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Das Argument 99 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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762 Gerhart Pickerodt<br />

sich die höfisch begrenzte Szene zum Volksfest, das sein Vorbild im<br />

Römischen Karneval besitzt 21 . Verwandelt sich dort die Straße, der<br />

Römische Korso, in einen Festsaal ( „ . . . die geringen Hausbewohner,<br />

alle Kinder sind auf der Straße, die nun aufhört, eine Straße zu<br />

sein; sie gleicht vielmehr einem großen Festsaal, einer ungeheuren<br />

ausgeschmückten Galerie." 22 ) so öffnet sich hier der Festsaal, weitet<br />

sich aus zum Bild von Natur. Nicht nur die Masken selbst sind es,<br />

die diesen Schein erzeugen, sondern gleichermaßen die Dekoration.<br />

So geht z. B. am Schluß „der Wald in Flammen auf" (V. 5962). Alles<br />

ist Spiel, Maske und Schein, und dennoch bleibt das Fest kein hermetischer<br />

Bereich reiner Bedeutungen, sondern das teilnehmende<br />

Volk wie auch der maskierte Kaiser vergessen bisweilen, daß es sich<br />

nur um ein Spiel handelt, und verfahren nach alltäglichen Mustern.<br />

Dann muß der Herold, ein moderner Musaget, eingreifen:<br />

„Was soll's, ihr Toren? soll mir das?<br />

Es ist ja nur ein Maskenspaß.<br />

Heut abend wird nicht mehr begehrt;<br />

Glaubt ihr, man geb' euch Gold und Wert?<br />

Sind doch <strong>für</strong> euch in diesem Spiel<br />

Selbst Rechenpfennige zuviel.<br />

Ihr Täppischen! ein artiger Schein<br />

Soll gleich die plumpe Wahrheit sein.<br />

Was soll euch Wahrheit? — Dumpfen Wahn<br />

Packt ihr an allen Zipfeln an. — " (V. 5727—36)<br />

Mit der Ineinsbildung von „artigem Schein" und „plumper Wahrheit"<br />

endet schließlich auch das Fest: Der Kaiser selbst geht in Flammen<br />

auf, Spiel und Wirklichkeit sind selbst <strong>für</strong> den Herold nicht<br />

mehr zu unterscheiden, und erst der als Plutus verkleidete Faust<br />

setzt dem „Flammengaukelspiel" (V. 5987) ein magisch inszeniertes<br />

Ende. <strong>Das</strong> Bild vom „farbigen Abglanz" wird in der Mummenschanz<br />

nicht nur thematisch expliziert, sondern, in der Form des Maskenund<br />

Allegorienspiels, auch szenisch vollzogen. Die Mummenschanz<br />

ist Gesellschaftsspiel in doppelter Hinsicht. Zum einen das karnevalistische<br />

Verkleidungsspiel der Gesellschaft, zum anderen, indem<br />

das Spiel die wesentlichen Inhalte des gesellschaftlichen Lebens, Natur<br />

und Kunst, Geschichte und Gegenwart, Sein und Bewußtsein,<br />

körperliche und geistige Arbeit, materiellen und ideellen Reichtum<br />

als „einander gegenübergestellte und sich gleichsam ineinander abspiegelnde<br />

Gebilde" 23 zum Bedeutungsinhalt hat. Diese Doppelfunktion<br />

der Mummenschanz, Spiel der Gesellschaft und Spiel mit gesellschaftlichen<br />

Inhalten zu sein, ist bisher kaum beachtet worden. In<br />

21 Vgl. auch Wilhelm Emrich. Die Symbolik von Faust II. Bonn 1957 2 ,<br />

S. 140.<br />

22 <strong>Das</strong> Römische Karneval. HA Bd. 11, S. 489 f.<br />

23 Brief an Iken, vgl. Anmerkung 1.<br />

DAS A R G U M E N T <strong>99</strong>/1976 ©

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