Das Argument 99 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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732 Editorial<br />
menschlichen Individuums in seiner bürgerlichen Phase" (AS 3, 34).<br />
Nicht wenig a^so steht zur Diskussion, die Erkenntnis eines zentralen,<br />
immer noch nicht überwundenen Abschnitts der Menschheitsgeschichte.<br />
Er kann nicht überwunden werden, ohne massenhaft<br />
erkannt zu sein. Die Frage ist, was von Goethes gestalteter ästhetischer<br />
Erkenntnis dieser Phase gelernt werden kann, aber gleichzeitig<br />
auch, was von ihr nicht mehr gültig ist, vielleicht nie gültig war.<br />
Diese auf Aneignung bedachte Überprüfung kann nicht ein <strong>für</strong> allemal<br />
vorgenommen werden. In jeder Phase ändern sich ihre Kriterien.<br />
Nicht von Grund auf, aber sie ändern sich. Vergangene Stufen<br />
der auch auf der Linken lebhaften Diskussion, zeitgenössische in<br />
der DDR gehen in die hier zu führende ein, aber machen sie nicht<br />
überflüssig.<br />
Thomas Metscher hat Vorschläge zur Aneignung gemacht. Sie<br />
werden in den Beiträgen dieses Heftes von verschiedenen Standpunkten<br />
aus unter die Lupe genommen, teilweise aufgegriffen, teilweise<br />
kritisiert und verworfen. Die Beiträge sind unabhängig voneinander<br />
entstanden, sind Ergebnis unserer Aufforderung zur Diskussion.<br />
Überschneidungen waren demzufolge dort nicht zu vermeiden,<br />
wo die gleichen <strong>Argument</strong>e innerhalb unterschiedlicher Konzeptionen<br />
der Deutung auftauchen. So erfreulich es ist, daß unser<br />
Aufruf zur Diskussion beim Wort genommen wurde, verdeckte<br />
Kontroversen ans Licht treten und fruchtbar werden können, so<br />
bedauerlich ist, daß der Appell, Fraktions- und Intellektuellenreibereien<br />
dem gemeinsamen Interesse an der Weiterentwicklung<br />
der materialistischen Ästhetik und unseres Verhältnisses zum „bürgerlichen<br />
Erbe" zu opfern, nicht immer befolgt worden ist. Brechts<br />
Tui-Kritik erweist auch hier ihre Aktualität (die uns im übrigen<br />
bewog, einen Sonderband dazu herauszubringen 2 ). Bei der Faust-<br />
Diskussion gab das Interesse an der Breite der Kontroverse und<br />
also daran, daß die kontroversen Positionen überhaupt in einem<br />
Organ zusammentreffen, den Ausschlag. So dokumentiert dieses<br />
Heft notgedrungen zugleich Formen der Auseinandersetzung, die<br />
wir verändert wünschen.<br />
Sinnvolle Aneignung verlangt Klarheit über das Anzueignende.<br />
Eine ganze Bibliothek von Sekundärliteratur beweist, daß diese Klarheit<br />
im Falle des „Faust" nicht umstandslos zu erreichen ist. Faust<br />
ist Dichtung und nicht politische Philosophie oder Wirtschaftsgeschichte.<br />
Gerade dies, daß hier historische Erkenntnis und humanistische<br />
Objektivierung in die ästhetische Form der Dichtung eingeschlossen<br />
sind, bestimmt ja auch unser spezifisches Interesse an<br />
diesem Stoff und seiner heutigen Rezeption.<br />
Metscher geht bei seiner Deutung von der realistischen Abbildtheorie<br />
ästhetischer Erkenntnis aus. Die Antworten, die er evoziert,<br />
setzen insofern am konkreten Objekt und unterm Aspekt konkreter<br />
Leistung der methodischen und erkenntnistheoretischen Grund-<br />
2 Vgl. AS 11, Brechts Tui-Kritik (November 1976).<br />
DAS A R G U M E N T <strong>99</strong>/1976 ©