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Das Argument 99 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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774 Heinz Schlaffer<br />

schwer, in den Maximen 2 , die Faust <strong>für</strong> die Lebensform des erdachten<br />

künftigen Siedlervolkes aufstellt, Metschers „Überschreitung"<br />

auf einer sozialistischen Gesellschaft wiederzuerkennen: „Nur der<br />

verdient sich Freiheit wie das Lebenf / Der täglich sie erobern muß",<br />

um „Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen". Vielmehr bringt<br />

Faust hier unüberhörbar die Prinzipien der bürgerlich-liberalen<br />

Wirtschaftsideologie zur Geltung, die von Adam Smith bis heute die<br />

unternehmerische Freiheit durch den steten Verweis auf die Risikobereitschaft<br />

(„umringen von Gefahr") heroisiert. Noch mit den letzten<br />

Worten versucht Faust, das ökonomische Gesetz, nach dem er im<br />

5. Akt rücksichtslos gehandelt hat, als prophetischen Spruch seinem<br />

eigenen Denkmal einzumeißeln — so soll „die Spur von meinen<br />

Erdetagen / Nicht in Äonen untergehn".<br />

Es ist nun nicht länger möglich, die Formel „Auf freiem Grund<br />

mit freiem Volke" unbefangen als tendenziell sozialistische Utopie<br />

zu lesen. Faust denkt seine „kühn-emsige Völkerschaft" in einem<br />

partikularen Staat, mit gesicherten Grenzen, der nach außen souverän<br />

ist — eben wie die liberale Ideologie des 19. Jahrhunderts unter<br />

dem „freien Volk" den bürgerlichen Nationalstaat verstand, der<br />

durch militärische Macht („kühn") nach außen und durch wirtschaftlichen<br />

Fleiß („emsig") im Innern konsolidiert war; die soziale Gleichheit<br />

der Staatsbürger war dabei weder geplant noch verwirklicht.<br />

Faust selbst imaginiert sich als Herrscher, ja als Eigentümer dieses<br />

Volks: die Assoziation „Mensch und Herde" liegt ihm nahe. Planend<br />

geht er seinem Volk voraus: „Eröffn' ich Räume vielen Millionen";<br />

mit ästhetisch-imperialem Vergnügen steht er ihm gegenüber: „Solch<br />

ein Gewimmel möcht ich sehn"; als verewigter Führer überdauert er<br />

es: „Es kann die Spur von meinen Erdetagen / Nicht in Äonen untergehn."<br />

<strong>Das</strong> Volk ist Objekt, nicht Subjekt seiner Geschichte. Fausts<br />

Gigantomanie des Ich benötigt das Volk nur zur Verlängerung und<br />

Steigerung seines Selbstbewußtseins. <strong>Das</strong> Gegenteil von Metschers<br />

Behauptung — „In der Schlußutopie Fausts tritt das Wir an die<br />

Stelle des Ich" (121) — dürfte wohl richtig sein. Treffend charakterisiert<br />

Kommereil im Helden von Faust II „die Person als ein sich<br />

selbst schaffendes, den Stoff körperlich wie sittlich organisierendes,<br />

kleinere Lebensmitten unterjochendes Prinzip (...) <strong>Das</strong> Wesen dieses<br />

Selbst ist Gefräßigkeit. Darum muß es schuldig werden in einem<br />

mehr geschäftlichen als sittlichen Sinn. Denn die Prinzipien der Natur,<br />

deren eines die Person ist, sind schamlos und wirken außerhalb<br />

des Sittlichen. Die Weltvernutzung bezahlt man schließlich mit der<br />

Abnutzung der »noble machine< " 8 . Allerdings schlägt Kommerell der<br />

2 Fausts Maxime wird durch den Satz eingeleitet: „<strong>Das</strong> ist der Weisheit<br />

letzter Schluß". Die bornierte Banalität, der überlaute Ton, das Verbot,<br />

weiter zu denken, stehen dem Faust des letzten Akts durchaus an;<br />

Goethes Verhältnis zu diesem Satz kann nur ironisch sein, denn im Fortgang<br />

des Dramas nach Fausts Tod hält die wirkliche „Weisheit" einen<br />

anderen „Schluß" bereit.<br />

3 Max Kommerell, Faust. Zweiter Teil. Zum Verständnis der Form,<br />

in: M. K., Geist und Buchstabe der Dichtung, Frankfurt 61962, S. 23.<br />

DAS ARGUMENT <strong>99</strong>/1976 ©

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