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Das Argument 99 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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752 Gerhart Pickerodt<br />

der Realitätsebenen. Diese sind sämtlich vermittelt durch die historische<br />

— ästhetische wie klassenmäßige — Spezifik der Goetheschen<br />

Realitätsverarbeitimg. <strong>Das</strong> heißt konkret, bezogen auf den „Komplex<br />

Ökonomie" im Faust: sein Stellenwert ist bestimmt durch den ästhetischen<br />

Formzusammenhang und, im weiteren Sinn, durch Goethes<br />

Weltanschauung, speziell seine idealistische Geschichtsphilosophie.<br />

Dem entspricht, daß innerhalb des ästhetischen Bildes die philosophische<br />

Differenz von Erscheinung und Wesen keinen Platz hat.<br />

Hier ist alles Erscheinung, alles Bild. Der semantische Gehalt etwa<br />

philosophischer Reflexion, von Metscher als Wesenszug moderner<br />

Dichtung akzentuiert, vermittelt sich über den Stellenwert der Figur<br />

bzw. Figurengruppe in der Gesamtkonstruktion der Dichtung. Nicht<br />

einmal der Chor hat, im Unterschied zur antiken Tragödie, als Sinnträger<br />

vorab eine herausgehobene Funktion. Insofern scheint es unzulässig,<br />

wenn Metscher die Verse (V. 11171—88) des vom Meer<br />

heimkehrenden Mephisto wie folgt kommentiert: „Mephistos Darstellung<br />

hat die Funktion, das hinter der Erscheinungsebene versteckte<br />

sozialökonomische Wesen sichtbar zu machen" (87). Mephistos<br />

Deutung der „Reichtumsakkumulation des Handelskapitals" (88) läßt<br />

sich nicht unmittelbar als Position der Goetheschen Faust-Dichtung<br />

ausmachen, ebensowenig wie der letzte Monolog Fausts das „ideelle<br />

Resultat" (50, 62) der Dichtung repräsentiert. Zu konfrontieren wäre<br />

demgegenüber der durch die Handlung ironisierte Zukunftsoptimismus<br />

Fausts mit Mephistos zynischer Selbstentlarvung, die doch auf<br />

Faust zurückschlägt, und dies nicht zuletzt deswegen, weil Mephisto,<br />

wie Metscher zu Recht feststellt, „in seiner vielleicht wichtigsten<br />

Funktion als Fausts praktisches Weltverhältnis" (<strong>99</strong>) in Erscheinung<br />

tritt. Der sozialgeschichtliche Gehalt der Dichtung, das, was die<br />

Faust-Dichtung durch die Darstellung geschichtlicher Prozesse ästhetisch<br />

wertend über die Realität ausdrückt, erschließt sich nur über<br />

die gestalteten Widersprüche und deren sozialgeschichtliche Interpretation,<br />

nicht jedoch über punktuelle Deutungen einzelner Passagen<br />

im Sinne von Rekonstruktionen ihres sozialgeschichtlichen Substrats<br />

7 .<br />

Die Problematik von Metschers sozialgeschichtlichem Rekonstruktionsverfahren<br />

reicht jedoch über einzelne kurzschlüssige Dechiffrierversuche<br />

hinaus und betrifft das Interpretationsmodell selbst. Metscher<br />

sieht im Gesamtprozeß des Faust-Dramas den „Vorgang einer<br />

parabolischen Handlung. In ihm vollzieht Goethes Dichtung ein<br />

Doppeltes: die Mimesis eines historischen und die Artikulation eines<br />

7 Metscher hätte sich hier von Lukâcs belehren lassen können, der<br />

über die interpretatorischen Konsequenzen aus Goethes Allegorie-Begriff<br />

urteilt: „In diesem Sinne sind viele Gestalten des zweiten Teiles allegorisch,<br />

was aber keineswegs bedeutet, daß sie bloße Chiffren <strong>für</strong> die Enträtselung<br />

eines ihrer sinnlichen Erscheinungsweise fremden ,Tiefsinns'<br />

sind, wie es nach vielen Kommentatoren der Fall sein soll." (Georg Lukâcs.<br />

Faust-Studien. In: G. L.: Faust und Faustus. Reinbek 1967, S. 207.)<br />

DAS A R G U M E N T <strong>99</strong>/1976 ©

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