Das Argument 98 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
Das Argument 98 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
Das Argument 98 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
606 Oskar Negt<br />
auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann.<br />
Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung" (a.a.O.).<br />
Marx sagt nicht ausdrücklich, daß dieser Dualismus auch in einer<br />
kommunistischen Gesellschaft bestehen wird; aber er spricht eindeutig<br />
von „allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen<br />
Produktionsweisen".<br />
Ich greife diese Passagen von Marx hier auf, weil der Arbeitsbegriff<br />
zwar im Zusammenhang der philosophischen Diskussion<br />
über die Konstitution der Gattungsgeschichte ausgiebig Verwendung<br />
fand, nicht aber in seiner soziologischen und sozialpsychologischen<br />
Dimension <strong>für</strong> die Entwicklung und Blockierung von Klassenbewußtsein<br />
entfaltet wurde. Gerade die Problemstellungen dieser Dimension<br />
sind jedoch von entscheidender aktueller Bedeutung. Untersuchungen<br />
über die Beziehung von Arbeit und Freizeit sind in der<br />
Periode, in der ökonomisches Wachstum und Reallohnsteigerungen<br />
gesichert schienen, so sehr in den Vordergrund getreten, daß Arbeitslosigkeit<br />
als Topos im gesellschaftlichen Bewußtsein der Arbeiter<br />
zwar nie ganz zu verdrängen war, aber nur geringe politische Relevanz<br />
in der Bundesrepublik hatte. Diese Situation hat sich in den<br />
letzten zehn Jahren radikal verändert, und selbst wenn sich die<br />
Konjunktur wieder beleben sollte, wird Arbeitslosigkeit, besonders<br />
bei Jugendlichen, eine Dauererscheinung bleiben. Es ist also die<br />
Frage, inwieweit sich der Kategorienzusammenhang von Arbeit,<br />
Freizeit und Arbeitslosigkeit praktisch und theoretisch verändert hat.<br />
Die allgemeinen Folgen der Arbeitslosigkeit, wie es sie sicher nicht<br />
nur heute gibt, hat Ali Wacker in groben Zügen prägnant beschrieben:<br />
„Mit der zwangsweisen Ausgrenzimg aus dem Produktionsbereich<br />
verändern sich die Beziehungen zur eigenen Person, zu anderen<br />
und zur weiteren sozialen Realität. Somatische und psychosomatische<br />
Beschwerden, Selbstwertzweifel und Identitätsdiffusion,<br />
Aufbrechen familiärer Konflikte, Rückzug aus sozialen Beziehungen<br />
und Einschränkungen des Aktivitätsniveaus bezeichnen die wahrscheinliche<br />
Entwicklung der individuellen Konfliktakkumulation und<br />
-austragung. Desorientierung und Demoralisierung sind die psychischen<br />
Folgen der Transformation der ökonomischen in eine persönliche<br />
Krise" (Arbeitslosigkeit, Frankfurt-Köln 1976, S. 160). Zerstörungsprozesse<br />
dieser und ähnlicher Art sind allerdings keineswegs<br />
auf das Schicksal der zwangsweise aus der Produktion Ausgegliederten<br />
zu beschränken, sondern sie setzen bereits in der Produktion<br />
an und, vor allem bei Jugendlichen, in der Phase der proletarischen<br />
Sozialisation, werden durch Arbeitslosigkeit allerdings aufs äußerste<br />
verschärft und gewinnen auch eine andere Qualität in ihrer individuellen<br />
und kollektiven Verarbeitung.<br />
Daher ziehen sozialistische Forderungen, die sich in gleicher Weise<br />
auf die Veränderung der Produktion und auf Umgestaltung der<br />
Arbeits- und Lebensprozesses in Sozialisationsbereichen (Familie,<br />
Schule, Bereiche der Sozialarbeit usw.) richten, nur die Konsequenz<br />
aus der objektiven Verallgemeinerung der Verelendung, von der<br />
auch relevante Teile der Arbeiterklasse betroffen sind. Die hohe<br />
DAS A R G U M E N T <strong>98</strong>/1976 ©