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10 Detlev Claussen<br />
Die Lehre lebt von der Autorität des gesprochenen Wortes; der<br />
Lehrer jedoch bedarf des Kredits seiner Zuhörerschaft. Man kann<br />
noch so viele pädagogische und technische Hilfsmittel benutzen, der<br />
akademische Lehrer muß sich der Tradition bewußt werden, in der er<br />
steht. Das gesprochene Wort, das seine Autorität aus der Kontinuität<br />
der Lehre schöpft, muß den Vergleich mit der schriftlichen Überlieferung<br />
aushalten. Der Lehrer soll diesen Vergleich immer von neuem<br />
suchen; denn es gibt keine bessere Möglichkeit, das Neue im Alten<br />
hervorzubringen als die Konfrontation der alten Texte mit der Erfahrung.<br />
Lebendige Lehre sucht das Neue in der veränderten gesellschaftlichen<br />
Konstellation von Tradition und Moderne. Beide Kategorien –<br />
Tradition und Moderne – sind Kategorien der Gegenwart, Kategorien,<br />
die nicht ein für allemal feststehen, sondern sich verändern.<br />
Soziologie verstand sich von ihrem Beginn an als Erfahrungswissenschaft<br />
von der Gegenwart – auf diese Weise hat sie die Durchsetzung<br />
gesellschaftlicher Moderne gegenüber der Tradition gefaßt. Seit<br />
dem 18. Jahrhundert hat Aufklärung sich mit dem Begriff des Neuen<br />
verknüpft, das von der heraufkommenden bürgerlichen Gesellschaft<br />
getragen war. Aber dieses Neue enthielt ein katastrophisches Potential<br />
der Vernichtung, das exemplarisch Baudelaire, Poe und Heine schon<br />
früh artikulierten. Marx’ geradezu voluntaristisches Hoffen auf eine<br />
soziale Revolution, die endlich die Vorherrschaft des Unbewußten in<br />
der Geschichte brechen sollte, wurde durch seine bürgerliche Vorahnung<br />
eines drohenden Untergangs in der Barbarei diktiert. Mit dem<br />
verschwundenen Bild der bürgerlichen Gesellschaft ist in Vergessenheit<br />
geraten, daß der Sozialismus als Vorstellung einer anderen Welt<br />
intellektuell aus der Selbstkritik des Bürgertums hervorgegangen ist.<br />
Hegel und Marx haben eine in sich widersprüchliche bürgerliche Gesellschaft<br />
in ihrer Totalität fassen wollen, deren Zerbrechen im Fin de<br />
siècle, als beide schon zu den Alten rechneten, immer mehr zur Gewißheit<br />
wurde.<br />
Die künstlerische Moderne attackierte seit der Jahrhundertwende<br />
die Flucht vor den Folgen der gesellschaftlichen Modernisierung in<br />
den Traditionalismus. Historismus und Neugotik stehen heute als<br />
steinerne architektonische Zeugen neben den realisierten Baukonzepten<br />
einer kompromißlosen Moderne. Kritische Theorie, wie sie 1937<br />
von Max Horkheimer programmatisch gegen die traditionelle formuliert<br />
wurde, artikuliert sich wie die künstlerische Moderne als offene,