Editorial - VSLF
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Oerlikon<br />
Redaktion Loco Folio<br />
Immer wieder wird uns von den Führungskräften<br />
der SBB versichert, dass die<br />
Sicherheit im Eisenbahnbetrieb über allem<br />
stehe und dass keine Mühen und Kosten<br />
gescheut werden, diese sicherzustellen.<br />
Solchen Äusserungen darf mit Skepsis<br />
begegnet werden. Nachdem wir bereits in<br />
der letzten Ausgabe des Loco Folio darauf<br />
hingewiesen haben, dass bei der Erstellung<br />
und der Umsetzung von Vorschriften<br />
nicht immer mit der gebotenen Sorgfalt<br />
gearbeitet wird, mussten wir diesen Sommer<br />
wieder von einem Beispiel Kenntnis<br />
nehmen, bei dem die Sicherheit gegenüber<br />
Kostenüberlegungen möglicherweise hinten<br />
anstehen musste.<br />
In Zürich Oerlikon wurde am 20. Juni 2011<br />
ein neues Stellwerk in Betrieb genommen.<br />
Die Standorte der neu angebrachten<br />
Signale des Typs «N» waren teilweise so<br />
unglücklich gewählt, dass sie zumindest<br />
anfänglich von den normalen Halteorten<br />
aus kaum oder gar nicht erkennbar waren.<br />
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Bahnhof Oerlikon<br />
Diese unbefriedigende Situation wurde<br />
noch zusätzlich verschärft, weil wegen<br />
einer fehlerhaften Programmierung der<br />
ZUB Euro-Loops auf den ZUB-Displays<br />
trotz Halt zeigendem Ausfahrsignal die<br />
falsche Anzeige «||||» erschien. Anstatt<br />
diese fehlerhaft programmierten Euro-<br />
Loops möglichst rasch ausser Betrieb zu<br />
setzen, wie dies der SEV-LPV und der<br />
<strong>VSLF</strong> gefordert haben, wurde SBB-seitig<br />
bis zur Störungsbehebung, die am 12. Juli<br />
2011 erfolgte, der schwarze Peter zwischen<br />
P-OP-ZF, P-OP-RSQ, I-IH und I-PJ und I-AT<br />
herumgeschoben. Das Lokpersonal wurde<br />
mit einer Weisung aufgefordert, entgegen<br />
der Ziffer 3.1.2 des Kapitels 6.3 der Ausführungsbestimmungen<br />
Infrastruktur und<br />
entgegen allen Grundsätzen bei den betreffenden<br />
Signalen trotz der Anzeige «||||»<br />
nicht abzufahren.<br />
Man darf davon ausgehen, dass Anlagen<br />
so geplant, gebaut, geprüft und abgenommen<br />
werden, dass sie den geltenden Vor-<br />
schriften entsprechen. Offenbar ist dem<br />
nicht so und in der Folge wird dann halt<br />
das Lokpersonal rasch mittels des Virtuellen<br />
Anschlagraums (VAR) über die vorschriftenwidrige<br />
Situation informiert.<br />
Ein weiterer Schwachpunkt der Anlage ist<br />
der aus Kostengründen erfolgte Verzicht auf<br />
ortsfeste Abfahrerlaubnissignale. Obwohl<br />
bekannt ist, dass die SMS-Abfahrerlaubnis<br />
immer noch nicht die erforderliche Zuverlässigkeit<br />
aufweist und dass zum Zeitpunkt<br />
der Inbetriebnahme der neuen Sicherungsanlage<br />
immer noch das Problem bestanden<br />
hat, dass bei Überfahren eines Gleisabschnittsignals<br />
die SMS-Abfahrerlaubnis<br />
nicht funktioniert, wurde auf diese Lösung<br />
gesetzt. Und so musste jede Stunde das Lokpersonal<br />
des Interregio Zürich Flughafen–<br />
Luzern, das wegen der Zuglänge jeweils das<br />
Gleisabschnittsignal im Gleis 3 zu überfahren<br />
hatte, mit einer mündlichen Abfahrerlaubnis<br />
des Zugpersonals und ohne Sicht<br />
auf das nächste Hauptsignal alleine aufgrund<br />
der ZUB-Anzeige «- - - -» abfahren.<br />
Es ist eigentlich überflüssig zu erwähnen,<br />
dass mit Fahrt auf Sicht zu fahren ist und<br />
dass dieses nächste Hauptsignal erst gut 400<br />
m später folgt.<br />
Wir sind überzeugt, dass uns der SBB-<br />
Apparat noch weitere solche unbefriedigende<br />
Situationen bescheren wird. Entweder<br />
gibt es keine Prozesse zum korrekten<br />
Erstellen einer Sicherungsanlage oder die<br />
Prozesse werden nicht eingehalten. Jedenfalls<br />
hat das Lokpersonal mit zusätzlichen<br />
Vorschriften und Ausnahmeregelungen<br />
die Situation zur retten und übernimmt<br />
dabei zusätzliche Verantwortung. n<br />
www.vslf.com<br />
Döttingen<br />
Technikgruppe <strong>VSLF</strong><br />
Nachricht aus dem SBB-Intranet:<br />
Am 8. August hat eine Flankenfahrt zwischen<br />
einer Güterlok und einem Regionalzug in Döttingen<br />
acht Verletzte gefordert und Sachschaden<br />
in Millionenhöhe verursacht. Wie kam es<br />
zu diesem Unglück?<br />
Manfred Haller, Leiter Zugführung:<br />
Der Lokführer war gedanklich kurz abwesend.<br />
Er hatte festgestellt, dass der Zug einige Minuten<br />
verspätet war, und war abgefahren – ohne<br />
nochmals das Ausfahrsignal zu beachten.<br />
Haben die Sicherheitseinrichtungen nicht funktioniert?<br />
Die Sicherheitseinrichtung, die den Zug gehalten<br />
hätte, befindet sich erst hinter der Ausfahrweiche,<br />
da es sich um ein Gruppenausfahrsignal<br />
handelt. So gesehen, ist dort effektiv nur<br />
der Lokführer «die Sicherheitseinrichtung».<br />
Die Geschwindigkeitsüberwachung ZUB ist<br />
nicht installiert.<br />
Wie wird der P-Lokführer nun betreut? Wird er<br />
je wieder arbeiten können?<br />
Der Lokführer wurde kurz nach dem Unfall<br />
durch seinen Chef Lokpersonal bis nach der<br />
Einvernahme beim Staatsanwalt am Abend<br />
betreut. Auch die Nachbetreuung hat Kontakt<br />
mit ihm. Am Folgetag wurde mit ihm<br />
zusammen festgelegt, wie er wieder zur<br />
Arbeit zurückkehrt. Ziel ist es, dass der Lokführer<br />
nach einem fachlichen Training ab Ende<br />
August wieder fährt.<br />
Was tut die Zugführung, um solche Unfälle zu<br />
vermeiden?<br />
Präventiv wenden wir Gestes métier an. Dies<br />
sind fünf Checklisten zu den sicherheitsrelevantesten<br />
Prozessen, unter anderem zum<br />
Abfahrprozess. Reaktiv arbeiten wir Ereig-<br />
OCO FOLIO<br />
2011/2<br />
nisse wie Döttingen mit einer Ereignisanalyse<br />
auf und definieren daraus Massnahmen,<br />
die zukünftig gleiche Ereignisse verhindern.<br />
Auch dieses Jahr konnten wir die Hauptsignalfälle<br />
wieder reduzieren. Aber nur durch<br />
Einhalten der Prozesse sowie weiterer Investitionen<br />
in Sicherheitseinrichtungen wird es<br />
uns gelingen, noch sicherer zu werden.<br />
Präzisierungen der <strong>VSLF</strong>-Technikgruppe:<br />
- Es handelte sich nicht um eine Güterlok,<br />
sondern eine Güterzuglok<br />
- Der Lokführer ist abgefahren, ohne das<br />
Ausfahrsignal zu beachten, und nicht,<br />
ohne nochmals das Ausfahrsignal zu<br />
beachten. Wir gehen davon aus, dass dieses<br />
nie auf Fahrt war und nicht später auf<br />
Halt gestellt wurde.<br />
- Der Lokführer ist keine Sicherheitseinrichtung<br />
oder ein Ersatz dafür. Der Lokführer<br />
bestimmt immer selber die Fahrt<br />
des Zugs, und sämtliche Sicherheitseinrichtungen<br />
in der Schweiz überwachen<br />
oder stoppen lediglich die Fahrt (auch<br />
ETCS Level 2). Anders verhält es sich<br />
bei der Linienzugbeeinflussung (LZB,<br />
Deutschland, Österreich, Spanien), wo<br />
es möglich ist, dass das System den Zug<br />
führt (selbstständig «fährt»), und der<br />
Lokführer das Sicherheitssystem nur<br />
überwacht.<br />
- Der Lokführer hat das Hauptsignal nicht<br />
beachtet. Dass das Hilfsmittel Gestes<br />
métier dies nicht verhindert hat, ist folgerichtig,<br />
da es ebenfalls die Beachtung des<br />
Hauptsignals verlangt. Ob in den Gestes<br />
métier zweimal oder zwölfmal verlangt<br />
wird, das Hauptsignal zu beachten, löst<br />
Kollision am 8.8.2011 in Döttingen<br />
die Problematik der Selbstabfahrt durch<br />
den Lokführer offensichtlich nicht. Die<br />
Gestes métier dienen lediglich der zusätzlichen<br />
Schuldzuweisung.<br />
- Dass die Hauptsignalfälle reduziert werden<br />
konnten, ist erfreulich. Gleichzeitig<br />
haben die Zwergsignalfälle (Rangierdienst)<br />
zugenommen, was das BAV bei<br />
SBB P ZF auch beanstandet hat. Gleichzeitig<br />
sind z. B. in Luzern auf Gleis 9 innert<br />
kurzer Zeit neun Lokführer bei Halt zeigendem<br />
Gleisabschnittsignal abgefahren<br />
und konnten die Fahrt jeweils noch rechtzeitig<br />
stoppen.<br />
- Der Druck auf das Lokpersonal für das<br />
pünktliche Verkehren der Züge hat seit<br />
Jahren zugenommen. Der Lokführer ist<br />
für Zugsverspätungen nicht verantwortlich,<br />
zumal er in den wenigsten Fällen<br />
der Verursacher ist. Und es ist nicht seine<br />
primäre Aufgabe, die Verspätungen zu<br />
verringern, sondern den Zug sicher zu<br />
führen! Wir fordern von SBB P ZF, diesen<br />
Grundsatz zu instruieren und bei<br />
Druckversuchen anderer Abteilungen<br />
sich zugunsten seines Lokpersonals und<br />
der Sicherheit einzusetzen, das heisst,<br />
verantwortungsbewussten Mitarbeitern<br />
den Rücken zu stärken.<br />
- Der betroffene Lokführer ist im Depot<br />
Brugg stationiert, das jahrein, jahraus<br />
tagelang die Strecke Baden–Koblenz<br />
bedient. Der Lokführer in Döttingen hätte<br />
an diesem Nachmittag noch sechsmal<br />
diese Linie befahren. Abwechslungsreiche<br />
Diensttouren verhindern monotone<br />
Arbeitsabläufe, die zu Fehlern führen. n<br />
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