Das Argument 99 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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768 Gerhart Pickerodt<br />
philosophische Implikationen. <strong>Das</strong> „All der Welt" ist in den Zustand<br />
triebhafter Naturgewalt zurückgesunken. Die wird im Wildgesarug<br />
ausdrücklich:<br />
„Geputztes Volk du, Flitterschau!<br />
Sie kommen roh, sie kommen rauh,<br />
In hohem Sprung, in raschem Lauf,<br />
Sie treten derb und tüchtig auf." (V. 5815—18)<br />
Die Tatsache, daß es der Kaiser samt seiner Umgebung ist, der<br />
sich derart vermummt, weist über die Sehnsucht der ritualisierten<br />
Hofgesellschaft nach ungeordneter Natur weit hinaus. <strong>Das</strong> Gesellschaftsspiel<br />
hat längst seinen Spielcharakter verloren, und der Herold<br />
ist, auf Plutus' Anweisung, zum Historiker des ihm unbekannten<br />
Geschehens geworden. Näherte sich zuvor die Menge, das naturwüchsige<br />
Volk also, besitzgierig dem Reichtumssymbol, und konnte<br />
diese durch die vereinte Gewalt von Plutus und Heroldsstab gebannt<br />
werden, so ist das saturnalische Chaos nun total geworden: „Gesetz<br />
ist mächtig, mächtiger ist die Not." (V. 5800), so kommentiert Plutus<br />
das Bevorstehende. Was sich hier abspielt, hat durchaus weltgeschichtliche<br />
Dimensionen. Die Welt regrediert in Anarchie, wälzt<br />
sich, ganz im Sinne des Zoilo-Thersites/Mephisto, um. Daß dies alles<br />
nicht nur inszeniertes Maskenspiel, sondern innerdramatische Wirklichkeit<br />
ist, die erst in der Retrospektive von Faust zum „Flammengaukelspiel"<br />
aufgelöst wird, bezeugt des Herolds Bericht, demzufolge<br />
„ein allgemeiner Brand" (V. 5965) den Festraum zu zerstören droht.<br />
An der Welt-Katastrophe ist die Pan/Kaiser-Figur nicht nur als<br />
leidendes Objekt, sondern, wenn auch „verführt" (V. 5954), als handelndes<br />
Subjekt beteiligt. Er ist der Mittelpunkt des Saturnais, auf<br />
den sich die ihn umgebenden Naturgeister als auf ihr szenisches<br />
Zentrum beziehen. Den bildlich-mythologischen Zusammenhang zwischen<br />
Pan und seiner Umgebung verkennt Metscher gründlich, wenn<br />
er die Gnomen als wertschaffende Bergarbeiter der den Reichtum<br />
aneignenden und inhuman verwendenden Feudalklasse entgegensetzt<br />
(75). Nicht nur, daß die Gnomen der Verwendung des von ihnen<br />
„geschöpften" (V. 5851) Reichtums gleichgültig gegenüberstehen;<br />
nicht nur, daß sie es sind, die den großen Pan auf Plutus' Gold aufmerksam<br />
machen, das Metscher als Produkt der durch die Gnomen<br />
geleisteten Produktivkraftentwicklung (76) fehldeutet: Sie sind es<br />
auch, die den großen Pan zur „Feuerquelle" (V. 5921), Plutus' symbolischem<br />
Schatz also, heranführen, die jenen alsdann zu vernichten<br />
droht. Wie die anderen den großen Pan umgebenden Figurengruppen<br />
sind auch die Gnomen auf derselben mythologischen Ebene angesiedelt<br />
wie dieser: Vertreter jenes „Alls der Welt", das auf den Zustand<br />
des Naturtriebs nach Besitz regrediert ist.<br />
Bemerkenswert bleibt noch das Schlußtableau, innerhalb dessen<br />
der Kaiser, der sich der „Feuerquelle" zu weit nähert, so daß der ihn<br />
vermummende Bart hineinfällt (V. 5930—31), demaskiert wird: „Der<br />
Bart entflammt und fliegt zurück, / Entzündet Kranz und Haupt und<br />
Brust, / Zu Leiden wandelt sich die Lust. —" (V. 5935—37) Die Pans-<br />
DAS A R G U M E N T <strong>99</strong>/1976 ©