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Dieses Bild von Günter Zint ist Teil der ... - Politikorange.de

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18<br />

NACH DEM ENDE DER UTOPIE<br />

Der Sozialphilosoph Herbert Marcuse war für<br />

die <strong>de</strong>utsche und die amerikanische Stu<strong>de</strong>ntenbewegung<br />

<strong>von</strong> zentraler Be<strong>de</strong>utung. 40 Jahre<br />

nach 68 <strong>ist</strong> seine Warnung vor <strong>de</strong>m „eindimensionalen<br />

Menschen“ immer noch aktuell – und<br />

weitgehend vergessen.<br />

Von Franziska Langner, Janna Schlen<strong><strong>de</strong>r</strong>,<br />

Urszula Wozniak<br />

ikonen |<br />

theoretisch<br />

40 Jahre später:<br />

Eindimensionaler Mensch o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

gelungene Befreiung?<br />

Die Sozialforscher <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

„Frankfurter Schule“<br />

„Die rastlose Selbstzerstörung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Aufklärung<br />

zwingt das Denken dazu,<br />

sich auch die letzte<br />

Arglosigkeit gegenüber<br />

<strong>de</strong>n Gewohnheiten und<br />

Richtungen <strong>de</strong>s Zeitge<strong>ist</strong>es<br />

zu verbieten.“<br />

(Theodor W. Ad)<br />

2008. Pia <strong>ist</strong> aufgeregt, ihr <strong>ist</strong><br />

schlecht. An <strong>de</strong>n Schläfen spürt sie<br />

ein heißes Kribbeln. Sie studiert<br />

Politikwissenschaft an <strong><strong>de</strong>r</strong> Freien Universität<br />

Berlin und steht kurz vor ihrer<br />

Zwischenprüfung. Eigentlich hätte sie<br />

sich damit lieber noch Zeit gelassen,<br />

aber auf diese Weise <strong>ist</strong> sie schneller als<br />

viele ihrer Kommilitonen – und unter<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Regelstudienzeit.<br />

Mehr le<strong>ist</strong>en müssen, um mehr<br />

erreichen zu können. Ein Mantra, das<br />

heutzutage nicht nur Pia antreibt, während<br />

sie zielstrebig auf das Schwarze<br />

Brett zusteuert, um sich durch das<br />

Dickicht <strong><strong>de</strong>r</strong> Praktikumsangebote zu<br />

kämpfen.<br />

Die Anfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen möglicher<br />

Arbeitgeber sind vielfältig: Praktika,<br />

Fremdsprachenkenntnisse, Auslandserfahrung.<br />

Pia möchte als nächstes nach<br />

Shanghai. „Dann stehen mir wirklich<br />

alle Türen offen“, meint sie. In <strong>de</strong>n<br />

hohen Ansprüchen dieser Tage sieht<br />

sie Möglichkeiten.<br />

„Sie können je<strong>de</strong> Farbe haben,<br />

solange es schwarz <strong>ist</strong>“, hat Henry Ford<br />

einmal gesagt. Für <strong>de</strong>n Philosophen<br />

Herbert Marcuse war dieser Satz<br />

Ausdruck seiner Theorie vom „eindimensionalen<br />

Menschen“, <strong><strong>de</strong>r</strong> glaubt,<br />

alles haben zu können, am En<strong>de</strong> aber<br />

nur an die Gesellschaft angepasst lebt.<br />

Hätte Pia gut 40 Jahre früher an <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

FU studiert, wäre sie Herbert Marcuse<br />

vielleicht begegnet.<br />

DIE CHEFIDEOLOGEN<br />

Wer waren sie? Als „Frankfurter Schule“ wird <strong><strong>de</strong>r</strong> intellektuelle<br />

Kreis <strong>von</strong> Soziologen und Philosophen bezeichnet,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> sich kritisch mit <strong>de</strong>n Missstän<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen<br />

Industriegesellschaft auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzte. Zu <strong>de</strong>n einflussreichsten<br />

und bekanntesten Vertretern gehörten Max<br />

Horkheimer (1895 – 1973), Herbert Marcuse (1898 –<br />

1979), Theodor W. Adorno (1903 – 1969) und Jürgen<br />

Habermas (*1929). Der Name geht zurück auf <strong>de</strong>n geografischen<br />

Ursprung <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaftskritiker, das Institut<br />

für Sozialforschung in Frankfurt. Kern ihrer Forschungen<br />

war die Auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung mit I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>s Marxismus in<br />

Bezug auf die verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ten gesellschaftlichen Verhältnisse.<br />

Als Hauptwerke <strong><strong>de</strong>r</strong> Frankfurter Schule gelten „Dialektik<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Aufklärung“, „Der eindimensionale Mensch“ und<br />

„Minima Moralia“.<br />

Und heute? Inzwischen gehören die Texte <strong>von</strong> Marcuse und Co. zum Standardrepertoire <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaftswissenschaften.<br />

Doch gibt es ein greifbares Erbe? Wohl, dass nachfolgen<strong>de</strong> Generationen immer aufs Neue ihr soziales<br />

Umfeld kritisch betrachten und hinterfragen.<br />

So wie Luise, die an einem warmen<br />

Julitag im Jahr 1967 im brechendvollen<br />

Hörsaal sitzt. Auch sie <strong>ist</strong><br />

aufgeregt, aber schlecht <strong>ist</strong> ihr nicht.<br />

Wochenlang hat sie zusammen mit<br />

<strong>de</strong>m Sozial<strong>ist</strong>ischen Deutschen Stu<strong>de</strong>ntenbund<br />

SDS Flyer gedruckt, über<br />

Nächte hinweg an Fragen und Formulierungen<br />

gefeilt. Auch Luise will<br />

etwas erreichen, aber nicht innerhalb<br />

<strong>de</strong>s Systems, in <strong>de</strong>m sie lebt. Sie will<br />

es verän<strong><strong>de</strong>r</strong>n.<br />

Endlich, nach langer Vorbereitung,<br />

betritt Marcuse das Podium. Vier<br />

Aben<strong>de</strong> in Folge spricht er zu und<br />

mit <strong>de</strong>n Stu<strong>de</strong>nten. Über die Utopie,<br />

die eigene Gesellschaft grundlegend<br />

verän<strong><strong>de</strong>r</strong>n zu können, über die Unfähigkeit,<br />

Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen umzusetzen.<br />

Er wird nicht mü<strong>de</strong>, die Stu<strong>de</strong>nten zu<br />

ermuntern, selbst ihre Beiträge zu le<strong>ist</strong>en,<br />

und er diskutiert mit ihnen seine<br />

Theorien. „Wogegen <strong>ist</strong> die Stu<strong>de</strong>ntenopposition<br />

gerichtet?“, fragt Marcuse,<br />

da wir doch scheinbar in einem<br />

freien, <strong>de</strong>mokratischen Land leben.<br />

Gegen die herrschen<strong>de</strong>n Institutionen,<br />

durch <strong><strong>de</strong>r</strong>en Interessen unsere wahren<br />

Bedürfnisse unterdrückt wer<strong>de</strong>n, antwortet<br />

er im selben Atemzug. Aber<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>s als viele radikalere Denker sieht<br />

er einen <strong>Teil</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Schuld bei jenen, die<br />

sich freiwillig unterdrücken lassen.<br />

Mehr als alles an<strong><strong>de</strong>r</strong>e predigt Marcuse<br />

die Vernunft. Luise <strong>ist</strong> fasziniert <strong>von</strong><br />

seinen Worten. Hun<strong><strong>de</strong>r</strong>te Male hat<br />

mythos68 | April 2008<br />

sie seinen Aufsatz Repressive Toleranz<br />

gelesen und stimmt mit ihm überein,<br />

dass wir allzu bereitwillig an die Freiheit<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Entscheidung glauben, ohne<br />

zu hinterfragen, ob es diese wirklich<br />

gibt.<br />

Herbert Marcuse spielte für Luise<br />

und die Stu<strong>de</strong>ntenbewegung <strong><strong>de</strong>r</strong> 60er<br />

eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle. Er wünschte<br />

sich eine Welt, in <strong><strong>de</strong>r</strong> Technik und<br />

Kunst, Arbeit und Spiel miteinan<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

einhergehen, stellt Freu<strong>de</strong> und Glück<br />

über die Angst vor Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen.<br />

Aber er weiß auch, wie angenehm und<br />

sicher es scheint, die bestehen<strong>de</strong> Gesellschaft<br />

nicht zu hinterfragen.<br />

Pia hat heute, 40 Jahre später, <strong>von</strong><br />

Marcuse noch nie etwas gehört. Sie<br />

glaubt, alle Freiheiten zu haben, um<br />

ihre Zukunftswünsche zu verwirklichen.<br />

Wie tausend an<strong><strong>de</strong>r</strong>e nimmt sie<br />

unbezahlte Praktika, verschulte und<br />

verwirtschaftlichte Studiengänge als<br />

selbstverständlich hin, als Notwendigkeit,<br />

<strong>de</strong>n späteren Traumjob zu<br />

bekommen. Für Pia wären Luises<br />

Vorstellungen und ihre Wünsche<br />

nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong><strong>de</strong>r</strong> eigenen<br />

Gesellschaft utopisch. Das waren sie<br />

für Marcuse und Luise auch. Aber<br />

Herbert Marcuse war sich sicher, dass<br />

man aufhören muss, tiefgreifen<strong>de</strong><br />

gesellschaftliche Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen als<br />

Utopie zu bezeichnen. Nur mit einem<br />

solchen „En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Utopie“ bestand für<br />

ihn die Möglichkeit zum Wan<strong>de</strong>l.<br />

Warum wur<strong>de</strong>n sie <strong>von</strong> <strong>de</strong>n 68ern verehrt? Straßenkrawalle<br />

zu führen und Uni-Rektorate zu<br />

besetzen war das eine – klare Vorstellungen<br />

einer besseren Welt zu vertreten und zu<br />

diskutieren etwas an<strong><strong>de</strong>r</strong>es. In <strong>de</strong>n Essays und<br />

Vorträgen <strong><strong>de</strong>r</strong> Sozialforscher erkannte die<br />

Stu<strong>de</strong>ntenbewegung <strong>von</strong> 68, wo<strong>von</strong> sich die<br />

Gesellschaft befreien müsse: Kapitalismus,<br />

Naturbeherrschung, autoritäre Strukturen.<br />

Auf vielen Vortragsreisen ermutigten sie die<br />

Stu<strong>de</strong>nten dazu, die Umgestaltung ihrer<br />

Lebenswelt selbst in die Hand zu nehmen.<br />

Die Theorien <strong><strong>de</strong>r</strong> Frankfurter Schule hatten<br />

entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Einfluss auf <strong>de</strong>n SDS und die<br />

APO. So vermerkte Rudi Dutschke einmal in<br />

seinem Tagebuch: „Unsere Strömung ohne ihn<br />

[Marcuse] – wer kann es sich ganz <strong>de</strong>nken?<br />

Ging uns bei Ernst Bloch ähnlich, bei<strong>de</strong> aber<br />

wer<strong>de</strong>n unsere Generation nie verlassen.“

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