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Das Argument 98 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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572 Helmut Gollwitzer<br />

Was sind dann die essentiellen Elemente von Sozialismus, die<br />

jeder, der den Namen eines Sozialisten verdient, praktisch und<br />

theoretisch festhalten muß? „<strong>Das</strong> gesellschaftliche Eigentum an den<br />

Produktionsmitteln — die Interpretation der Geschichte auf ökonomischer<br />

Basis als einer Geschichte der Klassenkämpfe — die Überwindung<br />

des Kapitalismus durch die Herrschaft der abhängig Arbeitenden,<br />

d. h. die Herrschaft der Mehrheit der Bevölkerung über sich<br />

selbst durch den Besitz der gesellschaftlichen Produktionsmittel." 4<br />

Diese Bestimmungen können m. E. auf allgemeine Zustimmung rechnen.<br />

Bezeichnend <strong>für</strong> sie ist: sie enthalten nur Angaben einerseits<br />

über ein Ziel, andererseits über den Zustand, der überwunden werden<br />

soll. Zu ihnen gehört nicht die Motivation (religiöse, moralische,<br />

weltanschauliche, klassenspezifische) und nicht die Vorstellung von<br />

<strong>für</strong> effektiv gehaltenen Methoden zur Erreichung des Zieles (Organisation,<br />

Diktatur des Proletariats, Detailfragen der Sozialisierung<br />

usw.). Diese letzteren aber sind es, die — soweit ich sehe — die<br />

sozialistischen Richtungen voneinander trennen. Sie sind einig in<br />

jenen Essentials, einig auch darin, daß die solidarische, also klassenlose<br />

Gesellschaft nicht nur ein „großes Ideal" (wie mir einmal ein<br />

führender deutscher Sozialdemokrat, ganz gewiß kein Sozialist, von<br />

sich bekannte), sondern ein auf Erden realisierbares, dringend nötiges<br />

Ziel ist; sie sind nicht einig in den Kampfmethoden und in der<br />

Beurteilung der nötigen Stufen und Einzelmaßnahmen, durch die<br />

eine solche Gesellschaft verwirklicht werden soll. Weil wir noch weit<br />

entfernt von diesem Ziel sind, jetzt aber schon beharrlich da<strong>für</strong><br />

kämpfen müssen, und weil die Widerstände so groß und die verinnerlichte<br />

Prägung durch die alte Gesellschaft so stark ist, bringen<br />

uns die Unterschiede in der Motivation, Strategie und Taktik in so<br />

scharfen Gegensatz, und unversehens schließen wir daraus, daß wir<br />

auch in den Essentials getrennt seien, und daß bei den andersdenkenden<br />

Sozialisten ihr „Unglauben", ihr bürgerlicher Ballast sich durchgesetzt<br />

habe gegen ihre sozialistische Entscheidung.<br />

Diese Schlußfolgerung verrät aber eine bedenkliche Selbstsicherheit,<br />

die weit hinausgeht über die relative Gewißheit, die zur polemischen<br />

Vertretung des eigenen Standpunkts nötig ist. Unversehens<br />

setzt man sich selbst als „orthodox", als den fraglosen Besitzer und<br />

Hüter der Reinheit der Lehre, und die eigene Gruppe als Totalität<br />

der sozialistischen Bewegung, als Darstellung ihrer Einheit, außerhalb<br />

derer es nur Spalter, Verräter, als Gläubige getarnte Ungläubige<br />

gibt. Eben solche sich selbst verabsolutierende „Orthodoxie" ist<br />

— religionssoziologisch und religionspsychologisdi betrachtet — die<br />

Mentalität der Sekte, nun tatsächlich die Verwandlung des Sozialismus<br />

in Ersatzreligion, was sich an der Gnadenlosigkeit der Ketzerverbrennungen<br />

und an der Bündnisunfähigkeit zeigt.<br />

4 Klaus Lang, „Sozialismus als Verwirklichung christlichen Glaubens?",<br />

in: „Kirche im Spätkapitalismus", hrsg. vom Arbeitskreis Kritisches Christentum,<br />

Wien 1974, S. 25.<br />

DAS ARGUMENT <strong>98</strong>/1976 ©

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