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Das Argument 98 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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612 Oskar Negt<br />

wakei, in der die Selbständigkeitsbestrebungen durch militärische<br />

Intervention unterbrochen wurden.<br />

Dieser Ablösungsprozeß hat seinen Ursprung keineswegs immer<br />

darin, daß der Sowjetblock direkten Einfluß, politischen oder militärischen,<br />

auf die verschiedenen kommunistischen Parteien und Länder<br />

auszuüben versuchte oder faktisch ausüben konnte. Was sich in<br />

dieser Bewegung der Autonomisierung der Länder und der kommunistischen<br />

Bewegungen zeigt, hat vielmehr prinzipielle Bedeutung:<br />

es ist die wachsende Einsicht, daß es kein verbindliches Modell der<br />

revolutionären Umwälzungen gibt, auf dessen Erfahrungen andere<br />

Länder zurückgreifen könnten und die auf sie anders als in der Form<br />

der politischen Moral und der geschichtsphilosophischen Selbstversicherung<br />

ihres Sieges übertragbar wären. Jede gelungene autochthone<br />

Revolution, ob sie nun in Rußland, in China oder auf Kuba stattfand,<br />

hat zu spezifischen Erfahrungen geführt, die nur in einem ganz<br />

geringen Ausmaß übertragbar sind. Wo es Versuche solcher Übertragungen<br />

gegeben hat, haben sie in der Regel dazu geführt, die<br />

eigenen Fehlentwicklungen <strong>für</strong> andere verbindlich zu machen oder<br />

wirkliche produktive Erfahrungen auf Verhältnisse zu transponieren,<br />

unter denen sie Fehlentwicklungen hervorgerufen haben.<br />

<strong>Das</strong> von Lenin geforderte Selbstbestimmungsrecht der Völker gilt<br />

auch <strong>für</strong> die revolutionären Prozesse, die sich bei ihnen abspielen,<br />

und sie sind in der Tat nur dort übertragbar gewesen, wo, wie z. B.<br />

im Zuge des Sieges der roten Armee über den Hitlerfaschismus in<br />

Osteuropa, machtpolitisch die Weichen bereits gestellt waren. Alle<br />

diese Länder, mit sicherlich ganz verschiedenen Ausgangsbewegungen,<br />

haben ihre Revolutionen durchführen können, weil (mit Ausnahme<br />

Jugoslawiens) die rote Armee die Machtfrage bereits gelöst<br />

hatte. Es handelt sich hierbei um sekundäre, abgeleitete Revolutionen,<br />

was keine Herabsetzung ihrer geschichtlichen Rolle bedeutet, sehr<br />

wohl aber ein Hinweis da<strong>für</strong> ist, daß auch sie keinerlei Erfahrungen<br />

aufweisen können, von denen <strong>für</strong> die sozialistischen Bewegungen<br />

westeuropäischer Länder viel zu lernen wäre. <strong>Das</strong> hat nichts mit der<br />

Konzeption eines dritten Weges zu tun; es gibt nur einen Weg der<br />

revolutionären Umwälzung, aber er hat sehr verschiedene konkrete<br />

Formen. Es geht vielmehr — um meine These hier provokativ zuzuspitzen<br />

— um die prinzipielle Unübertragbarkeit revolutionärer<br />

Erfahrungen und um die Notwendigkeit, die spezifischen Traditionen<br />

des jeweiligen Landes, den Stand der Klassenkampferfahrungen und<br />

des Klassenbewußtseins, geschichtliches Erbe, ja Sprache, religiöse<br />

Traditionen der Menschen und Alltagsverhalten nicht einer allgemeinen<br />

Strategie zu subsumieren, sondern dieses Allgemeine der<br />

sozialistischen Veränderung erst durch das Besondere hindurch zu<br />

gewinnen. Die Zeit der strategischen Abstraktionen und der schnellen<br />

theoretischen Verallgemeinerungen scheint auch in dieser Frage<br />

beendet zu sein.<br />

Wenn Marchais erklärt, daß es in Frankreich nur einen Sozialismus<br />

in französischen Farben geben werde und Allende, anspielend auf die<br />

Besonderheit der ausgeprägten Geschmacks- und Sinnenbildung in<br />

DAS A R G U M E N T <strong>98</strong>/1976 ©

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