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Das Argument 98 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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Studentenbewegung — und was danach? 573<br />

Daß solche Selbsteinschätzung zutreffend sein könnte, wird schon<br />

durch die Tatsache der sozialistischen Zersplitterung selbst widerlegt.<br />

Zu unwahrscheinlich ist es ja, daß nur eine Gruppe im Besitz<br />

der ganzen Wahrheit ist und um sie herum nur der Teufel mit seinen<br />

vielen Verführungskünsten sein Wesen treibt und immer neue Scharen<br />

von Sozialisten in seinen Bann bringt. Viel zutreffender und<br />

auch marxistischer dürfte die Vermutung sein, es seien — neben<br />

allerlei individuellen Schwachheiten und kapitalistischen Verführungen<br />

— die Probleme des sozialistischen Kampfes selbst, die ständig<br />

Verschiedenheiten der Beurteilung und der Methoden verursachen.<br />

Ist der Marxismus nach Lenins gutem Wort „nicht ein Dogma, sondern<br />

eine Anleitung zum Handeln", dann gibt es <strong>für</strong> Marxisten nicht<br />

eine unverändert zu überliefernde reine Lehre, von heiligen Texten<br />

festgelegt, sondern nur eine — als Überlieferung der Klassiker freilich<br />

hoch zu schätzende — Anleitung zum Erkennen und Handeln,<br />

die in Anwendung auf neue Bedingungen ständig zu re-vidieren<br />

ist — das heißt wörtlich: neu anzusehen, zu prüfen und <strong>für</strong> neue<br />

Situationen abzuwandeln. Es gibt also Marxismus nur als permanenten<br />

Revisionismus 8 . Legitime und illegitime Revisionen sind dann<br />

danach zu unterscheiden, ob die Anpassung von <strong>Theorie</strong> und politischer<br />

Praxis an neue Bedingungen eine Anpassung an das zu Überwindende<br />

ist oder eine Anpassung im Dienste der Überwindung bei<br />

unverändertem Festhalten jener Essentials. <strong>Das</strong> unterscheidet den<br />

legitimen Revisionismus vom Reformismus, der das Ziel aus den<br />

Augen verliert, den Sozialismus vom Sozialdemokratismus. Der prinzipielle<br />

Antirevisionismus macht den Marxismus unmarxistisch zu<br />

einem zeitlosen System — unmarxistisch, weil er entgegen der<br />

grundlegenden Erkenntnis des Marxismus dessen eigene Geschichtlichkeit<br />

verkennt und die wahren Marxisten den verändernden Einflüssen<br />

der sich ändernden Realgeschichte entzogen glaubt. So gibt<br />

es denn „keine sozialistische bzw. kommunistische Partei, Regierung,<br />

Fraktion, Gruppe, keinen sozialistischen Gedanken, keinen sozialistischen<br />

Theoretiker oder Politiker..., die nicht von anderen als<br />

revisionistisch verketzert werden. Während alle Sozialisten und<br />

Kommunisten Revisionisten sind, sind die Antirevisionisten nur ein<br />

eindeutig abzugrenzender Teil der Sozialisten. Denn alle Sozialisten<br />

und Kommunisten werden von irgendwelchen anderen Sozialisten<br />

als Revisionisten bezeichnet, aber nicht alle Sozialisten und Kommunisten<br />

bezeichnen andersdenkende Sozialisten als Revisionisten,<br />

also nicht alle Sozialisten sind Antirevisionisten." Darum: „Nicht der<br />

Revisionismus, sondern der Antirevisionismus ist Ausdruck einer<br />

5 Diese ungewohnte Aufwertung des sonst nur abwertend gebrauchten<br />

Wortes Revisionismus (seit Bernstein mit Reformismus gleichgesetzt)<br />

scheint mir nötig zu sein, weil sie den Tatbestand der unvermeidlichen<br />

ständigen Revidierung der marxistischen Überlieferung anzeigt, aus dem<br />

erklärlich wird, weshalb die verschiedenen Marxismen sich heute gegenseitig<br />

als Revisionismus verurteilen.<br />

DAS A R G U M E N T <strong>98</strong>/1976 ©

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