09.01.2013 Aufrufe

Stuttgart bekommt ein neues Wahrzeichen - Literaturmachen

Stuttgart bekommt ein neues Wahrzeichen - Literaturmachen

Stuttgart bekommt ein neues Wahrzeichen - Literaturmachen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Seite 12 Bulletin N– o 01 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus <strong>Stuttgart</strong> und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium <strong>Stuttgart</strong> – Schuljahr 2006/2007 Bulletin N– o 01 – Zeitung für Reportagen – Literaturhaus <strong>Stuttgart</strong> und Eberhard-Ludwigs-Gymnasium <strong>Stuttgart</strong> – Schuljahr 2006/2007 Seite 13<br />

Blind zu s<strong>ein</strong>… was bedeutet das für <strong>ein</strong>en<br />

Menschen? Ein schlechtes Leben nur mit<br />

Einschränkungen und viel Hilfe? Abhängig<br />

s<strong>ein</strong> von Blindenhunden oder anderen Menschen?<br />

Das stimmt nicht ganz, denn seit 1856<br />

gibt es <strong>ein</strong>e soziale Einrichtung für Sehbehinderte<br />

Menschen. Sie nennt sich „Nikolauspflege“.<br />

Gegründet wurde sie von Gottlieb<br />

Friedrich Wagner, der jedoch von allen nur<br />

„Lehrer Wagner“ genannt wurde. Wagner war<br />

zuvor Lehrer an <strong>ein</strong>er Mädchenschule. Dann<br />

fragten ihn <strong>ein</strong>ige Eltern von blinden Menschen,<br />

ob er ihre Kinder nicht unterrichten<br />

könne. Er stimmte zu, und damit war bereits<br />

1827 der Grundst<strong>ein</strong> für die erste Blinden-<br />

Schule gelegt.<br />

Früher dachte man, Blinde wären <strong>ein</strong>fach<br />

nicht fähig, irgendetwas zu tun, doch Lehrer<br />

Wagner unterrichtete sie, und so konnte<br />

den Blinden geholfen werden. Geleitet wird<br />

die Nikolauspflege heute von Dieter Feser.<br />

Wenn man <strong>ein</strong> Kind anmelden möchte, kann<br />

man sich mit Mitarbeitern der Sonderpädagogischen<br />

Beratungsstelle über die besten Möglichkeiten<br />

unterhalten. Soll das Kind lieber in<br />

<strong>ein</strong>e normale Schule oder in <strong>ein</strong>e Schule für<br />

Sehbehinderte? Soll das Kind in <strong>ein</strong> Internat<br />

oder zu Hause wohnen bleiben?<br />

Es gibt viele Möglichkeiten, und alles wird<br />

mehrfach in Betracht gezogen. Es gibt nicht<br />

Leonie von Hülsen<br />

<strong>ein</strong> ganz normales Leben,<br />

aber in Dunkelheit<br />

Die <strong>Stuttgart</strong>er Nikolauspflege hilft blinden Menschen,<br />

ihr Leben in allen Situationen zu meistern.<br />

Beim Lesen sind die meisten Schüler der<br />

Nikolauspflege-Einrichtungen auf ihre Finger<br />

angewiesen – die speziellen Texte und Bücher<br />

sind in Braille-Schrift geschrieben, <strong>ein</strong>er<br />

Blindenschrift aus fühlbaren Punktmustern.<br />

<strong>ein</strong>mal <strong>ein</strong>e Entscheidung, die nicht mehr<br />

rückgängig gemacht werden kann. Bis zur<br />

endgültigen Entscheidung dauert es lange,<br />

denn alles wird wieder und wieder überlegt.<br />

Mittlerweile können Blinde, die den Weg der<br />

Nikolauspflege gehen, auch viele Berufe erlernen.<br />

In der Nikolauspflege bekommen viele blinde<br />

Menschen <strong>ein</strong>e Chance auf <strong>ein</strong> besseres Leben.<br />

Insgesamt kümmert sich die Nikolauspflege<br />

in ganz Deutschland um zirka 1800 Blinde<br />

und Sehbehinderte, davon zwischen 800 und<br />

820 Schüler. Kinder können eigentlich schon<br />

direkt nach der Geburt von der Beratungs-<br />

stelle betreut werden, doch viele Eltern bringen<br />

ihre Kinder erst, wenn sie das Kinder-<br />

gartenalter erreicht haben.<br />

Die ganze Einrichtung wird von verschiedenen<br />

öffentlichen Leistungsträgern finanziert.<br />

Doch das Geld, welches ihnen zugute<br />

kommt, wird immer weniger; der Staat, der<br />

die Schulbildung finanziert, zahlt immer<br />

weniger Geld für Schulfächer wie „Lebens-<br />

praktische Fähigkeiten“, kurz LPF. In diesem<br />

Fach lernen Blinde beispielsweise den Kleiderschrank<br />

<strong>ein</strong>sortieren, „sodass sie nicht<br />

aussehen wie <strong>ein</strong> Papagei.“ So drückt es<br />

Stefanie Krug aus, die Pressesprecherin der<br />

Nikolauspflege. Außerdem lernt man in LPF<br />

das Einschenken von Getränken, sodass man<br />

Im LPF-Unterricht lernen blinde Menschen,<br />

wie man den Haushalt organisiert:<br />

Wie man richtig isst, den Kleiderschrank<br />

<strong>ein</strong>räumt oder s<strong>ein</strong>e Kleidung bügelt.<br />

nicht alles verschüttet, oder Techniken zum<br />

richtigen Essen. Außerdem gibt es als Unterrichtsfach<br />

auch Orientierungs- und Mobilitätstraining.<br />

In <strong>ein</strong>er Schulklasse sind zwischen sechs<br />

und acht Schüler. Die Lehrer sind teilweise<br />

selbst blind. Die Schule dauert genauso lange<br />

wie <strong>ein</strong>e normale Schule. Auch die Schulzeit<br />

ist gleich: um 8 Uhr beginnt die Schule,<br />

und dann haben die blinden Schüler auch ca.<br />

6 Stunden Unterricht. Der <strong>ein</strong>zige Unterschied<br />

ist, dass die Grundschule 5 Jahre lang geht;<br />

also <strong>ein</strong> Jahr länger als an regulären Schulen.<br />

Der Schulabschluss ist aber der Gleiche.<br />

Es gibt <strong>ein</strong>e Ausnahme: im Haus am Dornbuschweg,<br />

<strong>ein</strong>er Schule für mehrfach Behinderte,<br />

gibt es <strong>ein</strong>en anderen Abschluss. Dort<br />

wird nach dem Bildungsgang für Geistig-<br />

behinderte unterrichtet, das heißt der Lerndruck<br />

und die Erwartungen sind nicht so<br />

hoch.<br />

Weil immer weniger Geld in die Kassen der<br />

Nikolauspflege fließt, und auch die Klienten<br />

nichts zahlen müssen, ist die Nikolaus-<br />

pflege immer mehr auf Spenden angewiesen.<br />

Die Schüler haben deshalb vor <strong>ein</strong>iger Zeit<br />

<strong>ein</strong> Projekt gestartet: „Schwarzmarkt“ nennt<br />

es sich, und darin üben sich Schüler und<br />

Schülerinnen der Nikolauspflege in praktischer<br />

Arbeit.<br />

Schwarzmarkt… dabei denkt man erst mal<br />

an illegale Geschäfte; das ist es aber auf k<strong>ein</strong>en<br />

Fall! Der Schwarzmarkt am Kräherwald<br />

ist <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>er „Tante-Emma-Laden“, in dem<br />

man Lebensmittel und Getränke aus fairem<br />

Handel kaufen kann. Ungefähr <strong>ein</strong> Drittel aller<br />

Schüler der allgem<strong>ein</strong> bildenden Schulen lebt<br />

in Internaten/Heimen der Nikolauspflege. In<br />

den beruflichen Schulen sind es sogar über<br />

90 Prozent. Solche Schüler oder Auszubildende<br />

leben in familiären Wohngem<strong>ein</strong>schaften.<br />

Fortsetzung auf Seite 13<br />

Mitarbeiter der Nikolauspflege helfen blinden<br />

Menschen, sich in der Stadt selbstständig zu<br />

bewegen und zurechtzufinden.<br />

(Fotos: Fotoarchiv Nikolauspflege)<br />

Fortsetzung von Seite 12<br />

Dort herrscht <strong>ein</strong> relativ geregelter Tages-<br />

ablauf: es wird zusammen gegessen und dann<br />

kommt, je nach Schulweg, <strong>ein</strong> Fahrdienst,<br />

oder sie gehen zu Fuß zur Schule. Nach der<br />

Schule gibt es <strong>ein</strong>e so genannte Kernzeit, danach<br />

gibt es <strong>ein</strong>e Spiel- und Hausaufgaben-<br />

betreuung.<br />

Die Nikolauspflege ist außerdem <strong>ein</strong>e öffentliche<br />

Zivildienststelle. Es gibt auch <strong>ein</strong>ige<br />

Schüler, die ihr Sozialpraktikum in der Nikolauspflege<br />

machen. Niemand weiß, wie man<br />

Strichpunkt? Was soll denn das s<strong>ein</strong>? Ein<br />

Satzzeichen? Ja schon… Die Grundformen der<br />

Kalligraphie, <strong>ein</strong> Strich, <strong>ein</strong> Punkt bzw. Kreis.<br />

Was hat der Strichpunkt noch für Tücken?<br />

Er verbindet zwei ganze Teile und lässt sich<br />

schwer irgendwo hin setzen. Dies erzählt<br />

Jochen Rädeker, geboren 1967 in Hannover.<br />

Rädeker gründete nach s<strong>ein</strong>em Grafik- und<br />

Design-Studium zusammen mit Kirsten Dietz,<br />

die ebenfalls Grafik und Design studiert hat,<br />

die Grafikfirma „Strichpunkt“.<br />

Ihr Büro ist im <strong>Stuttgart</strong>er Osten, in <strong>ein</strong>em<br />

älteren Hinterhaus, das von außen mehr wie<br />

<strong>ein</strong> Wohnhaus aussieht. Im Eingangsbereich<br />

ist der Platz der Sekretärin. An der Wand<br />

hängt <strong>ein</strong>e eiserne Platte, auf der steht: „Die<br />

Zukunft gehört den Mutigen.“<br />

Im Erdgeschoss ist außer <strong>ein</strong> paar Arbeitsplätzen<br />

noch <strong>ein</strong>e Art Versammlungsraum, der mit<br />

vielerlei praktischen Sachen ausgestattet ist,<br />

wie <strong>ein</strong>em Beamer und Licht, das man in der<br />

Helligkeit regulieren kann, damit man zum<br />

Beispiel sieht, wie die Farben bei Tageslicht<br />

aussehen. Im Keller ist die Küche, in der <strong>ein</strong>e<br />

Köchin das Essen zubereitet, in der aber jeder<br />

auch selbst kochen kann. Dort steht auch,<br />

laut Jochen Rädeker, die „wichtigste Maschine<br />

im Haus: die Kaffeemaschine“.<br />

Das Treppenhaus in den ersten Stock ist geschmückt<br />

mit <strong>ein</strong> paar der über 200 Preise und<br />

Urkunden. Die Preise sind mit die wichtigste<br />

Werbung für die Firma. Doch ohne Fleiß k<strong>ein</strong><br />

Preis. So wurde gleich bei der Gründung festgelegt:<br />

„Wir wollen innerhalb von drei Jahren<br />

zu den zehn besten Grafikbüros Deutschlands<br />

gehören“, erzählt Rädeker. „Und das haben<br />

wir auch geschafft.“ Inzwischen zählt sich<br />

Strichpunkt auch international zu den besten<br />

Büros. Doch der Wettbewerb ist hart. Firmen<br />

wie L2M3, Design hoch 3, BBDO gehören zu<br />

den wichtigsten Konkurrenten.<br />

sich wirklich als blinder Mensch fühlt, wenn<br />

man es nicht selbst ist. Bei so <strong>ein</strong>em Prak-<br />

tikum lernt man die Blinden etwas näher<br />

kennen.<br />

Eine andere Möglichkeit, sich ins Blindenleben<br />

hin<strong>ein</strong>zuversetzen, ist, dass man sich<br />

am Sommerfest der Nikolauspflege in <strong>ein</strong>e so<br />

genannte „Dunkelbar“ setzt oder nach Esslingen<br />

ins Dunkelrestaurant geht.<br />

In beiden Fällen handelt es sich um komplett<br />

abgedunkelte Räume, in die man von blinden<br />

Kellnern und Kellnerinnen geführt wird. Man<br />

Ute Dreyer<br />

Die erfindung des unabhängigkeitskalenders<br />

Ein Besuch in der Grafikfirma „Strichpunkt“<br />

Für „Strichpunkt“ arbeitet <strong>ein</strong> Team von 27<br />

fest angestellten Designern, Textern und Betriebswirten,<br />

die je nach Themengebiet zusammen<br />

arbeiten. Nur wenige von ihnen haben<br />

<strong>ein</strong>en ausländischen Pass, weil von den<br />

Mitarbeitern <strong>ein</strong> perfektes Deutsch verlangt<br />

wird. Obwohl es so viele Mitarbeiter gibt, wird<br />

es im Januar und Februar besonders stressig,<br />

weil dann große Firmen wie DaimlerChrysler<br />

ihren Jahresfinanzbericht von Strichpunkt<br />

erstellen lassen. Außerdem müssen auch<br />

noch Vertragskunden, wie das Staatstheater<br />

<strong>Stuttgart</strong>, betreut werden. Für dieses werden<br />

sowohl die Logos, als auch die Werbung und<br />

die Programmhefte designt.<br />

„Die Zukunft gehört<br />

den Mutigen.“<br />

Die Kunden sind entweder im wirtschaftlichen<br />

Bereich tätig, wie DaimlerChrysler und<br />

die LBBW, oder aber im kulturellen Bereich,<br />

wie das Staatstheater <strong>Stuttgart</strong>. Auch <strong>ein</strong>zelne<br />

Künstler lassen sich von Strichpunkt CDs<br />

oder andere Dinge gestalten.<br />

Für diesen Job braucht Jochen Rädeker an<br />

<strong>ein</strong>em Tag mehr gute Ideen als andere in<br />

<strong>ein</strong>em Jahr. Aber woher <strong>bekommt</strong> er sie? Er<br />

sagt, er gehe oft ins Theater, denke nach<br />

und befasse sich sehr viel mit dem entsprechenden<br />

Thema. Die Ideen kommen aber nicht<br />

nur von <strong>ein</strong>er Person, sondern von mehreren.<br />

Man setzt sich dann zusammen und bespricht<br />

sieht nicht, was man isst, man sieht nicht,<br />

was man trinkt, s<strong>ein</strong>en Teller, s<strong>ein</strong> Glas, Gabel,<br />

Messer, den Tischnachbarn: alles ist plötzlich<br />

verschwunden. Man kann erahnen, wo sich<br />

etwas befindet, aber eigentlich ist man völlig<br />

blind. Teilweise ist so <strong>ein</strong> Erlebnis unangenehm,<br />

aber es ist wirklich interessant.<br />

Nachdem man so etwas erlebt hat, wird man<br />

sich sicher nicht mehr so schnell über s<strong>ein</strong><br />

Leben aufregen, denn man weiß, mit welchen<br />

Problemen diejenigen zu kämpfen haben, die<br />

blind sind.<br />

beziehungsweise kombiniert die Ideen (so genanntes<br />

Brainstorming). Doch das alles unter<br />

Termindruck? Lässt da die Kreativität nicht<br />

nach? Auf diese Frage antwortet Rädeker:<br />

„Termindruck ist schon blöd, aber der Druck<br />

hilft auch manchmal. Wenn Schüler <strong>ein</strong> Referat<br />

vorbereiten müssen, fangen sie meistens<br />

auch nicht Wochen vorher an, sondern erst<br />

<strong>ein</strong> paar Tage davor; und es wird trotzdem<br />

etwas.“<br />

Eines der aktuellen Projekte von Strichpunkt<br />

ist „The book of independence“ (Das Buch der<br />

Unabhängigkeit). Eigentlich ist das Buch in<br />

erster Linie <strong>ein</strong> Werbeprospekt für die Papierfabrik<br />

Scheufelen. Es soll zeigen, wie toll<br />

man auf dem Papier der Firma drucken kann.<br />

Doch soll es Designern auch Spaß machen,<br />

es anzuschauen. Das Buch hat zwei Teile. Im<br />

ersten Teil wird der Weg zur Unabhängigkeit<br />

beschrieben. Der Bauchnabel, durch ihn wird<br />

man unabhängig vom Mutterleib, die ersten<br />

Schritte, die Schule, dann die Fahrschule,<br />

verschiedene Automaten, mit denen man sich<br />

unabhängig von den Öffnungszeiten der Läden<br />

machen kann, und so weiter.<br />

Der zweite Teil ist der Unabhängigkeitskalender.<br />

Unabhängig bedeutet in diesem Fall, dass<br />

man sich die Tage, Wochen und Monate in<br />

Form von Klebern selbst <strong>ein</strong>teilen kann. Auch<br />

besondere Ereignisse oder Vorhaben kann<br />

man in Form von Klebern festlegen. Wie zum<br />

Beispiel der Geburtstag der Freundin oder „fly<br />

to the moon“. Auf diese Idee ist Rädeker gekommen,<br />

da auch er damit zu kämpfen hat,<br />

dass jeder Tag voll mit Terminen ist. Dieses<br />

Buch zeigt, was modernes Design kann. Es<br />

stellt gleichzeitig die Unabhängigkeit der<br />

Papierfabrik Scheufelen und die Qualität ihres<br />

Papiers dar, und als Nebeneffekt gibt es<br />

termingestressten Menschen die Möglichkeit,<br />

ihre Zeit besser <strong>ein</strong>zuteilen.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!