Das Argument 99 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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740 Gert Mattenklott<br />
In nicht mehr souveräner, in tolldreister Nichtachtung des Texts und<br />
der Geschichte seiner gelehrten Auslegung möchte er zum Beweis<br />
ausgerechnet eine jener Stellen heranziehen, die in der Goethe-<br />
Philologie zum notorischen Beleg <strong>für</strong> die begriffs<strong>kritische</strong> Symboltheorie<br />
geworden ist; (V. 4715—4727) dilettantisch oder provozierend?<br />
provozierend dilettantisch:<br />
So bleibe denn die Sonne mir im Rücken!<br />
Der Wassersturz, das Felsenriff durchbrausend,<br />
Ihn schau' ich an mit wachsendem Entzücken.<br />
Von Sturz zu Sturzen wälzt er jetzt in tausend<br />
Dann abertausend Strömen sich ergießend,<br />
Hoch in die Lüfte Schaum an Schäume sausend,<br />
Allein wie herrlich, diesem Sturm ersprießend,<br />
Wölbt sich des bunten Bogens Wechseldauer,<br />
Bald rein gezeichnet, bald in Luft zerfließend,<br />
Umher verbreitend duftig kühle Schauer.<br />
Der spiegelt ab das menschliche Bestreben.<br />
Ihm sinne nach und du begreifst genauer:<br />
Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.<br />
Nach einer Erläuterung des Stellenwerts der verwendeten Bilder<br />
in der symbolischen Textur des Dramas und ihrer Interpretation im<br />
Sinne positiv gewerteter Sinnlichkeit stehen die Sätze: „Die hier<br />
artikulierte Erkenntnis wird von Faust dabei ausdrücklich als Leistung<br />
des Begriffs, als Erkenntnisakt angesprochen: ,1hm sinne nach<br />
und du begreifst genauer (von Metscher kursiviert!) (...)'. Die Konzeption<br />
des Dramas als Erkenntnisprozeß wird explizit, es geht um<br />
begriffliche Erkenntnis, und zwar in der Form des Komparativs, als<br />
Steigerung. Seine Gültigkeit behält das ,und du begreifst genauer'<br />
bis zum Ende der Dichtung" (60).<br />
<strong>Das</strong>, was Faust durch Nachsinnen zu begreifen auffordert, ist aber<br />
schlicht das genaue Gegenteil dessen, was Metscher als Ermahnung<br />
zur Bildung genauerer Begriffe glaubt verstehen zu dürfen. Statt<br />
erst zu lesen, was er denn genauer begreifen soll, liest er — als fiele<br />
damit endlich das Stichwort — „genauer begreifen" und den Doppelpunkt<br />
danach als Ausrufezeichen. Der Rest bleibt Poesie. — An<br />
der fraglichen Stelle geht es nicht um mehr oder minder genaue<br />
Begriffe, sondern um die Gestaltung der Vorstellung, daß wer die<br />
Sonne begreifen will, ihr besser den Rücken zukehrt, daß Feuer und<br />
Wasser, daß die Elemente des Lebens ihre angemessene Spiegelung<br />
im „farbigen Abglanz" des Bildes finden, also erst in einer vermittelten<br />
Form. Daß der Schein dem Wesen wesentlich sei, <strong>für</strong> Hegel<br />
die Erscheinungsweise der Wahrheit in der Antike, wird von Goethe<br />
hier ohne die Historisierung Hegels evoziert: mit gleicher Bedeutung<br />
im Bild des Regenbogens wie an anderer Stelle der verschleierten<br />
Helena. Der Regenbogen, „des bunten Bogens Wechseldauer", „Bald<br />
rein gezeichnet, bald in Luft zerfließend", „Der spiegelt ab das<br />
menschliche Bestreben", d. h. das scheinhaft erscheinende Bild, und<br />
DAS ARGUMENT <strong>99</strong>/1976 ©