SEITE 1 - Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
SEITE 1 - Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
SEITE 1 - Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
SCHULENTWICKLUNG SCHULENTWICKLUNG<br />
Fit für die Inklusion<br />
Welche Fortbildung brauchen Lehrkräfte für integrierte <strong>und</strong> inklusive Schulen?<br />
von Anne Ratzki<br />
Der Begründer des Frontalunterrichts,<br />
Amos Comenius, hat<br />
im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert darüber<br />
nachgedacht, wie ein Lehrer<br />
zugleich viele Schüler unterrichten<br />
könnte: Der Lehrer solle zu<br />
keinem Schüler hingehen <strong>und</strong><br />
keinem Schüler erlauben zu ihm<br />
zu kommen, meinte Comenius,<br />
sondern vom Katheder aus<br />
unterrichten <strong>und</strong> wie die Sonne<br />
gleichmäßig auf alle Schüler<br />
scheinen.<br />
Comenius hatte eines vergessen:<br />
Die Schüler sind nicht gleich. Sie<br />
sind verschieden. Dafür hatte<br />
jedoch ein späterer Pädagoge,<br />
Christian Trapp, im 19.Jh. einen<br />
Tipp, wie man mit der Verschiedenheit<br />
der Köpfe umgehen<br />
solle: Der Lehrer solle sich auf<br />
die „Mittelköpfe“ konzentrieren,<br />
meinte er, auch vom Katheder<br />
aus. Dieser Rat hat den<br />
Unterricht bis heute geprägt.<br />
Die Folgen des Frontalunterrichts<br />
kennen wir: Gelangweilte<br />
Schüler, die schneller lernen<br />
könnten, frustrierte Schüler, die<br />
den Lehrer nicht verstehen <strong>und</strong><br />
hoffnungslos hinterherhinken.<br />
Und nun, im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert,<br />
steht in allen Schulgesetzen,<br />
der Lehrer, die Lehrerin, solle<br />
individuell fördern - bei immer<br />
größerer Verschiedenheit der<br />
Köpfe. In Schulen des längeren<br />
gemeinsamen Lernens, in integrativen<br />
Lerngruppen geht es<br />
auch gar nicht anders. Aber wie<br />
macht man das?<br />
Das ist die Frage, die inzwischen<br />
auf vielen Ebenen diskutiert<br />
wird: Wie sollen zukünftige<br />
Lehrkräfte an den Unis, wie<br />
sollen Lehrer <strong>und</strong> Lehrerinnen<br />
an den Schulen ausgebildet <strong>und</strong><br />
fortgebildet werden?<br />
Bei der Lehrerfortbildung kann<br />
ich gr<strong>und</strong>sätzlich zwei Tendenzen<br />
erkennen:<br />
1. Man gibt den Lehrkräften<br />
Tipps für Unterrichtsmethoden,<br />
die sie in ihren Klassen einsetzen<br />
können <strong>und</strong> die individualisiertes<br />
Lernen ermöglichen sollen:<br />
Wochenplan <strong>und</strong> Freiarbeit,<br />
Portfolio, Kooperatives Lernen,<br />
Schüler-Selbsteinschätzung,<br />
Stationenlernen, Gruppenpuzzle<br />
usw. Hans Wocken nennt das in<br />
seinem neuen Buch „indirekten<br />
Unterricht“, weil der Lehrer<br />
nicht mehr direkt instruiert, sondern<br />
über Medien oder andere<br />
SchülerInnen Lernen initiiert<br />
<strong>und</strong> fördert (Hans Wocken: Das<br />
Haus der inklusiven Schule,<br />
2011)<br />
2. Eine zweite Richtung geht von<br />
der Haltung der LehrerInnen<br />
aus, die sich ändern muss: Das<br />
Kind wird nicht mehr nur<br />
als Teil einer Klasse gesehen,<br />
die fleißig oder faul, gut oder<br />
schlecht ist, sondern als Einzelwesen.<br />
Vor allem ist es nicht<br />
mehr ein Defizitwesen, das Fehler<br />
macht, sondern ein reiches<br />
Kind, das schon viel gelernt hat<br />
<strong>und</strong> viel mitbringt. Fehler sind<br />
Lerngelegenheiten. Kinder werden<br />
in ihrer Unterschiedlichkeit<br />
wahrgenommen <strong>und</strong> deshalb<br />
können sie auch einander beim<br />
<strong>SEITE</strong> 10<br />
Lernen unterstützen.<br />
Hier erst beginnt die Aufgabe<br />
der Lernmethoden. Statt belehrt<br />
zu werden, lernen die Kinder<br />
selbständig mit individueller<br />
Beratung, in Freiarbeit, Lernbüros,<br />
mit Portfolios <strong>und</strong> Lerntagebüchern.<br />
Sie werden zunehmend<br />
für ihr eigenes Lernen verantwortlich.<br />
Kooperatives Lernen<br />
verbindet individuelles Lernen<br />
mit Lernen in Gruppen <strong>und</strong><br />
nutzt geradezu die Unterschiede<br />
unter den Lernenden.<br />
Die Rolle der Lehrenden ändert<br />
sich vom Wissensvermittler zum<br />
Lernberater, vom Einzelkämpfer<br />
zum Teammitglied. Diagnose<br />
<strong>und</strong> Förderung braucht die<br />
Zusammenarbeit der Lehrenden<br />
im Team.<br />
Welche Wirkungen haben die<br />
beiden Ansätze für Fortbildung?<br />
Für die erste Richtung steht<br />
die Unterrichtsentwicklung im<br />
Vordergr<strong>und</strong>, ohne die Frage der<br />
Heterogenität zu diskutieren.<br />
Als Deutschland bei PISA 2001<br />
beschämend schlecht abschnitt,<br />
verordneten die Kultusminister<br />
eine Verbesserung des Unterrichts,<br />
um der Diskussion über<br />
die Struktur des Schulwesens<br />
zu entgehen. Viele gute Methoden<br />
<strong>und</strong> Ratschläge wurden<br />
(wieder)entdeckt <strong>und</strong> vermittelt<br />
(Klippert, Hilbert Meyer)<br />
- trotzdem hat sich bis heute<br />
wenig im Unterricht verändert,<br />
die heutigen Diskussionen <strong>und</strong><br />
die strukturellen Vorschläge der<br />
Bildungskonferenz z.B. gleichen<br />
weitgehend denen von 2001.<br />
Wer nur auf Unterrichtsentwicklung<br />
setzt, greift zu kurz,<br />
sie allein ist nicht nachhaltig,<br />
wenn sie nicht in einem Zusammenwirken<br />
von Lehrerrolle <strong>und</strong><br />
Schülerrolle verankert ist. Wichtig<br />
ist dabei ein anderer Blick<br />
auf den Schüler, die Schülerin,<br />
auf die Heterogenität der Lerngruppe.<br />
Es geht nicht mehr um<br />
die Frage, welches Kind nicht in<br />
diese Klasse, diese Schule passt<br />
<strong>und</strong> wiederholen oder die Schule<br />
verlassen sollte, sondern wie diese<br />
Heterogenität im Unterricht<br />
als Chance zu nutzen ist. Nur<br />
wenn sich durch eine andere<br />
Einstellung der Lehrkräfte die<br />
Lernkultur verändert, bekommen<br />
die Methoden einen festen<br />
<strong>und</strong> wirkungsvollen Platz.<br />
Wo gibt es Fortbildungen für<br />
inklusive Schulen?<br />
Die Struktur der Lehrerfortbildung<br />
steht vor großen Veränderungen,<br />
die zur Zeit diskutiert<br />
werden. Soll es wieder ein<br />
Landesinstitut, gar eine zentrale<br />
Lehrerfortbildung geben? Welche<br />
Rolle sollen die Lehrerbildungsinstitute<br />
der Universitäten<br />
spielen? Wie ist das Verhältnis<br />
von kommunaler Fortbildung<br />
<strong>und</strong> Fortbildungsabteilungen in<br />
den Bezirksregierungen?<br />
Ich halte es für wichtig, dass sich<br />
die GEW hier einmischt: wie<br />
können Lehrkräfte auf die neuen<br />
Herausforderungen vorbereitet<br />
werden, auf einen Unterricht,<br />
der durch Verzicht auf Selektion<br />
viel entlasteter <strong>und</strong> entspan-<br />
nter sein könnte – wer in den<br />
nordischen Ländern Unterricht<br />
besucht hat, kennt dieses fre<strong>und</strong>liche,<br />
entspannte Klima.<br />
Die GEW B<strong>und</strong> hat durch ein<br />
eigenes Fortbildungsprojekt bereits<br />
Maßstäbe gesetzt. Zusammen<br />
mit dem Forum Eltern <strong>und</strong><br />
Schule (FESCH), dem Weiterbildungsinstitut<br />
der GGG, hat die<br />
GEW ein Fortbildungsprojekt<br />
Vielfalt in der Schule entwickelt,<br />
das auf dem Hintergr<strong>und</strong><br />
nordischer Erfahrungen <strong>und</strong><br />
Erfahrungen in deutschen Gesamtschulen<br />
das Thema Umgang<br />
mit Heterogenität in den Mittelpunkt<br />
stellt. In sieben Bausteinen<br />
werden die Gr<strong>und</strong>lagen für<br />
den Unterricht in heterogenen<br />
<strong>und</strong> inklusiven Schülergruppen<br />
<strong>und</strong> die konkrete Umsetzung im<br />
Unterricht vermittelt:<br />
1. Basisbaustein Heterogenität<br />
2. Basisbaustein Individualisiertes<br />
Lernen<br />
3. Baustein Lehrern <strong>und</strong> Lernen<br />
in heterogenen Gruppen<br />
4. Baustein Vertrauenskultur als<br />
Gr<strong>und</strong>lage des Lernens<br />
5. Baustein Selbsteinschätzung<br />
der Lernenden<br />
6. Baustein Portfolio<br />
7. Baustein Lernentwicklungsplan<br />
<strong>und</strong> Lernentwicklunsgespräche.<br />
(Flyer Vielflat in der Schule mit<br />
einer Beschreibung der Bausteine<br />
liegen in der Geschäftsstelle<br />
aus)<br />
Auch das Kölner Institut zur<br />
Förderung der Teamarbeit, das<br />
eng mit GEW <strong>und</strong> FESCH zu-<br />
<strong>SEITE</strong> 11<br />
sammenarbeitet, bietet Fortbildungen<br />
zur Teamarbeit <strong>und</strong> zum<br />
Umgang mit Heterogenität an.<br />
Ausblick<br />
Die rasante Entwicklung der<br />
Gesamtschulen <strong>und</strong> Gemeinschaftsschulen<br />
- für die nächste<br />
R<strong>und</strong>e liegen bereits über 50<br />
Anträge vor – wird Unterricht<br />
in heterogenen Klassen zum<br />
Normalfall machen. Der Auftrag<br />
zur Inklusion, der durch die<br />
Behindertenrechtskonvention<br />
erteilt wurde <strong>und</strong> kommunal<br />
<strong>und</strong> landesweit in Inklusionsplänen<br />
umgesetzt wird, wird die<br />
Heterogenität in den Klassen<br />
weiter erhöhen. Es ist eine große<br />
Chance, diese Herausforderung<br />
für einen anderen Umgang<br />
zwischen SchülerInnen <strong>und</strong><br />
Lehrkräften, für einen besseren<br />
Bildungserfolg aller, besonders<br />
aber von Kindern aus benachteiligten<br />
Familien, <strong>und</strong> für eine<br />
demokratische Schulkultur zu<br />
nutzen.<br />
Kontakte:<br />
FESCH:<br />
rainer.kopp.fesch@t-online.de<br />
GEW: martina.schmerr@gew.de<br />
Institut zur Förderung der Teamarbeit:<br />
www.teaminstitut-koeln.de