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46 Christoph Türcke<br />
Die kritische Theorie, deren Umrisse sich dabei abzuzeichnen begannen<br />
und deren spiritus rector Horkheimer in den dreißiger Jahren<br />
einen programmatischen Aufsatz nach dem andern zu Projekten<br />
schrieb, die nie realisiert wurden, war als Krisentheorie zugleich Katastrophentheorie.<br />
Sie faßte das Umschlagen von Produktivkräften in<br />
Destruktivkräfte im Zuge des Weltkriegs und der niedergeschlagenen<br />
deutschen Revolution als einen Anfang auf: als das Paradigma des 20.<br />
Jahrhunderts und dessen Entkräftung als die Menschheitsaufgabe.<br />
Ermutigend war das Paradigma nicht, aber es machte hellsichtig. Zum<br />
einen half es die eigene Haut retten. Alles war vorbereitet, um nach<br />
der Machtübernahme der Nazis sogleich Deutschland zu verlassen<br />
und die Institutsarbeit im Exil fortzusetzen. Zum andern half es alle Illusionen<br />
über die Vorgänge in der Sowjetunion zu verhindern. Obwohl<br />
die Nachrichtenlage unsicher war, obwohl es durchaus auch<br />
westliche Hetzpropaganda hätte sein können, was über die stalinistischen<br />
Schauprozesse durchdrang – Horkheimer und seine engsten<br />
Mitarbeiter sahen hier vorab in gigantisch vergrößerter Form das gleiche<br />
Paradigma am Werk wie im Mord an Luxemburg und Liebknecht.<br />
Was hier die Sozialdemokratie getan hatte, besorgten dort – unter umgekehrten<br />
Vorzeichen – die Bolschewiki. Die gesamten widrigen Umstände,<br />
unter denen die russische Revolution von Anfang an stattfand,<br />
der Boykott von außen, die Sabotage von innen – sie reichen nicht<br />
entfernt aus, um zu erklären, was daraus wurde. Damit die Sowjetunion<br />
schließlich auf die spiegelverkehrte Version jenes autoritären<br />
Staats hinauslief, dessen Prototyp der Faschismus darstellte, bedurfte<br />
es einer systematischen Zerstörung kritischer Kräfte durch die Vorreiter<br />
der Revolution. Natürlich geschah das unter unerhörtem Druck,<br />
wie auch die deutsche Sozialdemokratie nicht aus Spaß, sondern unter<br />
dem Druck des zusammenbrechenden Kaiserreichs handelte, als sie<br />
die Revolution niederschlug. Daß diesem Druck nicht nur nicht standgehalten<br />
worden war, daß er sich vielmehr in seinen erklärten Gegnern<br />
exzeßhaft »nach rückwärts« entlud – das galt es zu begreifen.<br />
Die kritische Theorie war von Anfang an auf größere Katastrophen<br />
als den 1. Weltkrieg vorbereitet und der Versuch, über ihrer vollen, illusionslosen<br />
Kenntnisnahme nicht den Kopf zu verlieren. Einiges sah<br />
sie so voraus. Selbst der anfangs politisch eher arglose Adorno<br />
schreibt im Februar 1938 aus London an Horkheimer in New York:<br />
»Schon jetzt ist so viel an Text da [sc. vom Wagner-Buch], daß, wenn