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Das Argument 98 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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614 Oskar Negt<br />

in Rußland zwar die politischen Grundlagen und die ökonomischen<br />

Voraussetzungen <strong>für</strong> eine sozialistische Gesellschaft schaffen könne,<br />

daß aber zur Verwirklichung des Sozialismus die Zusammenarbeit<br />

mehrerer industriell entwickelter Nationen nötig sei. <strong>Das</strong> durfte als<br />

theoretische Rechtfertigung da<strong>für</strong> gelten, die <strong>kritische</strong> Solidarität<br />

der westeuropäischen kommunistischen Parteien mit der Sowjetunion<br />

in einen abstrakten Glauben an deren Führung und an die<br />

Pflicht unbedingter Gefolgschaftstreue umzuwandeln. Zwangsläufig<br />

ergab sich dann daraus das Recht der sowjetischen Führung, diese<br />

Parteien vor allem als taktische Werkzeuge der russischen Außenpolitik<br />

zu gebrauchen, notfalls ohne Rücksicht auf die eigenen Bedürfnisse<br />

der Arbeiter in den industrialisierten kapitalistischen Staaten"<br />

(Sozialgeschichte der Europäischen Arbeiterbewegimg, edition<br />

suhrkamp, S. 105).<br />

<strong>Das</strong> bedeutet keine Verharmlosung des Anti-Kommunismus als<br />

einer materiellen Gewalt, die gegen den Sozialismus jeder Art mobilisiert<br />

wird und der auf einer Projektion der Gewalt des kapitalistischen<br />

Herrschaftssystems auf jene beruht, die entschlossen sind, sie<br />

zu brechen. Gerade weil es <strong>für</strong> jeden Sozialisten eine Pflicht ist, diesen<br />

verdummenden und die Massen gegen ihre objektiven Interessen<br />

und Bedürfnisse mobilisierenden Antikommunismus zu bekämpfen,<br />

sind politische Moral und Kritik nicht teilbar und von der Vorstellung<br />

einer sozialistischen Demokratie nicht abzutrennen. Ohne Umschweife<br />

ist öffentlich festzuhalten: Wolf Biermann unterliegt, ähnlich<br />

wie viele andere in Westdeutschland, einem politischen, vom<br />

Staat sanktionierten Berufsverbot. Und was die Ansehensmacht der<br />

Sowjetunion betrifft, so wird keine westeuropäische Partei oder die<br />

politische Linke insgesamt es retten und verbessern können, wenn es<br />

immer wieder dazu kommt, daß Leute wie Sacharow, Solschenizyn,<br />

Amalrik und viele andere, die vielleicht keine Sozialisten sind und<br />

sogar bürgerliche Auffassungen vertreten, von einer sich als Weltmacht<br />

verstehenden sozialistischen Gesellschaft be<strong>für</strong>chten müssen,<br />

expatriiert, ihrer beruflichen Existenzgrundlage entzogen oder gar<br />

in Gefängnisse und Irrenanstalten eingewiesen zu werden. Wie können<br />

einzelne Leute den sowjetischen Staat gefährden, selbst wenn<br />

sie nicht sozialistische, ja sogar antikommunistische Auffassungen<br />

vertreten? Es ist immer die innere Schwäche eines Gesellschaftssystems,<br />

die es dazu führt, gegen einzelne oder kleine Gruppen vorzugehen,<br />

als gelte es einen organisierten Aufstand niederzuschlagen.<br />

Denn von Freiheit des Andersdenkenden kann im Ernst nur gesprochen<br />

werden, wenn dieses Recht und diese Freiheit ein politisches<br />

Element des Widerspruchs, der spontanen Unbotmäßigkeit an<br />

sich hat. <strong>Das</strong> ist ein geschichtliches Minimum, das bereits in den bürgerlichen<br />

Gesellschaftsordnungen erreicht wurde, wenn auch tagtäglich<br />

bedroht und unterlaufen wird, das aber keine sozialistische Partei<br />

und keine sozialistische Gesellschaft ungestraft unterschreiten<br />

kann.<br />

DAS A R G U M E N T <strong>98</strong>/1976 ©

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