Das Argument 99 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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750 Gerhart Pickerodt<br />
wie folgt reflektiert: „Erst aus seiner direkten Konfrontation mit<br />
den realhistorischen Abläufen wird es möglich sein, den literarischen<br />
Text in seiner Bedeutung <strong>für</strong> uns zu erschließen, d. h. im Lichte<br />
seiner sozialhistorischen Rekonstruktion lesen zu lernen" (85).<br />
Jene Konfrontation des Textes mit den realhistorischen Abläufen<br />
könnte die Funktion besitzen, die Stellung des Textes zur Geschichte<br />
zu bestimmen; interpretatorisch zu erschließen, was der Text über<br />
den abgebildeten Gegenstand erkennend und wertend, in subjektiver<br />
Perspektive also, zum Ausdruck bringt. Für Metscher hat sie jedoch<br />
den methodischen Sinn, dem wissenschaftlichen Erkenntnisdefizit des<br />
ästhetischen Gegenstands interpretatorisch abzuhelfen, die jeweilige<br />
Bildebene des Textes aufzulösen in Richtung auf sein „sozialgeschichtliches<br />
Substrat" (34). Was jene „sozialhistorische Rekonstruktion"<br />
methodisch besagt, erfährt man weniger aus Metschers<br />
Absichtserklärungen — „Dieses Verfahren bedeutet weder die<br />
Gleichsetzung von Dichtung und Wirklichkeit noch die Identifizierung<br />
von Wissenschaft und Dichtung, sondern vielmehr den Versuch,<br />
die Besonderheit der ästhetischen Erkenntnis der Wirklichkeit herauszuarbeiten<br />
—, es bedeutet: Rekonstruktion der Erfahrungsgeschichte<br />
der gesellschaftlichen Individuen" (34) — als durch ihren<br />
konkreten interpretatorischen Vollzug. Doch schon hier läßt sich festhalten,<br />
daß jene Rekonstruktion nicht etwa auf Goethes ästhetische<br />
Widerspiegelungstätigkeit bezogen ist, nicht dessen spezifisches<br />
Realitätsverhältnis avisiert, sondern, vom Inhalt der Dichtung ausgehend,<br />
die Erfahrungen der Figuren des Faust-Dramas entschlüsseln<br />
will, vornehmlich aber die der Titelfigur, geht es in erster Linie<br />
doch um Fausts „Erkenntnisprozeß" (31).<br />
Metscher vernachlässigt über weite Strecken seines Essays den einfachen<br />
methodischen Tatbestand, daß die Figuren des Dramas und<br />
ihre Erfahrungsgehalte nicht unmittelbar den realgeschichtlichen<br />
Prozessen zu konfrontieren sind, sondern als Produkte ästhetischer<br />
Widerspiegelung abhängen vom Realitätsverhältnis ihres Autors.<br />
Andererseits überspringt er jedoch — und dies ist das unmittelbare<br />
Pendant zur Vernachlässigung der Subjektivität des Autors — die<br />
Formbestimmtheit ästhetischer Erkenntnis. Diese erscheint ihm, bisweilen<br />
ganz deutlich zu bemerken, als bloße Chiffre, als Transposition<br />
von vorgängigen, begrifflich gefaßten Erkenntnissen in eine<br />
diesen äußerliche Bildebene, als ihre Einkleidung, die im Rekonstruktionsverfahren<br />
auf ihre ursprüngliche kognitive Leistung hin<br />
freizulegen ist. Auch hier<strong>für</strong> mag ein Beleg genügen: die Verse der<br />
Baucis (V. 11123—30), welche die überwirklich-gespenstische Weise<br />
der Faustschen Meeres-Kolonisation beschreiben, kommentiert Metscher:<br />
„Was Goethe hier tut, ist relativ einfach zu beschreiben. Er hat<br />
sozialgeschichtliche Prozesse in Bildern eines magischen Vorgangs<br />
festgehalten. Der magischen Form entkleidet und in ihrem gesellschaftlichen<br />
Substrat freigelegt — so rekonstruiere ich —, dürften<br />
sozialgeschichtliche Prozesse gemeint sein, die zur Herausbildung<br />
der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft in Europa geführt<br />
haben" (86).<br />
DAS A R G U M E N T <strong>99</strong>/1976 ©