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Das Argument 98 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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610 Oskar Negt<br />

und Anhängsel der Produktionsmaschinerie sind; dann ist er aber<br />

auch lebensnotwendig. Um nicht zu einem formalen, jederzeit manipulierbaren<br />

Prinzip zu werden, muß sich deshalb der kategorische<br />

Imperativ, die Freiheit des Andersdenkenden zu schützen und sie als<br />

wesentlichen Beitrag zur eigenen politischen Identität anzuerkennen,<br />

in den kategorischen Imperativ erweitern, „alle Verhältnisse umzuwerfen,<br />

in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein<br />

verlassenes, ein verächtliches Wesen ist".<br />

Im Unterschied zur bürgerlichen Demokratie, die in der Öffentlichkeit<br />

prinzipiell auf der Ausgrenzung fundamentaler Lebensbereiche,<br />

wie der Sozialisation und dem Arbeitsprozeß, beruht, ergreift und<br />

durchdringt sozialistische Demokratie das Ganze der Gesellschaft; sie<br />

bedarf daher der Meinungsvielfalt einer artikulierten proletarischen<br />

Öffentlichkeit. Da diese sich unter den Bedingungen der kapitalistischen<br />

Gesellschaftsordnung jedoch nicht aus sich heraus, als autonomes<br />

Lager neben der Gesellschaft, unabhängig von den Barrieren, die<br />

ihr entgegenstehen, und den Widersprüchen und Konflikten, die<br />

zwangsläufig in sie hineinwirken, entfalten kann, ist sie bei Strafe<br />

der Ghettoisierung darauf angewiesen, die demokratischen und liberalen<br />

Freiheitsrechte der bürgerlichen Gesellschaft zu verteidigen<br />

und in ihrem Medium permanent sozialistische Alternativen und<br />

Ansprüche geltend zu machen. Der Kampf um Rechts- und Verfassungspositionen<br />

ist, wie Jürgen Seifert nachdrücklich dargetan hat,<br />

keine bloß taktische Frage <strong>für</strong> die Linke; er ist wesentliches Moment<br />

der sozialistischen Politik, aber weder deren Grundlage noch deren<br />

Endpunkt. Gerade weil proletarische Öffentlichkeit nicht eine Substanz<br />

ist, die sich in jedem beliebigen Milieu entfaltet, sondern ein<br />

Produktionsprozeß neuer Erfahrungen und Ideen, der die Widersprüche<br />

und Konflikte der gegebenen Verhältnisse hervortreibt und<br />

zu politischen zuspitzt, sind <strong>für</strong> sie die Struktur der jeweiligen bürgerlichen<br />

Gesellschaft, die sie vorfindet, und die Ziele der politischen Parteien,<br />

die an der Macht sind, nicht gleichgültig. Politische Freiheitsrechte<br />

wie das der Koalition, der Versammlung, Meinungs- und<br />

Pressefreiheit, Demonstrationsfreiheit dürfen nicht verlorengehen,<br />

sondern gehen, von ihrem negatorisch ausgrenzenden, also beschränkten<br />

Charakter befreit, als inhaltlich erweiterte in die sozialistische Demokratie<br />

ein, werden in ihr erst in ihrer ganzen Ausdrucksmannigfaltigkeit<br />

Realität. Denn die bürgerlich-repräsentative Demokratie<br />

hat ihre absolute Grenze an einem fundamentalen Widerspruch, in<br />

dem die chronische Aushöhlung ihrer Grundrechte angelegt ist: dort,<br />

wo die Menschen Erfahrungen machen und konkretes Wissen über<br />

gesellschaftliche Prozesse haben, in ihren unmittelbaren Arbeitsund<br />

Lebensbereichen, werden Öffentlichkeit und Selbstbestimmung<br />

auf ein Minimum reduziert; während sie dort, wo sie auf Sekundärinformationen<br />

angewiesen sind, zu Zuschauern einer Meinungsbörse<br />

degradiert sind, als freie und entscheidungsfähige Staatsbürger fingiert<br />

werden.<br />

Unter deutschen Verhältnissen kommt eine Besonderheit hinzu.<br />

Da die bürgerliche Klasse sich hier nicht gegen den feudal-absolu-<br />

DAS A R G U M E N T <strong>98</strong>/1976 ©

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