Das Argument 99 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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760 Gerhart Pickerodt<br />
Die Schwäche der Zentralgewalt in Gestalt des Kaisers zu konstatieren,<br />
heißt nicht, in ihr die Ursache der sozialen Erscheinungen<br />
zu sehen. Wohl aber zieht sich durch alle Berichte das gemeinsam<br />
erkannte Übel der Anarchie, und man möchte folgern, daß die sich<br />
vollziehenden sozialen Umwandlungsprozesse aus der Sicht dieses<br />
Staatsrats weniger relevant erschienen, <strong>für</strong>chtete man nicht um<br />
Macht und Bestand der Zentralgewalt, die durch die zum Teil von<br />
ihr selbst ausgelösten Zentrifugalkräfte im Reich unterminiert wird.<br />
Nicht erst im 4. Akt, sondern bereits hier scheint perspektivisch die<br />
Staatskrise zu dominieren, wenngleich der historische Blick Goethes<br />
durchaus in der Lage ist, die der Staatskrise zugrunde liegenden<br />
gesellschaftlichen Umschichtungsprozesse ins Auge zu fassen.<br />
Die ökonomische Krise hat einen doppelten Kern. Der partikularen<br />
Akkumulation des Reichtums — „Die Goldespforten sind verrammelt,<br />
/ Ein jeder kratzt und scharrt und sammelt, / Und unsre<br />
Kassen bleiben leer." (V. 4849—51) — steht der die relativ konstanten<br />
Einnahmen in Form von Naturalien und Grundrenten übersteigende<br />
Konsum des Hofes gegenüber: „Wir wollen alle Tage sparen /<br />
Und brauchen alle Tage mehr, / Und täglich wächst mir neue Pein."<br />
(V. 4853—55) 18 Insofern Staatshaushalt und Hofbudget nicht getrennt<br />
sind, wirkt der übersteigerte Konsum des Hofes auf die<br />
Staatsmacht, diese schwächend, zurück. Dem setzt der als Narr verkleidete<br />
Mephistopheles als Mittel zur Lösung der Krise das Geld<br />
entgegen: „Wo fehlt's nicht irgendwo auf dieser Welt? / Dem dies,<br />
dem das, hier aber fehlt das Geld." (V. 4889—90) Mephisto präsentiert<br />
sich dem Staatsrat nacheinander als Alchimist (durch den Mund<br />
des Astrologen, dem er einflüstert) und als Schatzheber, um später<br />
dann Alchimie und Schatzhebung in der Form des Papiergeldes zu<br />
vereinen. Er ist, wie stets, der Versucher, der das Übel der feudalen<br />
Konsumtionsgier steigern, nicht beseitigen will. In diesem Zusammenhang<br />
erscheint es abwegig, das Schatzheben in Mephistos Worten<br />
zugleich als Metapher „wertschaffende(r) materielle(r) Arbeit" (73)<br />
zu deuten. Metscher bezieht sich auf die Verse Mephistos, die den<br />
Kaiser zum selbsttätigen Arbeiten auffordern: „Nimm Hack' und<br />
Spaten, grabe selber, / Die Bauernarbeit macht dich groß, / Und<br />
eine Herde goldner Kälber / Sie reißen sich vom Boden los."<br />
(V. 5039—42) Nicht nur, daß Metscher die negative Besetztheit des<br />
biblischen Bildes vom goldenen Kalb, den Götzendienst, überspringt,<br />
er unterschlägt auch die folgenden Verse, die dem Kaiser die Funk-<br />
18 Die ökonomische Erstarkung der Bourgeoisie bei gleichzeitig überdimensional<br />
defizitärem Staatshaushalt bestimmt in Frankreich die vorrevolutionäre<br />
Epoche. Der Compte du Trésor von 1788 weist aus, daß<br />
20 o/o der Staatsausgaben durch Anleihen abgedeckt werden mußten, während<br />
über 50 %> der Ausgaben durch Zinszahlungen verschlungen wurden.<br />
Der Staat stand vor dem Bankrott. (Vgl. Albert Soboul. Die Große Französische<br />
Revolution. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort<br />
versehen von Joachim Heilmann und Dietfried Krause-Vilmar. Frankfurt/Main<br />
1973, Bd. 1, S. 75.)<br />
DAS A R G U M E N T <strong>99</strong>/1976 ©