Prävalenz-Forschung: Zusammenfassung der Datenlage - HfH ...
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<strong>Prävalenz</strong>-<strong>Forschung</strong>: <strong>Zusammenfassung</strong> <strong>der</strong> <strong>Datenlage</strong> zu<br />
Sprachauffälligkeiten bei Kin<strong>der</strong>n und Schlussfolgerungen für die<br />
Praxis<br />
Abstract<br />
Im Kapitel <strong>Prävalenz</strong>: Zur gesellschaftlichen Relevanz bei <strong>der</strong> Diskussion um die „richtigen<br />
Zahlen“ zu Sprachauffälligkeiten geht es um die politische Relevanz <strong>der</strong> Angaben zu<br />
Sprachauffälligkeiten <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> in unserer Gesellschaft. Es wird <strong>der</strong> Versuch unternommen, die<br />
Begriffe Sprachbildung, Sprachför<strong>der</strong>ung und Sprachtherapie abzugrenzen und Zuständigkeiten<br />
aufzuzeigen. Sprachför<strong>der</strong>programme stehen <strong>der</strong>zeit im Rampenlicht; es werden Merkmale für<br />
Qualität festgelegt. Im Kapitel Spezifische Sprachentwicklung: Sprachstörungen führen zu<br />
Folgestörungen wird die SSES (umschriebene Sprachstörung ohne erkennbare<br />
Intelligenzdefizite) definiert, um die es beim Thema <strong>Prävalenz</strong> hauptsächlich geht. Im Folgekapitel<br />
Übersicht zur Qualität <strong>der</strong> <strong>Datenlage</strong> zu <strong>Prävalenz</strong>-Studien: Methodische Probleme wird<br />
dargelegt, dass die einzelnen Untersuchungen zum Themenkreis „Late Talker“ und <strong>der</strong>en<br />
Entwicklung (hieraus leitet sich die <strong>Prävalenz</strong> hauptsächlich her) kaum vergleichbar sind.<br />
Vergleichbar wären epidemiologische Studien mit einer einheitlichen Definition „sprachgestört“, die<br />
mit dem gleichen Untersuchungsinstrument arbeiten. Bei manchen Untersuchungen scheinen<br />
Ergebnisse schon zu Beginn festzustehen; dies zeigt das Negativbeispiel im Kapitel Beispiel einer<br />
Untersuchung mit erkenntnisleitendem Interesse. In Ergebnisse zur <strong>Prävalenz</strong>, sinnvolle<br />
Zeitpunkte <strong>der</strong> Betrachtung wird deutlich gemacht, dass eine sinnvolle Diskussion über<br />
<strong>Prävalenz</strong> sich auf bestimmte Schlüsselzeitpunkte <strong>der</strong> kindlichen Entwicklung beziehen sollte. In<br />
den Unterkapiteln Ergebnisse zur <strong>Prävalenz</strong>, Zeitpunkt 24 Monate und Ergebnisse zur<br />
<strong>Prävalenz</strong>, Zeitpunkt 36 Monate wird in Abwägung <strong>der</strong> durchgesehenen Studien eine<br />
<strong>Prävalenz</strong>zahl von 15% (Zweijährige) bzw. 10% (Dreijährige) eines Jahrgangs festgelegt und für<br />
eine Bedarfsberechnung eine Formel vorgeschlagen. Das Unterkapitel Ergebnisse zur<br />
<strong>Prävalenz</strong>, Zeitpunkt Einschulung begründet, warum die <strong>Prävalenz</strong>zahlen hier gegenüber <strong>der</strong><br />
<strong>Prävalenz</strong> Dreijähriger steigen. In Risikofaktoren und Gefährdungen <strong>der</strong> Sprachentwicklung<br />
werden die Risiken <strong>der</strong> Sprachentwicklung zusammengefasst, <strong>der</strong> Faktor Migration diskutiert und<br />
bleibende Folgestörungen dargestellt. In Schlussfolgerungen aus <strong>der</strong> <strong>Prävalenz</strong>forschung wird<br />
für ein abgestuftes Erfassungssystem plädiert.<br />
<strong>Prävalenz</strong>: Zur gesellschaftlichen Relevanz bei <strong>der</strong> Diskussion um die „richtigen Zahlen“ zu<br />
Sprachauffälligkeiten<br />
Unsere Gesellschaft hat eine Verpflichtung gegenüber dem Individuum und das Individuum hat<br />
eine Verpflichtung gegenüber <strong>der</strong> Gesellschaft: Die Gesellschaft för<strong>der</strong>t (Bildungs-) Teilhabe und<br />
eigenständiges Handeln, das Individuum bringt sich mit seinem Selbst in die Gemeinschaft ein. Im<br />
Fokus <strong>der</strong> Sprachlichkeit heißt dies verstehend, kommunizierend, lesend und schreibend<br />
größtmöglich in die Lern-, Kultur- und Sozialumgebung eingebunden zu werden und zu sein.<br />
Gesundheitsför<strong>der</strong>ung, Prävention, För<strong>der</strong>ung und Therapie sind hier abgestufte Angebote, die<br />
drei letztgenannten für den Fall, dass die Ausgangsbedingungen für Chancengleichheit erschwert<br />
sind.<br />
<strong>Prävalenz</strong> sagt etwas über die Krankheitshäufigkeit aus. Politisch sind Zahlen zur Häufigkeit von<br />
gesellschaftlich zu verantwortenden Problemen in mehrfacher Hinsicht relevant, wenn nicht sogar<br />
brisant. Hierzu vier herausgegriffene Beispielfragen:<br />
1. Gibt es, mehr o<strong>der</strong> weniger universell gültige, also regional unabhängige Zahlen zur<br />
Häufigkeit von Sprachstörungen und wenn ja, sind die Zahlen in unserem Land / unserem<br />
Kanton / unserer Gemeinde mit diesen vergleichbar? Liegen überhaupt verlässliche<br />
Vergleichszahlen vor?
2. Welche Einflussgrößen bestimmen die Varianz <strong>der</strong> teils sehr divergenten <strong>Prävalenz</strong>zahlen?<br />
3. Wie hoch ist <strong>der</strong> Bedarf an Massnahmen, gestaffelt nach beobachten – beraten – för<strong>der</strong>n –<br />
therapieren – son<strong>der</strong>beschulen? Ist dieser Bedarf aktuell repräsentiert o<strong>der</strong> sogar unter-<br />
bzw. überrepräsentiert?<br />
4. Wer entscheidet über die Zuweisung von (welchen) abgestuften Massnahmen?<br />
Mit abgestuften Massnahmen sind Sprachbildung – Sprachför<strong>der</strong>ung – Sprachtherapie<br />
(einschliesslich geson<strong>der</strong>te Beschulung) gemeint. Sowohl über die Definition <strong>der</strong> Begriffe als auch<br />
über die Zuständigkeit für Entscheidung, Planung und Durchführung <strong>der</strong> Massnahmen wird aktuell<br />
sehr kontrovers diskutiert (vgl. Deutscher Bundesverband, o.J.; Braun & Steiner, 2007b; Knebel &<br />
Welling, 2008). Wir definieren die Begriffe hier wie folgt:<br />
1. Sprachbildung für alle Kin<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Sprachentwicklung: Sprachbildung will die Wichtigkeit<br />
von gesprochener und geschriebener Sprache sowie von Kommunikationsregeln erfahrbar<br />
machen, kulturelle Unterschiede wertschätzen und Kin<strong>der</strong> ermutigen, sich auszudrücken<br />
und auszutauschen. Sinnvoll ist die Einbettung in thematische Zyklen sowie eine<br />
Orientierung am Entwicklungsstand des Kindes. Die Zuweisung zu dieser Massnahme ist<br />
obligat, die Planung obliegt einer Fachperson (Logopoädin), die Durchführung liegt in den<br />
Händen von Erziehungspersonen. Die Erziehungsperson wirkt dabei auch über die<br />
Vorbildfunktion.<br />
2. Sprachför<strong>der</strong>ung für (Sprach-) Risikokin<strong>der</strong> und für sprachauffällige Kin<strong>der</strong>:<br />
Sprachför<strong>der</strong>ung will (Sprach- und Kommunikations-) Situationen so gestalten, dass<br />
Sicherheit im Handeln mit Sprache entsteht und Regeln des sprachlichen Miteinan<strong>der</strong>s<br />
gelebt werden. Sinnvoll ist die Einbettung in thematische Zyklen sowie eine Orientierung<br />
am Entwicklungsstand des Kindes. Die Zuweisung zu dieser Massnahme erfolgt<br />
beobachtend zunächst durch die Erziehungsperson und anschließend durch die<br />
Logopädin, sowohl die Planung als auch die Durchführung mit Beratung <strong>der</strong> Eltern obliegt<br />
<strong>der</strong> Logopädin, kooperativ mit Erziehungspersonen. Die Erfolgskontrolle führt die<br />
Logopädin durch.<br />
3. Sprachtherapie für Kin<strong>der</strong> mit diagnostizierten Sprachstörungen: Sprachtherapie will gezielt<br />
an sprachlichen Bausteinen, Verknüpfungen, Reflexionen und Wirkungen ansetzen, um<br />
einen entwicklungsgerechten Sprachlern-Prozess zu unterstützen. Sinnvoll sind<br />
Lernstationen und eine Orientierung am Entwicklungsstand des Kindes. Die Zuweisung zu<br />
dieser Massnahme erfolgt durch eine logopädische Diagnostik durch die Logopädin mit den<br />
Mitteln Test – Befragung – Spontansprachanalyse; sowohl die Planung als auch die<br />
Durchführung mit Beratung <strong>der</strong> Eltern sowie die Erfolgskontrolle obliegt <strong>der</strong> Logopädin. Ist<br />
das Kind schulpflichtig kann <strong>der</strong> sprachtherapeutische Unterricht die Sprachtherapie<br />
ersetzen o<strong>der</strong> ergänzen.
Tab.1: Sprachbildung – Sprachför<strong>der</strong>ung - Sprachtherapie<br />
1: Sprachentwicklung des Kindes<br />
2: bekanntes Risiko in <strong>der</strong> Sprach-<br />
entwicklung<br />
3: beobachtete Sprachauffälligkeit<br />
4: diagnostizierte Sprachstörung<br />
5: Sprachtherapie<br />
6: Sprachför<strong>der</strong>ung<br />
7: Sprachför<strong>der</strong>ung<br />
8: Sprachbildung<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
Logopädin und Erzieherin gemeinsam<br />
zuständig<br />
Logopädin in 1. Linie zuständig, Erzieherin /<br />
Kin<strong>der</strong>gärtnerin bedingt<br />
Logopädin allein zuständig
Nach diesen Definitionen gibt es also erhebliche Überschneidungsbereiche; je<strong>der</strong> Bereich wird<br />
professionell geführt: Sprachbildung ist nicht unspezifisch-programmlos und Sprachför<strong>der</strong>ung ist<br />
keine „Sprachtherapie light“. Am Beispiel Mehrsprachigkeit zeigt sich, wie fließend die Übergänge<br />
sein können: Das mehrsprachige Kind erfährt Sprache als Gegenstand und Lernmedium, eine<br />
För<strong>der</strong>ung ist bei Auffälligkeiten in mindestens einer Sprache notwendig, eine Therapie ist<br />
angezeigt bei einem in logopädisch-diagnostischen Kategorien ausdrückbaren Defizit in<br />
mindestens einer Sprache. Analyse, Entscheidung und Beratung im Bereich <strong>der</strong><br />
Sprachentwicklung gehören bei mehrsprachigen wie bei einsprachigen Kin<strong>der</strong>n in die Hände von<br />
Sprachtherapeutinnen / Logopädinnen.<br />
Für seine Handlungsfähigkeit ist <strong>der</strong> Mensch bildungsbedürftig und in diesem Sinne beson<strong>der</strong>s<br />
sprachbildungs- und sprachför<strong>der</strong>bedürftig. Wenn in <strong>der</strong> kindlichen Entwicklung Störungen <strong>der</strong><br />
Sprache an erster Stelle <strong>der</strong> Entwicklungsstörungen stehen (vgl. Grimm, 1999; Lindlbauer-<br />
Eisenach, 2001), liegt in <strong>der</strong> Beobachtung <strong>der</strong> kommunikativen Entwicklung eine beson<strong>der</strong>e<br />
Verantwortung für alle, die Kin<strong>der</strong> in ihrem Werden begleiten.<br />
Zur aktuellen Diskussion Sprachför<strong>der</strong>ung versus Sprachtherapie kann bemerkt werden: Während<br />
Sprachbildung und Sprachtherapie konzeptionell gut verankert sind, herrscht <strong>der</strong>zeit Unsicherheit<br />
im Bereich Sprachför<strong>der</strong>ung. Gleichzeitig gibt es eine „inflationäre“ Anzahl von<br />
Sprachför<strong>der</strong>programmen, die zumeist bezeichnen<strong>der</strong>weise nicht evaluiert sind. Die<br />
Qualitätsmerkmale für Sprachför<strong>der</strong>programme werden hier in Form einer Negativliste dargeboten;<br />
die Hauptfehler <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung sind:<br />
1. fehlende fachliche Fundierung,<br />
2. fehlende fachliche Begleitung in <strong>der</strong> Konzeptionierung und im Prozess <strong>der</strong> Durchführung<br />
(und damit Überfor<strong>der</strong>ung vor allem im Bereich <strong>der</strong> Beratung für die Durchführenden),<br />
3. fehlende Fort- und Weiterbildung <strong>der</strong> Durchführenden,<br />
4. zu große Gruppen <strong>der</strong> zu för<strong>der</strong>nden Kin<strong>der</strong>,<br />
5. unklare Zielsetzungen,<br />
6. unklares För<strong>der</strong>programm (fehlen<strong>der</strong> roter Faden),<br />
7. einseitiges För<strong>der</strong>programm (z.B. strukturell-linguistisch beschränkte Programme ohne<br />
Entwicklungs- und Lebensbezug),<br />
8. zu spät einsetzende För<strong>der</strong>ung,<br />
9. Sprachför<strong>der</strong>ung ersetzt Sprachtherapie,<br />
10. zu spät einsetzende Sprachtherapie.<br />
Das Gelingen von Sprachför<strong>der</strong>programmen liegt in <strong>der</strong> Vermeidung <strong>der</strong> oben genannten Punkte<br />
unter fachlicher Führung und Begleitung.<br />
Spezifische Sprachentwicklungsstörung: Sprachstörungen führen zu Folgestörungen<br />
Störungen <strong>der</strong> Sprache führen zu „Diskontinuitäten <strong>der</strong> Entwicklungsfahrpläne“ (Dannenbauer,<br />
2001a) und wirken sich auf die gesamte Persönlichkeits-, Beziehungs-, Schul- und<br />
Lernentwicklung aus. Es handelt sich um vom normalen Entwicklungsverlauf abweichende<br />
Ausprägungen im Bereich Verstehen, Aussprache, Wortschatz, Grammatik, Redefluss u.a.,<br />
verbunden mit metasprachlichen Unsicherheiten und psychosozialen Begleitproblemen. Störungen<br />
müssen therapeutisch behandelt werden, För<strong>der</strong>ung reicht hier nicht mehr aus.<br />
Aufgrund <strong>der</strong> Hartnäckigkeit von Spracherwerbsstörungen mit einer Reihe von Folge- bzw.<br />
Begleitproblemen ist eine Praxis im Sinne von „beruhigen – abwarten – nichts tun“ nicht sinnvoll.<br />
Der Gegenpol zu „Abwarten“ bedeutet Gesundheitsför<strong>der</strong>ung, Prävention, Erfassung, Beratung,<br />
För<strong>der</strong>ung und Therapie zum richtigen Zeitpunkt und mit den geeigneten Verfahren. Dies wird von<br />
politischen Entscheidungsträgern (nicht nur) in <strong>der</strong> Schweiz ausdrücklich gewünscht und in<br />
Planungsdokumenten festgeschrieben (vgl. für die Schweiz beispielsweise die Vorgaben <strong>der</strong> EDK<br />
und des VSA Zürich).<br />
Vor <strong>der</strong> Diskussion um <strong>Prävalenz</strong> sei eine Definition für Spezifische Sprachentwicklungsstörung<br />
vorausgeschickt, weil sich Angaben zur <strong>Prävalenz</strong> in <strong>der</strong> Literatur zu einem großen Teil auf dieses<br />
Störungsbild beziehen.
Definition Spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES):<br />
Die Spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES) ist ein Syndrom ohne dominierende<br />
(hirnorganische) Grun<strong>der</strong>krankung bei normaler Umweltanregung und bei altersgerechtem<br />
Kommunikationsbedürfnis, das bei spätem Sprechbeginn mit Beeinträchtigungen bzw.<br />
Stagnationen auf allen sprachlichen Ebenen (phonologisch, semantisch, morphologisch,<br />
syntaktisch, pragmatisch) in allen Modalitäten (perzeptiv, imitativ und produktiv) einhergeht<br />
(vgl. stellvertretend Dannenbauer, 2001a) und zu Folgebeeinträchtigungen im Erlernen <strong>der</strong><br />
Schriftsprache, <strong>der</strong> allgemeinen Schulleistung und des Verhaltens führt (vgl. stellvertretend<br />
Klackenburg, 1980); im späteren Lebenslauf bleiben Fehlkompensationen bzw. Vermeidungen<br />
und kommunikativ-pragmatische sowie lese-Beeinträchtigungen zurück. Der Verlauf ist stetig<br />
und nicht sprunghaft– das heißt, dass plötzliche Entwicklungsschübe, die ein Abwarten<br />
rechtfertigten, nicht zu erwarten sind. Die Diagnose wird ab dem 3. Lebensjahr gestellt,<br />
nachdem sicher ist, dass das Kind nicht als Spätstarter (Late bloomer) doch Teil <strong>der</strong> normalen<br />
Varianz <strong>der</strong> Sprachentwicklung ist (vgl. stellvertretend Suchodoletz, 2004, S.159).<br />
Übersicht zur Qualität <strong>der</strong> <strong>Datenlage</strong> zu <strong>Prävalenz</strong>-Studien: Methodische Probleme<br />
Die <strong>Prävalenz</strong>rate bezeichnet in unserem Fall die Relation sprachentwicklungsgestörter Kin<strong>der</strong> zu<br />
allen Kin<strong>der</strong>n <strong>der</strong> relevanten Altersgruppe. <strong>Prävalenz</strong>zahlen sagen etwas über die Rate <strong>der</strong><br />
Betroffenen eines Jahrgangs und den Beobachtungs-, Beratungs-, För<strong>der</strong>- und Therapiebedarf<br />
aus. Einfach zusammengefasst sind die volkswirtschaftlich und therapeutisch relevanten Fragen:<br />
Was ist die Spannbreite <strong>der</strong> Varianz in <strong>der</strong> normalen Sprachentwicklung?<br />
In welchem Ausmaß sind Abweichungen mit welcher Beständigkeit bei welchen Kin<strong>der</strong>n zu<br />
erwarten?<br />
Welche Entwicklungsschritte sind wann, wie und in welcher Intensität zu beeinflussen?<br />
Als Überblick über das Thema „Late talker“ aus sprachheilpädaogisch-logopädischer Sicht seien<br />
die <strong>Zusammenfassung</strong>en von Suchodoletz (2004), Schlesiger (2005), Penner et al. (2005b) und<br />
Walter (2007) empfohlen.<br />
Wir können in <strong>der</strong> Erhebungsmethodik unterscheiden zwischen Quer- und<br />
Längsschnittuntersuchungen, zwischen Untersuchungen mit Eingangs- und Ausschlusskriterien für<br />
die Untersuchten (Inanspruchnahmepopulation mit unterschiedlich hohen N) und<br />
epidemiologischen Untersuchungen (Probandenzahl N ist immer gleich Gesamtpopulation). Die<br />
größte (radikaler formuliert: die einzige) Aussagekraft haben epidemiologische Studien, am besten<br />
im Längsschnitt; sie dokumentieren eine flächendeckende Gesamterfassung einer bestimmten<br />
Altersgruppe sowie <strong>der</strong>en weitere Entwicklung. Solche epidemiologischen Studien liegen auch für<br />
die Sprachentwicklung vor, allerdings überwiegend zu einem späten Zeitpunkt, nämlich als<br />
Schuleingangsuntersuchungen (Deutschland) und meist lediglich als Querschnittsuntersuchungen.<br />
Für eine <strong>Prävalenz</strong>einschätzung (Auftretenshäufigkeit) haben die epidemiologischen Studien das<br />
Hauptgewicht. Eigentlich sind aber nur solche epidemiologische Erhebungen von Aussagewert,<br />
die Kin<strong>der</strong> bzw. Familien untersuchen, die bisher keine therapeutische bzw. beraterische Hilfe<br />
bekamen: Law nennt dies treffend „natural history“ (Law, 2005, S. 166).<br />
Die meisten Studien sind aber keine epidemiologischen Erhebungen (vgl. die Metaanalyse von<br />
Law (2000) sowie den Literaturüberblick von Suchodoletz (2004) mit über 120 Quellen). Die<br />
Mehrzahl <strong>der</strong> Erhebungen sind unter N=80. Sie gehen zudem nicht darauf ein, ob bereits vor <strong>der</strong><br />
Untersuchung bzw. im Verlauf des Erhebungszeitraumes Interventionen stattfanden o<strong>der</strong> nicht. Im<br />
Vergleich <strong>der</strong> vielen Studien sind die Auswahlkriterien und das Alter <strong>der</strong> Probanden für die<br />
Stichprobe völlig unterschiedlich. Das Thema <strong>Prävalenz</strong> scheint damit oberflächlich zwar<br />
hinreichend erforscht zu sein, tatsächlich aber fehlt es an verlässlichen Aussagen.<br />
Mit einer epidemiologischen Reihenuntersuchung vor Eintritt in den Kin<strong>der</strong>garten im Alter von 3-4<br />
Jahren könnten statistische Daten für die Schweiz erhoben und mit internationalen Vorarbeiten
verglichen werden. Voraussetzungen sind ein konstantes Design, konstantes Alter, konstante<br />
Spracherfassungsverfahren und konstante Erhebung von Begleitdaten. Diese Daten liegen <strong>der</strong>zeit<br />
nicht vor. „Weitere Studien sind zu for<strong>der</strong>n“, ist damit keine Floskel, mit <strong>der</strong> <strong>Forschung</strong>sprojekte<br />
eben zu schließen pflegen, son<strong>der</strong>n entspricht einem tatsächlichen Bedarf.<br />
Die angesprochenen Mängel bezüglich eines Vergleichs <strong>der</strong> vorliegenden Studien zur <strong>Prävalenz</strong><br />
verunmöglichen eine Metaanalyse und erschweren eine seriöse Festlegung auf eine Zahl für die<br />
<strong>Prävalenz</strong> erheblich. Für die Durchsicht <strong>der</strong> Studien gilt, was Suchodoletz im Vorwort seines<br />
Buches über Entwicklungsstörungen schreibt: „ Für eine realistische Einschätzung von Chancen<br />
und Risiken entwicklungsauffälliger Kin<strong>der</strong> sind systematische Beobachtungen unter kontrollierten<br />
Bedingungen erfor<strong>der</strong>lich. Zahlreiche methodisch gut strukturierte, prospektive Längsschnittstudien<br />
wurden in den letzten Jahren durchgeführt, so dass inzwischen empirische Befunde über die<br />
langfristige Entwicklung von Kin<strong>der</strong>n mit Entwicklungsbeson<strong>der</strong>heiten vorliegen. (…) Trotz <strong>der</strong><br />
vorliegenden Ergebnisse ist die <strong>Datenlage</strong> jedoch verwirrend. Die mitgeteilten Erfahrungen sind<br />
uneinheitlich und aufgrund methodischer Unterschiede ist kaum eine Studie mit einer an<strong>der</strong>en<br />
vergleichbar.“ (Suchodoletz 2004)<br />
Bei unserer eigenen Literaturrecherche wurden im deutschen Sprachraum alle Leitartikel <strong>der</strong><br />
Jahrgänge 2000 bis 2007 <strong>der</strong> Zeitschriften Forum Logopädie, L.O.G.O.S Interdisziplinär, Die<br />
Sprachheilarbeit, Sprache-Stimme-Gehör, und Frühför<strong>der</strong>ung Interdisziplinär durchgesehen. Über<br />
die elektronischen Suchsysteme <strong>der</strong> Universitätsbibliotheken (Nebis und IDS) sowie im Internet<br />
wurde ebenfalls nach entsprechenden Studien innerhalb des deutschen Sprachraumes gesucht. In<br />
den berücksichtigten deutschsprachigen Fachzeitschriften sind außer dem Beitrag von Heinrichs<br />
(2003) keine expliziten Studien zur <strong>Prävalenz</strong> von SSES mit Erhebung eigener Daten zu finden.<br />
Sofern Daten aus an<strong>der</strong>en Quellen o<strong>der</strong> aus dem englischsprachigen Raum stammen, sind diese<br />
ebenfalls nicht in einer Metaanalyse vergleichbar, da die Originaldaten nicht verfügbar sind und<br />
sich zu viele Divergenzen ergeben hinsichtlich folgen<strong>der</strong> Facetten:<br />
- unterschiedliche Prämissen, bezüglich <strong>der</strong> Normvarianz in <strong>der</strong> Sprachentwicklung,<br />
- uneinheitliche Definition „sprachgestört“,<br />
- nicht transparente und/o<strong>der</strong> sehr unterschiedliche diagnostischeVerfahren zur Feststellung<br />
von Sprachstörungen (befragt versus getestet, standardisiert versus informell),<br />
- unterschiedliche Alterszeitpunkte bzw. Testzeiträume,<br />
- unterschiedlich erhobene Eingangs- bzw. Begleitdaten (Einflussfaktoren Bildung,<br />
Intelligenz, Lebenssituation, Mehrsprachigkeit),<br />
- teils unklare Ausschlusskriterien (generalisierte Entwicklungsstörung),<br />
- Querschnitt versus Längsschnitt,<br />
- nicht transparente Informationen bezüglich erhaltener o<strong>der</strong> nicht erhaltener Therapie<br />
während des Untersuchungszeitpunktes bzw. -zeitraumes,<br />
- mit versus ohne Kontrollgruppe.<br />
Teilweise kommt man mit dem gleichen Instrument in vergleichbaren Gebieten zu <strong>Prävalenz</strong>zahlen<br />
die um 100% divergieren: Im Land Nie<strong>der</strong>sachsen reichen die mit dem gleichen standardisierten<br />
Instrument zur Erfassung des Sprachstandes erzielten <strong>Prävalenz</strong>zahlen vor Einschulung von<br />
18,1% bis 38%. Nach Stitzinger (2008) scheint das weniger an unterschiedlichen Populationen zu<br />
liegen, son<strong>der</strong>n vielmehr an Spielräumen für Interpretationen. Von hier ausgehend kann nur eine<br />
realistische Schätzung vorgenommen werden, nicht jedoch von datengesicherten Erkenntnissen<br />
gesprochen werden. Dies wirkt sich natürlich auf die Entscheidungsgrundlage aus: Wir müssen<br />
Entscheidungen für Beobachtungs-, Beratungs- und Therapieindikationen aufgrund von <strong>der</strong>zeit<br />
vagen Zahlen treffen.<br />
Es existieren, vorausgehend zu unseren eigenen Recherchen, drei Metaanalysen:<br />
In Law (2000) wird die Literatur aus 30 Jahren, im Zeitraum 1967-1997, untersucht. Er<br />
findet in diesem Zeitraum 53 Studien, die Aussagen zur <strong>Prävalenz</strong> machen. Als<br />
aussagekräftig (unter an<strong>der</strong>em Erfüllung des Kriteriums „natural history“ (Law, 2005, S.<br />
166)) werden nur 18 bewertet.<br />
Im Buchbeitrag von Suchodoletz (2004) werden mehr als 120 Quellen berücksichtigt. Er<br />
macht deutlich, dass die Frage <strong>der</strong> Einschätzung <strong>der</strong> Prognose für Late-talker (Wie viele
<strong>der</strong> sprachgefährdeten Kin<strong>der</strong> werden ein Jahr später aufholen?) indirekt zur <strong>Prävalenz</strong> im<br />
Alter von 3 Jahren führt. Das primäre Ziel <strong>der</strong> Studien ist damit nicht die<br />
<strong>Prävalenz</strong>forschung, son<strong>der</strong>n die Einschätzung von Entwicklungsverläufen.<br />
Der Beitrag von Penner et al. (2005b) bietet eine Beurteilung von 24 Studien.<br />
In <strong>der</strong> Gesamtschau machen die drei genannten Überblicksarbeiten deutlich, wie groß die<br />
Spannbreite <strong>der</strong> <strong>Prävalenz</strong>angaben ist; diese reichen von knapp über 0 bis fast 90% für<br />
verschiedene Altersstufen. Beispielsweise wird in einem deutschen Standardwerk (Böhme, 1997)<br />
für die Gruppe mehrsprachig aufwachsen<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>, basierend auf einer Screening-Untersuchung,<br />
eine Gefährdungsgröße von 66% angenommen.<br />
Die unter folgendem Link herunterzuladende Liste berücksichtigt in einer Auswahl jene Studien, die<br />
(unter Betonung des deutschsprachigen Raumes) eigene Daten erhoben haben, also nicht nur<br />
Daten an<strong>der</strong>er Untersucher referieren; wir kommen zu einem Vergleich von über 30 Quellen. Die<br />
Anzahl <strong>der</strong> Quellen für Studien zur <strong>Prävalenz</strong> nimmt stetig zu, allerdings für den deutschen<br />
Sprachraum vor allem in <strong>der</strong> Bundesrepublik und da nur bezogen auf das Alter ein halbes Jahr vor<br />
Einschulung.<br />
Ausschnitt Literaturliste mit Studien, die eigene Daten zur <strong>Prävalenz</strong> erhoben haben<br />
1. Anke, B. (2004): Evaluation von Verfahren zur Erfassung von Sprachentwicklungsverzögerungen bei<br />
zweijährigen Kin<strong>der</strong>n. Diss. Ludwig-Maximilians-Universität München.Unveröffentlicht?<br />
2. Der Landrat, Kreis Gütersloh, Abteilung Arbeit und Soziales (Hrsg). (2005). Bericht zur<br />
logopädischen/ sprachtherapeutischen Versorgung im Kreis Gütersloh. August 2005. Internet:<br />
http://www.loegd.nrw.de/1pdf_dokumente/2_gesundheitspolitik_gesundheitsmanagement/sammlungkgberichte/zentraler-berichtsserver/nrw/gt_kin<strong>der</strong>gesundheitsbericht_2004.pdf<br />
[21.5.2008].<br />
3. Grimm, H., Aktas, M., Jungmann, T., Peglow, S., Stahn, D. & Wolter, E. (2004). Sprachscreening im<br />
Vorschulalter: Wie viele Kin<strong>der</strong> brauchen tatsächlich eine Sprachför<strong>der</strong>ung? In: Frühför<strong>der</strong>ung<br />
Interdisziplinär, 23, S. 108-117.<br />
4. Hansestadt Lübeck, <strong>der</strong> Bürgermeister, Gesundheitsamt (Hrsg.). (2000). Lübecker<br />
Kin<strong>der</strong>gesundheitsbericht, Daten, Fakten und Einschätzungen zur gesundheitlichen Lage <strong>der</strong><br />
Kin<strong>der</strong> in Lübeck. November 2000. Internet:<br />
http://www.luebeck.de/bewohner/umwelt_gesundheit/gesundheit/gesundheits<br />
bericht/files/kin<strong>der</strong>gesundheitsbericht2000.pdf Seite nicht mehr zu finden<br />
5. Heinrichs, G. (2003). Logopädischer Interventionsbedarf im Kin<strong>der</strong>garten. Aufschlussreiche<br />
epidemiologische Untersuchungen durch den logopädischen Dienst des Gesundheitsamtes Düsseldorf<br />
in Kin<strong>der</strong>tagesstätten. Forum Logopädie, 3 (17), S. 38-40.<br />
6. Kauschke, C. (2003). Sprachtherapie bei Kin<strong>der</strong>n zwischen 2 und 4 Jahren – ein Überblick über<br />
Ansätze und Methoden. In de Langen-Müller, U., Iven, C. & Maihack, V.: Früh genug. Zu früh, zu spät?<br />
(S. 152-183). Köln: ProLog.<br />
7. Kauschke, C. (2005). Sprachliche Profile bei Kin<strong>der</strong>n mit spezifischer Sprachentwicklungsstörung. In:<br />
L.O.G.O.S. Interdisziplinär, 13 (1), 2005. S. 21-28.<br />
8. Land Schleswig- Holstein vertreten durch das Ministerium für Soziales, Gesundheit und<br />
Verbraucherschutz (2004). Einschulungsuntersuchungen des Kin<strong>der</strong>- und Jugendärztlichen<br />
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=publicationFile.pdf Seite nicht mehr zu finden<br />
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und Jugendliche im Märkischen Kreis. Lüdenscheid, 2006. Internet: http://www.maerkischerkreis.de/gesundheit_jugend_soziales/GesundheitsberichtKin<strong>der</strong>Jugendliche.pdf<br />
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12. Marschik, P.B., Einspieler, H., Vollmann, R. & Einspieler, Ch. (2005). Wie viel erzählen uns die ersten<br />
Wörter? L.O.G.O.S. Interdisziplinär,13/), S. 8-14.<br />
13. Mayr, T. (1990). Zur Epidemiologie von Sprach-, Sprech- und Kommunikationsstörungen bei<br />
Vorschulkin<strong>der</strong>n. Ergebnisse einer Screening-Untersuchung – Konsequenzen für die Gestaltung eines<br />
angemessenen Betreuungssystems. Heilpädagogische <strong>Forschung</strong>, 16 (1), S. 14 – 20.<br />
14. Mengering, F. (2005). Bärenstark – Empirische Ergebnisse <strong>der</strong> Berliner Sprachstandserhebung an<br />
Kin<strong>der</strong>n im Vorschulalter.: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 8, S. 241-262.<br />
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Nie<strong>der</strong>sächsischer Kin<strong>der</strong>- und Jugend- Gesundheitsbericht. Internet: Hannover, 2002.<br />
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17. Rosenkötter, H. (2004). Studie zur Früherkennung von Legasthenie. Forum Logopädie, 1 (18), S. 6-13..<br />
18. Schöler, H. et al. (2002). Einschulungsuntersuchungen 2002 in Mannheim. (Arbeitsbericht aus dem<br />
<strong>Forschung</strong>sprojekt „Differentialdiagnostik“ Nr. 13).Heidelberg: Pädagogische Hochschule, Institut für<br />
Son<strong>der</strong>pädagogik, Abt. Psychologie in son<strong>der</strong>pädagogischen Handlungsfel<strong>der</strong>n.<br />
19. Schöler, H., Dutzi, I., Roos, J., Schäfer, P., Grün-Nolz, P. & Engler-Thümmel, H (2004).<br />
Einschulungsuntersuchungen 2003 in Mannheim (Arbeitsberichte aus dem <strong>Forschung</strong>sprojekt<br />
„Differenzialdiagnostik" Nr. 16). Heidelberg: Pädagogische Hochschule, Institut für Son<strong>der</strong>pädagogik,<br />
Abt. Psychologie in son<strong>der</strong>pädagogischen Handlungsfel<strong>der</strong>n.<br />
20. Schönweiler, R. (1993). Audiometrische, sprachliche, entwicklungspsychologische und<br />
soziodemographische Befunde bei 1300 sprachauffälligen Kin<strong>der</strong>n und <strong>der</strong>en Bedeutung für ein<br />
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21. Schönweiler, B., Schönweiler, R., Radü, H.-J. & Ptok, M. (2000). Myofunktionelle Störungen und <strong>der</strong>en<br />
mögliche Auswirkungen auf die Hör- und Sprachentwicklung. Sprache Stimme Gehör, 24, 2000. S. 177-<br />
181.<br />
22. Shriberg, L.D., Tomblin, J.B. & McSweeny, J.L. (1999). Prevalence of speech delay in 6-year-old<br />
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Research, 42, S. 1461-1481.<br />
23. Siegmüller, J. & Fröhling, A. (2003). Therapie <strong>der</strong> semantischen Kategorisierung als<br />
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Vergangenheit. Sprache Stimme Gehör, 27, 2003. S. 135-141.<br />
24. Siegmüller, J., Herzog, C. & Hermann, H. (2005). Syntaktische und lexikalische Aspekte beim Verstehen<br />
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http://www.beratungskompass.de/emden/_ipool/gbericht/Gesundheitsbericht2003.pdf [21.5.2008].<br />
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29. Walter, M. (2005). Der Einsatz von ELFRA-2 und SETK-2 in einer Kin<strong>der</strong>arztpraxis – Früherfassung<br />
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30. Weismer, S.E., Murray-Branch, J. & Miller, J.F. (1994). A prospective longintudinal study of Language<br />
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Konsequenzen für das Verständnis von Sprachentwicklungsstörungen. In: de Langen-Müller, U., Iven,<br />
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(nicht eher “Olds”?)be identified at 18 Month? Evaluation of a Screening of the MacArthur-Bates<br />
Communicative Development Inventories.Journal of Speech, Language, and Hearing Research, 49, S.<br />
237-247.<br />
Beispiel einer Untersuchung mit erkenntnisleitendem Interesse<br />
Die methodischen Probleme sind bereits im vorangegangenen Kapitel angesprochen<br />
worden. Es muss erwähnt werden, dass in manchen Untersuchungen die Ergebnisse vor<br />
Beginn <strong>der</strong> Datenerhebung im Sinne eines erkenntnisleitenden Interesses bereits fest<br />
zu stehen scheinen. Solche Untersuchungen dienen dazu, entwe<strong>der</strong> Entscheidungen des<br />
Auftraggebers o<strong>der</strong> die eigene Vorgehensweise zu legitimieren. Es lohnt sich also, manche<br />
Untersuchungen beson<strong>der</strong>s zu hinterfragen. Ein Beispiel hierfür ist eine<br />
englische Publikation, in <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> im Alter von dreieinhalb Jahren ein Jahr lang<br />
beobachtetet wurden (Glogowska, Roulstone, En<strong>der</strong>by und Peters, 2000). Es ist keine<br />
Untersuchung zur <strong>Prävalenz</strong>, hat aber doch einen direkten Zusammenhang damit, da es<br />
um Therapiebeurteilungen und -entscheidungen geht. Die Ausgangsfrage war, ob<br />
Sprachtherapie im Vergleich zu "watchful waiting" (Glogowska et al., 2000) bei monolingualen,<br />
nicht primärbehin<strong>der</strong>ten Kin<strong>der</strong>n einen Effekt zeigt. Die Studie kommt zu einem negativen<br />
Ergebnis: Sprachtherapie zeige gegenüber "freundlichem Abwarten und Vertrösten" nur in einem<br />
von fünf Teilbereichen ("auditory comprehension") nennbare Unterschiede, Verbesserungen<br />
betreffen im Vergleich nur 30% <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>. Sieht man sich das<br />
Zustandekommen <strong>der</strong> Daten aber an, hat man die Vermutung, dieses Ergebnis stand schon<br />
vorher fest, zumal <strong>der</strong> Hintergrund, dass Therapie das englische "National Health System, NHS"<br />
erheblich belaste, bereits im Kapitel "Introduction" deutlich hervorgehoben wird. Das Projekt ist<br />
zunächst sehr sorgfältig angelegt: In 16 Partnerkliniken werden aus 509 Kin<strong>der</strong>n 159<br />
kriteriengeleitet ausgewählt und in zwei Gruppen randomisiert eingeteilt. Es wird eine Reihe von<br />
Daten zur Sprache und zu Begleitfaktoren für den Vergleich erhoben; diese werden nach einem
halben- und nach einem Jahr kontrolliert. Schaut man aber auf die Definition von "Therapie" zeigt<br />
sich: Im Mittel hatten die Kin<strong>der</strong> <strong>der</strong> Therapiegruppe einmal im Monat Therapie, wobei die<br />
Bandbreite 1 mal wöchentlich bis einmal in 10 Wochen betrug, die Lektionen umfassten dabei im<br />
Mittel 47 Minuten mit einer Bandbreite von 20 bis 75 Minuten. Diese Untersuchung kann damit als<br />
Musterbeispiel dafür gelten, wie man methodisch korrekt Daten erhebt und vergleicht und aufgrund<br />
einer falschen Prämisse (Definition "Therapie") falsche Schlussfolgerungen zieht.<br />
Ergebnisse zur <strong>Prävalenz</strong>, sinnvolle Zeitpunkte <strong>der</strong> Betrachtung<br />
Unsere weiteren Ausführungen glie<strong>der</strong>n die <strong>Prävalenz</strong>zahlen in drei Altersstufen; damit wird klar,<br />
dass wir nicht von <strong>Prävalenz</strong> bzw. von Häufigkeiten <strong>der</strong> Sprachstörungen sprechen sollten („wie<br />
viele Kin<strong>der</strong> sind sprachlich beeinträchtigt?“), son<strong>der</strong>n von Häufigkeiten zu einem bestimmten<br />
Zeitpunkt („wie viele Kin<strong>der</strong> sind sprachlich zu den jeweils relevanten Zeitpunkten beeinträchtigt?“).<br />
Diese drei Zeitpunkte sind:<br />
24 Monate: Dies ist <strong>der</strong> Zeitpunkt, zu dem ein sprunghaftes Wortschatzlernen erfolgt und<br />
die Verknüpfbarkeit sprachlicher Bausteine erprobt wird (Phoneme – Morpheme –<br />
Lexeme),<br />
36 Monate: Bei einer normalen aber verzögerten Sprachentwicklung sollte die Verzögerung<br />
ca. ein Jahr nach <strong>der</strong> ersten Erfassung, also jetzt, aufgeholt („Late bloomer“), ansonsten<br />
kann von ernsteren Sprachlernproblemen ausgegangen werden („Late talker“ o<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><br />
mit Spezifischer Sprachentwicklungsstörung),<br />
Ein halbes Jahr vor <strong>der</strong> Einschulung: Hier ist die letzte „Station“ zur Intervention, wenn<br />
Kin<strong>der</strong> Probleme mit <strong>der</strong> Sprachlichkeit haben und Chancengleichheit gewahrt werden soll.<br />
Die weitere Darstellung folgt diesen drei Lebensabschnitten <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>.<br />
Ergebnisse zur <strong>Prävalenz</strong>, Zeitpunkt 24 Monate<br />
Grundsätzlich stellt sich die Frage, wie früh mit welchem Verfahren eine wie verlässliche Aussage<br />
über eine sich ankündigende Sprachentwicklungsstörung gemacht werden kann. Wir vertreten die<br />
Auffassung, dass mit zwei Jahren bereits Gefährdungen erkannt werden können. Dass Aussagen<br />
zu einem frühen Zeitpunkt <strong>der</strong> kindlichen Entwicklung sinnvoll und möglich sind, belegt die<br />
Zwillings-Untersuchung von Oliver et al. (2004) (N= 806): Die korrekte Identifikation einer<br />
Sprachentwicklungsbeeinträchtigung erhöht sich zwar mit zunehmendem Alter (was auch zu<br />
erwarten ist) - jedoch nicht wesentlich: Bereits mit 2 Jahren ist die Vorhersagewahrscheinlichkeit<br />
76,6%. Mit 3 Jahren steigt sie auf 77,6% und mit 4 Jahren auf 82,3% (bezogen auf 4,6 Jahre alte,<br />
sprachverzögerte Kin<strong>der</strong>). Dieses Ergebnis ermutigt zur frühen Diagnostik.<br />
Tab. 2: Vorhersagewahrscheinlichkeit für eine Sprachentwicklungsbeeinträchtigung<br />
Einige Autoren plädieren zur Erfassung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> sogar vor dem 24. Lebensmonat. Für das<br />
Statement „so früh wie möglich“ steht Weissenborn (2003): Er ist <strong>der</strong> Ansicht, dass Fähigkeiten wie<br />
die <strong>der</strong> Lautunterscheidung und <strong>der</strong> Sprachrhythmuserkennung die weitere sprachliche
Entwicklung bahnen. Eine frühe Erkennung (schon mit 15 Monaten) und eine frühe Intervention<br />
seien sinnvoll. Neben Oliver und Weissenborn ist vor allem Penner ein vehementer Verfechter<br />
nicht nur einer frühen Diagnostik, son<strong>der</strong>n auch einer frühen Therapie: Es sei unmöglich, „die<br />
entstandenen abweichenden Regelrepräsentationen unter natürlichen Lernbedingungen o<strong>der</strong><br />
auch...“ durch „...bislang übliche, spät einsetzende therapeutische Interventionsformen zu<br />
revidieren“ (Penner, 2003, S. 116). Laut Penner sind Kin<strong>der</strong> mit späteren Sprachlernproblemen gut<br />
erkennbar an Rhythmusproblemen bereits in <strong>der</strong> Lallphase. „Lall-Analyse“ plus Elternbefragung<br />
ergäben eine sehr gute Auslesequote mit 18 Monaten, an die eine intensive 6-monatige Therapie<br />
mit Eltern als Co-Therapeuten anschließen solle. Für unter zwei Jahre plädieren auch Westerlund<br />
et al. (2006): In ihren Untersuchungen ist das Kriterium „less than eight words at age of 18 month“<br />
(Westerlund et al., 2006) <strong>der</strong> beste Prädikator für einen später verzögerten Entwicklungsverlauf; er<br />
sei den Kriterien Sprachverständnis und Gestikkompetenz überlegen. Laut dieser Studie können<br />
11-12% eines Jahrgangs relativ sicher über das das 8-Wort-Kriterium (bei einer Versuchsgruppe<br />
von N= 2080) als später sprachgestört ausgelesen werden. Da dieses Kriterium nur zu 50% sicher<br />
klassifiziert, kann von einer <strong>Prävalenz</strong> von ca. 22-24% ausgegangen werden. Diese Zahl deckt<br />
sich relativ gut mit den <strong>Prävalenz</strong>einschätzungen von Weismer et al. (1994), die jedoch nur 23<br />
Zweijährige untersucht haben (<strong>Prävalenz</strong>: 17%).<br />
Insgesamt sind generalisierte Aussagen zur <strong>Prävalenz</strong> von Spracherwerbsstörungen im Alter von 2<br />
Jahren schwierig, da, wie bereits gesagt, die Erhebungsmethode teils problematisch, teils nicht<br />
nachvollziehbar ist. Größtenteils steht bei Erhebungen nicht die Frage <strong>der</strong> <strong>Prävalenz</strong> im<br />
Vor<strong>der</strong>grund, son<strong>der</strong>n die Frage nach <strong>der</strong> Prognose und den Indikatoren für eine Vorhersage.<br />
Allgemein scheint ein Konsens zu sein, dass die Zuschreibung „sprachentwicklungsgefährdet“ zum<br />
Zeitpunkt 2 Jahre (und nicht früher) erfolgen soll; als Schlüsselkriterien gelten, wenn das Kind in<br />
seiner expressiven Sprache weniger als 50 Worte spricht (angenommene Norm: 155 Worte) und<br />
keine Zwei-Wort-Kombination produziert, vgl. unter an<strong>der</strong>em Kauschke (2003), Suchodoletz<br />
(2004).<br />
Gegen ausschließlich sprachlich-strukturelle Kriterien zur Beurteilung des Sprachstandes sprechen<br />
sich Zollinger (2000 sowie 2004) und Szagun (2007) aus. Entscheidend sei das Verhalten,<br />
bezogen auf Kommunikation das Spiel und Sozialverhalten, Aufmerksamkeit, Symbolverständnis<br />
und das emotionale Erleben des Kindes mit eventuellen Verunsicherungen in <strong>der</strong> Bindung zur<br />
Bezugsperson. Szagun (2007) meint, dass die Varianz <strong>der</strong> Normalität in <strong>der</strong> Sprachentwicklung zu<br />
groß sei, um zu fixen Zeitpunkten <strong>der</strong> Entwicklung des Kindes eine Setzung vorzunehmen, die<br />
spracherwerbsgestört von late talker trennt.<br />
Die Fülle <strong>der</strong> unterschiedlichen Einschätzungen zur <strong>Prävalenz</strong> mit jeweils unterschiedlichen<br />
Prämissen wird bei Suchodoletz zusammengefasst auf die Spannbreite 10-20% für 2-jährige. Er<br />
hält dabei die Untersuchungen von Rescorla (1989) und Doil (2002) für beson<strong>der</strong>s aussagekräftig.<br />
Konsequenzen für Indikation, Beratung und Therapie: Wenn ein Kind Sprachprobleme zeigt, sich<br />
die Eltern o<strong>der</strong> das Umfeld Sorgen machen und evtl. zudem eine familiäre Belastung besteht, ist<br />
eindeutig Anlass gegeben, die Sprach- und Gesamtentwicklung zu klären. Dies gilt umso mehr, je<br />
stärker sich Defizite auch im sprachlich-rezeptiven Bereich zeigen, da hier <strong>der</strong> Verlauf als<br />
hartnäckig gesichert ist. Beratung, Abklärung und frühe Begleitung gehören in professionelle<br />
(logopädische) Hände (vgl. Braun/Schmolke/Steiner, 2007). Es ist von einem logopädischen<br />
Beratungsbedarf auszugehen, <strong>der</strong> bei 15% <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> eines Jahrgangs liegt. Beratung bedeutet<br />
Erfassung von Risikofaktoren, Aufklärung, Beobachtung des betroffenen Kindes sowie Begleitung<br />
und Bestärkung <strong>der</strong> Familie mit einem als „Late-talker“ eingeschätzten Kind, die Koordination <strong>der</strong><br />
Informationen und Wie<strong>der</strong>vorstellung nach einem Dreiviertel Jahr. Pro Jahrgang ist bei 15% <strong>der</strong><br />
Gesamtpopulation <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr von einem Bedarf für<br />
professionelle Begleitung, Beratung und Information in Höhe von mindestens 10 Stunden<br />
auszugehen. Die Festlegung auf 10 Stunden pro Kind ist eine willkürliche Festlegung, die im<br />
Prozess evaluiert werden muss. Anhand <strong>der</strong> geschätzten <strong>Prävalenz</strong> plus Setzung des<br />
Stundenumfangs pro Kind lässt sich <strong>der</strong> Bedarf pro Institution, pro Gemeinde, pro Kanton für<br />
logopädische Interventionen berechnen; die Berechnungsformel lautet:
Bedarfsschlüssel Logopädie im Alter von 2 Jahren aufgrund <strong>der</strong> <strong>Prävalenz</strong>einschätzung:<br />
Anzahl Kin<strong>der</strong> pro Jahrgang x 0.15% (Betroffene) x 10 (Beratungsstunden)<br />
Ergebnisse zur <strong>Prävalenz</strong>, Zeitpunkt 36 Monate<br />
Die Frage, wie viele zweijährige Kin<strong>der</strong> als Late-talker in ihrer Entwicklung als gefährdet eingestuft<br />
werden können, wird relativ einheitlich im Sinne von 15% eines Jahrgangs beantwortet.<br />
Demgegenüber wird die Frage, welche Kin<strong>der</strong> ein Jahr später, im Alter von 3 Jahren, aufgeholt<br />
haben, bzw. welche Kin<strong>der</strong> als sprachauffällig o<strong>der</strong> therapiebedürftig eingestuft werden müssen,<br />
sehr kontrovers diskutiert. Die unterschiedlichen Sichtweisen lassen sich zu drei Positionen<br />
zusammenfassen.<br />
Erstens: Eine Reihe von Studien (Übersicht in Suchodoletz (2004, S.161f)) scheinen zu belegen,<br />
dass etwa 50% <strong>der</strong> Late-talker als late-bloomer (Aufholer bzw. „Spätzün<strong>der</strong>“), also Kin<strong>der</strong>, die von<br />
selbst auf den Entwicklungsstand kommen, aufholen ohne dass eine Intervention notwendig wäre.<br />
Hiervon ausgehend, ist eine <strong>Prävalenz</strong> von 7,5% im Alter von 3 Jahren als Minimum ableitbar.<br />
Stellvertretend sind hier die Studien von Bishop/Edmundson (1987), Rescorla 2002 und<br />
Grimm/Doil (2000) zu nennen. Die 50%-Formel als Untergrenze <strong>der</strong> <strong>Prävalenz</strong>einschätzung<br />
scheint nicht wirklich bezweifelt zu werden, wenngleich einige Studien ein noch wesentlich<br />
positiveres Bild des Aufholens zeichnen: Laut <strong>der</strong> Studie von Whitehurst/Firschel (1994) mit 22<br />
Late-talkern holten ca. 85% den Entwicklungsrückstand binnen 1.5 Jahren (bis zum Alter von 3.5<br />
Jahren) auf. Diese Zahl wird von Girolametto et al. (2001) bestätigt.<br />
Zweitens: An<strong>der</strong>e Studien (vgl. Suchodoletz 2004) legen nahe, die 50%-Einschätzung in Richtung<br />
66% zu korrigieren, d.h. dass zwei Drittel <strong>der</strong> Late-talker keine gute Prognose haben bzw. eine<br />
Sprachentwicklungsstörung entwickeln werden und professionelle Begleitung brauchen. Hiervon<br />
ausgehend, ist eine <strong>Prävalenz</strong> von 10% im Alter von 3 Jahren ableitbar. Für eine Zwei-Drittel-<br />
Formel sprechen auch die Ergebnisse von Paul et al. (1997): 40% <strong>der</strong> Late talker normalisieren<br />
sich in ihrer Entwicklung im Alter von 3 Jahren. Ebenso stellten Rescorla et al. (1997) fest, dass<br />
zwei Drittel <strong>der</strong> Late-talker von morpho-syntaktischen Problemen langfristig begleitet werden –<br />
sowohl zum Untersuchungszeitpunkt im 3. als auch im 4. Lebensjahr sind diese noch nachweisbar.<br />
Und, vielleicht noch wichtiger: Wer im 3. Lebensjahr nicht aufgeholt hat, verbessert sich auch bis<br />
zum 4. Lebensjahr nicht. In <strong>der</strong> gleichen Studie werden deutliche pragmatische Auffälligkeiten<br />
beschrieben, die im Alter von 8-9 Jahren beobachtbar sind (z.B. weniger Fragen, seltenere<br />
Antworten) und mit Sprachverständnisdefiziten im Alter von 13 Jahren einhergehen. Conti-<br />
Ramsden et al. (2001) nehmen prognostisch die extremste Position ein: Wer mit 7 Jahren als<br />
sprachentwicklungsgestört erkannt wurde, wird mit einer Wahrscheinlichkeit von 90% deutliche<br />
Sprachprobleme bis über das Jugendalter hinaus beibehalten. Auch Beitchman et al. (1996)<br />
stützen die These <strong>der</strong> schlechten Prognose durch Abwarten: Die bei 5-jährigen festgestellten<br />
Sprachstörungen (N=1655), die zur <strong>Prävalenz</strong>einschätzung von 12,6% führen, verlieren sich bis<br />
ins Erwachsenenalter nur in 25% <strong>der</strong> Fälle. Laut Hall & Tomblin (1978) klagen 50-60% <strong>der</strong><br />
Erwachsenen mit früher diagnostizierten Sprachstörungen über Sprachprobleme; diese Zahl wird<br />
von Rutter et al. (1992) bei einer Befragung von 24-jährigen bestätigt. Nach Ward (1999) schaffen<br />
lediglich 15% <strong>der</strong> Late-talker (N=122) den Sprung zu den Late-bloomern, falls eine Therapie<br />
ausbleibt. Ward (1999) zeigt zusätzlich einen ganz erheblichen Effekt durch eine frühe Therapie:<br />
Während in <strong>der</strong> Untersuchungsgruppe mit Therapie nur 5% <strong>der</strong> Probanden mit<br />
Sprachentwicklungsstörungen verblieben, wurden in <strong>der</strong> Kontrollgruppe ohne Therapie 85% als<br />
sprachbeeinträchtigt eingestuft. Auch Weismer et al. (1994) plädieren für eine frühe Therapie, da<br />
bei 3 <strong>der</strong> 4 untersuchten Kin<strong>der</strong> mit einer Gefährdung (Gesamt-N=23) die Probleme fast ganz<br />
aufgehoben werden konnten. Die in den beiden vorangegangenen Abschnitten beispielhaft<br />
genannten Zahlen dokumentieren, dass die Angaben zur <strong>Prävalenz</strong> im Alter von 3 Jahren<br />
insgesamt enorm variieren: Von den ca. 15% Late-talkern des Gesamtjahrgangs <strong>der</strong> Zweijährigen<br />
entwickeln sich 15-80% zu Late-Bloomern. Diese große Spannbreite ist sehr unbefriedigend.<br />
Therapeutische Entscheidungen zwischen sinnvollem Abwarten und gezieltem Intervenieren zu<br />
fällen ist mit diesen Zahlen nahezu unmöglich. In den Metaanalysen von Law et al. (2000) und
Suchodoletz (2004) wird für 6% eines Jahrgangs unter Hinweis auf die Übereinstimmung mit den<br />
Studien von Blanton (1916) und <strong>der</strong> NINDS-Studie ((1969), beide Studien zitiert in Suchodoletz<br />
(2004)) mit 87.000 Kin<strong>der</strong>n als Untergrenze plädiert. Für diese Untergrenze spielten aber<br />
pragmatische Kriterien keine Rolle, sodass die <strong>Prävalenz</strong>zahl nach oben korrigiert werden muss.<br />
Drittens: Eine radikale Position nehmen Penner et al. (2005b) nach Analyse von 24 Studien ein,<br />
indem ein Aufholen zu einem verpassten Zeitpunkt (bei einem „geschlossenen Lernfenster“ Penner<br />
et al. (2005b)) grundsätzlich in Frage gestellt wird. Mit „Lernfenster“ ist die Konzentration auf<br />
bestimmte Informationsmerkmale gemeint; nur so könne ein hierarchisches Schritt-für-Schritt-<br />
Lernen erfolgen. Die Plastizität des späteren Nachholens ist damit grundsätzlich eingeschränkt,<br />
sodass Aufholen immer ein „Aufholen nur bis zu einem unteren Level“ o<strong>der</strong> „Kompensation statt<br />
wirklichem Aufholen mit <strong>der</strong> Option des späteren Absinkens <strong>der</strong> (sprachlichen) Leistung bei<br />
erhöhten (schulischen) Anfor<strong>der</strong>ungen“ ist. Penner et al. (2005b) berufen sich vor allem auf<br />
Stothard et al. (1998), Schakib-Ekbatan et al. (1995) Rescorla (2000) und Beitchman (2001), also<br />
auf jene Studien, die bei einer Vielzahl <strong>der</strong> Late-talker-Kin<strong>der</strong> dauerhafte Sprachprobleme<br />
ermittelten. Für Penner et al. (2005b) gibt es drei Late-talker-Entwicklungsverläufe, wenn keine<br />
frühe (d.h. unter 2 Jahren einsetzende) Beratung, Elternbegleitung und Therapie erfolgt. Erstens:<br />
Die Kin<strong>der</strong> nähern sich an die Norm an, bleiben jedoch, gemessen an ihrer Intelligenz, nur im<br />
unteren Grenzbereich. Zweitens: Die Kin<strong>der</strong> schaffen es kurzfristig, knapp in den Normbereich zu<br />
kommen, später sinken die Leistungen jedoch wie<strong>der</strong> ab. Drittes: Die Kin<strong>der</strong> bleiben durchgehend<br />
auffällig.<br />
<strong>Zusammenfassung</strong>: Nahezu alle Studien sind sich unabhängig von <strong>der</strong> Einschätzung des Grades<br />
an „Recovery“ einig: Die Kin<strong>der</strong>, die nicht von selbst aufholen, haben dauerhafte Sprach- und<br />
Entwicklungsprobleme. Die Studie von Paul et al. (1997) (N=36) gibt zum Beispiel an, dass jedes<br />
dritte <strong>der</strong> Late-talker-Kin<strong>der</strong> im Alter von 4 Jahren phonologische und morpho-syntaktische<br />
Probleme hatte und jedes siebte im Alter von 7 Jahren die Schwierigkeiten immer noch nicht<br />
überwunden hatte. In Prozentangaben wird <strong>der</strong> Verlauf wie folgt geschil<strong>der</strong>t: 40% <strong>der</strong> Late-talker<br />
normalisieren sich in ihrer Entwicklung im Alter von 3 Jahren, 55% im Alter von 4 Jahren und 85%<br />
im Alter von 7 Jahren.<br />
Konsequenzen für Indikation, Beratung und Therapie: Die von uns hier vertretene <strong>Prävalenz</strong>zahl<br />
bei 3-jährigen ist zwei Drittel <strong>der</strong> Late-talker eines Jahrgangs. Unter Hinweis vor allem auf<br />
bleibende Probleme in den Bereichen Sprachverständnis und Pragmatik bis ins Jugend- und<br />
Erwachsenenalter, sowie unter Verweis auf einen noch unbekannten Anteil an Kin<strong>der</strong>n, die den<br />
Sprung vom Late-talker zum Late-bloomer zunächst schaffen, dann aber doch deutliche<br />
Schulprobleme zeigen („illusory recovery“, Kauschke (2003, S. 153), Penner et al (2005b)), ist die<br />
Angabe 10% <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> eines Jahrgangs mit Spezifischer Sprachentwicklungsstörung im Alter von<br />
3 Jahren sehr realistisch. Grimm (2003a, S. 75) nennt ihre <strong>Prävalenz</strong>zahl von 8% eines Jahrgangs<br />
eine „konservative Schätzung“, die sich mit unserem Ergebnis gut in Einklang bringen lässt. Auch<br />
die Zahlen von Suchodoletz (2004) und Blanton (1916) mit 6% ohne Einberechnung jener Kin<strong>der</strong>,<br />
die pragmatisch auffällig sind, lässt sich gut in Einklang bringen mit den hier postulierten 10% (vgl.<br />
auch Fried (2006b, S. 45): 5-10%). Beratung und Abklärung gehört, gerade im entscheidenden<br />
Alter von 3 Jahren, in professionelle (logopädische) Hände. Wenn das Postulat von Bishop (1987)<br />
gilt, dass die Kin<strong>der</strong>, die mit 5 ½ Jahren ihre Sprachschwierigkeiten überwunden haben, eine gute<br />
Prognose für den weiteren Verlauf haben und wir die doch eindeutig belegte starke Persistenz auf<br />
<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite sehen, ist eine intensive Therapie im Alter zwischen 3 ½ und 5 Jahren zu<br />
for<strong>der</strong>n. Sollte sich die Lernfenster-These von Penner et al. (2005b) bestätigen, wäre dieser<br />
Zeitpunkt, auch zu spät. Ganz sicher ist: Ein Therapiebeginn im Alter von 5 ½ o<strong>der</strong> 6 Jahren mag<br />
für leichte Aussprachestörungen noch erfolgreich sein, für gravierende<br />
Sprachentwicklungsprobleme, die Folgeprobleme nach sich ziehen, ist dies definitiv viel zu spät.<br />
Eine kindzentrierte För<strong>der</strong>ung mit Anleitung <strong>der</strong> Eltern bringt nachweislich Erfolge (vgl. Huntley et<br />
al., 1988).<br />
Es ist im Alter von 3 Jahren von einem logopädischen Bedarf auszugehen, <strong>der</strong> bei 15% <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><br />
eines Jahrgangs liegt: Zunächst müssen alle Kin<strong>der</strong>, die mit 2 Jahren als Late-talker erkannt<br />
wurden, nachkontrolliert werden; hierbei ist von ca. 3 Stunden pro Kind bzw. Eltern auszugehen.
Bei etwa zwei Dritteln dieser Kin<strong>der</strong> müssen eine genauere logopädische Untersuchung und<br />
weitere Massnahmen (professionelle Begleitung, Beratung, Indikationsklärung, Information,<br />
Therapie) erfolgen. Bei therapiebedürftigen Kin<strong>der</strong>n (10% <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> eines Jahrgangs) wird <strong>der</strong><br />
Bedarf bis zum Alter von 4 ½ Jahren für eine intensive Therapie mit Beratung <strong>der</strong> Eltern auf einen<br />
Umfang von ca. 75 Stunden geschätzt. Die Therapie mit Elternbegleitung könnte in Intervallen –<br />
also hohe Intensität im Wechsel mit Pausen – durchgeführt werden.<br />
Anhand <strong>der</strong> geschätzten <strong>Prävalenz</strong> plus Setzung des Stundenumfangs pro Kind lässt sich <strong>der</strong><br />
Bedarf pro Institution, pro Gemeinde, pro Kanton für logopädische Interventionen berechnen; die<br />
Berechnungsformel lautet:<br />
Bedarfsplanung Logopädie im Alter von 3 Jahren aufgrund <strong>der</strong> <strong>Prävalenz</strong>einschätzung:<br />
Für Nachkontrolle: Anzahl Kin<strong>der</strong> pro Jahrgang Zweijähriger x 0.15 (Betroffene) x 3 Stunden<br />
Für therapiebedürftige Kin<strong>der</strong>: Anzahl <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> pro Jahrgang Dreijähriger x 0,10 (Betroffene)<br />
x 75 Stunden<br />
Ergebnisse zur <strong>Prävalenz</strong>, Zeitpunkt Einschulung<br />
Für den Zeitpunkt <strong>der</strong> Einschulung gibt es eine Fülle von Untersuchungen, sodass wir für diesen<br />
Altersbereich Ergebnisse exemplarisch auswählen.<br />
Es gibt vier deutsche Schuleintrittsuntersuchungen, die auf dem Bielefel<strong>der</strong> Modell basieren und<br />
dieselben Definitionskriterien für „Sprachstörung“ festlegen (Stottern, Sprachentwicklungsstörung,<br />
Aussprachestörungen, Stimmstörung, Poltern, Dysgrammatismus, Sigmatismus, Näseln), das Alter<br />
ist jeweils zwischen 5 und 6 Jahren, Begleitdaten werden unterschiedliche erhoben (Berufstätigkeit<br />
Eltern, Bildungsstand, Herkunft, Inanspruchnahme <strong>der</strong> ärztlichen Kontrolluntersuchungen U1-U9,<br />
Verhaltensauffälligkeiten). Diese Studien könnten folgen<strong>der</strong>massen zu einer Metaanalyse<br />
zusammengefasst werden:<br />
- Einschulungsuntersuchung des Kin<strong>der</strong>- und Jugendärztlichen Dienstes in Schleswig<br />
Holstein. Deutschland. 2002, N= 29'384, Querschnitt, Angaben über Anzahl Kin<strong>der</strong> in<br />
Behandlung o<strong>der</strong> für weitere Abklärungen zu überweisende Kin<strong>der</strong>.<br />
- Nie<strong>der</strong>sächsischer Kin<strong>der</strong>gesundheitsbericht. Deutschland. 1996. 1999. 2000, N 1996=<br />
28'928, N 1999= 24'839, N 2000= 18'495, Angaben zu laufen<strong>der</strong> Therapie,<br />
Kontrolluntersuchung o<strong>der</strong> einzuleiten<strong>der</strong> Behandlung.<br />
- Gesundheitsbericht über Kin<strong>der</strong> und Jugendliche, Märkischer Kreis 2005.<br />
Schuleintrittsuntersuchung 2004 flächendeckend, N= 5070, Querschnitt, Angaben zu<br />
Anzahl Kin<strong>der</strong> in Behandlung sowie Behandlungsbedürftigkeit.<br />
- Gesundheitsbericht Emden. Deutschland. 2003. N= 574, Unterteilung in Schweregrade und<br />
Therapiebedarf o<strong>der</strong> bereits laufende Therapien.<br />
Die letztgenannte Studie ist keine flächendeckende Untersuchung. Der Gesamtumfang <strong>der</strong> vier gut<br />
vergleichbaren Untersuchungen beträgt N= 107'290. Das Zusammenfassende Ergebnis <strong>der</strong> vier<br />
Studien ergibt eine <strong>Prävalenz</strong>rate für Sprachauffälligkeiten bei Schuleintritt von 20% aller Kin<strong>der</strong><br />
eines Jahrgangs, wobei eine steigende Tendenz zu beobachten ist.<br />
Die Zahlen des Gesundheitsamtes <strong>der</strong> Stadt Düsseldorf hat Heinrichs (2003) publiziert. Hier ist von<br />
konstant 28% auszugehen (Mittelwert <strong>der</strong> Daten aus 1997-2002), wobei das Alter <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und<br />
das Untersuchungsverfahren unklar bleiben. Heinrichs bezeichnet seine Studie als<br />
epidemiologisch, tatsächlich werden aber nur Kin<strong>der</strong>gartenkin<strong>der</strong> erfasst und zwar nur jene, die<br />
von Kin<strong>der</strong>gärtnerinnen vorab als beeinträchtigt ausgelesen wurden, was eine Erklärung dafür sein<br />
kann, dass die <strong>Prävalenz</strong> höher liegt als in oben genannten Schuleintrittsuntersuchungen.<br />
Allerdings steht das Ergebnis von Heinrichs in Einklang mit den frühen Erhebungen von<br />
Heinemann (1997), <strong>der</strong> 23% angab. Auch die epidemiologische Studie von Grimm et al. (2004)<br />
spricht von 30% sprachauffälligen Kin<strong>der</strong>n im Alter von 4.0-5.11 mit Muttersprache Deutsch.<br />
Ebenso fasst Fried (2006a, S. 45) die Rate im Alter von 5,5 Jahren mit 25-30% zusammen. Die<br />
unterschiedlichen <strong>Prävalenz</strong>zahlen <strong>der</strong> Schuleintrittsuntersuchungen gegenüber <strong>der</strong> Resultate <strong>der</strong>
Studien von Fried und Grimm mögen darin begründet sein, dass diverse Parameter des<br />
Studiendesigns, wie die Messmethoden, die Kriterien für die Definition „sprachauffällig“, <strong>der</strong><br />
Untersuchungsrahmen etc. nicht vergleichbar sind.<br />
Repräsentative Zahlen aus epidemiologischen Studien für die Schweiz fehlen <strong>der</strong>zeit gänzlich. Hier<br />
bietet sich uns noch ein enormes Arbeitsfeld, welches in naher Zukunft angegangen werden muss.<br />
Konsequenzen für Indikation, Beratung und Therapie:<br />
Die <strong>Prävalenz</strong>zahlen im Alter zum Schuleintritt werden aus drei Quellen gespeist: Erstens sind es<br />
Kin<strong>der</strong> mit von Beginn an deutlichen Spracherwerbsstörungen, zweitens jene Kin<strong>der</strong>, die nur<br />
vorübergehend aufholen (Theorie <strong>der</strong> „illusory recovery“, (vgl. Kauschke, 2003, S. 153, Penner et<br />
al, 2005b)), drittens kommen Kin<strong>der</strong> mit leichteren Sprach-, und Sprech-, und sowie<br />
Redeflussstörungen hinzu. So wird zunächst von 15% <strong>der</strong> 2-Jährigen, 10% <strong>der</strong> 3-Jährigen, aber<br />
20-30% <strong>der</strong> 5-6 Jährigen gesprochen. Mit dem Wissen darum, dass bestehende Sprachprobleme<br />
bei <strong>der</strong> Einschulung weiter persistieren und zu schwerwiegenden Einschränkungen in <strong>der</strong><br />
schulischen Karriere <strong>der</strong> betroffenen Kin<strong>der</strong> führen, kann es für die Gesellschaft keineswegs<br />
ökonomisch sein, Kin<strong>der</strong> erst im Alter von 5-6 Jahren zu erfassen und zu behandeln, da diverse<br />
oben diskutierte Studien bewiesen haben, dass eine frühe Erfassung und Intervention die<br />
<strong>Prävalenz</strong>rate erheblich senkt und die Prognose verbessert (vgl. Ward 1998, Weismer 1994).<br />
Eine Bedarfsplanung anhand <strong>der</strong> geschätzten <strong>Prävalenz</strong> im Alter kurz vor Einschulung erscheint<br />
uns nicht sinnvoll, da ja die Massnahmen im Alter von zwei und danach im Alter von drei bis<br />
viereinhalb Jahren zur Erprobung anstehen.<br />
Tab. 3.<br />
Geschätzte <strong>Prävalenz</strong> von Spracherwerbsproblemen nach Braun/Steiner zu drei unterschiedlichen<br />
Zeitpunkten in <strong>der</strong> <strong>Zusammenfassung</strong><br />
Risikofaktoren und Gefährdungen <strong>der</strong> Sprachentwicklung<br />
Risikofaktoren werden von uns zu drei Kategorien zusammengefasst:<br />
- Genetisch: Der genetische Faktor ist lediglich als Option zu verstehen; ein „Sprach-Gen“<br />
wird zwar diskutiert (vgl. z.B. Noterdaeme, 2003, S. 16, Ptok, 2001, Böhme, 2006, S. 396),<br />
die <strong>Forschung</strong> in diesem Bereich bleibt jedoch auf dem Niveau von Einzelfallstudien.<br />
Wahrscheinlicher erscheint die Interaktion mehrerer Risikofacetten.<br />
- Biologisch: Beim biologischen Faktor (am Beispiel Frühgeburt) gibt es einen Schwellenwert<br />
(Jungmann (2003): „höheres biologisches Risiko“): Bei Unterschreiten des
Schwellenwertes sorgen Adaptationspotential und Plastizität für eine reguläre Entwicklung,<br />
bei Überschreiten gibt es entsprechende Einschränkungen in <strong>der</strong> Kompensationsfähigkeit.<br />
Penner et al. (2005b) gehen von einer verzögerten Hörbahnreifung um das erste<br />
Lebensjahr aus.<br />
- Sozial: Der soziale Faktor betrifft vor allem Interaktionsstörungen, die für Sprach- und<br />
Verhaltensstörungen verantwortlich gemacht werden. Manchmal sind die<br />
Interaktionsstörungen unabhängig von <strong>der</strong> Schichtzugehörigkeit, wenn beispielsweise<br />
Aussehen des Kindes, kritischer Gesundheitszustand und medizinische Massnahmen nach<br />
<strong>der</strong> Geburt für die Eltern Besorgnis erregend sind (vgl. Sarimski, 1997). Die Daten von<br />
Schröter (2001) zeigen jedoch, pointiert zusammengefasst, dass die Kin<strong>der</strong> mit SSES in<br />
ihren Familien wenig Bücher und viel Fernsehsendungen vorfinden.<br />
Die Korrelationen von bestimmbaren Einflussgrößen zur Sprachentwicklung sind eher mäßig<br />
ausgeprägt. Nach Suchodoletz (2003, S. 156) gehen gute Sprachleistungen mit hohem<br />
sozioökonomischem Status und erster Stelle in <strong>der</strong> Geschwisterreihe einher, relativ starke<br />
Prädiktoren für schlechte Sprachleistungen in <strong>der</strong> Schule sind das Sprachverständnis mit 2 ½ (.08)<br />
und 3 ½ (.14) sowie anamnestisch das Ausbleiben <strong>der</strong> Lallphase. Jungen tragen ein höheres<br />
Risiko als Mädchen, wobei betroffene Mädchen die schlechtere Prognose haben (Paul 1993).<br />
Als Risikogruppen zählen Familien mit Migrationshintergrund und Familien mit niedrigem<br />
Bildungsstatus. Darüber hinaus spielt <strong>der</strong> psychische Gesundheitszustand <strong>der</strong> Eltern, die<br />
Vollständigkeit <strong>der</strong> Familie und das Eingebundensein in ein soziales Netz eine wichtige Rolle (vgl.<br />
Noterdaeme, 2003, S. 18). Einerseits treten die genannten Risiken teils in Kombination auf;<br />
an<strong>der</strong>erseits gibt es auch Kompensationsmöglichkeiten, sodass beispielsweise eine psychosozial<br />
günstige Situation biologische Risiken im Verlauf <strong>der</strong> Entwicklung entschärfen kann.<br />
Wie hoch einzelne Risiken bzw. Risikokombinationen für den Einzelfall veranschlagt werden<br />
müssen ist unklar; man darf aber beim <strong>der</strong>zeitigen Stand <strong>der</strong> empirischen Daten von einem um das<br />
Doppelte erhöhten Risiko ausgehen bei Migration und/o<strong>der</strong> sozialer Benachteiligung. Grimm et al.<br />
(2004) ermittelten in einer epidemiologischen Studie (N=1395, Bielefel<strong>der</strong> Screening SSV) mit<br />
40,1% einen sehr hohen Prozentsatz von Sprachauffälligen Kin<strong>der</strong>n - die Kin<strong>der</strong> mit Deutsch als<br />
Erstsprache waren dabei zu 30% gegenüber den Kin<strong>der</strong>n mit Migrationshintergrund mit 72%<br />
betroffen (vgl. ähnliche Ergebnisse auch bei Ruben (2000), Penner/Schmid (2005a) und Holler-<br />
Zittlau (2006)). Auch unklar ist <strong>der</strong> Anteil an „Komorbidität“, also jener komplexen<br />
Entwicklungsstörungen, in denen Sprachstörungen von an<strong>der</strong>en Störungen begleitet o<strong>der</strong><br />
dominiert werden (vgl. Suchodoletz, 2003); gesichert ist die Kombination von Sprachstörungen mit<br />
Verhaltensstörungen (hierbei an erster Stelle Hyperaktivität).<br />
Eine große Gruppe mit deutlichen Sprachstörungen kann insgesamt keiner offenkundigen Ursache<br />
zugeführt werden, sodass die Ursachenzuschreibung einem Ausschlussverfahren folgt und man<br />
von einer multikausal bedingten Störung mit genetisch-biologischer (kognitiv-gnostisch-mnestisch)<br />
Wurzel sprechen kann (vgl. Grimm, 1999). Allgemein kann aus logopädischer Sicht von einem<br />
Informations- und Rhythmusverarbeitungsproblem unter Qualitäts- und Zeitaspekt ausgegangen<br />
werden. Der sprachliche Input wird nicht, nicht ausreichend o<strong>der</strong> nicht im erfor<strong>der</strong>lichen Tempo als<br />
prototypisches Muster erkannt, eingespeichert und abgerufen (vgl. Butzkamm/Butzkamm, 2004).<br />
Tab. 4: <strong>Zusammenfassung</strong> <strong>der</strong> Risikofaktoren für die Sprachentwicklung ohne (kognitive)<br />
Primärbehin<strong>der</strong>ungen (Prädikatoren <strong>der</strong> Persistenz).<br />
Risikofaktoren:<br />
1. Frühgeburt<br />
2. familiäre Disposition<br />
3. Störung <strong>der</strong> frühen Mutter-Kind-Interaktion<br />
4. Präferenz für elektronische Medien vor Büchern<br />
5. psychische Instabilität <strong>der</strong> Eltern<br />
6. fehlendes soziales Netz<br />
7. Migration<br />
8. begleitende o<strong>der</strong> dominierende Verhaltensstörung<br />
9. schlechtes Sprachverständnis<br />
10. Ausbleiben <strong>der</strong> Lallphase
Tab. 5 Risikofaktoren Zusammengefasst:<br />
schlechtes<br />
Sprach-<br />
verständnis<br />
Ausbleiben<br />
<strong>der</strong><br />
Lallphase<br />
begleitende<br />
o<strong>der</strong><br />
dominierende<br />
Verhaltensst<br />
örung<br />
Migration<br />
Frühgeburt<br />
SSES<br />
fehlendes<br />
soziales Netz<br />
Familiäre<br />
Dis-<br />
position<br />
Psychische<br />
Instabilität<br />
<strong>der</strong> Eltern<br />
Störung<br />
Der frühen<br />
Mutter<br />
Kind-<br />
Interaktion<br />
Präferenz für<br />
Elektron-<br />
ische Medien<br />
vor<br />
Büchern<br />
Persistierende Sprachstörungen sind mit Verhaltensstörungen und allgemeinen<br />
Schulschwierigkeiten (unter an<strong>der</strong>em Schriftsprachestörungen) sowie einem Absinken des IQs<br />
verbunden; die Beeinträchtigungen dauern über das Jugendalter hinaus bis ins Erwachsenenalter<br />
an. Als datengesicherter Nachweis dienen hier unter an<strong>der</strong>em die Studien von Paul et al. (1997)<br />
und Rescorla et al. (2000) sowie Irwin et al. (2002). Die Schreib- und Lesestörungen sind dabei<br />
teils unterhalb <strong>der</strong> Eingangsdiagnose Lese-Rechtschreib-Störung, aber trotzdem noch signifikant<br />
erkennbar.<br />
Die schon erwähnte Studie von Rescorla et al. (teils zu späteren Zeitpunkten veröffentlicht) belegt,<br />
dass sowohl testdiagnostisch im Bereich <strong>der</strong> Sprache als auch bei pragmatischen Leistungen<br />
(Erzählen einer Bildgeschichte) erhebliche Probleme für die Messzeitpunkte 8-9 Jahre und 13<br />
Jahre bestehen bleiben.<br />
Der Einfluss einer bestehenden SSES auf das Erlernen von Lesen und Schreiben ist mehrfach<br />
nachgewiesen: Eine Reihe von Studien (z.B. Catts et al., 2002) kommt zu einem Faktor von etwa<br />
50%; diese Zahl wird in Deutschland durch Weindrich et al. (2000) bestätigt. Diejenigen Kin<strong>der</strong>, bei<br />
denen kurz vor Einschulung eine SSES diagnostiziert wurde, behalten Lese-Rechtschreib-<br />
Störngen bis zum Ende <strong>der</strong> Schullaufbahn Nur etwa die Hälfte <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> mit persistieren<strong>der</strong> SSES<br />
kommen zu einem regulären Schulabschluss, Kin<strong>der</strong> mit einer SSES, die sich bis zum Eintritt in<br />
die Schule gibt, schaffen demgegenüber häufiger ihren Abschluss, wenngleich mit niedrigerem<br />
Niveau als durch nonverbale Intelligenz und Bildungsniveau <strong>der</strong> Eltern zu erwarten gewesen wäre<br />
(vgl. Snowling et al., 2001). Dies wirkt sich auf die spätere Ausbildung entsprechend negativ aus.
Eine SSES führt dazu, dass die „Intelligenz“ im Laufe <strong>der</strong> Jahre abnimmt. Hierzu gibt es eine<br />
Reihe von Untersuchungsergebnissen (vgl. in <strong>der</strong> Übersicht Suchodoletz, 2004, S. 171). Ebenso<br />
geht eine persistierende SSES mit sozialen Fehlentwicklungen (vgl. Hartmann, 2004) und einer<br />
Reihe von Persönlichkeitsproblemen zwischen Hyperaktivität und Rückzug einher: Bei<br />
sprachauffälligen jungen Erwachsenen liegt die Anzahl psychiatrischer Auffälligkeiten etwa doppelt<br />
so hoch wie bei vergleichbaren Sprachunauffälligen (vgl. Beitchman et al. 1996 sowie Suchodoletz,<br />
2004, S. 171f.).<br />
Bei einer mutigen <strong>Zusammenfassung</strong> <strong>der</strong> Einschätzung von Begleit- und Folgestörungen ist von<br />
einer 50%-Formel auszugehen: Bei <strong>der</strong> Hälfte jener Kin<strong>der</strong>, die mit 3 Jahren begründet als<br />
„sprachentwicklungsgestört“ klassifiziert wurden, also bei 5% eines Jahrgangs im Alter von 3<br />
Jahren, zeigen sich bis ins Erwachsenenalter anhaltend Probleme in einem o<strong>der</strong> mehreren <strong>der</strong><br />
folgenden Bereiche (vgl. unter an<strong>der</strong>em Irwin (2002) und Paul et al. ( 1997)):<br />
Begleit- und Folgeprobleme bei Sprachentwicklungsstörungen:<br />
ca. 50% <strong>der</strong> „sprachentwicklungsgestörten“ Kin<strong>der</strong> zeigen anhaltende Probleme:<br />
- sprachlicher Natur: andauernde Wortschatzprobleme, Auslassungen, reduzierte<br />
Äußerungslänge, Vermeidung von Komplexität, pragmatische Auffälligkeiten,<br />
(Erzählkompetenz, Fragen) u.a.<br />
- im Bereich Motorik<br />
- in Form von Beeinträchtigung <strong>der</strong> emotionalen Entwicklung<br />
- durch IQ-Abmin<strong>der</strong>ung (nonverbal) im Entwicklungsverlauf<br />
- im Verhalten<br />
- im Bereich Lesen und Rechtschreibung<br />
- durch generelle Gefährdung des Schulerfolges (fächerübergreifend)<br />
- Bezüglich <strong>der</strong> beruflichen Integration<br />
Im Kapitel Sprachstandserfassung findet sich eine Checkliste zur Risikoeinschätzung im Alter<br />
von 36 Monaten („Ris-C“).<br />
Schlussfolgerungen aus <strong>der</strong> <strong>Prävalenz</strong>forschung<br />
Der kritische Zeitpunkt für Entscheidungen liegt zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr des<br />
Kindes. Nach dem zweiten Lebensjahr kann man Kin<strong>der</strong> mit einer Gefährdung <strong>der</strong><br />
Sprachentwicklung auslesen – allerdings mit einem gewissen Unsicherheitsfaktor. Die Unsicherheit<br />
bezieht sich darauf, dass einige Kin<strong>der</strong>, die zunächst einmal in ihrer Entwicklung zurück sind, sich<br />
1 – 1 ½ Jahre später als „Spätentwickler“ („Late-bloomer“) herausstellen. Dieser Anteil <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>,<br />
bei dem Abwarten sinnvoll ist, da die Entwicklung von selbst den Rückstand (bis zum dritten<br />
Lebensjahr) aufholt, ist aber geringer als bisher angenommen.<br />
Das fünfte bis sechste Lebensjahr wie<strong>der</strong>um markiert ebenfalls einen kritischen Zeitpunkt, da hier<br />
<strong>der</strong> Schuleintritt erfolgt; Sprache wird Ziel und Weg des Lernens. Bestehen Sprachprobleme noch<br />
zum Zeitpunkt <strong>der</strong> Einschulung (<strong>Forschung</strong>sfokus Persistenz), ist die Prognose für die weitere<br />
Entwicklung ungünstig – nicht nur für die Sprachentwicklung, son<strong>der</strong>n für die gesamte kognitivemotionale<br />
Entwicklung. Wahrscheinlich sind Schriftsprach- und Verhaltens-, Schul- und<br />
Lernprobleme.<br />
Das heißt, zwischen dem zweiten und sechsten Lebensjahr sind Kontrolle, Abklärung, Beratung,<br />
För<strong>der</strong>ung und Therapie gefragt.<br />
Suchodoletz (2004, S. 175) fasst zusammen: „Insgesamt sprechen die bisherigen<br />
Längsschnittstudien dafür, dass auch leichtere Sprachentwicklungsstörungen bis ins<br />
Erwachsenenalter hinein persistieren können und dass kognitive Probleme, Lernstörungen und<br />
Beeinträchtigungen <strong>der</strong> beruflichen Entwicklungschancen bei Kin<strong>der</strong>n mit persistierenden<br />
Sprachstörungen den langfristigen Verlauf prägen. Sprachentwicklungs- störungen sind ein hohes<br />
Risiko für spätere sozioemotionale Dysfunktionalität“.<br />
Wenn eine sprachliche Gefährdung mit 24 Monaten relativ sicher erfasst werden kann, sollte eine
Frühdiagnostik als Screening auch zu diesem Zeitpunkt einsetzen (Früherfassung I). Eine<br />
Beratung – gegebenenfalls mit begleiten<strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung jener Eltern o<strong>der</strong> Erziehungsbeteiligter, die<br />
sich Sorgen machen - ist sinnvoll. Die routinemäßige Untersuchung ist eine gesellschaftliche<br />
Aufgabe, die institutionell verankert werden muss. Eine Möglichkeit im Gesundheitssystem wäre<br />
eine verpflichtende ärztliche Vorsorgeuntersuchung zum 24. Lebensmonat (in Deutschland die so<br />
genannte U7). Möglichkeiten im System Bildung sind zu eruieren. Ein Screeening kann aber nur<br />
erschwert von einer angeleiteten fachfremden Person (Arzt, Arzthelferin, Heilpädagogin,<br />
Erzieherin) vorgenommen werden. Zeigen sich Risikohinweise o<strong>der</strong> Auffälligkeiten, ist auf jeden<br />
Fall eine Fachperson (Sprachtherapeutin/Logopädin) für eine weiterführende Diagnostik<br />
hinzuzuziehen, um danach geeignete Massnahmen (mindestens Elternberatung und Einleitung<br />
einer aussagefähigen Hörprüfung, evtl. ausführliche Entwicklungsdiagnostik) zu planen. Als<br />
geeignetes Screening-Instrument wird zum Beispiel ELFRA 2 (Grimm, 2000) o<strong>der</strong> FRAKIS<br />
(Szagun, 2004) plus die Beobachtung des spontanen Sprach- und Spielverhaltens vorgeschlagen.<br />
Die Adaptation <strong>der</strong> Elternbefragung von Fenson et al. (1993) hat sich als valides und<br />
zeitökonomisches Instrument erwiesen (vgl. Walter, 2005 sowie Grimm, 2001). Wenn die Lallphase<br />
ausbleibt und wenn es Hinweise auf Sprachverständnisprobleme, fehlendes Symbolspiel mit 1 ¼<br />
Jahren und eine reduzierte Sprachproduktion(
mit 3, kompletter Jahrgang mit ca. 5 Jahren), <strong>der</strong> Beratung mit Empowerment <strong>der</strong> Eltern, <strong>der</strong><br />
Frühintervention als pädagogische För<strong>der</strong>ung und gezielter Therapie sollten vor dem Hintergrund<br />
drohen<strong>der</strong> Langzeitfolgen aus ethischen und volkswirtschaftlichen Gründen unbedingt genutzt<br />
werden.<br />
Insgesamt zeigt unsere Literaturrecherche, dass es, trotz großer Varianz, bezüglich einer normalen<br />
sprachlichen Entwicklung, Eckwerte für die Einschätzung individueller Fälle im Sinne eines<br />
Interventionsbedarfs gibt. Diese lassen sich in <strong>der</strong> folgenden Übersicht zusammenfassen.<br />
Tab. 5: Gefährdung <strong>der</strong> Sprachentwicklung und sinnvolle Erfassungszeitpunkte<br />
Screening des Gesamtjahrgangs zum Zeitpunkt 24 Monate = ca. 15% eines<br />
Jahrgangs, die gefährdet für SSES sind (Late-talker). � Früherfassung I<br />
15% Late-talker (=100%) zum Zeitpunkt 36<br />
Monate:<br />
- 34% „Aufholer“ (Late- bloomer, Anteil<br />
„Illusionisten“ unklar)<br />
- 66% sprachentwicklungsgestört<br />
-> ca. 10% eines Jahrgangs sprachverzögert<br />
� Früherfassung II<br />
Von diesen 66% SSES (= 100%) sind zum<br />
Zeitpunkt 5 Jahre:<br />
- 50% persistierende Sprachstörungen mit<br />
Begleitstörungen und Problemen im<br />
Schriftspracherwerb<br />
-> ca. 5% eines Jahrgangs sprachgestört<br />
mit Ausstrahlung auf die<br />
Gesamtentwicklung<br />
Screening des Gesamtjahrgangs zum Zeitpunkt <strong>der</strong> Einschulung mit ca. 5,5 Jahren<br />
gemäss Zahlen aus Deutschland:<br />
- ca. 25% Sprech- und Sprachauffälligkeiten eines Jahrgangs (hierin die 5%<br />
langfristigen SSES eingeschlossen)<br />
- Faktor x2 bei Migration / sozialer Benachteiligung<br />
� Schuleingangsuntersuchung<br />
Wie groß die Beeinflussbarkeit des Prozesses ist, ist unklar, da zu wenige Studien zur<br />
Therapiewirksamkeit vorliegen. Trotzdem zeigen einige Arbeiten deutlich auf, dass eine<br />
Frühintervention wirkt (vgl. z.B. Ward, 1999). Alternativen zu einer pädagogischen, bzw.<br />
logopädischen Beratung, För<strong>der</strong>ung und Therapie gibt es nicht, da eine direkte biologischgenetische<br />
Einflussnahme (z.B. medikamentös) nicht möglich ist. Zumal von einer erheblichen<br />
Persistenz <strong>der</strong> Störung mit einem Ausstrahlen auf alle relevanten Entwicklungsbereiche<br />
auszugehen ist, besteht Handlungsbedarf – und das bereits zu einem frühen Zeitpunkt.<br />
Prof. Dr. J. Steiner, <strong>HfH</strong> Zürich August 2008