorgio Holzmann, Mauro Minniti,

Pietro Mitolo, Adriana Pasquali beim Singen der Nationhymne vor dem

Siegesdenkmal in Bozen (1996).

Schmied angefertigt worden. Als die Dornenkrone die Ehren tribüne

erreichte, klatschte der Tiroler Landeshauptmann Eduard Wallnöfer

mit feuchten Augen Beifall, die Hände seines Südtiroler Kollegen

Silvius Magnago erstarrten. Das war die unterschiedliche

Lesart ein und desselben Bekenntnisses zu Gesamttirol: Wallnöfer

war beeindruckt vom Wiedervereinigungswillen der Südtiroler Patrioten,

Magnago wusste um die Fragilität seiner Autonomiepolitik.

Die Dornenkrone löste eine Serie aufgebrachter Artikel und

Reportagen in der nationalen italienischen Presse aus. Südtirol

kam unter Beschuss und wurde angeprangert, eine undankbare,

von Rom finanziell bestens behandelte und doch separatistische

Provinz zu sein. Ministerpräsident Giulio Andreotti prägte den

Vorwurf des „Pangermanismus“. Spätestens seit dem Landesfestumzug

von 1984 herrschte auf höchster römischer Ebene Alarmstimmung,

dass sich die Lage in Südtirol neu zuspitzen könnte. Es

war vermutlich der erste Anstoß dazu, die 1984 schon verfahrene

Paketdurchführung endlich einem Ende zuzuführen.

Zugleich aber wurde von italienischer Seite eine drastische

Korrektur der Autonomie gefordert. Im Mai 1985 sammelte der

252


MSI Unterschriften für eine Petition an das Parlament. Gefordert

wurden die Abschaffung der Zweisprachigkeitspflicht, die Wiederherstellung

des Vorranges für die italienische Sprache als Staatssprache,

die Abschaffung des ethnischen Proporzes. Die Aktion

stieß vor allem in Bozen unter der italienischen Bevölkerung auf

breite Zustimmung. Erstmals, so schien es, konnten die italienischen

Bürgerinnen und Bürger ihrer Missbilligung der Autonomie

offenen Ausdruck verleihen. Mit 22.758 Unterschriften erreichte

der MSI ein beeindruckendes Ergebnis – und tatsächlich die Aufnahme

des Punktes „Alto Adige“ auf die Tagesordnung des italienischen

Parlaments an zwei Debattentagen Ende 1986 und am

Jahresbeginn 1987.

Die 1978 begonnene Attentatswelle mit ihrem Schlagabtausch

zwischen „deutschen“ und „italienischen“ Bomben war 1983 ausgeklungen.

Ein Jahr lang blieb es ruhig. Im Gedenkjahr 1984 gingen

zwar die Wogen hoch, Anschläge ereigneten sich aber – nach

dem Unfall von Lana – nicht mehr. Der Tod von Walter Gruber und

Peter Paris hatte auch unter Schützen und Heimatbündlern Entsetzen

und Erwachen ausgelöst. Von da an distanzierte sich selbst

die politisch weiterhin militante „Kameradschaft der ehemaligen

Freiheitskämpfer“, die mit dem Blatt „Der Tiroler“ von Nürnberg

aus Stimmung machte (und mit dem „Tiroler Informationsdienst“

TID bis heute macht), von der Gewalt als Mittel der Selbstbestimmungspolitik.

Am 3. Dezember 1984 trat plötzlich eine neue Form

von Terror auf: Schüsse aus einer Maschinenpistole auf eine Carabinieri-Station

in Bruneck, auch ein Mast wurde gesprengt. 1985

gab es wieder keine Anschläge.

Das Motto des Gedenkjahres hatte „Ein Tirol“ gelautet. Und

genau unter diesem Namen trat ab 1986 eine neue Terrorgruppe

mit einer bis dahin ungekannten verbalen und kriminellen Rohheit

auf. Die Anschläge galten bewohnten Gebäuden, die Bekennerschriften

waren von einer primitiv-brutalen, abstoßenden Sprache

(zum Beispiel „Speck aus den Walschen machen“). Das erste Attentat

traf das Postamt in Burgstall in der Nacht vor einem Meran-

Besuch von Staatspräsident Francesco Cossiga und Ministerpräsident

Giulio Andreotti, der Anschlag gefährdete real die im Bahnhof

lebende Eisenbahnerfamilie.

253


Die genaue Abstimmung der Anschläge auf den politischen Terminkalender

wurde von da an konsequent durchgehalten. Einen

Tag vor der Eröffnung der Parlamentsdebatte über Südtirol am

10. Dezember 1986 explodierte ein Sprengkörper unter einem Bus

aus Matera, der in Meran nahe dem Alpini-Denkmal geparkt war.

Die Abstimmung über die Resolutionen wurde für Februar 1987

geplant. In der Silvesternacht 1986 erfolgte erneut ein Anschlag

auf Ministerpräsident Giulio Andreotti, der im Hotel Palace residierte.

Am 24. Jänner wurden die Bozner Wohnungen von MSI-

Chef Pietro Mitolo und DC-Landessekretär Remo Ferretti zum

Ziel von Anschlägen.

Als Erster äußerte Alexander Langer Zweifel, ob die Attentate

nicht ein gegenläufiges Ziel verfolgten und von Geheimdiensten

angestiftet sein könnten. Kurz darauf und unmittelbar vor den

Südtirol-Abstimmungen im Parlament wurden zwei mutmaßliche

Südtiroler Attentäter gestellt – der Möltner Tischler Franz

Frick und der Inneneinrichter Dieter Sandrini. Beide beteuerten

ihre Unschuld, erklärten sich als Opfer einer Intrige, wurden aber

in einem Indizienprozess für schuldig befunden.

Auf die Attentatsserie hatte die Verhaftung der beiden keinen

Einfluss, auch wurden nie Kontakte von Franz Frick und Dieter

Sandrini zu den später ausgeforschten Tätern bekannt. Mit dem

Nahen der Parlamentswahlen 1987 wurde die Gewaltserie noch

heftiger. Angst breitete sich aus, die Täter schossen mit Maschinenpistolen

nachts in bewohnte Häuser, hinter deren Fenster noch

Licht brannte. Mit ihren gehässigen Bekennerschreiben gegen die

italienische Bevölkerung bescherten die Anschläge dem MSI bei

den Parlamentswahlen einen regelrechten „Bombenerfolg“. Mit

über 31.000 Stimmen (10 %) wurde die neofaschistische Partei zur

stärksten italienischen Partei in Südtirol. Mit Andrea Mitolo wurde

erstmals ein Bozner MSI-Exponent ins Parlament gewählt, jeder

dritte Südtiroler Italiener hatte dem MSI seine Stimme gegeben.

Bei den Landtagswahlen 1988 brachte der MSI vier Abgeordnete

in den Landtag – 1978 war Pietro Mitolo noch einziger MSI-Mandatar

gewesen.

Unter den Anschlägen litten besonders der Heimatbund, die

Schützen und Selbstbestimmungsaktivisten in der SVP. Landes-

254


weit wurden Hausdurchsuchungen durchgeführt, viele fühlten

sich eingeschüchtert und kriminalisiert. Im Sommer 1987 wurden

17 Südtiroler, die bei der KSZE-Konferenz in Wien für Selbstbestimmung

demonstriert hatten, wegen Schädigung des nationalen

Ansehens im Ausland verhaftet. Unter den Verhafteten befanden

sich nahezu die gesamte Führungsspitze des Südtiroler Heimatbundes,

aber auch Selbstbestimmungsbefürworter aus der SVP

wie der spätere SVP-Landesjugendreferent Christian Waldner.

Auch gegen Eva Klotz wurde ein Haftbefehl ausgestellt, nur war

sie gerade im Ausland. Bis sie zurückkehrte, war die Affäre juridisch

verraucht. Die Spannung aber blieb. In Berichten des Innenministeriums

wurde ein düsteres Bild der Krisenprovinz Südtirol

gezeichnet.

Die Zweifel an der Urheberschaft der Attentate mehrten sich

ebenso wie Hinweise auf kriminelle und geheimdienstliche Milieus.

Unmittelbar vor den Parlamentswahlen 1987 wurde am 1. Juni

1987 der frühere „Dolomiten“-Fotograf Leo Flenger als mutmaßlicher

Attentäter verhaftet. Er hatte sich selbst mit einem Terroranruf

bei den Carabinieri, den er später als Scherz bezeichnete,

der Verdächtigung ausgesetzt. Nachträglich stellte sich heraus,

dass Flenger ein Kontaktmann des Nucleo Informazioni der Bozner

Carabinieri war. Kurz vor dem Berufungsverfahren Frick-

Sandrini wurde einer der Entlastungszeugen, der Möltner Alois

Heiss, wegen eines Sprengstofffundes auf seinem Hof verhaftet.

Der misstrauisch gewordene Staatsanwalt Cuno Tarfusser ordnete

bald darauf die Freilassung an, weil der Sprengstoff offenbar

hinterlegt worden sei.

Unter dem Eindruck der Attentate und dem wachsenden Druck

aus Rom änderte die SVP ihre Strategie. Hatte sie bis dahin die

Autonomieverhandlungen selbst immer aufs Neue in die Länge

gezogen, in der Hoffnung, weitere Verbesserungen herauszuholen,

ging es nun darum, Verschlechterungen zu verhindern. Die Verhandlungen

zum Abschluss des Paketes begannen am 22. Dezember

1987 zwischen einer Delegation der SVP und Regionenminister

Aristide Gunnella. Im Frühjahr 1988 stimmte das Parlament

in Rom in zwei Abstimmungen dem Ergebnis zu. Für den Herbst

standen die Landtagswahlen mit einem historischen Wechsel an:

255


Urgesteine der Südtirol-Politik fast am Ende ihres Werkes: die

Landeshauptleute Eduard Wallnöfer und Silvius Magnago um 1985.

Silvius Magnago kandidierte erstmals nicht mehr, Spitzenkandidat

war Luis Durnwalder. In Opposition zur eigenen Parteispitze

trat der langjährige Stellvertreter und Hauptverhandler von Silvius

Magnago: Gestützt auf einige wenige Streitgefährten begann

Alfons Benedikter einen allerletzten Versuch, den Paketabschluss

zu stoppen.

Ausgerechnet jetzt schlug die Gruppe „Ein Tirol“, deren Terror

während der Verhandlungen SVP-Gunnella geruht hatte, mit enthemmter

Wucht zu: Am 17. Mai 1988 explodierten fünf Rohrbomben

in Bozen (eine vor dem Rai-Gebäude am Mazziniplatz, die anderen

vor Wohnhäusern in italienischen Vierteln und an der Bahnlinie

Trient-Bozen). Den ganzen Sommer über folgte Anschlag auf

Anschlag, für 21. August wurde in Südtirol Staatspräsident Francesco

Cossiga erwartet. Fünf Tage vorher, am 16. August, erfolgte

der wohl symbolträchtigste Anschlag von „Ein Tirol“ auf die Hochdruckleitung

des Energiekonzerns Enel oberhalb von Lana am Tag

der Beerdigung von Jörg Pircher. Dieser hatte einen ähn lichen,

wenn auch sorgsameren Anschlag in den 60er Jahren verübt. Erstmals

meldete sich wieder die Gruppe „MIA“ zurück und sprengte

256


eine Beregnungsanlage bei Lana. Das Flugblatt erhielt erst Jahre

später Bedeutung: Auf Kuvert und Bekennerschreiben prangte ein

römisches Kurzschwert, das Symbol des damals noch unbekannten

Sondergeheimdienstes Gladio.

Am 3. November 1988 wurde in Innsbruck Karl Außerer verhaftet.

Der vom Deutschnonsberg stammende Tischler war schon in

den 60er Jahren an den Attentaten beteiligt und gehörte zur letzten

aktiven Gruppe um Jörg Klotz. Eine Mitstreiterin war Karola

Unterkircher, Frau von Paul Unterkircher, einem der Pfunderer

Buam, die in den 50er Jahren – wegen Totschlages eines Finanzers

– zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt worden waren. Die

Ermittlungen ergaben nach und nach ein skurriles Bild von „Ein

Tirol“: Es befanden sich vorwiegend Kriminelle darunter, die sich

um 1984 – dem Jahr der Dornenkrone – aus Italien abgesetzt hatten

und bei Außerer Zuflucht suchten. Einzelne von ihnen gaben

später Geheimdienstkontakte zu. Auch wurden im Umfeld Außerers

mehrere Agent provocateurs ausfindig gemacht. Außerer selbst

bekannte sich dessen ungeachtet zu „Ein Tirol“ und erklärte wiederholt,

es sei ein notwendiger, politischer Kampf gewesen.

Zur Last gelegt wurden der Terrorgruppe „Ein Tirol“ insgesamt

46 Anschläge zwischen April 1986 und August 1988. Als Hauptverantwortliche

wurden Ende 1992 vom Landesgericht Bozen Karl

Außerer (15 Jahre) und Karola Unterkircher (zwölf Jahre) verurteilt.

Der Nordtiroler Josef Gredler, der Außerer einmal Sprengstoff

geliefert hatte, erhielt acht Jahre. Von den kriminellen Mittätern

wurde zunächst nur einer verurteilt, in späteren Verfahren

folgten weitere Urteile gegen die mutmaßlichen Haupttäter

Peter Paul Volgger und Karl Zwischenbrugger. In Innsbruck wurde

Außerer zu fünfeinhalb Jahren verurteilt, Karola Unterkircher ging

frei. Als sie bei einer Wanderung am Timmelsjoch am 14. August

1994 leichtfertig die italienisch-österreichische Grenze überschritt,

wurde sie von italienischen Polizisten in Zivil verhaftet.

In Mailand büßte sie eine langjährige Haft ab, gesundheitlich und

psychisch gebrochen wurde sie zur unglücklichen Symbolfigur

eines aus der Zeit und aus jeder politischen Logik gefallenen Aufstandes.

257


In der Südtiroler Bevölkerung hatten die Anschläge ausnahmslos

Kopfschütteln und Abscheu hervorgerufen. Eine Neuauflage des

„Freiheitskampfes“ wurde auch in Kreisen ehemaliger Attentäter

als sinnloses Unterfangen empfunden, weite Kreise der Bevölkerung

wünschten sich Ruhe und Frieden. Andererseits wirkte der

ewige Autonomiestreit ermüdend und frustrierte viele Anhänger

der SVP. Ein Zeichen, die Versöhnungspolitik zwischen den

Sprachgruppen aktiv und ohne Befangenheit anzugehen, setzte

die Kirche. 1985 hatte Bischof Gargitter einen Schlaganfall erlitten,

im Mai 1986 wurde sein Rücktritt angenommen (1991 verstarb er).

Der neue Bischof Wilhelm Egger wählte das lateinische Wort „Syn“

für Miteinander zu seinem Leitmotiv. Anders als seinem Vorgänger,

der wegen der Versöhnungsversuche für viele deutsche Südtiroler

zum „walschen Seppl“ wurde, konnte der ehemalige Kapuzinerpater

damit durchaus die Herzen der Menschen erreichen, wegen

seiner betont sanftmütigen Art mitunter belächelt, aber doch mit

wachsendem Zuspruch. Der Zwillingsbruder des Bischofs, Kurt

Egger, hatte sich mit sprachwissenschaftlichen Untersuchungen

zur Zweisprachigkeit einen Namen gemacht, ihm ist der Abbau

vieler Vorurteile über die Gefährdung der Muttersprache durch

das frühe Erlernen weiterer Sprachen zu danken.

Mit dem Endspurt zum Paketabschluss und der letzten Gewaltwelle

hatte die Autonomie einen Härtetest bestanden. Der Landwirtschaftslandesrat

und frühere Bauernbunddirektor Luis Durnwalder

trat zu den Landtagswahlen 1988 als neue Nummer 1 der

SVP im Zeichen einer politischen Öffnung an. In Durnwalders Programm

fand sich eine Formel, die – von Alexander Langer geprägt –

lange als Strategie der Vermischung und Schwächung der Südtiroler

Volksgruppen gegolten hatte: das „friedliche Zusammenleben“.

Mit einem Vorzugsstimmenergebnis von über 76.000 Stimmen

übertraf Durnwalder sogar das Rekordergebnis seines Vorgängers

Magnago. Dies ließ sich teilweise dadurch erklären, dass Durnwalder

– anders als der Parteiorganisationen gegenüber stets distanzierte

Einzelkämpfer Magnago – auch von starken Verbänden

wie dem Bauernbund und der Wirtschaft unterstützt worden war.

Mit einem so starken Antritt konnte Durnwalder aus dem Schatten

258


seines Vorgängers treten und die Agenda Südtirol in die eigene

Hand nehmen.

Magnagos letzte Jahre als amtierender SVP-Obmann brachten

für diesen einen schmerzhaften Bedeutungsverlust, alle Macht

und Aufmerksamkeit war auf den Landeshauptmann konzentriert.

Für die Schlussrunde in den Paketabschlussverhandlungen

ließ sich Magnago von Roland Riz im Amt ablösen, seinem

einstigen Widersacher in der Kraftprobe mit dem „Aufbau“. Riz

war gewissermaßen der jüngste einer abtretenden Generation, er

verstand sich als Übergangsobmann, nahm den Paketabschluss in

die Hand und trat unmittelbar nach dem Abschluss des Paketes

zurück. Nachfolger wurde Siegfried Brugger, Sohn des ehemaligen

Paketgegners Peter Brugger, mit klaren Aussagen zur Fortsetzung

der Autonomiepolitik. Magnago wurde zum allseits geachteten

Ehrenobmann, stiftete sein Vermögen der Partei („Silvius

Magnago-Stiftung“) und trat noch jahrelang in Krisenmomenten

als „Feuerwehrmann“ und moralisches Gewissen „seiner“ Partei

auf. Alle Schalthebel aber gingen in die Hand Durnwalders über,

der davon lustvollen Gebrauch machte. Unabhängig davon, wer

in der SVP die Obmannschaft innehatte, wurde das Landeshauptmannbüro

zur Schaltstelle der künftigen Südtirolpolitik, ausgestattet

mit einer Fülle von Kompetenzen und jährlich sprunghaft

wachsenden finanziellen Mitteln. Südtirol war der Volk-in-Not-Zeit

entwachsen, es begannen die Jahre des Autonomiewunderlandes.

259


Vom Wechsel der Zeiten

Von Silvius Magnago zu Luis Durnwalder – Emanzipation und

Auslebung autonomer Lusttriebe – Demokratisierungsbedürfnis

in Medienwelt und Politik

Als am 17. März 1989 Silvius Magnago spät am Abend einsam sein

Büro verließ und – wie so oft – selbst die Lichter ausmachte, nachdem

er den Fotografen schon Stunden vorher einen offiziellen

Abgang vorgetäuscht hatte, ging eine Ära zu Ende. Im Südtiroler

Landtag war am selben Tag, nach mehrmonatigen Koalitionsverhandlungen,

Luis Durnwalder zum Landeshauptmann gewählt

worden. Kraftvoll ging er ab der ersten Stunde seiner Amtszeit an

die neue Aufgabe.

Mit Durnwalder änderten sich schlagartig Sprache und Umgangsformen

der Südtiroler Politik. Die distanzierte Zurückhaltung

Magnagos wich einer Politik des Schulterklopfens und des Bades

in der Menge. In Durnwalders Büro war jeder Morgen „Tag der

offenen Tür“. Zuerst ab 7 Uhr, dann wegen des starken Andrangs

immer früher stand sein Büro von Anfang an Bittstellern aus dem

ganzen Land offen. Die Medien, zu denen Magnago ein eher misstrauisches

Verhältnis gepflegt hatte, lud Durnwalder jeden Montag

zur Pressekonferenz, bald hatten alle wichtigen Medienleute

im Land seine Handynummer.

Der Stilwandel war nicht nur Ausdruck eines (lange verzögerten)

Generationswechsels, er entsprach auch den der Politik vorausgeeilten

Veränderungen in der Südtiroler Gesellschaft und

Medienwelt. Die Aufhebung des staatlichen Rundfunkmonopols

1976 hatte unmittelbar die Gründung von Privatradios und eines

deutschsprachigen privaten Fernsehsenders zur Folge. Den Anfang

machte „Radio Bolzano Dolomiti“, gefolgt von der „Freien Südtiroler

Welle“ (FSW), die mit Jahresbeginn 1976 zunächst von der

Küche des Gründers Christian Chindamo von Witkenberg aus

sendete. 1977 nahm Television Südtirol (TVS) seine Sendungen

auf. Aufgrund von Schwierigkeiten bei der Frequenzbeschaffung

und der ausbleibenden Werbeeinschaltungen war dem Südtiroler

260


Abgang eines Großen (links): Am 17. März 1989 schied Silvius Magnago

endgültig aus seinem Amt als Landeshauptmann. Amtsübergabe (rechts):

Luis Durnwalder trat schneller aus dem Schatten seines Vorgängers, als

irgendjemand damals geglaubt hätte.

Privatfernsehen ein schwieriges Dasein beschert. Letztlich fand

das Projekt aber Fortsetzung in dem zunächst privat, dann vom

ORF mit Unterstützung der Länder Südtirol und Tirol getragenen

Sendeformat „Südtirol heute“, begleitet von späteren Versuchen,

italienische und schließlich sprachgruppenübergreifende Privatsender

aufzubauen (u.a. Videobolzano 33, TCA, Südtirol Digital

Fernsehen SDF).

Die neuen Radiosender konnten mit einem im Vergleich zur

staatlichen RAI frischen, jugendgerechten Musikprogramm punkten.

Der Erfolg ermutigte FSW-Gründer Christian Chindamo 1980

zu einem Aufbruch auch im Printmediensektor. Zusammen mit

dem SVP-Landtagsabgeordneten und Präsidenten der Rundfunk-

Anstalt Südtirol (RAS) Klaus Dubis erkannte er eine Marktlücke

in dem auf deutscher Seite von den „Dolomiten“ nahezu monopolartig

beherrschten Markt. Durch den Empfang der TV-Programme

aus Österreich, Deutschland und der Schweiz war Südtirol

europaweit ein Fernseheldorado. Überall sonst waren die staatlichen

TV-Monopole noch intakt, in Südtirol konnte im Vergleich

261


zu den europäischen Nachbarländern und zum restlichen Italien

eine Vielzahl von Sendern empfangen werden. Was fehlte, war eine

Programmzeitschrift, die diesem Angebot gerecht wurde, da sich

die italienischen und ausländischen deutschsprachigen TV-Zeitschriften

auf das knappe jeweilige Monopolangebot beschränkten.

Der Südtiroler Unternehmer Christoph Amonn, Sohn des

SVP-Gründers Erich Amonn, ließ sich für die Idee gewinnen. Als

Repräsentant des liberalen Bozner Bürgertums sah er in der Gründung

einer Zeitschrift eine notwendige gesellschaftliche Öffnung

Südtirols hin zu mehr Pluralismus. Mit der Wochenzeitschrift

„FF – Die Südtiroler Illustrierte“ wurde der Versuch gewagt, an der

Athesia vorbei ein politisch zunächst unverdächtiges Medium zu

etablieren. Nach einigen unscheinbaren Jahren entwickelte sich

das Blatt von der Fernseh- und Freizeitillustrierten zum politischen

Wochenmagazin. Nach und nach setzte die „FF“ einen kritischen

Journalismus durch, der auch alle anderen Redaktionen

einschließlich jener der „Dolomiten“ beeinflusste. Anders als die

Sprachrohre der Linksopposition wie „brücke“, „Volkszeitung“ und

deren Nachfolgeblatt „Tandem“ trat die „FF“ weitgehend ideologiefrei

auf, pflegte eine populäre Schreibweise und erreichte dadurch

breitere Bevölkerungsschichten.

Eine kritische Berichterstattung hatte bis dahin fast ausschließlich

das „Blatt für deutsche Leser“ im „Alto Adige“ gepflegt, das aber

mit dem Misstrauen der deutschen und ladinischen Bevölkerung

zu kämpfen hatte. Ebenso wie die beim „Alto Adige“ gedruckten

frühen Alternativmedien „Standpunkt“ und „Alpenpost“ wurde

auch das „Blatt für deutsche Leser“ über lange Zeit aus Quellen

des Innenministeriums finanziert. Dank einer engagierten Redaktion

löste sich das „Blatt für deutsche Leser“ allmählich von dieser

Vergangenheit, verlor aber für die Herausgeber des „Alto Adige“

mit dem Schwinden der Staatsbeiträge zugleich auch den früheren

Stellenwert. 1999 wurde es eingestellt, im ethnisch weitgehend

geteilten Medienmarkt hatte es seine Position verloren.

Nach und nach entstand gemessen an der Kleinheit des Landes

eine beachtliche Anzahl deutschsprachiger Medien, zum Teil

durch unabhängige Initiativen, zum Teil durch strategische Blattgründungen

des Athesia-Verlages beim Aufkommen von Konkur-

262


renz. Als Reaktion auf die „FF“ gab Athesia zunächst die TV-Beilage

„Dolomiten-Magazin“ heraus. 1989 wurde die in politisch und

ethisch-religiösen Fragen etwas von der Leine gelassene Sonntagszeitung

„Zett“ gegründet. Mit immer neuen Beilagen und Journalen

wie „Wirtschaftskurier“ und „Radius“ versuchte Athesia den

differenzierter gewordenen Anforderungen von Publikum und

Werbewirtschaft gerecht zu werden. „Die Frau“ wurde aufgemöbelt,

schließlich 2007 das Lifestyle-Magazin „IN Südtirol“ auf den

Markt gebracht, mit demselben Erscheinungstag wie die „FF“.

In den Südtiroler Talschaften entwickelten sich in den 90er

Jahren ebenfalls weitgehend an der Athesia vorbei starke Bezirksblätter,

so „Der Erker“ im Wipptal, „Der Brixner“ im Eisacktal,

die „BAZ“ im Meraner Raum, „Der Vinschger“ und die „Pustertaler

Zeitung“. Im Pustertal versuchte die Athesia mit „Do Puschtra“

entgegenzuhalten, im Vinschgau erwarb sie nach jahrelangem

Tauziehen Anteile an der „Vinschger Medien GmbH“, worauf der

unabhängige „Vinschger Wind“ gegründet wurde. Jüngere Bezirkszeitschriften

sind „Plus“ für den Raum Bozen und „Die Weinstraße“

für Überetsch und Unterland.

Dass sich das Bedürfnis nach Meinungsvielfalt und freierer

politischer Auseinandersetzung durchsetzen konnte, war eine

verzögerte Folge des Autonomiestatutes. Mit der allmählichen

Absicherung der Südtiroler Minderheit wich zwangsläufig auch

der Einheitsdruck in der Bevölkerung. Im Frühjahr 1992 wurden

die letzten Amtshandlungen zum Paketabschluss vorgenommen.

Selbst die jahrzehntelang strittige „internationale Absicherung“

der Autonomie wurde faktisch erreicht. Ministerpräsident Giuliano

Amato erwähnte den Abschluss des Südtirol-Pakets nicht

mehr im innenpolitischen Teil seiner Rede, sondern im außenpolitischen

Abschnitt. Das war ein gleich subtiles wie substanzielles

Abrücken vom bis dahin meist eisern gewahrten italienischen

Rechtsstandpunkt, dass es sich beim Paket ausschließlich

um eine „interne Regelung“ ohne internationalen Charakter handle.

Im April 1992 wurden die letzten, von Roland Riz ausgehandelten

Durchführungsbestimmungen verabschiedet. Mit einer diplomatischen

Note vom 22. April übergab Italien der österreichischen

Botschaft in Rom alle Paketmaßnahmen und Durchführungsbe-

263


Historische Landesversammlung: Mit dem Paketabschluss von 1992 ging

die Ära des Autonomiekampfes auch formal zu Ende, die letzten Verhandlungen

führte Roland Riz als neuer SVP-Obmann (links), Magnago assistierte

bis zum Schluss; neben ihm Luis Durnwalder und Tirols Landeshauptmann

Alois Partl.

stimmungen mit ausdrücklichem Hinweis auf den Pariser Vertrag

und das Autonomiestatut. Am 30. Mai stimmten auf der Landesversammlung

der SVP 82,86 Prozent der Delegierten dem Paketabschluss

zu. Ehrenobmann Magnago kommentierte das Verhandlungsergebnis

mit einem legendär gewordenen Satz: „I find nix

mehr, was noch herauszuholen wäre.“

Der formelle Paketabschluss verlief nach einem im Detail

zum Teil schon 1969 mit dem „Operationskalender“ vereinbarten,

auch juridisch bedeutungsvollen Zeremoniell. Am 4. Juni nahm

der Tiroler Landtag die Zustimmung zur Kenntnis, am 5. Juni

der Nationalrat (mit den Stimmen von SPÖ, ÖVP und Grünen bei

30 Gegenstimmen der FPÖ). Am 10. Juni tauschten sich Österreich

und Italien in Wien die Ratifikationsurkunden aus, mit denen der

Internationale Gerichtshof (IGH) als Schiedsstelle für zukünftige

Streitfragen anerkannt wurde, am 11. Juni bestätigte Außenminister

Alois Mock dem italienischen Botschafter mit einer Note, dass

Österreich die Durchführung des Pakets anerkenne, die italienische

Botschaft übergab zur Bestätigung eine Antwort-Note. Am

264


19. Juni 1991 erklärten die UN-Botschafter Italiens und Österreichs

gegenüber UNO-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali die formelle

Beendigung des seit 1960 behängenden Streitfalles. Damit

verbunden war das Ersuchen, diese Streitbeendigungserklärung

der UN-Generalversammlung vorzulegen, die 1960 und 1961 Italien

und Österreich zu Verhandlungen aufgefordert hatte. Ähnliche

Mitteilungen gingen an die Europäische Gemeinschaft und

an die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

(KSZE). Die einzelnen diplomatischen Schritte, Notenwechsel und

Erklärungen sind deshalb wichtig, weil sie im Zusammenspiel die

– von Italien stets bestrittene – Internationalisierung des Paketes

und aller Durchführungsbestimmungen belegen.

Am Paketabschluss, zum Teil auch nur zeitlich mit diesem

zusammenfallend, entzündete sich – wie schon an der Paketannahme

1969 – innerhalb Südtirols eine Dynamisierung der politischen

Verhältnisse. Nachdem er mit seiner internen Opposition

keine Wende herbeiführen konnte, trat Magnagos langjähriger

Stellvertreter Alfons Benedikter aus der SVP aus und gab damit

den Anstoß zu einem oppositionellen Schulterschluss. Die aus

der PDU hervorgegangene „Freiheitliche Partei Südtirols“ (FPS)

mit Gerold Meraner und der Wahlverband des Südtiroler Heimatbundes

von Eva Klotz schlossen sich mit dem „Freundeskreis

Dr. Benedikter“ zur „Union für Südtirol“ zusammen. Mit drei Abgeordneten

war das Trio schlagartig, wenn auch nur vorübergehend

stärkste deutschsprachige Oppositionsgruppe im Landtag. Es erging

ihr wie den meisten Südtiroler Kleinparteien. 1993 blieben von

den drei Mandaten nur zwei übrig (Benedikter und Klotz). Dann

verließ Benedikter die Union, weil sie durch die Ausrichtung als

Bürgerprotestpartei die volkstumspolitischen Anliegen vernachlässige.

Bis zu den Wahlen 1998 saß Benedikter noch als Unabhängiger

im Landtag, danach zog er sich aus der aktiven Politik zurück.

Erstmals trat im Landtagswahlkampf 1993 eine eigenständige

ladinische Liste an. Von 1945 an hatte sich die Bevölkerung von

Gröden und Gadertal weitgehend in der SVP daheim gefühlt. Nur

eine Minderheit wählte italienische Parteien. Eine Ausnahmeerscheinung

war in den 70er Jahren der beliebte Lokalpolitiker

Pepi Martiner, der sich von einer Kandidatur bei der DC bessere

265


Gestaltungsmöglichkeiten als in der SVP erhoffte. Mit Martiners

Tod im Jahr 1976 durch einen Verkehrsunfall verlor sich eine mögliche

ladinische Gegenbewegung zur SVP. Erst 1993 erhob die Liste

„Ladins“ mit der Wahl von Carlo Willeit in den Landtag wieder

Anspruch auf eine Selbstvertretung der ladinischen Bevölkerung.

1998 konnte die Liste ihren Erfolg wiederholen. Erst mit der Aufwertung

ihres ladinischen Landesrates Florian Mussner konnte

die SVP wieder Terrain gutmachen und die „Ladins“ bei den Landtagswahlen

2003 wieder verdrängen.

Eine neue Bewegung wuchs um 1990 in der SVP-Jugend und

in jüngeren Kreisen der Schützen heran. In der SVP-Jugend war

es unter Landesjugendreferent Christian Waldner und Landesjugendsekretär

Peter Paul Rainer zu einer Positionierung gegen

den Paketabschluss gekommen, ehemalige JG-Aktivisten wie Pius

Leitner und Stephan Gutweniger besetzten die Spitzenpositionen

im Südtiroler Schützenbund. Der forsche Kurs störte die SVP-

Führung. Eine Großkundgebung für die Wiedervereinigung Tirols

am Brenner 1991 wurde von SVP-Obmann Roland Riz boykottiert,

Luis Durnwalder erlebte während seiner Rede ein Pfeifkonzert.

Spätestens in der Schlussphase des Paketabschlusses 1992 arbeiteten

Waldner, Rainer, Leitner und Gutweniger auf die Gründung

einer neuen Partei hin, die neben volkstumspolitischen Akzenten

auch eine gesellschaftliche Erneuerung und Demokratisierung

anstreben sollte. Die zum Teil unterschiedlichen Vorstellungen

mündeten nach dem Paketabschluss 1993 in der Gründung der

„Freiheitlichen“ mit dem österreichischen F-Chef Jörg Haider als

Schirmherr. Die enge Anlehnung an die österreichischen Freiheitlichen

und ihre Kärntner Symbolfigur verengte die politische Ausrichtung

der neuen Bewegung. Schon im ersten Wahlkampf wurde

die Ausländerfrage in den Vordergrund gestellt. Im Haider-Look

zogen Waldner und Leitner triumphierend in den Landtag ein. Mit

der Union für Südtirol bildete die volkstumspolitische Opposition,

wiewohl personell zerstritten, einen starken Block.

Zugute kam ihr dabei die Erschütterung Italiens durch die

Erfolge der zunächst vorwiegend föderalistisch auftretenden

Lega Nord. Lega-Chef Umberto Bossi weckte mit seiner Forderung

nach einer Dreiteilung Italiens auch in Südtirol neue Hoffnungen.

266


SVP-Vizeobmann Ferdinand Willeit, der als möglicher Nachfolger

für Silvius Magnago gegolten hatte, verfasste einen Aufruf unter

dem Motto „Selbstbestimmung – jetzt oder nie“. Das vermeintlich

Unmögliche schien plötzlich möglich. Die Wahlerfolge Bossis ließen

zunächst in der Lombardei, dann italienweit die staatstragenden

Parteien zusammenbrechen. Staatsanwälte, allen voran Antonio Di

Pietro, sahen sich ermutigt, auch gegen Politiker von DC und PSI

vorzugehen. Die Flut an Ermittlungsbescheiden wegen Schmiergeldverdachts

beendete die jahrzehntelange Vorherrschaft der

DC. Und auch der unter dem Ministerpräsidenten Bettino Craxi

erstarkte PSI löste sich praktisch auf.

Enthüllungen über „Tangentopoli“, versuchte Staatsstreiche,

manipulierte Blutbäder und fehlgeleitete Ermittlungen durch

Geheimdienste drängten den Staatsapparat in die Defensive. In

Südtirol geriet der stellvertretende Landeshauptmann Remo Ferretti

(DC) als prominentester Angeklagter ins Visier der Schmiergeldermittler.

Während die traditionelle italienische Parteienlandschaft

damit auch in Südtirol bis auf den MSI zerschlagen wurde,

konnte die SVP trotz einzelner Affären die Schmiergeldermittlungen

unbeschadet überstehen, ein Ermittlungsverfahren gegen

Luis Durnwalder wegen Begünstigung („Schwimmbad-Affäre“)

wurde archiviert.

Mit rund 104.000 Vorzugsstimmen bei den Landtagswahlen 1993

setzte Luis Durnwalder neue Maßstäbe. Kraftvoll, für seine Gegner

schon brachial, hatte er eine Öffnung der stark defensiv ausgerichteten

SVP-Politik nach allen Richtungen eingeleitet: Die von

Alfons Benedikter eingeführten urbanistischen Beschränkungen

der Bautätigkeit wurden zugunsten von Liberalisierungen für die

Wirtschaft gelockert. Gegenüber der italienischen Sprachgruppe

zeigte sich Durnwalder von spontaner Offenheit, aufgeschlossene

Kräfte in der SVP fanden neuen Spielraum, schrittweise kam die

Landesregierung – meist unter dem Deckmantel von „Pilotprojekten“

– Forderungen der italienischen Sprachgruppe entgegen.

So durfte allmählich in den italienischen Kindergärten versuchsweise

und außerhalb der offiziellen Öffnungszeiten Deutsch gelehrt

werden, nach und nach wurden auch Schulversuche mit innovativem

Sprachunterricht genehmigt. Allmählich wichen die damit

267


verbundenen, tief sitzenden Ängste vor einer Unterwanderung

der deutschen Schule und einer Schwächung der Muttersprache.

Die Entspannung zeigte sich deutlich bei der Volkszählung 1991.

Erstmals wurde – bei Wahrung der namentlichen Sprachgruppenerhebung

– allen die Möglichkeit eingeräumt, sich als „Andere“ zu

deklarieren; für die Zwecke des Proporzes mussten sich auch diese

weiterhin einer der drei offiziellen Sprachgruppen „angliedern“.

Damit war der Volkszählung viel von ihrem Gift genommen, erstmals

tat sich Alexander Langer mit seiner Kampagne gegen die

Sprachgruppentrennung schwer, wenn auch seiner Versöhnungspolitik

plötzlich Tür und Tor offen zu stehen schienen.

Die Konfrontation mit der als zu rigide erachteten Autonomiepolitik

hatte Langer bis dahin Wahl für Wahl gestärkt. Mit der

„Alternativen Liste für das andere Südtirol“ kam er 1983 auf fast

13.000 Stimmen und 4,5 Prozent. 1988 verzeichnete seine „Grün-

Alternative Liste – Lista Verde Alternativi“ mit 20.549 Stimmen

das stärkste Wachstum, nur knapp verfehlte Langer ein drittes

Mandat. 1993 legten die „Verdi-Grüne-Vërc“ mit dem Frauen-Duo

Alessandra Zendron und Christina Kury sogar noch zu, wurden

von der Wahlarithmetik aber erneut auf zwei Mandate reduziert

(die DC kam damals mit fast halb so vielen Stimmen ebenfalls auf

zwei Mandate). Langer selbst feierte 1989 und 1994 seine größten

persönlichen Erfolge. Er wurde als Außenseiter – aber mit

starkem Zuspruch aus ganz Italien – zweimal hintereinander ins

Europaparlament gewählt, in das bis dahin nur je ein SVP-Vertreter

hatte einziehen können.

Unermüdlich in den Krisengebieten des zusammengebrochenen

Jugoslawien unterwegs, erwarb sich Langer im Europäischen

Parlament hohes Ansehen auch bei politischen Gegnern wie Otto

von Habsburg. Nachfolgekämpfe in seiner Bewegung in Bozen enttäuschten

ihn, auch suchte er für seine Vision Auswege aus der ewigen

Opposition. Bei den Gemeinderatswahlen in Bozen 1995, bei

denen aufgrund des neuen Wahlrechts der Bürgermeister direkt

gewählt wurde, hoffte er auf seine Chance. Seine Kandidatur scheiterte

aber schon im Vorfeld an der fehlenden Sprachgruppenerklärung.

Er hatte seine Opposition zur Volkszählung konsequent aufrechterhalten.

Schon in den 80er Jahren war er wegen fehlender

268


Alexander Langer schaffte als

Europaabgeordneter den Sprung

vom geächteten Oppositionellen

zum anerkannten Friedensbotschafter.

Sprachgruppenerklärung vom Schuldienst ausgeschlossen worden.

Erst 1987, als er die Stelle schon lange nicht mehr brauchte, konnte

Langer den Ausschluss vor Gericht zu Fall bringen.

Bei den Wahlen 1995 versuchte Langer vergeblich, eine Gesetzesänderung

zu erwirken. Während für Landtags-, Parlaments- und

Europawahlen die Sprachgruppenbescheinigung mit einer Ad-hoc-

Erklärung nachgeholt werden konnte, war dies bei Gemeindewahlen

nicht möglich, Langer wurde von der Liste gestrichen. Erster

direkt gewählter Bürgermeister der Landeshauptstadt wurde der

Kandidat des italienischen Mitte-links-Bündnisses Giovanni Salghetti

Drioli. Als kommissarischer Verwalter der Stadt hatte Salghetti

von 1988 bis 1989 die Gemeindeverwaltung aus einer verfahrenen

Situation geführt. Breiteste Sympathie trug ihm die Rettung

und Sanierung der Talferbrücke ein, die einem Brückenneubau

hätte weichen sollen. Salghetti bekleidete das Bürgermeisteramt

von 1995 bis 2005, nach dem Ausscheiden des deutschen Kandidaten

in der ersten Wahlrunde wurde er in der Stichwahl stets auch

von der SVP unterstützt. Seinen bittersten Moment erlebte Sal-

269


ghetti im Oktober 2002: Er hatte, als Kind einer Flüchtlingsfamilie

aus dem jugoslawisch besetzten Istrien, als Zeichen der ethnischen

Aussöhnung den Bozner Siegesplatz 2001 in „Friedensplatz –

Piazza della Pace“ umtaufen lassen. Am 6. Oktober wurde durch

ein von Alleanza Nazionale angestrengtes Referendum der historisch

belastete Name „Siegesplatz – Piazza della Vittoria“ wieder

eingeführt. Durch Salghettis Einsatz aber waren wenigstens die

Militäraufmärsche vom Siegesplatz weg verlegt worden.

Langers Kampf gegen die Volkszählung und ihre Auswirkungen

waren 1995 auch langjährige Weggefährten nicht mehr gefolgt,

sein Ausschluss von der Bürgermeisterkandidatur verklang nahezu

ohne Solidarität. Das Projekt des „friedlichen Zusammenlebens“

schien sich – wenn auch nur vordergründig – überlebt zu haben.

Erschöpfung und Selbstausbeutung über Jahrzehnte nahmen wohl

überhand. In einem Olivenhain bei Florenz, wo seine Frau lebte,

beendete Alexander Langer am 3. Juli 1995 erst 49-jährig sein Leben.

Auf einem Zettel hinterließ er neben persönlichen Anmerkungen

eine Botschaft an seine Anhänger: „Die Lasten sind mir zu schwer

geworden, ich derpack’s einfach nimmer. Bitte verzeiht mir alle

– auch die Art des Weggehens – Dank habe, wer mir beim Tragen

geholfen hat – keine Bitterkeit verbleibt gegen jene, die mir draufgeladen

und erschwert haben. ‚Kommt alle zu mir, die ihr mühselig

und beladen seid’ – auch dieser Einladung zu folgen, fehlt die

Kraft. So gehe ich weg als Verzweifelter, der nicht mehr kann. Seid

nicht traurig, macht weiter, was gut war.“

Erst nach seinem Tod bekam Langer Recht, aber nicht auf politischem,

sondern auf juridischem Wege. Die SVP sah nun ein, dass die

unterschiedliche Regelung für das passive Wahlrecht bei Gemeindeund

Landtagswahlen einer Klärung bedürfe. Die Klärung erfolgte

aber nicht im Sinne Langers, sondern so, dass Ersatzbescheinigungen

auch bei Landtagswahlen abgeschafft wurden. In der Folge

wurde 1998 auch der Bozner Landtagskandidat Ivo Beltramba von

der Kandidatenliste gestrichen. Den darauffolgenden Rechtsstreit

entschied das Höchstgericht mit einer Grundsatzaussage, die auch

für Langers Fall posthum klärend war: Das Recht auf eine Kandidatur

sei von einer derart hoch- und vorrangigen Bedeutung, dass es

nicht anderen Rechten untergeordnet werden dürfe. Eine gesetz-

270


liche Neuregelung schien der SVP trotzdem nicht mehr nötig. Im

Herbst 2000 trat die Bewegung gegen die Volkszählung (MOET)

um Eugen Galasso in den Hungerstreik gegen die bevorstehende

Volkszählung 2001, die SVP blieb unnachgiebig, eine ernsthafte

Konfrontation blieb aber aus. Der Prinzipienstreit schien im politischen

Alltag seine Bedeutung verloren zu haben. 2011 wurde die

Sprachgruppenerhebung erstmals anonym durchgeführt, so wie

Langer es gefordert hatte.

271


Die Erntezeit der Autonomie

„Durnwalder-Ära“ auf ihrem Zenit – Entspannungspolitik

und Emanzipation – Vom „Volk in Not“ zum „Modell Südtirol“ –

Perspektive „Europaregion“

Um die Jahrtausendwende schien Südtirol eine Belle Époque zu

erleben. Alle politischen Konflikte, die so lange nachgewirkt hatten,

schienen sich zu verflüchtigen. Der ethnische Proporz wurde –

abseits seiner aufgeladenen Symbolik und gelegentlichem Postenstreit

– von den italienischen Rechtsparteien als Schutzbestimmung

auch für die italienische Sprachgruppe erkannt, da diese sonst ja

in den vorwiegend deutschen Gemeinden und in der SVP-dominierten

Landesverwaltung übervorteilt werden könnte. Härtefälle

wurden durch eine kulante Anwendung des Proporzes weitgehend

vermieden, für die deutsche Bevölkerung verlor er viel von seiner

früheren Bedeutung. Die Zweisprachigkeitsprüfung, bei der

viele an der Übersetzungsaufgabe mit kniffligen Grammatikfallen

scheiterten, wurde in einen etwas moderneren Sprachtest umgewandelt.

Von 1978 bis 1999 traten 142.044 Personen zur Prüfung

an, nur 41,1 Prozent bestanden sie. Ab 1999 stieg die Erfolgsquote

auf 61,4 Prozent, eine oft als zu rigide empfundene Hürde blieb

die Prüfung aber weiterhin, vor allem auch aufgrund der abnehmenden

Italienischkenntnisse auf deutscher Seite.

Die Umwandlung des MSI in Alleanza Nazionale 1995 nutzte

vor allem der AN-Politiker Giorgio Holzmann für eine Annäherung

an die Autonomieparteien. Der bis dahin kompakte italienische

Rechtsblock erlitt erste Risse. Bei den Landtagswahlen 1998

nahm die Splitterbewegung „Unitalia – Fiamma Tricolore“ dem

ehemaligen MSI einen von vier Sitzen ab. Die Democrazia Cristiana

löste sich aufgrund der nationalen Skandale in Einmann-

Parteien auf. Die „Popolari“ und „Il Centro“ versuchten die Mitte

zu besetzen, der linke DC-Flügel tat sich mit den ehemaligen Kommunisten

zu einem Mitte-links-Bündnis mit wechselnden Namen

zusammen. Als Einmann-Fraktionen stellten die drei Gruppen

für die SVP dankbare, weil schwache Regierungspartner dar. Auf

272


eine Zusammenarbeit mit dem örtlichen Ableger von Forza Italia

(1993 von Silvio Berlusconi gegründet, in Südtirol 1998 erstmals

mit einem Mandat vertreten) konnte die SVP somit verzichten.

Auf deutscher Seite konnte sich die SVP gegen eine eher schwächer

werdende Opposition zunächst wieder stärken. Die Grünen

hielten zwar ihre zwei Mandate, aber der Verlust von Alexander

Langer nahm der Bewegung ihre provokatorische Zielsicherheit

und strategische Lebendigkeit. Die Freiheitlichen gerieten nach

dem guten Start von 1993 durch den Mord an ihrem Gründer Christian

Waldner in eine Existenzkrise. Des Mordes angeklagt und

– trotz Unschuldsbehauptung bis in die letzte Instanz – verurteilt

wurde sein engster Freund und Ideologe der Freiheitlichen Peter

Paul Rainer. Bei den Ermittlungen wurden im Parteibüro der Freiheitlichen

zugemauerte Kugeleinschläge von Schießübungen festgestellt,

die Rainer dort mit Freunden unternommen hatte. Leitner

konnte sein Mandat bei den Landtagswahlen 1998 zwar retten, die

Bewegung schien aber geknickt. Die Union für Südtirol stand mit zwei

Mandaten gefestigt da, geriet durch einen Zwist zwischen Eva Klotz

und Andreas Pöder aber bald darauf ebenfalls in eine interne Krise.

Weit mehr gefordert war die SVP von internen Strömungen,

die nach Neuausrichtung und Demokratisierung verlangten. Die

„Neue Mitte“ um Ferdinand Willeit, Hans Benedikter und Oskar

Peterlini forderte sozial-, wirtschafts- und umweltpolitische Akzentverschiebungen.

Die SVP-Arbeitnehmer erwogen im Vorfeld

der Landtagswahlen 1998 ernsthaft eine eigenständige Kandidatur.

Der langjährige SVP-Sprecher im Landtag Hubert Frasnelli trat

offen für die Bildung einer ökosozialen Plattform ein. Die Mehrheit

der SVP-Arbeitnehmer-Spitze entschied sich aber letztlich für den

Verbleib in der Sammelpartei. Frasnelli trat 1999 nach einer Suspendierung

durch das Schiedsgericht demonstrativ aus der Partei aus,

Sepp Kußtatscher folgte ihm aus Solidarität. Die Arbeitnehmerpioniere

aus der Gründerzeit Erich Achmüller und Rosa Franzelin

zogen sich zurück. Damit war eine Schwächung der lange stärksten

internen Gegenkraft zum „System Durn walder“ eingeleitet, die

SVP-Arbeitnehmer gewannen 2003 zwar noch an Positionen dazu,

verloren aber an politischem Profil und brachen 2008 schwer ein,

als sich auch ihre letzte Galionsfigur aus der Gründerzeit zurück-

273


zog, der Durnwalder-Vize und langjährige Gesundheits- und Soziallandesrat

Otto Saurer.

Der Unmut über die Machtkonzentration in der SVP sowohl auf

Landesebene als auch in vielen Gemeinden, über sozial oder ökologisch

unsensible Einzelentscheidungen fand andere Ventile, so

vor allem in punktuellen Protestaktionen von Bürgerbewegungen

und bei den Gemeindewahlen. Schon 1995 erlitt die SVP in vielen

Ortschaften schwere Einbußen. Vor Ort wurden die Machtverhältnisse

eines De-facto-Einparteiensystems von immer mehr Bürgerinnen

und Bürgern stärker empfunden als in der Landespolitik.

Zugleich schien die Notwendigkeit des Zusammenhaltes in einer

einzigen Partei auf Gemeindeebene und bei örtlichen Streitfällen

weniger zwingend als bei Landtags- und Parlamentswahlen. Bewegung

in die Partei brachten die selbstbewusster auftretenden SVP-

Frauen, die sich in Einzelkonflikten nicht mehr so ohne weiteres

der meist männerdominierten Parteilinie beugten.

Im Südtiroler Kulturleben hatte sich das Bedürfnis nach politischer

Vielfalt und freierer Lebensgestaltung schon länger durchgesetzt.

Mit Joseph Zoderers Erfolgen in deutschen Verlagen lebte

die Südtiroler Literatur seit den 80er Jahren sichtbar auf, allmählich

auch weniger auf die Südtiroler Opfergeschichte konzentriert,

sondern mit offenem, neugierigem Blick für Zeit- und Gesellschaftsthemen.

Autorinnen und Autoren wie Sabine Gruber, Kurt Lanthaler,

Josef Oberhollenzer, Helene Flöss, Bettina Galvagni, Paolo

„Crazy“ Carnevale, Oswald Egger, Sepp Mall prägten ein neues Stimmungsbild.

Die Kulturtage in Lana, der Meraner Lyrik-Preis, der

N.C.- Kaser-Preis zeugten vom Anspruch, sich auch außerhalb des

Landes zu messen. Neben der Athesia entwickelten sich alternative

Verlage: Folio mit je einem Standbein in Wien und Bozen und

einem Schwerpunkt für osteuropäische Literatur, Raetia mit unbelasteten

zeitgeschichtlichen Aufarbeitungen, der Brixner A.-Weger-

Verlag mit einem lokalen Nischenprogramm, der Provinz Verlag

mit der Förderung heimischer Autoren. Der Innsbrucker Haymon

Verlag war schon seit seiner Gründung ein wichtiger Bezugspunkt

für die Südtiroler Literatur, durch Bündelung von Studienverlag,

Skarabäus, Löwenzahn und 2011 des Universitätsverlages Wagner

zu einem Verlagspool zusätzlich gestärkt.

274


Neben einer aufblühenden, mitunter schon grassierenden Eventkultur,

wie sie nicht nur für Südtirol typisch wurde, erstrahlte auch

manches kulturelle Glanzlicht: Mit Claudio Abbado als Dirigenten

des Gustav-Mahler-Jugendorchesters erlebte Bozen erhebende

Tage als Konzertstadt. Die Gustav-Mahler-Wochen in Toblach

gewannen weit über Südtirol hinaus musikalische Anziehungskraft.

Das Haydn-Orchester erwarb sich unter seinen Dirigenten

Hubert Stuppner und Gustav Kuhn ein wachsendes Profil. Das

Tanzfestival „Bozen Tanz – Bolzano Danza“ zauberte Bilder einer

befreiten Körperlichkeit auf den so lange ethnisch besetzten Waltherplatz,

das regelrecht in Hinterhöfen gewachsene Jazzfestival

erreichte internationalen Ruf.

Komponisten wie der Laaser Herbert Grassl und der Grödner

Erich Demetz setzten Akzente in der zeitgenössischen Musik, das

Musikfestival „Transart“ wurde zum jährlichen Highlight im Spätsommer.

Künstler wie Gotthard Bonell, Jörg Hofer, Erich Kofler-

Fuchsberg, Arnold Mario Dall’O, Carmen Müller, Julia Bornefeld,

Paul Thuile, Marcello Jori, Manfred Mayr, Heinz Mader, Berty Skuber

schufen eine je individuelle, von Denk- und Gattungszwängen

befreite Bilderwelt und Sprache.

Viele Impulse kamen aus der Peripherie, so von der Ahrn taler

Gruppe Kunstmyst um Fritz und Paul Feichter, Lois Steger und

Peter Chiusole. Die wie Schlangen in den Himmel zuckenden Stahlbänder

von Eduard Habicher brachen auch die gediegene Architektur

Südtiroler Burgen und Ansitze auf. Walter Niedermayr gab

mit seiner bleichen Fotografie dem Bild des Landes einen abgekühlten

Unterton. Rudolf Stingel bezog in seine monochromen

Gemälde die Reaktionen, Kritzeleien, Fuß- und Handabdrücke

der Betrachter/innen ein. Das Neue lebte unbeanstandet neben

dem Traditionellen auf, glaubwürdig vertreten etwa durch Künstler

wie Robert Scherer, Guido Muss und Adolf Valazza. Als Maler

in der Tradition der Altmeister des 19. Jahrhunderts meldete sich

Markus Valazza immer wieder zeitkritisch zu Wort, mit seinen

Bilderzyklen wie jenem zu Dantes Divina Comedia schuf er weithin

beachtete Werke.

Die „Ära Durnwalder“ wurde so zum Synonym für ein Land im

Höhenflug. Dass Durnwalders Position trotz der vielen Gegner-

275


schaften, die seine Politik hervorrief, nicht schwächer, sondern eher

noch stärker wurde, verdankte er zum einen seinem Charisma, seinem

offenen Zugehen auf Menschen aller Gesellschaftsschichten

und zum anderen seinem ausgeprägten Machtinstinkt. Der Glanz

der Jahrtausendwende überstrahlte aber auch alle Schatten, Südtirols

Autonomie kam von der Dürre in die Erntezeit. Als „Modernisierer

Südtirols“ konnte Durnwalder auf ein prosperierendes

Land mit gehobenem Selbstbewusstsein stolz sein.

Für die Gründung der Freien Universität Bozen 1997, von Durnwalder

lange bekämpft, dann energisch durchgesetzt, riskierte er

innerhalb der Partei zunächst beinahe den gewohnten Rückhalt.

Bald aber schon wurde die Universität zum Symbol für ein emanzipiertes,

nicht mehr konservativ rückständiges, sondern geistig

aufstrebendes Südtirol. In der Europäischen Akademie (EURAC)

zeigte sich der Wandel vom „Volk in Not“ zum „Modell Südtirol“

in ästhetischer Verdichtung: Das faschistische Ex-GIL-Gebäude

wurde für ein elegantes Forschungszentrum herausgeputzt, in dem

sich Südtirol ein neues Design verpassen sollte. Die Kritik, Südtirol

würde sich übernehmen und überschätzen, prallte am Gründergeist

ab.

Die Befürchtung, dass mit dem internationalen Abschluss des

Paketes auch schon wieder der Rückbau der Autonomie beginnen

würde, bestätigte sich im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends

ebenfalls nicht. Die Mitte-rechts-Regierungen unter Silvio Berlusconi

respektierten trotz mancher Drohgebärde den Autonomiepakt.

Mit den Mitte-links-Regierungen unter Romano Prodi

ließ sich die SVP sogar erstmals auf konstruktive Kooperation ein.

Die Aufgeschlossenheit Prodis und seiner Alliierten gegenüber

Südtirol spielte mit der prekären Finanzlage des Staates zunächst

segensreich zusammen. Der Staat trat Zuständigkeiten ab, sofern

das Land dafür die Finanzierung übernahm. So kamen nacheinander

Bereiche zum Land, die der Staat jahrzehntelang eifersüchtig

gehütet hatte: die Lehrerschaft, die Staatsstraßen, das Motorisierungs-

und Führerscheinamt, das Staatsarchiv.

Beflügelt wurde die Entwicklung um die Jahrtausendwende

durch den weitgehend von der EU vorgegebenen Trend zu Liberalisierung

und Privatisierung. Was anderswo vom Staat an die

276


Privatwirtschaft abgetreten wurde, schnappte sich in Südtirol das

Land über eigene Gesellschaften – so vor allem in den Zukunftsbranchen

Telekommunikation und Energiewirtschaft. Die ehemals

staatlichen Bahnlinien im Vinschgau und Pustertal wurden vom

Land für moderne Nahverbindungen genutzt. Das Land Südtirol

mauserte sich zur effizienten, wenn auch für Konkurrenten aus der

Privat- oder Kommunalwirtschaft erdrückenden Landes-AG, dank

einer privilegierten Finanzausstattung lange mit scheinbar unbegrenzten

Mitteln und Möglichkeiten, zwangsläufig auch anfällig

für Skandale und zweifelhafte Interessenwahrnehmung.

Die italienische Verfassungsreform von 2001 führte zu einem

weiteren Durchbruch: Die Provinzen Bozen und Trient erhielten

Vorrang gegenüber der Region Trentino-Südtirol. Die verhasste

Region, an der sich der Autonomiekampf entzündet hatte, ging in

die Hand der beiden Landeshauptleute von Trient und Bozen über,

Magnagos „Los von Trient“ kehrte sich in der Durnwalder-Ära

regelrecht um – die Region wurde den Provinzen unterstellt. Die

Kontrolle von Landesgesetzen durch die Regierung wurde praktisch

abgeschafft. Der Name „Südtirol“ erfuhr, gleichberechtigt

mit „Alto Adige“, verfassungsrechtliche Erwähnung. Bis auf die

Ortsnamengebung, die als unbewältigtes Restgut aus der faschistischen

Ära weiterhin für regelmäßige Konflikte sorgte, waren

praktisch alle ethnischen Konfliktthemen ausgeräumt oder weitgehend

besänftigt.

Selbst die 1993 vom Innenministerium noch als Staatsverrat

beargwöhnte „Europaregion Tirol“ erhielt allmählich den Segen

der römischen Regierung. 1995 bezogen die drei Länder Süd tirol,

Bundesland Tirol und Trentino das erste gemeinsame Verbindungsbüro

in Brüssel. Im selben Jahr führten Südtirol und Tirol die

erste gemeinsame Landesausstellung durch (gewidmet dem „Tirol-

Gründer“ Meinhard II.). Im Jahr 2000 nahm auch das Trentino an

der Gesamttiroler Landesausstellung „Ca. 1500“ teil, auf der Expo

2000 in Hannover präsentierten sich die drei Länder auf einem

gemeinsamen Stand.

Das Projekt einer „Europaregion“ sollte die Überwindung der

Landesteilung auf einer neuen Ebene ermöglichen. Österreich

wurde mit 1. Jänner 1995 Mitglied der EU, am 28. April trat Öster-

277


reich dem Schengen-Abkommen bei, ab 1. April 1998 wurde dieses

zwischen Österreich und Italien real umgesetzt. Symbolisch

stemmten die Landeshauptleute Luis Durnwalder und Wendelin

Weingartner am Brenner den Schlagbaum in die Höhe. Mit Weingartner

war auch in Tirol der Generationswechsel vollzogen worden.

Eduard Wallnöfer hatte sein Amt aus Krankheitsgründen 1987

an Alois Partl abgetreten, 1989 starb er. Partl hatte keinen leichten

Stand, schon 1991 wurde er als ÖVP-Obmann von seinem Wirtschaftslandesrat

Wendelin Weingartner abgelöst, der 1993 auch

die Landeshauptmannschaft übernahm. Zum Amtsantritt legte

er ein Buch mit dem Titel „Nachdenken über Tirol“ vor, indem

er auch neue Schritte für ein Zusammenwachsen von Tirol und

Südtirol ankündigte.

Die reale politische Zusammenarbeit der drei Länder hinkte der

Wiedervereinigungsrhetorik freilich noch hinterher. Vor allem in

Südtirol hatte Luis Durnwalder eine markante Politik der Emanzipation

Südtirols vom Bundesland Tirol und vom „Vaterland Österreich“

eingeleitet. Dies entsprach nach den Jahren des „Volkes in

Not“ wohl dem Bedürfnis nach einer eigenen Identität und dem

durch die Südtiroler Erfolgsgeschichte erhöhten Selbstwertgefühl.

Dank der Ausstattung der Autonomie mit Gestaltungsmöglichkeiten

und finanziellen Mitteln war Südtirol nicht mehr das

bedrohte Land, dem mit Spendengeld und politischer Solidarität

zu Hilfe geeilt werden musste. Im Gegenteil, es stand in mancher

Hinsicht besser da als seine Nachbarn. Zu bitterer Symbolik verdichtete

sich diese Entwicklung, als in München Gerhard Bletschacher

strafrechtlich belangt wurde, weil er mit Geldern aus

dem „Stille-Hilfe“-Topf eine Krise seines Betriebes überbrücken

hatte wollen: Er, der viele Kulturinitiativen ermöglicht und vielen

Bergbauernfamilien mit großem Einsatz geholfen hatte, war

gerade zu dem Zeitpunkt in Not geraten, als Südtirol mit Wohlstand

zu protzen begann.

Symbolisch für die Politik des neuen Südtiroler Selbstbewusstseins

und einer Abnabelung von Tirol und Österreich waren zwei

zusammenfallende Ereignisse 1991. Reinhold Messner brach mit

Hans Kammerlander zu einer Südtirol-Umrundung auf, Durnwalder

begleitete sie eine Tagesetappe lang. Südtirol wurde gewisser-

278


„Ötzi“ als Sensation:

Sein Fund unmittelbar

an der italienischösterreichischen

Grenze

führte zunächst zu einer

Verstimmung zwischen

Südtirol und dem Bundesland

Tirol.

maßen symbolisch neu abgegrenzt und definiert. Da genau an der

Grenze wandernd, kamen Messner und Kammerlander auch an der

Fundstelle der Gletschermumie „Ötzi“ am Similaun zuwege. Als

sich herausstellte, dass „Ötzi“ um wenige Meter auf italienischer

Seite lag, pochte Südtirol auf die präzise Einhaltung der Grenze,

die eigentlich immer „überwunden“ werden sollte, und bestand

auf der Herausgabe der Leiche.

Das für den „Mann aus dem Eis“ in der Bozner Museumstraße

eingerichtete „Archäologiemuseum“ wurde zum Kronstück einer

prunk- und prachtvollen Museumswelt, in der sich Selbstbewusstsein

und Selbstbeschau Südtirols gleichermaßen spiegeln. Zu dem

schon früh in bescheidenen Schritten aufgebauten Volkskunstmuseum

in Dietenheim kamen immer neue Landesmuseen hinzu,

das Archäologiemuseum und das Naturmuseum in Bozen, das Touriseum

mit den Gärten von Trauttmansdorff, das Bergbaumuseum

mit mehreren Standorten und Parcours, das Jagd- und Fischerei-

279


museum auf Schloss Wolfsthurn in Mareit/Ratsching, das Museum

Ladin Ćiastel de Tor in St. Martin in Thurn, das Naturmuseum in

Bozen, das Weinmuseum in Kaltern. 90 Museen insgesamt zählte

Südtirol um 2009. Mit dem Messner-Mountain-Museum auf Sigmundskron

und seinen Satelliten „MMM Ortles“ in Sulden, „MMM

Dolomites“ auf dem Monte Rite bei Cortina, „MMM Juval“ über

dem Eingang des Schnalstales, dem „MMM Ripa“ im Schloss Bruneck

und weiteren Plänen ist Reinhold Messner auch personifizierter

Ausdruck der neuen Südtiroler Selbstdarstellung.

Mit dem Aufbau der eigenen Landesmuseen und unzähligen

schier beeindruckenden Bauten für Feuerwehren, Vereine, Gemeindeverwaltungen

auch in kleinsten Ortschaften wurde die neue und

stolze Leichtigkeit des Südtiroler-Seins sichtbar zelebriert. Das

ehedem arme Land konnte sich endlich Glanz und Glamour leisten,

gefeiert etwa 1999 in der Eröffnung des Auditoriums Haydn

und des neuen Stadttheaters in Bozen. In manchem Überschwang

zeigte sich die Kompensation historischer Komplexe infolge von

Faschismus und Autonomiekampf.

Für das Nord-Ost-Südtiroler Verhältnis bedeutete der Südtiroler

Aufholkurs mit dem Bau eines eigenen Flughafens, eigener hochwertiger

Sanitätsstrukturen und besonders der eigenen Universität

mehr als eine Irritation. Jahrelang gefestigte Orientierungspunkte

der „Landeseinheit“ wie das Landestheater, die Landesuniversität,

die Landesklinik schienen in Frage gestellt. Dies geschah zum

Teil aus reiner Notwendigkeit, Südtirol konnte – angesichts der

faktischen Landesteilung – nicht auf alles verzichten, was es auch

im Bundesland Tirol gab. Zum anderen schwang in der „Abnabelung“

auch die Undankbarkeit eines neureichen Landes mit. Der

Höhenflug war in gewissem Sinne auch ein Rausch nach langer

Entbehrung, mit der Gefahr von Selbstgefälligkeit und Selbstüberschätzung.

Erst im Tiroler Gedenkjahr 1809-2009 blitzten, neben einer

etwas entlasteten Aufarbeitung der Freiheitskämpfe von 1809, auch

eine gewisse Besinnung und ein möglicher Umschwung auf. 2008

erlitt die SVP schwere Verluste bei den Parlamentswahlen im Mai

und den Landtagswahlen im Herbst. Die Freiheitlichen verstärkten

sich von zwei auf fünf Mandate, Eva Klotz baute mit ihrer

280


neuen Partei „Südtiroler Freiheit“ ihre Position aus, Andreas Pöder

konnte für die Union für Südtirol sein Mandat halten. Während

die Grünen von drei auf zwei Mandate schrumpften und – dank

unglücklicher Wahlregelung – 2009 erstmals auch das von Langer

eroberte Europa-Mandat wieder verloren, war die patriotische

Opposition so stark wie nie zuvor. Übersehene soziale Brüche in

der Gesellschaft, der für weite Bevölkerungskreise spürbare Kaufkraftverlust

durch Teuerung und Lohnstagnation schlugen sich

in Sozialängsten und Rückzugshaltungen gegenüber Globalisierungs-

und Migrationsphänomenen nieder. Die Südtiroler Politik

und auch die Kirche sahen sich erstmals zu Projekten gegen

Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit herausgefordert.

Die Autonomiepolitik geriet gegenüber neuen Forderungen nach

Selbstbestimmung in die Defensive, Gewöhnung und Routine hatten,

neben dem Unmut über manche Auswüchse von Politik und

Verwaltung, am Glanz einer Erfolgsgeschichte zu nagen begonnen.

Dass in der deutschen Parteienlandschaft und auch innerhalb

der SVP die sozial und ethnisch ausgleichenden Kräfte geschwächt

wurden, hat auf italienischer Seite Besorgnis ausgelöst – ausgerechnet

in dem Moment, in dem sich die italienische Bevölkerung

zaghaft gegenüber der Autonomie zu öffnen begann (und teilweise

sogar SVP wählte), kam deren Autonomiekurs in Krise. Noch deutlicher

zeigte sich diese Trendwende an den Einbußen der interethnischen

Grünen, die den Öffnungskurs in der Autonomiepolitik

vielfach ja überhaupt erst angestoßen hatten. Ganz offensichtlich

hatte die Bewegung mit dem Tod ihres Erfinders und dem Älterwerden

der 68er-Generation an Flair eingebüßt, nach der Entzweiung

mit Alessandra Zendron repräsentierte Christina Kury

noch bis 2008 den Übergang von der Langer-Zeit in eine neue Ära.

Mit der Verstärkung durch den ehemaligen SVP-Arbeitnehmerchef

Sepp Kußtatscher (und dessen Wahl zum Europaabgeordneten

2004), dem liberal-zivilgesellschaftlich orientierten Zeithistoriker

Hans Heiss und dem engagierten Journalisten Riccardo

Dello Sbarba empfahlen sich die Grünen 2003 als neue Zukunftskraft.

Nach den Landtagswahlen 2008 und dem Verlust des von

Langer eroberten Europamandats 2009 sah die einstige Erneuerungsbewegung

plötzlich alt aus, mit Brigitte Foppa und einigen

281


wenigen jungen Nachwuchsleuten kam zwar wieder etwas Farbe

in die Bewegung, die Zugkraft bei der Jugend aber schien an die

patriotische Opposition übergegangen zu sein. Hans Heiss, der als

Hoffnungsträger gegolten hatte, kündigte mit Blick auf 2013 das

Ende seines „politischen Zivildienstes“ an.

In der SVP kam es in Vor- und Nachspielen zur Landtagswahl

2008 zu einer Führungskrise: War die Landespolitik seit Magnagos

Abgang fest in Durnwalders Hand, so hatte die Partei – nach

der Ära Magnago und der Übergangsobmannschaft Riz – unter

Siegfried Brugger eine zurückhaltende Rolle gespielt, Macht- und

Entscheidungshoheit waren von der Partei ins Landhaus, genauer

ins Büro des Landeshauptmannes gewechselt. 2004 trat der langjährige

Bozner Vizebürgermeister Elmar Pichler Rolle mit der

Absicht an, das Obmannamt – auch mit Blick auf die allmählich

einsetzende Durnwalder-Nachfolgediskussion – stärker gegenüber

der Landes regierung zu positionieren. Nach den Landtagswahlen

2009 verzichtete Pichler Rolle unter Druck auf eine Wiederkandidatur.

Siegfried Brugger, der sich hart gegen seinen Nachfolger

Pichler-Rolle gestellt hatte, meldete sich aus Rom wieder verstärkt

zu Partei- und Landesfragen zu Wort. Neuer SVP-Obmann wurde

der Vinschger Richard Theiner, der aus der SVP-Arbeitnehmerschaft

herausgewachsen war und sich im Duo mit dem wirtschaftlich

ausgerichteten Vizeobmann Thomas Widmann präsentiert

hatte. Zusammen mit dem stellvertretenden Landeshauptmann

Hans Berger nahmen sie auch in Durnwalders Landesregierung eine

führende Position ein. Darin zeigten sich erstmals – meist vorsichtige,

nie deutliche und immer rückzugsfähige – Positionierungen

im Hinblick auf Durnwalders Nachfolge, von der man noch nicht

wusste, ob und wann sie wirklich fällig sein würde. Erneuerungszeichen

kamen auch vom Gemeindenverband, wo zunächst der

Plauser Bürgermeister Arnold Schuler als Präsident einen harten

Kurs gegen Durnwalders Landhauszentralismus fuhr und diese

Rolle als „SVP-Rebell“ im Landtag zusammen mit den anderen

Vinschger Abgeordneten weiterführte. Sein Nachfolger, der Völser

Bürgermeister Arno Kompatscher, verkörperte nach seinem Amtsantritt

schnell den neuen, sachlichen und dialoggeübten Politik-

Stil einer jüngeren Generation, ähnlich wie der vom Bauernbund

282


kommende Herbert Dorfmann, der nach dem Rückzug von Michl

Ebner 2009 zum Europaabgeordneten der SVP bestimmt wurde.

Weitgehend ließ sich die Krise der SVP als Folge einer Normalisierung

lesen. Die Ära des Autonomiekampfes war jüngeren

Bevölkerungsgruppen schon fremd, die Zeit der politischen Überväter

in Widerspruch geraten mit dem Erlebnis einer globalisierten

Welt voller fragmentierter Wirklichkeiten. Noch 2004 hatte

die SVP eine Mehrheit von 55,6 Prozent gehalten. Gemessen an

ihrer eigentlichen Wählerschaft, nämlich der deutschen und ladinischen

Minderheit, waren dies glatte 80 Prozent. Die 48,1 Prozent

von 2008 machten immer noch 69,5 Prozent der deutschen

und ladinischen Bevölkerung aus. Das Gefühl, durch Selbstverwaltung

und Autonomie politisch abgesichert zu sein, verminderte

zwangsläufig auch den Druck nach Zusammenhalt in einer

einzigen Partei.

Erstmals musste sich Südtirol 2009 mit einem nicht mehr steigenden,

sondern – noch verschmerzbar – schrumpfenden Landeshaushalt

zurechtfinden, die Haushaltsdebatte 2009 prägte Luis

Durnwalder mit einem Appell an neues Maßhalten in Verwaltung

und Wirtschaft. Einer drastischeren Kürzung wirkte die Süd tiroler

Politik auch 2009 durch die Übernahme weiterer staatlicher Kompetenzen

ohne zusätzliche Staatsmittel entgegen. Die Gelassenheit

und Selbstsicherheit, mit der dies geschah, war bei allen Verunsicherungen

ein Zeichen für die Stabilität des Landes. Trotz einiger

Rückschläge vermeldete die Südtiroler Wirtschaft – angefangen bei

ihrem Motor, dem Tourismus – auch im Jahr nach der schweren

internationalen Finanzkrise Beständigkeit und Wachstumschancen.

Auf der Suche nach politischen Perspektiven über die Autonomie

hinaus und nach Weitungen der institutionellen Enge des

Landes erhielt das Projekt der Europaregion Tirol neuen Auftrieb.

Der 2010 ernannte neue Präsident der Freien Universität Bozen

Konrad Bergmeister etwa erhob die Schaffung eines überregionalen

Universitätspooles mit Innsbruck und Trient zu seiner Vision.

Dies war auch deshalb von Bedeutung, weil der Uni-Präsident und

zugleich Manager des Brennerbasistunnel-Baus und Professor für

konstruktiven Ingenieurbau in Wien auch als neuer Impulsgeber

und Hoffnungsträger für die Zukunftsgestaltung des Landes galt.

283


Neues Leben hatte die schon totgesagte Idee einer „Europaregion“

im Tiroler Gedenkjahr 2009 erhalten. 2008 löste der frühere

Tiroler Kulturlandesrat und österreichische Verteidigungsund

Innenminister Günther Platter nach Wahleinbußen der ÖVP

bei den Tiroler Landtagswahlen den Weingartner-Nachfolger Herwig

van Staa als Landeshauptmann ab. Unmittelbar nach dem traditionellen

Landesfestumzug in Innsbruck mit 70.000 Besuchern

setzte Platter einen Akzent für die Revitalisierung der Europaregion,

schon knapp einen Monat später beschlossen die drei Landesregierungen

Tirols, Südtirols und des Trentino die Intensivierung

ihrer Zusammenarbeit in den Bereichen Bildung, Kultur, Energiegewinnung,

Gesundheit und Transit sowie die Einrichtung einer

Euregio-Schaltzentrale in Bozen. Neben Platter hatten sich auch

Lorenzo Dellai für das Trentino und Luis Durnwalder für Südtirol

hinter die Europaregion als Perspektive für die Gesamtentwicklung

des ehemaligen Tiroler Raumes gestellt. So wurde im Tiroler

Gedenkjahr 2009 auch der Blick über jene Grenzen hinaus gehoben,

die der Erste Weltkrieg zwischen den drei Ländern gezogen hatte.

284


Grenzen eines Traumes

Auf- und Abschwünge im autonomen Musterland –

Versuch einer Gegenwartsbetrachtung

Der historische Vergleich bietet sich an, wenngleich er von Auguren

beäugt sein mag: 1909 feierte sich Tirol im Glanze einer großen,

aber bereits unsicheren Epoche. Tirol war noch ungeteilt,

oder besser: vermeintlich ungeteilt. Wohl stellte es als westlichstes

Kronland der Donaumonarchie eine unangetastete politische

Einheit dar, aber die Risse, die zum Auseinanderbrechen des Landes

führen sollten, zogen sich schon quer durch das Land. Nicht am

Brenner freilich war die Bruchstelle, sondern entlang der Sprachgrenzen

einer lange übernationalen Gemeinschaft. Subtiler wirkten

wohl auch schon die verdeckten, sozialen Widersprüche einer hinter

der Moderne herhinkenden, von der Moderne gejagten Gesellschaft.

Südtirol ist je nach Optik das Abfall- oder Neben- oder Hauptprodukt

dieser Brüche. Es ist durch Brüche entstanden. Es ist in

gewissem Sinne das, was von der Teilung Tirols übrig geblieben

ist, es ist aber in ebenso gewissem Sinne auch das, was Ziel der

Teilung war. Ein solches Land bedarf für sein Selbstverständnis

des Vergleiches, mit der Vergangenheit, mit seinen ehemaligen

Zugehörigkeiten, mit seinen in Bewegung geratenen Koordinaten.

Südtirol kann von sich nicht behaupten, dass es schon immer

da war. Seine Anfänge können im Ersten Weltkrieg gesucht werden,

je nach Optik schon mit Kriegsbeginn 1914 oder 1915, als Italien

im Londoner Geheimvertrag für den Fall des Kriegseintrittes

und des Sieges an der Seite der Entente das Gebiet des südlichen

Tirols bis zum Brenner und Istrien mit den dalmatinischen Inseln

zugesprochen wurde; oder 1918, als die Donaumonarchie zusammenbrach

und die italienischen Truppen kampflos bis zum Brenner

vorrücken konnten. Sie zogen dort eine willkürliche Grenze,

die aber zum politischen Entwurf des noch jungen Italien gehörte;

oder 1919/1920, als das heutige Südtirol als italienische Provinz

staatsrechtlich dem neuen Staat Italien übergeben wurde.

285


Als die Grenze noch eine frische Wunde war: Kundgebung für Südtirol

in Innsbruck 1919, Fassungslosigkeit über die Teilung des Landes.

Südtirol ist damit das Produkt des nationalen Denkens, von

dem sich auch Tirol hatte mitreißen lassen, von dem es dann hinweggerissen

wurde. Präziser: Südtirol ist das Produkt einer Denkkategorie,

die sich gegen Ende des 19., zu Beginn des 20. Jahrhunderts

in die Illusion und in den Wahn nationaler Einheitlichkeit und

territorialer Vollständigkeit verirrt hat. Das italienische Nationalgefühl

trachtete nach einem vollständigen Raum mit einer einheitlichen

Nation; es darbte daran, dass für das Gefühl der Vollständigkeit

des eigenen Raums einige Flecken fehlten – Istrien mit

den dalmatinischen Inseln und das Gebiet im Norden südlich des

Alpenhauptkammes, beide mit unterschiedlicher Dichte von einer

anderssprachigen Bevölkerung bewohnt, beide mit Ende des Ersten

Weltkrieges an Italien angegliedert und zur nationalen Vereinheitlichung

einer Zwangsbesiedelung unterworfen.

286


Dass die gewonnenen Gebiete nicht oder kaum italienisch waren,

war störend für das Gefühl der nationalen Einheit und Einheitlichkeit.

Die Kriegsprämie musste „assimiliert“, sich gleich gemacht

werden. Die neue Provinz Südtirol wurde Produkt und Opfer eines

Denkens, das in Tirol um die Jahrhundertwende ebenfalls getobt

hatte, des nationalen Reinheits- und Einheitsdenkens: An diesem

Denken brach Tirol in Welschtirol und Deutschtirol auseinander,

bevor es in Südtirol und Nord-/Osttirol geteilt wurde. Der italienische

Teil Tirols verabschiedete sich – die Intellektuellen weitgehend

begeistert, das Fußvolk nolens-volens – schon in der zweiten

Hälfte des 19. Jahrhunderts von der langen Zusammengehörigkeit;

und die Deutschtiroler Mehrheit trachtete – bis auf wenige

besonnene Kräfte vor allem unter den Konservativen Tirols – nicht

danach, das abdriftende Welschtirol zurückzugewinnen, sondern

war auf ihre Weise froh, das störende Fremde loszuwerden.

Diese Grenze ist Südtirol eingebrannt: Von den drei Teilen

des ehemaligen Tirols hat es gewissermaßen die Sprachgrenze

als Hypothek mitbekommen, die damals zwischen Deutsch- und

Welschtirol gezogen wurde. In einem psychoanalytischen Sinne

könnte spekuliert werden, dass Südtirol damit das Unerledigte

der Vergangenheit, das seinerzeit so schlecht Bewältigte als Aufgabe

mitbekommen hat, dass es genau da, wo das alte Tirol zerbrochen

ist, seine Vergangenheit und seine Gegenwart ausheilen

muss, wenn es freier, unbelasteter in die Zukunft gehen will.

Die innere Grenze des Landes teilt dieses nicht auf traumatische,

sondern auf kaum wahrnehmbare Weise, hat Parallelgesellschaften

entstehen lassen, die sich nur selten offen übers Kreuz kommen.

Dies ist freilich häufig dann der Fall, wenn die Vergangenheit

in die Gegenwart einbricht, geweckt oder gereizt durch scheinbar

noch so geringfügige Anlässe oder Symbolkämpfe, die aber auf

Unverarbeitetes deuten. Das anschaulichste Beispiel ist die Toponomastik,

die Benennung der Orte des Landes. Von den vielen

schwierigen Maßnahmen des Paketes, mit dem ab 1969 die neue

Ära der Südtirol-Autonomie begann, ist genau diese von Amtszeit

zu Amtszeit unerledigt zurückgeblieben. Das dank einer umgemodelten

Geschäftsordnung im September 2012 endlich durch den

Landtag gebrachte Toponomastikgesetz hat formal erstmals eine

287


Lösung gebracht, indem die Entscheidung über die Namen den

politisch nicht direkt gewählten Bezirksgemeinschaften und einer

paritätischen Kommission mit je zwei deutschen, italienischen und

ladinischen Fachleuten anvertraut wurde – letztlich ein geschicktes

Austricksen unmittelbarer politischer Auseinandersetzung. Der

in der Folge von nationalpatriotischen Kräften beider Seiten angekündigte

Kampf um jeden einzelnen Namen dämpft die mit dem

Gesetz verbundene Hoffnung, dass mit der Kraftprobe im Landtag

auch die Grundlage für eine inhaltliche Klärung gelegt wurde.

Den Namen wohnen Zauber und Fluch inne, die sich wohl erst

auflösen können, wenn Südtirol seine Vergangenheit anzunehmen

vermag, wenn es beispielsweise in der Zwangsitalianisierung der

Ortsnamen nicht nur das selbst erlittene Unrecht, sondern auch

den eigenen deutschen Nationalismus erkennt, der zuvor den italienischen

Anteil Tirols gering geschätzt hatte und der noch früher

das Ladinische ausgetrieben hatte. Dann würde es nicht mehr um

deutsche oder italienische oder ladinische Namen gehen, sondern

um die Einsicht, wie sprachliche Flurbereinigungen eine Identität

nicht bereichern, sondern berauben. Auf deutscher Seite hieße dies,

vielleicht auch Namen anzunehmen, die künstlich geschaffen wurden,

aber die Geschichte dieses Landes widerspiegeln und für die

italienische Bevölkerung Beheimatung bedeuten. Für die italienische

Bevölkerung könnte die Herausforderung darin liegen, Beheimatung

auch so zu verstehen, dass nicht jeder Weiler oder Berg

oder Bach zwangsläufig einen italienischen Namen haben müsse,

weil man sich sonst fremd fühle. Dies könnte über alle Lösungen

hinaus ein Denkanstoß sein, auch mit nicht ganz wunschge mäßen

Lösungen zurechtzukommen. Hinter dem Wunsch nach kultureller

oder auch sprachlicher Eindeutigkeit zeigt sich eine Illusion:

dass sich das Leben, der Reichtum, die Kultur eines Landes vereinheitlichen

lassen, dass Einheit und Identität durch Bereinigung

des Störenden wachsen können, während sie in Wahrheit

daran verarmen.

Südtirol hat umzugehen gelernt mit seiner verdrängten Flaschenpost,

die gelegentlich nach oben dringt. Als der italienische

Bürgermeister von Bozen Giovanni Salghetti Drioli den Siegesplatz

im Zeichen der Versöhnung in „Piazza della Pace – Friedens-

288


Der abgebaute Friedensversuch: Bozner Siegesplatz, Motiv nach dem Referendum

gegen die Umbenennung in „Piazza della Pace – Friedensplatz“, 2002.

platz“ umtaufen wollte, fühlten sich viele italienische Mitbürger

ihrer Illusion beraubt, dieses Land durch „Sieg“ verdient, erworben,

erobert zu haben. Darin verriet sich ein wankendes Heimatgefühl,

das die Krücke einer Kriegstat braucht, um nicht in sich

zusammenzufallen. Mit dem von Alleanza Nazionale angestrengten

Referendum konnte der Name des Platzes „zurückerobert“ werden,

die innere Beheimatung aber wich eher wieder ein Stück weg.

Denn diese ist nur über kulturelle Aneignung eines Landes, über

ein Verstehen seiner Geschichte und Geheimnisse, seiner Orte und

Worte möglich. Auch da führte die vermeintliche „Wiedergutmachung“,

„Rückbenennung“ nicht in eine bessere Zukunft, sondern

nur zurück in eine Vergangenheit, die alte Wunden aufzuscheuern,

nicht zu heilen vermag.

Als 2011 der zuständige Minister in Rom dem Land in einem

Brief freie Hand zur Entschärfung der faschistischen Relikte in

Südtirol gab, schien einen Moment lang die Entsorgung aller historischen

Hypotheken möglich: ein zeithistorisches Museum im

Bauch des Siegesdenkmals, Informationstafeln für die Beinhäuser

an den Rändern des Landes und ein Ideenwettbewerb für die

gesamte Bevölkerung zur Umgestaltung des Piffrader-Reliefs mit

289


dem hoch zu Ross reitenden Mussolini. Die Beteiligung war groß,

bemerkenswerter Weise waren sehr wenige revanchistische Vorschläge

dabei, sehr viele suchten einen augenzwinkernden Umgang

mit der Vergangenheit. Nun ging der Politik die Fantasie aus, Durnwalder

lehnte alle kreativen Vorschläge ab und bestand auf einer

„Abdeckung“ – erneut war eine Chance verschenkt worden, die

Vergangenheit ihrer Halbwertzeit zu überlassen, statt sie immer

aufs Neue aufleben zu lassen.

An seinen inneren Grenzen kann sich Südtirol lähmen oder

beflügeln; die Menschen in diesem Land stehen immer wieder,

persönlich und politisch, vor der Entscheidung zwischen Austausch

und Abwehr, zwischen Bereicherung und Verarmung, zwischen

Wagnis und Sicherheit, zwischen Begegnung und Isolation.

Diese Balance bedarf einer freien Beweglichkeit in persönlichen

und politischen Stilen, Nähe kann ebensowenig verordnet werden,

wie Distanz behördlich vorgeschrieben werden darf, beides

ist im Wechselspiel selbstgewählter Lebensentwürfe immer aufs

Neue auszutarieren. In dem, was an Aussöhnung gelungen ist, hat

das Land einen Erfahrungsschatz gesammelt, der weltweit ein

begehrtes Gut ist – Erfahrungen im Eindämmen, im Mildern, im

Lösen ethnischer und nationaler Konflikte. Sich dessen bewusst

zu werden, könnte es ermöglichen, die Vergangenheit nicht mehr

als Quelle der Wehklage sondern des Weiterkommens zu erschließen.

Es bietet auch Ansätze und Wissen für den Umgang mit neuer

Fremdheit, mit neuer Migration ins Land.

Seine Identität hat Südtirol in jüngerer Zeit aber auch aus seinen

äußeren Grenzen bezogen, aus seiner territorialen Abgrenzung.

Südtirol entstand aus einer Grenzziehung, die für die heimische

Be völkerung ein traumatisches Erlebnis von Fremdheit bedeutete –

sie waren mit einigen wenigen diplomatischen Akten italienische

Staatsbürger geworden, wurden abgetrennt von einem dynastischen,

vor allem aber auch kulturellen Raum, wie es die Donaumonarchie

auch gewesen war. Den italienischen Familien, die in den folgenden

Jahrzehnten im Zuge einer weitgehend gesteuerten Zuwanderung

nach Südtirol zogen, wurde das Land durch diese Grenzziehung

als neue Heimat versprochen, die ihnen Arbeit, Wohnung

und Zukunft geben würde – all das, was sie in ihren Herkunftsge-

290


bieten nicht mehr oder nie hatten. So stehen sich Traum und Traumata

feindselig, scheinbar unversöhnlich gegenüber: der Einen

Traum, eine neue Heimat zu bekommen, war der Anderen Traumata,

dass ihnen die Heimat genommen werden sollte. Die einen

kamen aus Heimat losigkeit in eine Heimat, aus der sie andere verdrängen

sollten. Um Südtirol zu verstehen, wenn es sich in kleinlichen

Konflikten und scheinbar lächerlichen Ängsten verliert, muss

diese Verstrickung bedacht sein.

Die Brennergrenze bedeutete für Südtirols Italiener: Bis da her

sind wir daheim, soweit reicht Italien. Für Südtirol bedeutete es

über Jahrzehnte: Da wurden wir abgetrennt, von da an sind wir

Fremde im eigenen Land. Mit dem „Los von Trient“ wurde der

erlittenen Grenze eine erwünschte hinzugefügt, wurde das Land

neu definiert. Auch dahinter stand eine, wenn auch nur homöopathische

Idee der Sicherheit, Heimatschaffung durch Abgrenzung:

Die Grenze am Brenner würde weniger schmerzen, wenn auch bei

Salurn eine schützende Trennlinie gezogen würde, die das Land zu

etwas Eigenem macht. So hat sich Südtirol, aus der Verstrickung

unterschiedlicher Bedürfnisse nach Grenze, in sich eingerollt wie

ein Igel zwischen der Wasserscheide am Brenner und der Salurner

Sprachklause, wurde das Territorium neu zurechtgeschnitten,

um es auch neu zu bestimmen: als autonomes Gebiet.

Was sich aus Schutzbedürfnis so klein gemacht hat, muss sich

– seinem Selbstwertgefühl zuliebe – auch groß machen: Die Definition,

Umgrenzung eines so kleinen Gebietes konnte auf Dauer

nur einhergehen mit dem, was im „Mir sein mir“ zum geflügelten

Wort für ein Lebensgefühl der Selbstzufriedenheit geworden

ist. Von diesem „Mir sein mir“ ist die italienische Bevölkerung

des Landes weitgehend ausgeschlossen worden, sie wurde überrascht

davon, weil sie sich auf ihre Abgrenzung, auf die staatliche

Zugehörigkeit Südtirols verlassen hatte, auf das „Siamo in Italia“,

das ins Schwanken gekommen ist – nicht durch die gefürchtete

Selbstbestimmung und Rückkehr zu Österreich, sondern durch

die autonome Erhebung Südtirols zum De-facto-Freistaat. Um

in das „Mir sein mir“ aufgenommen zu werden, müssen die Südtiroler

Italiener (ein Begriff der jüngeren Zeit) ein Stück nationaler

Identität loslassen zugunsten einer territorialen Identität, das

291


„Süd-Tirol ist nicht Italien“ – Brennerpass 2009.

„Siamo in Italia“ preisgeben für ein „Siamo qui a casa anche noi“:

das Daheimsein nicht in einer Nation, sondern in diesem schönen

Land Südtirol. Damit dies aber nicht nur ein Gegengift, sondern

eine Medizin für die Gegenwart wäre, müsste dies eine gemeinsame

Leistung sein, müssten die Südtiroler lernen, ihr „Mir sein

mir“, ihre Identität nicht in der Rückdeutschung des Landes, nicht

in einem neuen nationalen Reinheits- und Einheitswahn zu überhöhen,

sondern in einer kulturellen Öffnung zu begründen: Heimat

als Ort der zwischenmenschlichen Begegnung, nicht der kulturellen

Abgrenzung. Die formale Absicherung durch das Autonomiestatut

würde es ermöglichen. Etwas davon blitzt vielleicht – mit

allen Vorbehalten, aber auch allem Respekt gegenüber der identitätsbildenden

Kraft des Sports – im „FC Südtirol – Alto Adige“

auf, der sich sprachgruppenübergreifend und ziemlich globalisiert

mühsam die italienische Fußballleiter hinaufkämpft, noch

weit entfernt vom wahren Fußballhimmel, aber doch schon eine

„eigene“ Mannschaft für alle im Land. Das wäre dann, auf einer

höheren Ebene, die Schaffung einer Südtiroler Identität, in der

sich alle im Land lebenden Menschen als Südtiroler oder altoatesini

oder sudtirolesi fühlen können.

292


Eine Gefahr bliebe, sie ist vielleicht die größte Gefahr für die

Entwicklung und Prosperität des neuen Südtirols. Es ist die Igelhaltung

des Landes, das Eingerolltsein zwischen Brenner und Salurn.

Die Geschichte Tirols ist nicht nur eine Geschichte der Landesverteidigung,

auch wenn diese die Mythen und Selbstbilder des Landes

geprägt hat, es ist auch eine Geschichte der Durchlässigkeit,

des Durchgangs, der Begegnung. Südtirol ist keine autarke Insel,

erliegt zwar dieser Illusion, bedarf aber der Anbindung, genießt

diese auch in vollen Zügen, hat den Raum offen nach Süden, hat

feste Nabelschnüre geknüpft nach Norden, ist noch am ehesten

etwas verschlossen gegen Osten und Westen, die Schweiz und Osteuropa

sind etwas vergessene, entrückte Nachbarschaften. Das Eingebundensein

in viel größere Entwicklungen, die zum Teil nur mehr

zwanghaft national betrachtet und beantwortet werden, hat sich

auch in der dramatischen Finanzkrise von 2011 und 2012 gezeigt,

die der Reihe nach große Nationalgemeinschaften vor internationalen

Börsenzirkeln und Ratingagenturen in die Knie gehen sah.

Die erste reale Bedrohung der Südtiroler Autonomie nach 1972

entsprang nicht einer nationalistischen Politik, sondern – nach

dem Sturz Berlusconis – im nüchternen Zugriff des italienischen

Krisenpremiers Mario Monti nach allen verfügbaren finanziellen

Ressourcen im Land: Mit einem Mal war die sicher geglaubte

Schatztruhe der autonomen Finanzregelung in Frage gestellt, sah

sich Südtirol in eine gesamtitalienische, letztlich gesamteuropäische

Verantwortung einbezogen. Waren auch die langfristigen Folgen

der europäischen Finanz- und Staatskrisen noch nicht absehbar,

stellten sie – hinter der allgemeinen Alarmstimmung – doch

auch eine tiefere Warnung dar, nämlich dass politischer Frieden

nicht auf Geld allein gestützt sein kann.

Die ersten Reaktionen auf die Krise waren noch alte Rezepte:

eine neue Aufwertung von Nationalbewusstsein in Italien und in

vielen anderen europäischen Staaten, ein ganz neuer Auftrieb für

die schon verstaubt geglaubte Freistaat-Idee in Südtirol. So spiegeln

sich im Kleinen auch die großen Fragen Europas: Hält der

Friedensprozess auch ökonomischen Belastungen stand, fördern

globale Auflösungen und Verunsicherungen eine Öffnung zur Welt

oder eine Rückorientierung in alte, mittlerweile verklärte Vertraut-

293


heiten? Schon die Landtagswahlen 2008 hatten, durch die Verstärkung

der patriotischen und national orientierten Parteien, auf

deutscher Seite eine emotionale Abkühlung gegenüber der Südtirol-Autonomie

zur Folge, die plötzlich als zu wenig attraktiv, zu

wenig schick, zu rückwärtsgewandt empfunden wurde gegenüber

griffigeren Entwürfen einer Zukunft ohne Italien und teilweise

auch ohne Österreich. Die SVP konterte mit dem Modell der

„Vollautonomie“ als neues Zukunftsprojekt mit erhöhtem politischen

Sexappeal, ergänzt noch um die Pikanterie, dass man sich

diese Vollautonomie angesichts des maroden Staates auch „kaufen“

könne – „kaufen wir uns frei“ als neue Formel der etwas altvorderen

„Selbstbestimmung für Südtirol“.

Mit dem vorgezeichneten – abwechselnd als sofortig oder stufenweise

angedachten – Abtritt von Luis Durnwalder markieren

die Landtagswahlen 2013 das Ende einer zweiten großen Ära nach

Silvius Magnago – nach dem Kampf um die Autonomie deren Ausbau.

Die Zeit nach 2013 wird der Frage gewidmet sein, wie die

Autonomie zu halten ist, wie ihr inhaltliches Design an neue gesellschaftliche

Erfordernisse angepasst werden kann – mehrsprachige

Familien, Migrationsphänomen, Bedürfnis nach größerer Dezentralisierung

der autonomen Zuständigkeiten an die Gemeinden,

nach größerer zivilgesellschaftlicher Partizipation durch Bürgerinnen

und Bürger. Aber auch: wie die Autonomie in einer globalisierten,

entgrenzten Welt nicht nur „gerettet“, sondern als Modell

für ein wirklich förderalistisches Europa jenseits der Nationalstaaten

gedacht werden kann, wie die Igelstellung zugunsten einer Öffnung

vor Herausforderungen ungeahnter Dimensionen aufgegeben

werden kann, ohne in neue Ängste zurückzuscheuen. Demgegenüber

wird stehen: der Angriff auf die Autonomie durch nationalistische

Wiedererweckungen gerade im Sinne der Krisenbekämpfung,

die Abkehr von der Autonomie mit dem Wunsch nach einer

Zukunft jenseits von Italien.

Wie gewinnend eine solche Idee ist, zeigt sich etwa in der Popularität,

die um 2009 das Lied „Dem Land Tirol die Treue ...“ auch

in Südtirol erfuhr, es wurde an allen Stilrichtungen und Trends

vorbei regelrecht zum Disco-Hit. Die Südtiroler Schützen erlebten

zugleich einen unerwarteten Auftrieb gerade bei den jüngs-

294


ten Jahrgängen. Und teils an den Schützen vorbei, teils mit ihnen

verwoben, entstand auch eine kleine Südtiroler Skinheadszene, da

und dort mit Verstößen gegen Gesetz und Anstand, wenn es um

Fragen von Migration und Deutschtum ging. Aus dieser Szene herausgewachsen

ist die Südtiroler Deutschrockband „Frei.Wild“, mit

der erstmals nach den Kastelruther Spatzen eine Südtiroler Band

Erfolge in ganz Deutschland feierte. Bandgründer Philipp Burger

hatte sich früh – und doch nie restlos erfolgreich – von rechtsextremen

Skinheadversuchungen loszusagen versucht, seine Texte

sind Ausdruck von Rebellionslust und jugendlichem Zorn, der am

Deutschsein Südtirols Orientierung findet und im „Scheißen“ (Zitat)

auf die gesellschaftlichen Tabus ihre musikalischen Höhepunkte

setzt. Etikettierende Einordnungen werden dem Phänomen nicht

gerecht, „Frei.Wild“ ist ein Indiz dafür, dass mit rhetorischen Appellen

allein die Jugend schwer für ein sprachgruppenübergreifendes

Konsensprojekt zu gewinnen ist. Das Bedürfnis nach Neuem,

nach Tabubruch, nach Veränderung findet in den unbearbeiteten

Mythen der Vergangenheit ständig explosiven Stoff.

Das verleiht auch jenen Entwürfen für die Zukunft Südtirols

ständig neue Attraktivität, die schon vielfach als überholt abgehakt

wurden, mit dem Gedenkjahr 2009 haben sie wieder Auftrieb

erfahren: Im Traum vom „Freistaat“ versteckt sich die alte Illusion,

Fremdheit von draußen abwehren zu können und die Fremdheit

innerhalb des Landes unter Kontrolle zu halten. Vordergründig

geht es darum, mit dem Freistaat weg von Italien zu kommen, weg

von einem Staat, der Steuern frisst und nicht die eigene Sprache

spricht. Der Subtext aber lautet: In einem Freistaat Südtirol könnte

die Globalisierung, könnten die EU-Durchgriffe, könnte Migration,

könnte all das, was uns Angst macht und verunsichert, so gesteuert

werden, wie man es möchte. Dieser Freistaat Südtirol, der in der

EU wohl schwer zu verwirklichen sein wird, ist bei genauem Hinsehen

kein irdischer Entwurf, sondern eine paradiesische Utopie,

eine Erlösungsheimat. Sie wird umso leichter geträumt, je sicherer

ihre Nichtverwirklichbarkeit ist. Zugleich haben realpolitische

Mahnungen in Zeiten, in denen die EU keine gesicherte Größe

mehr ist, einen schweren Stand: denn wer weiß schon, was morgen

ist?

295


Als autarke Insel gedacht, ist Südtirol wohl nur bedingt lebensfähig.

Das ist gar nicht vorrangig eine Frage des Wirtschaftens,

sondern des Atmens: Für die innere Dialektik einer Gesellschaft,

für Austausch, Begegnung, Erfindung, Kreativität braucht es eine

größere kritische Masse. So erstaunlich es ist, wie viele Südtirolerinnen

und Südtiroler es in allen Bereichen – in Sport, Showbusiness,

Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft – auch außerhalb des Landes

zu Höchstleistungen und Spitzenpositionen bringen, so sehr liegt

darin auch eine Verführung zur Selbstüberschätzung: Mit solcher

Dichte und Spannung, von seinen Grenzen gestiftet, tanzt das Land

gewissermaßen permanent am Kraterrand zwischen generierender

Explosion und erstickender Implosion. Wer den Sprung aus

dem Land hinaus schafft, mag daraus Kraft ziehen, aber viele, die

daheim bleiben, atmen dünne Luft. Die knapp 500.000 Südtirolerinnen

und Südtiroler sind nicht nur wenige, sie sind auch in Parallelgesellschaften

geteilt; die Aufhebung der inneren Grenze ist

eine Möglichkeit, den Entfaltungsraum etwas zu erweitern, aber

dies wird so lange schwer fallen, solange das Land seine Identitäten

aus den anderen Grenzen bezieht – kulturelle Absicherung

gegen Süden, staatliche Abtrennung gegen Norden. Denn so lange

stehen sich das Eigene und das Fremde feindselig oder zumindest

geringschätzig, bestenfalls gleichgültig gegenüber.

Es wird, um auch nur in der Vorstellungskraft etwas bewegen

zu können, an jenen Grenzen gerüttelt werden müssen, die Südtirol

ausmachen. Das bedeutet ein gewisses Risiko, denn die Grenzen

bieten Schutz: zwischen den Parallelgesellschaften, die gelernt

haben, sich zu „arrangieren“, sie bieten den kulturellen Minderheiten

Schutz, die innerhalb des autonomen Raumes die Position

einer Mehrheit errungen haben, sie bieten der italienischen Bevölkerung

Schutz, die sich im Autonomiesystem Südtirols nicht auf

ihre staatliche Zugehörigkeit allein verlassen kann. Sie bieten auch

Schutz für eine Kultur der Mittelmäßigkeit, die sich in ihren engen

Grenzen grenzenlos überschätzen darf. Soll sich Südtirol öffnen,

seine Igelhaltung aufmachen, dann bedeutet dies, ein Wagnis einzugehen.

Wohl kaum einmal waren die Zeiten so auffordernd dazu,

zugleich aber war das Bewusstsein, wie schön man es hat, wenn

man so eingerollt ist, wohl nie so verführerisch: Draußen wütet die

296


Globalisierung, draußen lauert Konkurrenz, von draußen dringt

möglicherweise neue Entfremdung ein. Der zum Glück misslungene

Brandanschlag auf ein Heim lybischer Asylanten im Frühjahr

2012 war ein Alarmsignal.

Das Bedürfnis nach Schutz und Bewahrung des Status quo

in einer Welt, in der nichts mehr sicher und dauerhaft scheint,

zeigt sich auch im offiziellen Zukunftsprojekt einer Europaregion

Tirol. Was auch immer seit den 90er Jahren dafür unternommen

wurde, war letztlich halbherzig und auf Vermeidung ausgerichtet:

ein möglichst schwach besetztes gemeinsames Büro in Brüssel,

gemeinsame Landesausstellungen, die sich aus dem Weg zu gehen

begannen, kaum dass sie erprobt worden waren, die Dämonisierung

realer gemeinsamer Projekte, wie es die Holding zwischen Südtiroler

Sparkasse und Hypo Tirol gewesen wäre. Wer an die Brüche

zurückdenkt, die vor 100 Jahren das alte Tirol zerstört haben,

wird dieses Zurückweichen leichter verstehen. Oder umgekehrt

gedacht: Es wird schwer möglich sein, dass sich diese Teile einer

damals zerstörten Gemeinschaft wieder aufeinander zu bewegen,

wenn sie nicht ihre Bruchstellen ausheilen.

Um 1909 hat Tirol angefangen, sich kleiner zu denken, als es

damals war, die Unsicherheiten einer Zeit, die in den Weltkrieg

führten, mögen dem Land und seinen Verantwortlichen auch nicht

mehr viel Spielraum gegeben haben. 2009 hat Tirol sich wieder

seiner Geschichte besonnen, die Zeiten waren wieder unsicher

und die Rückzugswünsche lagen in der Luft. Die herben Verluste

für die Südtiroler Sammel- und Mehrheitspartei, das Aufwallen

patriotischer Gefühle in neuen Märschen gegen Denkmäler, die

Verdichtung des „Mir sein mir“ im erfolgreichen Wahlslogan „Einheimische

zuerst“, das Austoben von Provinzialität ausgerechnet

im neuen Museum für Moderne Kunst, mit dem Südtirol seine

Provinzialität zu sprengen gehofft hatte. Der Skandal zur Eröffnungsausstellung

um die Skulptur „Zuerst die Füße“ von Martin

Kippenberger holte ein Land im Höhenflug derb auf den Bretterboden

der Provinz zurück.

Öffnungen, Auflockerungen der mythenschweren Abwehrkultur

zeigten sich unverhofft im Gedenken an 1809, erstmals mit einer

nüchternen Unbeschwertheit und leichten Ironie zelebriert: „Wan-

297


ted Hofer“ als Titel für die Ausstellung im Ferdinandeum, „Der mit

dem Bart“ für jene auf Schloss Trauttmansdorff, eine gelungene

Dekonstruktion der Heldengeschichte am Sandhof, eine Ausstellung

biographischer Gegenentwürfe auf Schloss Tirol, die heitere

Auflösung der Heldentragik in einem Cartoon. Im Innsbrucker

Tirol Panorama wurde das Riesenrundgemälde mit den Schlachtenszenarien

von 1809 in einen weiter gefassten, geöffneten Kontext

gestellt. Die Landesausstellung „Labyrinth::Freiheit“ in der Festung

Franzensfeste hob – als Abschluss einer glücklos scheinenden

Trilogie Gesamttiroler Landesausstellungen – den Blick von

1809 auf die Ambivalenz von Freiheit in Geschichte und Gegenwart.

Auch beim Landesfestumzug in Innsbruck mit 26.000 Teilnehmerinnen

und Teilnehmern und rund 70.000 Zaungästen hielt

sich die angekündigte patriotische Mobilisierung in Grenzen.

Anstelle eines befürchteten politischen Scherbenhaufens gab

es ein frohes, von Musikkapellen und Schützen geprägtes Fest.

Mit Bundes präsident Heinz Fischer, Bundeskanzler Werner Faymann

und Vizekanzler Josef Pröll war die Ehrentribüne prominent

besetzt, die drei Landeshauptleute des „alten Tirol“ Lorenzo Dellai,

Luis Durnwalder und Günther Platter bekundeten ihre Bereitschaft

zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Der italienische

Bozner Bürgermeister Luigi Spagnolli nahm trotz Kritik

in den italienischen Medien am Landesfestumzug teil und beanspruchte

damit die Tiroler Zugehörigkeit und Geschichte auch für

die italienische Bevölkerung.

Nicht unmittelbar vergleichbar, aber doch in einem subtilen

Zusammenhang stehend, fand in Bozen im Frühjahr 2012 das

85. nationale Treffen der Alpini statt. Die Sorgen vor dem Aufmarsch

von 300.000 ehedem befeindeten Gebirgsjägern waren nicht nur

logistischer und verkehrstechnischer, sondern auch politischer Art

– schon Wochen vor dem mehrtägigen Großereignis war Bozen von

einem grünweißroten Fahnenmeer überzogen. Vom Südrand der

Stadt bis nah an die Altbozner Nobelviertel heran wurde die Stadt

binnen Stunden bis in die letzten Flecken, Parkplätze, Tankstellen,

ja Kreisverkehrsinseln mit Zelten und Feld küchen überzogen,

und während viele Bozner in ein langes Wochenende flüchteten,

bestimmten die Alpini mit ihren Militärhüten und Soldaten liedern

298


Ton und Bild einer unwirklichen Aufführung. Als sich die befürchtete

Belagerung schon am ersten Tag als „mobiles Oktoberfest“

(Hans Heiss) herausstellte und die friedliche Feierstimmung der

Alpini auf die daheimgebliebene Stadtbevölkerung übersprang,

schrieb „Dolomiten“-Chefredakteur Toni Ebner jun. in einem offenen

Brief an die Alpini: „Ihr habt mit eurem 85. Treffen in Bozen

einen großen Beitrag für Frieden und Versöhnung in diesem Land

geleistet. Ihr habt den Beweis geliefert, dass 94 Jahre nach dem

Ersten Weltkrieg keinerlei Feindschaft mehr besteht zwischen

Euch – als Nachkommen der Alpini an der Südfront auf der Seite

Italiens – und uns als Nachkommen der Kaiserjäger und Standschützen

auf der Seite der Habsburgermonarchie.“

Hundert Jahre Südtirol – kein sicheres Happy End, aber eine Aussicht

darauf.

299


Dank

Vielen ist zu danken, vor allem den vielen Menschen, die ich in

den drei Jahrzehnten meiner Befassung mit Südtirols Geschichte

und Gegenwart interviewen konnte, die mir Unterlagen und Vertrauen

gaben, mir bessere und vertiefte Einblicke und Sichtmöglichkeiten

gewährten – die Liste ist lang, die Betroffenen, soweit

noch lebend, wissen, dass sie gemeint sind, den Verstorbenen gelten

gute Gedanken; viele sind oder waren Protagonisten der hier

erzählten Geschichte(n), viele haben sie als Zeitzeugen, Betroffene,

Kundige erlebt, allen voran meine Eltern, denen ich das Interesse

für unsere Zeitgeschichte und Gegenwart ganz besonders

verdanke. Meiner Frau Astrid Kofler, mit der ich auch manches

Projekt gemeinsam durchgeführt habe, danke ich für Begleitung

und Anregung. Michael Forcher bin ich für die Zusammenarbeit

bei unserem schönen Band „Südtirol in Geschichte und Gegenwart“

dankbar, der die Grundlage für diese Arbeit legte. Verlagsleiter

Markus Hatzer und Programmleiter Georg Hasibeder danke

ich für die Offenheit gegenüber meinen Vorschlägen, Dorothea

Zanon für die Betreuung dieses Buches, dem Historiker Harald

Dunajtschik für das sorgfältige Lektorat, Kurt Höretzeder für die

Gestaltung des Titelbildes. Die Fotoauswahl verdankt sich zum

Teil meiner früheren Arbeit bei den Zeitschriften „ff“ und „süd tirol

profil“, der Sammlung von Michael Forcher, dem SVP-Archiv, dem

Landespresseamt Südtirol und ganz besonders den zeit historischen

Publikationen des Raetia-Verlages, für deren Verwendung ich

Verlagsgründer Gottfried Solderer und Programmleiter Thomas

Kager danke; ein herzliches Dankeschön geht an Hans Veneri, Franz

Berger, Arno Gisinger, Josef Rohrer, Bettina Ravanelli, Ludwig

Thalheimer und Othmar Seehauser; für das Titelfoto von der Verabschiedung

von Optantinnen und Optanten auf dem Bahnhofsplatz

von Brixen danke ich Hans Heiss für den wertvollen Hinweis,

der Apothekerfamilie Peer und besonders Oswald Peer und dem

Pharmaziemuseum Brixen für die Beschaffung und Zurverfügungstellung

der berührenden Aufnahme. Der Abteilung Deutsche Kultur

der Südtiroler Landesregierung mit Ressortdirektorin Karin

300


Dalla Torre und Landesrätin Sabina Kasslatter Mur danke ich für

die Förderung der Publikation, dem Südtiroler Kulturinstitut und

seinem Präsidenten Marjan Cescutti für die hilfreiche Zusammenarbeit

bei der Herausgabe dieses Buches.

301


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Innsbruck: Haymon 2010

Kreisky, Bruno: Im Strom der Politik. Erfahrungen eines Europäers.

Wien-Berlin: Siedler-Verlag 1988

Langer, Alexander: Aufsätze zu Südtirol – Scritti sul Sudtirolo 1978–1995.

Hg. von Siegfried Baur und Riccardo Dello Sbarba. Meran:

Alpha Beta 1996

Langer, Alexander: Vie di pace. Frieden schließen. Berichte aus Europa –

Rapporto dall’Europa. Trento: Arcobaleno Edizioni 1992

Larcher, Dietmar: Fremdgehen. Fallgeschichten zum Heimatbegriff.

Klagenfurt: Drava; Meran: Alpha Beta 2005

Lun, Margareth: Die NS-Herrschaft in Südtirol. Die Operationszone Alpenvorland

1943–1945. Innsbruck-Wien-Bozen: Studienverlag 2004

Luverà, Bruno: Oltre il confine. Euregio e conflitto etnico: tra regionalismo

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Marko, Josef /Ortino, Sergio/Palermo, Francesco (Hg.): L’Ordinamento Speciale

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Melandri, Francesca: Eva dorme. Roman. Mailand: Mondadori 2010

Melandri, Francesca: Eva schläft. Roman. München: Karl Blessing 2011

Melandri Francesca: „Wir haben nichts gewusst“. In: Peterlini HK 2011, 464–469

Mittich, Waltraud: Du bist immer auch das Gerede über dich. Annäherung an

einen Widerständler. Bozen: Raetia 2012

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Obermair, Hannes/Romeo, Carlo: Biographien – Vite di provincia. Geschichte und

Region/Storia e regione 1/2002. Innsbruck-Wien-München-Bozen/Bolzano:

Studienverlag 2002

Pallaver, Günther: Die ethnisch halbierte Wirklichkeit. Medien, Öffentlichkeit

und politische Legitimation in ethnisch fragmentierten Gesellschaften.

Theoretische Überlegungen und Fallbeispiele aus Südtirol. Innsbruck-Wien-

Bozen: Studienverlag 2006

Pardatscher, Thomas: Das Siegesdenkmal in Bozen. Entstehung – Symbolik –

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Passerini, Vincenzo: Euregio – Il ponte o il muro. Trento: Progetto Rete 1996

Passerini, Vincenzo: La Regione Trentino – Alto Adige/Südtirol: Un’Istituzione

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Peterlini, Hans Karl: Capire l’altro. Piccoli racconti per fare memoria sociale.

Mailand: FrancoAngeli 2012

Peterlini, Hans Karl: Feuernacht. Südtirols Bombenjahre. Hintergründe –

Schicksale – Bewertungen. Bozen: Raetia 2011

Peterlini, Hans Karl: Heimat zwischen Lebenswelt und Verteidigungspsychose.

Politische Identitätsbildung am Beispiel junger Südtiroler Schützen und

Marketenderinnen. Innsbruck: Studienverlag 2011

Peterlini, Hans Karl: Freiheitskämpfer auf der Couch. Psychoanalytische

Anschläge der Tiroler Freiheitskampfkultur von 1809 bis zum Südtirol-

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Peterlini, Hans Karl (Hg.): Universitas est. Essays zur Bildungsgeschichte

in Tirol/Südtirol vom Mittelalter bis zur Freien Universität Bozen. Bozen:

Raetia/University Press 2008

Peterlini, Hans Karl: Hans Dietl. Biografie eines Südtiroler Vordenkers und

Rebellen. Bozen: Raetia 2007

Peterlini, Hans Karl (Hg.): Silvius Magnago. Das Vermächtnis. Bekenntnisse einer

politischen Legende. Bozen: Raetia 2007

Peterlini, Hans Karl: Südtiroler Bombenjahre. Von Blut und Tränen zum Happy

End? Bozen: Raetia 2005

Peterlini, Hans Karl: Wir Kinder der Südtirol-Autonomie. Ein Land

zwischen ethnischer Verwirrung und verordnetem Aufbruch.

Wien-Bozen: Folio 2003

Peterlini, Hans Karl: Bomben aus zweiter Hand. Südtirols missbrauchter

Terrorismus. Bozen: Raetia 1992

Peterlini, Oskar: L’autonomia che cambia, Gli effetti della riforma costituzionale

del 2001 sull’autonomia speciale del Trentino Alto Adige Südtirol e le

nuove competenze in base alla clausola di maggior favore. Bozen: Praxis 3

Bolzano 2010

Peterlini, Oskar: Autonomy and the Protection of Ethnic Minorities in Trentino-

South Tyrol. Wien: Braumüller 1997

Peterlini, Oskar: Autonomie und Minderheitenschutz in Trentino-Südtirol.

Überblick über Geschichte, Recht und Politik. Trient: Autonome Region

Trentino-Südtirol 1996

Peterlini, Oskar: Der ethnische Proporz in Südtirol. Bozen: Athesia 1980

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Pizzinini, Meinrad (Hg.): Zeitgeschichte Tirols. Innsbruck-Wien: Tyrolia;

Bozen: Athesia 1990

Plaikner, Peter: Luis Durnwalder. Der Südtiroler und der Europäer.

Wien: Styria 2011

Raffeiner, Josef: Tagebücher 1945–1948, hg. von Wolfgang Raffeiner.

Bozen: Edition Sturzflüge 1998

Romeo, Carlo: Alto Adige / Südtirol. XX Secolo. Cent’anni e più in parole

e immagini. Bozen: Raetia 2003

Sauer, Benedikt/Sprenger, Michael: Dreierwatter. Banken, Macht und Politik rund

um die Brennerachse. Innsbruck-Wien-München-Bozen: Studienverlag 2003

Seberich, Rainer: Südtiroler Schulgeschichte: Mutterspachlicher Unterricht unter

fremdem Gesetz. Bozen: Raetia 2000

Scrinzi, Otto (Hg.): Chronik Südtirol 1959–1969. Von der Kolonie Alto Adige zur

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Senn, Hubert (Hg.): Tirol 1809–1984. Innsbruck-Wien: Tyrolia;

Bozen: Athesia 1985

Solderer, Gottfried: Das 20. Jahrhundert in Südtirol. 5 Bände.

Bozen: Raetia 1999–2003

Sotriffer, Kristian: Auf der Suche nach Tirol. In: Brandstätter 1980

Sporer-Heis, Claudia (Hg.): Tirol in seinen alten Grenzen. Festschrift für

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Stadlmayer, Viktoria: Kein Kleingeld im Länderschacher. Südtirol, Triest und

Alcide Degasperi 1945/1946. Schlern-Schriften 320. Innsbruck: Wagner 2002

Steinacher, Gerald: Nazis auf der Flucht. Wie Kriegsverbrecher über Italien nach

Übersee entkamen. 1946–1955. Innsbruck: Studienverlag 2008

Steinacher, Gerald (Hg.): Im Schatten der Geheimdienste. Südtirol 1918 bis zur

Gegenwart. Innsbruck: Studienverlag 2003, 187–228

Steininger, Rolf: Südtirol. Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart. 2. Auflage.

Innsbruck-Wien-Bozen: Studienverlag 2003

Steininger, Rolf: Südtirol zwischen Diplomatie und Terror 1947–1969.

Darstellung in drei Bänden. Bozen: Athesia 1999

Steininger, Rolf: Südtirol im 20. Jahrhundert. Vom Leben und Überleben einer

Minderheit. 2 Bände. Innsbruck-Wien-Bozen: Studienverlag 1997–1999

Steurer, Leopold/Verdorfer, Martha/Pichler, Walter: Verfolgt, verfemt,

vergessen. Lebensgeschichtliche Erinnerungen an den Widerstand gegen

den Nationalsozialismus und Krieg. Südtirol 1943–1945. 2. Auflage.

Bozen: Sturzflüge; Innsbruck-Wien: Studienverlag 1997

Taibon, Mateo (Hg.): I Ladins dles Dolomites. Die Dolomitenladiner.

Bozen: Gesellschaft für bedrohte Völker 2005

Thaler, Franz: Unvergessen. Option, KZ, Kriegsgefangenschaft, Heimkehr.

Ein Sarner erzählt. Raetia, Bozen 1999

Thöni, Arthur: Chancen und Grenzen der Zusammenarbeit der Tiroler Landesteile.

In: Ebner 2006

Trompedeller, Annuska: Karl Tinzl (1888–1964). Eine politische Biografie.

Innsbruck: Studienverlag 2007

Tumler, Franz: Aber geschrieben gilt es. Ein Lesebuch. Hg. von Ferruccio

Delle Cave, Georg Engl, Elmar Locher. Bozen: Raetia 1992

Tumler, Franz: Das Land Südtirol. München-Zürich: Piper 1984

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Tumler, Franz: Aufschreibung aus Trient. Roman. Frankfurt am Main:

Fischer Taschenbuch 1982

Villgrater, Maria: Katakombenschule – Faschismus und Schule in Südtirol.

Bozen: Athesia 1984

Volgger, Friedl: Mit Südtirol am Scheideweg. Erlebte Geschichte.

Innsbruck: Haymon 1997

Von der Decken, Godele (Hg.): Teilung Tirols – Gefahr für die Demokratie? Beiheft

zu Sturzflüge 23/1988. Bozen: Sturzflüge; Wien-Innsbruck: Gesellschaft für

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Watschinger, Franz: Bomben und Justiz. Der erste Grazer Südtirol-Prozess

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Studienverlag 2003

Weingartner, Wendelin (Hrsg.): Nachdenken über Tirol. Innsbruck-Wien:

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Widmann, Franz: Es stand nicht gut um Südtirol. 1945–1972: Von der Resignation

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Bozen: Raetia 1998

Zelger, Anton: Ja zur Zweisprachigkeit – Nein zur Mischkultur in Südtirol.

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Bildnachweis

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Roma 1961: S. 51

Agostini, Piero/Romeo, Carlo: Trentino e Alto Adige. Province del Reich. Trient:

Editrice TEMI 2002: S. 99

Amt für Naturparke, Bozen: S. 214

Archäologiemuseum Bozen: S. 279

Archiv Arunda, Schlanders: S. 71

Archiv der „Arbeiter-Zeitung“, Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung,

Wien: S. 190

Archiv der Alexander-Langer-Stiftung, Bozen: S. 239

Archiv Elmar Thaler, Montan: S. 50,

Archiv Firma Durst: S. 35 rechts

Archiv Firma Zuegg: S. 35 links

Archiv Haymon Verlag: S. 26 links, 40, 57 oben, 60, 68, 77, 81 oben links und unten

rechts, 87 oben, 92 oben, 95 links, 102 unten, 161, 231, 236 oben

Archiv Haymon Verlag (Foto: Hannelore Bachheimer): S. 222 rechts

Archiv Helmut Golowitsch, Puchenau (Akt Kreisgericht Wels 10 VR II79/63):

S. 193

Archiv Hotel „Elephant“, Brixen (Foto: Wolfgang Heiss, 1884–1955): S. 90

Archiv Raetia, Bozen: S. 11, 138 rechts, 175 rechts, 180 oben

Archiv Raetia, Bozen/Nachlass Claus Gatterer: S. 87 unten

Arno Gisinger: S. 292

„Bunte Illustrierte“, Archiv Hans Stieler: S. 286

„Bunte Illustrierte“, Offenburg: S. 24

E. Casagrande, Baumgartner/Mayr/Mumelter: Feuernacht. Bozen: Raetia 1992:

S. 206

Enrico Pedrotti, Bozen (p.pr. Luca Pedrotti): S. 198

Ferdinandeum, Innsbruck: S. 10, 12, 14, 84

S.A. Knoll, Innsbruck/Bozen (Fotograf ), Fotoarchiv des Städtischen Museums

Bozen: S. 9

Franz Berger, Bozen (Sammlung Peterlini): S. 168, 175 links, 178, 180 unten links,

186 unten

Gemeinde Niederdorf: S. 107 oben

Gerd Staffler, Bozen: S. 34

Institut für Zeitgeschichte, Innsbruck: S. 102 oben

Institut Ladin, St. Martin de Tor: S. 128

La rivista della Venezia Tridentina, 17 (1935), Nr. 10–11: S. 53 rechts

Landespresseamt Bozen: S. 261 rechts

Museo Storico in Trento: S. 44, 137

Nachlass Friedl Volgger: S. 81 oben rechts und unten links, 95 rechts, 111, 217 links

Nachlass Hans Dietl, Bozen: S. 217 rechts

Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv Austria, Wien: S. 173

Österreichisches Institut für Zeitgeschichte: S. 57 unten

Othmar Seehauser: S. 289

Posch, Benedikt: Tirol 1959. Innsbruck: Tyrolia 1960: S. 171, 174

308


Privatbesitz: S. 52

Raiffeisenkasse Obervinschgau, Graun im Vinschgau 1983: S. 148

Sammlung Annemarie Mumelter, Bozen: S. 41

Sammlung Ellmenreich, Meran: S. 17

Sammlung Forcher, Innsbruck: S. 18, 21, 116, 119, 227 rechts, 244

Sammlung Franz Oberkofler, Bozen/Brixen: S. 74

Sammlung Gaetano Sessa, Bozen: S. 53 links

Sammlung Hans Veneri, Bozen: S. 180 unten rechts

Sammlung Josef Gelmi, Brixen: S. 164

Sammlung Karl Gruber, Innsbruck: S. 129

Sammlung Karlheinz Ausserhofer, Bruneck: S. 230

Sammlung Lothar von Sternbach, Bruneck: S. 63

Sammlung Paul Gruber, Vintl: S. 107 unten

Sammlung Peter Brugger, Bozen: S. 151 unten

Sammlung Peterlini, Bozen: S. 227 links, 261 links

Solderer, Gottfried: Das 20. Jahrhundert in Südtirol. Bozen: Raetia 2000, Bd. 1,

S. 260: S. 11

Stadtarchiv Bozen: S. 56

Stadtmuseum Meran: S. 23, 26 rechts, 27, 47

„südtirol profil“ Nr. 9/1996, S. 17 (Foto Ludwig Thalheimer): S. 252

„südtirol profil“ Nr. 17/1996 (Foto Ludwig Thalheimer): S. 249 rechts

„südtirol profil“ Nr. 18/1996 (Foto Ludwig Thalheimer): S. 249 links

309


Hans Karl Peterlini

© Foto: Astrid Kofler


Zum Autor

Hans Karl Peterlini, geboren 1961 in Bozen/Südtirol. Kulturwissenschaftler,

Journalist und Autor zahlreicher Bücher

und Essays zur Südtiroler Zeitgeschichte und Gegenwart.

Bei Haymon u.a.: Tirol. Notizen einer Reise durch die Landeseinheit

(2008), Südtirol in Geschichte und Gegenwart

(zus. mit Michael Forcher, 2010) und Bauernleben in Südtirol.

12 Porträts (zus. mit Astrid Kofler, 2011).


Herausgegeben in Zusammenarbeit mit dem

Südtiroler Kulturinstitut.

© 2012

HAYMON verlag

Innsbruck-Wien

www.haymonverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in

irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem

anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages

reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7099-7585-5

Umschlag- und Buchgestaltung, Satz:

hœretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol

Umschlagbilder: Sammlung Forcher, Innsbruck (oben links);

Archiv Tyrolia, Innsbruck (oben Mitte); commons.wikimedia.org /

TH.Korr (oben rechts); Abschied von Optantinnen und Optanten

auf dem Bahnhofsplatz in Brixen, Foto von Ignaz Peer (1910–2001),

Archiv Oswald Peer/Pharmaziemuseum Brixen (großes Bild)

Trotz intensiver Bemühungen konnten nicht alle InhaberInnen von

Bildrechten ausfindig gemacht werden. Für entsprechende Hinweise

ist der Autor dankbar.

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Ein vollständiger, kompakter und leicht verständlicher Überblick über die jüngste

Geschichte Südtirols: Fundiert und klar beschreibt Südtirol-Experte Rolf Steininger

die wichtigsten Ereignisse; etwa die Abtrennung von Österreich, die „Option“

und die „Feuernacht“. Heute scheinen die Terrorakte von 1961 bereits lange her

zu sein und die Autonomie Südtirols hat Modellcharakter. Dass trotzdem nicht

alle Probleme überwunden sind, zeigt ein aktueller Ausblick.

„wissenschaftlich knapp und dennoch überaus ansprechend“

Der Tagesspiegel

Rolf Steininger

Südtirol

Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart

ISBN 978-3-7099-7417-9

€ 7.99

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Ein Mann macht mit seiner Freundin eine Reise nach Italien. Kurz vor Trient hat

er einen Unfall, der ihn zwingt, in der Stadt zu bleiben. Unversehens begegnet

er dort seiner eigenen Vergangenheit und jener der Deutschen und Italiener,

die sich so lange um das Land Südtirol gestritten haben. Auf den Spuren seines

Vaters kommt er hinter das Geheimnis der Menschen, die dort leben. Schritt für

Schritt fügt sich so ein Bild gemeinsamen Schicksals zusammen, ein Bild der

Landschaft, ihrer eingesessenen und zugewanderten Bewohner, für die es nur

die Möglichkeit gibt, zusammenzuleben.

Auch Jahrzehnte nach Erscheinen hat Franz Tumlers Aufschreibung aus

Trient nichts an Aktualität verloren. Sanft offenbart sein Blick, was den beiden

Sprachgruppen gemeinsam ist und was sie trennt. Und damals wie heute fasziniert

Tumlers Schreiben – so still und zurückgenommen, und dabei von einer Klarheit,

die man nur mehr selten findet.

„Vielleicht ist der deutschen Dichtung hier ein Durchbruch gelungen, und zwar in die

Zeit hinein, statt aus ihr heraus.“

Süddeutsche Zeitung, Curt Hohoff

Franz Tumler

Aufschreibung aus Trient

Roman

ISBN 978-3-7099-7534-3

€ 9.99

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Ein Leben lang waren sie beste Freunde, haben nächtelang diskutiert und gelacht,

gegessen und getrunken. Doch als Konrad stirbt und sein Freund dessen leere

Wohnung in Rom betritt, wird ihm nach und nach bewusst, wie fremd und

undurchdringlich ihm Konrad über all die Jahre hinweg geblieben ist, wie streng

er die Geheimnisse seines Lebens gehütet hat.

In der zweiten Erzählung dieses Bandes schildert Joseph Zoderer die Beziehung

zweier Brüder: Nach einem Leben auf Distanz kommen sie sich im Alter

wieder näher, suchen die Vergangenheit nach geteilten Erinnerungen ab und

spüren dem nach, was sie voneinander trennt.

In beiden Geschichten erweist sich Zoderer als ein begnadeter Erzähler,

der wie kaum ein anderer den Zauber des Unscheinbaren erwecken kann. Sensibel

und mit feinem Strich zeichnet er in diesem Buch die Porträts von vier Männern

und erzählt vom reifen Blick des Alters, von Vertrautheit und Distanz, und von

der Kraft der Freundschaft.

„In wenigen Strichen bringt Zoderer Figuren zum Atmen.“

NZZ, Beatrice von Matt

Joseph Zoderer

Mein Bruder schiebt sein Ende auf

Zwei Erzählungen

ISBN 978-3-7099-7402-5

€ 9.99

Diese Erzählungen erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger

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