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Das Argument 98 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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566 Helmut Gollwitzer<br />

Wie soll solche Situation andere Wirkungen haben, als sie nun in<br />

linker Publikums- und Selbstbeschimpfung immer neu aufgezählt<br />

werden: Selbstbefriedigung in Polit-Tourismus nach Allende-Chile<br />

und Portugal — Selbstbefriedigung im bombastischen Pathos der<br />

K-Gruppen — bedingungslose Fixierung auf einen der „realen" Sozialismen,<br />

von denen man mit Erfolgsmeldungen sprechen kann,<br />

seien sie sowjetisch, chinesisch oder auch albanisch. Dogmatismus<br />

und entscheidungsloses Problematisieren bieten sich als die beiden<br />

Möglichkeiten an, von denen jede von den Verlegenheiten der anderen<br />

zu befreien verspricht. Der Individualismus der bürgerlichen<br />

Sozialisation verhindert gemeinsames Handeln („An unserem <strong>Institut</strong><br />

haben die paar linken Dozenten fast keinen Kontakt untereinander",<br />

wird mir gerade von einer Uni berichtet). <strong>Das</strong> Ghetto der Sekte<br />

garantiert Befreiung von diesem Individualismus. Sektenmentalität<br />

ist dem Kenner der Kirchengeschichte wohl bekannt: sowohl, was<br />

die Sekte dem einzelnen gibt (Geborgenheit, Wahrheitsbesitz, eindeutiges<br />

Freund- und Feindbild, heteronome Verhaltensanweisung,<br />

Gelegenheit zu sinnvoller Aufopferung), wie auch, was sie ihm<br />

nimmt (die Fähigkeit, sich der Komplexität der Probleme zu stellen,<br />

sich selbst zu korrigieren, zu lernen, abweichende Wahrheiten zu<br />

erwägen, Mangel an vorhandenen Antworten auszuhalten, auch von<br />

Andersdenkenden, ja Gegnern nützliche Belehrungen zu erwarten,<br />

im Feind den auf neuer Ebene zu Gewinnenden statt nur den zu Vernichtenden<br />

zu sehen, auf Gemeinsamkeiten zum Zwecke von Bündnissen<br />

mehr aus zu sein als auf kontradiktorische Profilierung der<br />

eigenen Gruppen-Reinheit usw.).<br />

<strong>Das</strong> Abgemauertsein von realer und effektiver politischer Praxis<br />

dürfte der Hauptgrund <strong>für</strong> solche Erscheinungen sein, und dies erst<br />

recht dann (dem Älteren sei der Hinweis gestattet), wenn Angehörige<br />

der jüngeren Generation in eine solche Lage geraten, nachdem sie<br />

einen heftigen, mit starken Emotionen und befeuerndem Befreiungserlebnis<br />

verbundenen Aufbruch zu neuen, ihrer Sozialisation widersprechenden,<br />

deren beste Elemente aber zugleich radikalisierenden<br />

Zielen erfahren haben.<br />

Zugleich aber die Angst — beliebtes Feuilletonthema und vielsagendes<br />

Charakteristikum dieser angeblich erfolgreichsten Gesellschaft<br />

der Menschheitsgeschichte —, eine sehr begründete Angst aller<br />

Jungen in dieser Gesellschaft: ihre Zukunft ist es, die von den Älteren<br />

verspielt wird; jede Beschreibung der neuen Menschheitsgefahren<br />

sagt es ihnen. Der Fortschrittsglaube, der Generationen von Liberalen<br />

und Sozialisten getragen hatte, ist weg. Jetzt, da der kapitalistische<br />

Verelendungsprozeß, eine Zeitlang auf die Peripherien<br />

abgewälzt, auch die Metropolen erreicht, sieht sich die bürgerliche<br />

Jugend in ihn hineingezogen. „Akademisches Proletariat" wird zum<br />

Stichwort einer Lage, in der die herrschende Klasse nicht einmal<br />

mehr das Versprechen geben kann, mit dem bisher noch jede Klasse<br />

ihre Herrschaft legitimiert hat — das Versprechen der Zukunft<br />

wenigstens <strong>für</strong> die eigenen Kinder. <strong>Das</strong> zieht jedes Individuum in<br />

die Angst um die Zukunft, die zugleich eine globale ist: ob wir die<br />

DAS A R G U M E N T <strong>98</strong>/1976 ©

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