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Dieses Bild von Günter Zint ist Teil der ... - Politikorange.de

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68<br />

mythos<br />

<strong>Dieses</strong> <strong>Bild</strong> <strong>von</strong> <strong>Günter</strong> <strong>Zint</strong> <strong>ist</strong> <strong>Teil</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Ausstellung „68 - Brennpunkt Berlin“


IMPRESSUM<br />

EDITORIAL<br />

Stu<strong>de</strong>ntenbewegung, Kommune und kreativer Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>stand – Schlagworte, die ein Lebensgefühl umreißen. 1968. 40 Jahre sind vergangen, mit <strong>de</strong>n „68er“ verbin<strong>de</strong>n wir mehr als nur eine Generation. 68<br />

steht für Bewegung, einen Mythos. Doch was verbirgt sich dahinter? Um das herauszufin<strong>de</strong>n, haben sich junge Medienmacher auf Spurensuche begeben.<br />

I<strong>de</strong>e und inhaltliche Vorbereitung zu dieser politikorange entstan<strong>de</strong>n im Rahmen eines Studienprojektes <strong><strong>de</strong>r</strong> Humboldt-Universität zu Berlin und <strong><strong>de</strong>r</strong> FH Potsdam. Studieren<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Europäischen Ethnologie<br />

und junge Medienmacher aus Berlin und ganz Deutschland haben hinter die Kulissen einer ganzen Generation geblickt. Sie haben nach <strong>de</strong>n Ikonen <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit gesucht und Theorien hinterfragt. Sie<br />

erforschten gesellschaftliche Rahmenbedingungen <strong>von</strong> damals und die Auswirkungen <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er auf heute.<br />

Im verklären<strong>de</strong>n Rückblick wird 68 oft zu einem Mythos. Der Blickwinkel <strong>von</strong> politikorange <strong>ist</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>s. Frisch, fruchtig, selbst gepresst – und immer schön kritisch.<br />

Viel Spaß beim Lesen wünscht<br />

Die Redaktion<br />

Herausgeber<br />

politikorange c/o Jugendpresse Deutschland e.V.<br />

Wöhlertstraße 18, D-10115 Berlin<br />

www.jugendpresse.<strong>de</strong><br />

Team<br />

Lene Albrecht, Sandra Bieler, Anja Breljak, Robert Claus, Franziska Deregoski, Maxi Engel, Kathrin Friedrich, Lea Gerschwitz, Susanne Hauer, Tino Höfert, Markus<br />

Hujara, Sonja Knüppel, Holger Kulick, Lysette Laffin, Franziska Langner, Bea Marer, Yuca Meubrink, Sybille Pfeffer, Anne Pietzunka, Michael Sacher, Janna<br />

Schlen<strong><strong>de</strong>r</strong>, Ulrike Schulz, Mimoza Troni, Wlada Ullmer, Ebbe Volquardsen, Chr<strong>ist</strong>ine Wehner, Nadja Wohlleben, Urszula Wozniak, Josephine Ziegler<br />

Chefredaktion (V.i.S.d.P.)<br />

Michael Metzger (m.metzger@jugendpresse.<strong>de</strong>)<br />

Redaktionsleitung<br />

Jan an Haack (jan.anhaack@gmx.<strong>de</strong>)<br />

Michael Metzger (m.metzger@jugendpresse.<strong>de</strong>)<br />

Sven Trojanowski (sven_jugendpresse@european-journal<strong>ist</strong>.eu)<br />

Redaktionelle Unterstützung<br />

Anja Breljak, Julian Görlitz, Matthias Stohr-Niklas<br />

Gestalterische Gesamtleitung<br />

Matthias Stohr-Niklas (m.stohr-niklas@jugendpresse.<strong>de</strong>)<br />

Fotos<br />

Titelbild: <strong>Günter</strong> <strong>Zint</strong> (<strong>Bild</strong> <strong>ist</strong> <strong>Teil</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Ausstellung „68 - Brennpunkt Berlin“)<br />

Josephine Scheibe (j.scheibe@hotmail.<strong>de</strong>), alle außer:<br />

bpb (S.4 li.), David Ausserhofer, FU Berlin (S.18)<br />

jugendfotos.<strong>de</strong>: Fre<strong><strong>de</strong>r</strong>ic Maximilian Bozada (S.2), Michaela Zimmermann (S.5), Gisela Gürtler (S.6), Marcel Bruhnke (S.10), Stephan Gagler (S.14), Barbara Reich (S.15),<br />

Loly Bayer (S.16), Kai Döhring (S.17 o.), Jan-David Günther (S.17 u.), Felix Heubaum (S.18) Matthias Riens (S.21), Michael Metzger (S.22), Daniela Uhrich (S.24)<br />

Layout & Satz<br />

Anja Breljak (anja@jpb.<strong>de</strong>) & Matthias Stohr-Niklas<br />

Druck<br />

BVZ Berliner Zeitungsdruck GmbH, Berlin<br />

20.000 Exemplare<br />

Organisation<br />

Michael Metzger (JPD), Falk Blask (HU Berlin)<br />

Alle namentlich gekennzeichneten Beiträge geben die Meinungen ihrer Verfasser wie<strong><strong>de</strong>r</strong> und stimmen nicht zwangsläufig mit <strong>de</strong>n Auffassungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Herausgeber<br />

überein. Für Inhalte genannter Quellen und Links übernimmt die Redaktion keine Haftung. Eine Online-Version gibt es auf www.politikorange.<strong>de</strong> und unter<br />

www.netzeitung.<strong>de</strong>/spezial/mythos68.<br />

informierend<br />

STUDEnTEnREVOLTE zUM AnGUCkEn | 04<br />

nATIOn SUCHT MyTHOS | 04<br />

REISE In DIE zEITGESCHICHTE | 05<br />

persönlich<br />

„ICH bIn EIn wIRkLICH RICHTIGER 68ER“ | 06<br />

„SPUREn HInTERLASSEn“ | 07<br />

alltäglich<br />

IMMER MüSSEn wIR MACHEn, wAS wIR wOLLEn | 08<br />

DIE REVOLTE In DER REVOLTE | 08<br />

DIE SECHzIGER: In MODE | 09<br />

DIE bRAVE bRAVO | 09<br />

HEIDSCHI bUMbEIDSCHI ODER HELLO GOODbyE? | 10<br />

SEx, DRUGS AnD COMICS | 10<br />

„DIE SCHönSTEn, DIE bUnTESTEn, DIE SCHnELLSTEn, DIE kLüGSTEn“ | 11


international mythos68 blickt hinter die kulissen einer ganzen Generation. Diese Ausgabe <strong>ist</strong> eine<br />

ExPORTARTIkEL: SEx, DRUGS, LOVE & PEACE | 14<br />

AUF DER SUCHE nACH DEM DUFT DER SOMMERwIESE | 14<br />

DIE zwEITE REVOLTE AM öRESUnD | 15<br />

ALLOnS EnFAnTS DE LA PATRIE! | 16<br />

theoretisch<br />

AM EnDE AUCH PRAxIS | 17<br />

nACH DEM EnDE DER UTOPIE | 18<br />

universitär<br />

kEIn nACHSCHUb AUS DER DEnkFAbRIk | 19<br />

DIE MEnSAFALLE ODER bIST DU POLITISCH | 20<br />

„IM bLOßEn PFLEGEn VOn IkOnEn kOMMEn wIR nICHT wEITER“ | 20<br />

„bURn, wARE-HOUSE, bURn!“ | 21<br />

gegenwärtig<br />

wEnn SUbkULTUR zUM MAInSTREAM wIRD | 22<br />

1968. 1988. 2008. | 04<br />

SCHAUMSCHLäGER ODER bOMbEnLEGER | 05<br />

kooperation <strong><strong>de</strong>r</strong> Jugendpresse Deutschland und <strong><strong>de</strong>r</strong> bun<strong>de</strong>szentrale für politische bildung.<br />

Die Themenausgabe <strong>von</strong> politikorange entstand im Rahmen eines Studienprojekts <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Europäischen Ethnologie <strong><strong>de</strong>r</strong> Humboldt-Universität zu berlin und <strong><strong>de</strong>r</strong> FH Potsdam.<br />

Ein <strong>Teil</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Artikel sowie ergänzen<strong>de</strong>s Text-, bild- und Vi<strong>de</strong>omaterial wird <strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

netzeitung unter www.netzeitung.<strong>de</strong>/spezial/mythos68 veröffentlicht.<br />

Die Redaktion arbeitet unabhängig, dies <strong>ist</strong> ein Prinzip <strong><strong>de</strong>r</strong> Arbeit <strong>von</strong> politikorange.<br />

weitere Informationen: www.politikorange.<strong>de</strong><br />

www.jugendpresse.<strong>de</strong><br />

www.bpb.<strong>de</strong>


04<br />

informierend<br />

NATION SUCHT MYTHOS<br />

Geschichte wird gemacht.<br />

Mythen auch. Nicht erst zum<br />

40. Jubiläum <strong>ist</strong> 68 mediales<br />

Lieblingsthema. Längst <strong>ist</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Mythosbegriff zum geflügelten<br />

Wort gewor<strong>de</strong>n.<br />

Von Robert Claus<br />

Gründungsakte und Traditionen<br />

verewigen sich in Mythen. Sie erhalten<br />

Deutungshoheit über die Geschichte<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> eigenen Gemeinschaft und bestimmen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong>en aktuelles Selbstverständnis.<br />

In Deutschland jedoch verbietet es<br />

sich aufgrund <strong><strong>de</strong>r</strong> nationalsozial<strong>ist</strong>ischen<br />

Verbrechen, eine ausschließlich<br />

positive nationale Tradition zu<br />

schreiben.<br />

Die „kulturelle Revolution“ <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er<br />

arbeitete die NS-Vergangenheit ihrer<br />

Elterngeneration auf und brach mit<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong>en Überlieferungen, ihren Mythen.<br />

Durch <strong>de</strong>n <strong>von</strong> Rudi Dutschke ausgerufenen<br />

„Marsch durch die Institutionen“<br />

gelangten viele <strong><strong>de</strong>r</strong> damaligen<br />

Protagon<strong>ist</strong>en über die Jahre in höhere<br />

Positionen. Die ehemalige Stu<strong>de</strong>ntenbewegung<br />

erhielt Macht und Einfluss<br />

in Medien, Kultur und Politik.<br />

Das Jahr 1968 be<strong>de</strong>utet für linksliberale<br />

Kreise die Überwindung <strong>de</strong>s<br />

postfasch<strong>ist</strong>ischen Miefs. Bis heute<br />

zehren Politiker dieser Generation<br />

vom Mythos, eine kulturell <strong>de</strong>mokratische<br />

Gesellschaft in <strong><strong>de</strong>r</strong> BRD<br />

gegrün<strong>de</strong>t zu haben.<br />

Doch <strong>ist</strong> dieser Gründungsmythos<br />

seither stark umkämpft. Denn Konservative<br />

beschuldigen die 68er, heute wie<br />

damals, traditionelle Werte im Namen<br />

„femin<strong>ist</strong>ischer Kuschelpädagogik“ zu<br />

verwahrlosen. Aus Parolen wie „High<br />

sein, frei sein, Terror muss dabei sein“<br />

spräche blanker Realitätsverlust. Der<br />

hart erarbeitete Wohlstand <strong>de</strong>s Wirtschaftsbooms<br />

in <strong>de</strong>n 50ern sei <strong>de</strong>n<br />

Stu<strong>de</strong>nten zu Kopf gestiegen, heißt<br />

es heute oft.<br />

Deutschland sucht seine Mythen –<br />

bei<strong>de</strong> Seiten bringen ihre h<strong>ist</strong>orischen<br />

Erfolge in Stellung. Was <strong>de</strong>n einen 68,<br />

<strong>ist</strong> <strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>en ihr Wirtschaftswun<strong><strong>de</strong>r</strong>.<br />

Verteufelung und Glorifizierung<br />

beherrschen die Diskussion. Verhan<strong>de</strong>lt<br />

wird nicht weniger als die Grundlage<br />

eines zeitgemäßen nationalen<br />

Selbstverständnisses. Solange jedoch<br />

keine <strong><strong>de</strong>r</strong> bei<strong>de</strong>n Seiten nachgibt, wird<br />

es kaum differenziertere Darstellungen<br />

geben.<br />

mythos68 | April 2008<br />

STUDENTENREVOLTE ZUM ANGUCKEN<br />

Zahlreiche Ausstellungen über 68 sprießen dieser Tage aus <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n. Mit zweien da<strong>von</strong> haben wir<br />

uns ausführlich auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>gesetzt. Von Bea Marer und Mimoza Troni<br />

Das Amerika Haus 2008: Zur Ausstellungseröffnung, wenige Wochen später nach einer Farbbeutelattacke<br />

„Achtung, Achtung! Räumen Sie<br />

unverzüglich die Straße!“, dröhnt es<br />

aus <strong>de</strong>n Lautsprechern <strong>de</strong>s Wasserwerfers.<br />

Vor <strong>de</strong>m Amerika Haus am<br />

Bahnhof Zoo wer<strong>de</strong>n Passanten ins<br />

Jahr 1968 versetzt. Anfang 2008 hat<br />

hier die Bun<strong>de</strong>szentrale für politische<br />

<strong>Bild</strong>ung /bpb ihre Ausstellung „’68<br />

– Brennpunkt Berlin“ eröffnet. Ein<br />

halbes Jahr lang empfängt das h<strong>ist</strong>orische<br />

Polizeifahrzeug nun die Besucher.<br />

Kernstück <strong><strong>de</strong>r</strong> Ausstellung <strong>ist</strong> eine<br />

Werkschau <strong>de</strong>s Fotografen <strong>Günter</strong><br />

<strong>Zint</strong>; das wissenschaftliche Konzept<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Ausstellung stammt <strong>von</strong> Dr. Jürgen<br />

Reiche vom Haus <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland.<br />

Für die Ausstellung <strong>ist</strong> das Amerika<br />

Haus ein h<strong>ist</strong>orischer Ort. Es wur<strong>de</strong><br />

einst eingerichtet, um <strong>de</strong>n Nachkriegs<strong>de</strong>utschen<br />

die US-amerikanische<br />

Kultur näherzubringen. 1968 fan<strong>de</strong>n<br />

vor <strong>de</strong>m zentral gelegenen Gebäu<strong>de</strong><br />

Proteste gegen <strong>de</strong>n Vietnamkrieg statt,<br />

Steine flogen gegen die Fenster. Heute<br />

hängen an <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n Schwarz-<br />

Weiß-Photographien, Vi<strong>de</strong>os laufen,<br />

auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n <strong>ist</strong> eine Zeitle<strong>ist</strong>e mit<br />

<strong>de</strong>n relevanten Ereignissen und Daten<br />

gedruckt, und Helme und Knüppel<br />

<strong>von</strong> damals sind Ausstellungsstücke<br />

innerhalb <strong>de</strong>s Gebäu<strong>de</strong>s statt Kampfarsenal<br />

auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Straße davor. Schnell wird<br />

klar, dass diese Bewegung vielseitig<br />

gewesen sein muss. Die Einführung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Antibabypille verän<strong><strong>de</strong>r</strong>te das<br />

konservative Familienbild und die<br />

damaligen Moralvorstellungen. Und<br />

über <strong>de</strong>m Ausgang steht „Wer zweimal<br />

mit <strong><strong>de</strong>r</strong>selben pennt, gehört schon<br />

zum Establishment“ – ein Spruch aus<br />

<strong>de</strong>n damaligen Kommunen.<br />

Vor allem Schulklassen und Stu<strong>de</strong>nten-Gruppen<br />

besuchen die Ausstellung.<br />

Heute sind auch Andrea Szatmary<br />

und Claudia Rücker dort. Sie<br />

interessieren sich <strong><strong>de</strong>r</strong>zeit beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s für<br />

das Thema 1968, <strong>de</strong>nn sie planen für<br />

die zweite Jahreshälfte eine eigene Aus-<br />

stellung, die in Zusammenarbeit mit<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Humboldt-Universität zu Berlin<br />

und <strong><strong>de</strong>r</strong> Fachhochschule Potsdam im<br />

Ephraim-Palais stattfin<strong>de</strong>t. Auftraggeber<br />

<strong>ist</strong> die Stiftung Stadtmuseum.<br />

Noch eine Ausstellung zum Thema<br />

68? Klar, in <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er-Revolte gibt es<br />

entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> h<strong>ist</strong>orische Wegmarken,<br />

auf die kein Rückblick, keine<br />

Ausstellung verzichten darf: Der<br />

Besuch <strong>de</strong>s Schahs, <strong><strong>de</strong>r</strong> Schuss auf<br />

Benno Ohnesorg, die Kampagne <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Springer-Presse. Und doch: Immer<br />

wie<strong><strong>de</strong>r</strong> gelingt es, unterschiedliche<br />

Schwerpunkte zu setzen. Eine Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>heit<br />

bei Andrea Szatmary und<br />

Claudia Rücker <strong>ist</strong> das <strong><strong>de</strong>r</strong> Bezug zur<br />

Polizei: Einzelne Poliz<strong>ist</strong>en etablierten<br />

damals schon erste Formen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Deeskalations-Strategie.<br />

Ob Amerika Haus o<strong><strong>de</strong>r</strong> Ephraim-<br />

Palais: Damit ein h<strong>ist</strong>orisches Ereignis<br />

zu einer lebendigen Ausstellung wird,<br />

muss eine Menge vorbereitet wer<strong>de</strong>n.<br />

Am Anfang recherchierten Andrea<br />

Szatmary und Claudia Rücker im<br />

Internet, dann in diversen Archiven.<br />

Die bei<strong>de</strong>n arbeiteten sich durch Berge<br />

<strong>von</strong> Dokumenten. „Wir durchstöberten<br />

das APO-Archiv, das Hamburger<br />

Institut für Sozialforschung, das<br />

Archiv <strong><strong>de</strong>r</strong> Polizeih<strong>ist</strong>orischen Sammlungen<br />

und das Stadtmuseum Berlin“,<br />

erinnert sich Andrea Szatmary. „Und<br />

wir führten Interviews mit ehemaligen<br />

Stu<strong>de</strong>nten und mit bekannten Personen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit, zum Bespiel mit <strong>de</strong>m<br />

Grünen-Politiker Ströbele über <strong>de</strong>n<br />

Tod <strong>von</strong> Benno Ohnesorg.“<br />

Bis ein Ausstellungskonzept steht,<br />

vergeht viel Zeit. „Das <strong>ist</strong> vergleichbar<br />

mit einem Regisseur, <strong><strong>de</strong>r</strong> ein Drehbuch<br />

schreibt“, sagt Szatmary. Mit Hilfe <strong>von</strong><br />

Designern, Grafikern, <strong><strong>de</strong>r</strong> Stiftung und<br />

in enger Zusammenarbeit mit Stu<strong>de</strong>nten<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Humboldt-Universität wer<strong>de</strong>n<br />

ihre Pläne dann umgesetzt.<br />

Während Andrea Szatmary und<br />

Claudia Rücker noch in <strong><strong>de</strong>r</strong> Vorbe-<br />

reitung stecken, <strong>ist</strong> bei <strong><strong>de</strong>r</strong> bpb ein<br />

begleiten<strong>de</strong>s Veranstaltungsprogramm<br />

bereits in vollem Gange. Eine Filmreihe<br />

zum Vietnamkrieg im Rahmen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Berlinale, zwei Wochenen<strong>de</strong>n mit<br />

Filmen aus <strong>de</strong>n späten 60er Jahren<br />

sowie eine Vielzahl <strong>von</strong> Podien- und<br />

Zeitzeugengesprächen, allesamt in<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Jahreshälfte, rahmen die<br />

Ausstellung und vertiefen die Auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung<br />

mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte.<br />

Neben Debatten über weiterhin<br />

strittige Aspekte <strong><strong>de</strong>r</strong> h<strong>ist</strong>orischen<br />

Ereignisse selbst bietet die Frage nach<br />

<strong>de</strong>n Langzeitfolgen <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er-Revolte<br />

zentralen Diskussionsstoff. Die Entwicklung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Geschlechterbeziehungen<br />

seit 1968 wird in <strong><strong>de</strong>r</strong> Podienfolge<br />

ebenso in <strong>de</strong>n Blick genommen wie<br />

die Auswirkungen <strong>von</strong> 68 auf Theater<br />

und Künste o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Zusammenhang<br />

zwischen 68 und <strong>de</strong>n Neuen Sozialen<br />

Bewegungen <strong><strong>de</strong>r</strong> 70er und 80er. Und<br />

auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Besucher darf mitre<strong>de</strong>n.<br />

Die Frage, ob die Auswirkungen <strong>von</strong><br />

68 auch heute noch zu spüren sind,<br />

kann per Knopfdruck beantwortet<br />

wer<strong>de</strong>n: Ja, Nein, Weiß nicht. So wird<br />

Geschichte auf <strong>de</strong>n Punkt gebracht.<br />

Ausstellungsinfos<br />

68 – Brennpunkt Berlin<br />

Amerika Haus<br />

Har<strong>de</strong>nbergstraße 22-24, 10623 Berlin<br />

31. Januar bis 31. Mai 2008<br />

Gruppen ab 10 Personen haben die Möglichkeit,<br />

sich für eine Führung anzumel<strong>de</strong>n. Für Schüler-<br />

und Jugendgruppen kostenfrei, für alle an<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

2,00 Euro pro Person.<br />

berlin68 – Sichten einer Revolte<br />

Ephraim-Palais<br />

Poststr. 16, 10178 Berlin<br />

9. Juni bis 2. November 2008<br />

Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10 bis<br />

18 Uhr, Mittwoch 12 bis 20 Uhr, montags<br />

geschlossen


mythos68 | April 2008 informierend<br />

REISE IN DIE ZEITGESCHICHTE<br />

Thomas Krüger (Jahrgang1959) <strong>ist</strong> seit Juni 2000 Präsi<strong>de</strong>nt<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Bun<strong>de</strong>szentrale für politische <strong>Bild</strong>ung /bpb. Deren<br />

Hauptaufgabe <strong>ist</strong> es, durch Veranstaltungen, Ausstellungen,<br />

Veröffentlichungen und Lehrmaterial zur aktiven Auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung<br />

mit Politik anzuregen. Ein Interview über die aktuelle<br />

68er-Ausstellung <strong><strong>de</strong>r</strong> bpb im Amerika Haus und das alte Lied<br />

<strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> damaligen und heutigen Jugend.<br />

Von Maxi Engel<br />

politikorange: 68 dürfte wohl im Moment das<br />

me<strong>ist</strong> diskutierte geschichtliche Thema <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Bun<strong>de</strong>srepublik sein. Zahlreiche Publikationen<br />

haben sich bereits mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Stu<strong>de</strong>ntenrevolte<br />

auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>gesetzt. Welche neuen<br />

Einblicke bringen die <strong>von</strong> Ihnen initiierte Ausstellung<br />

und die jetzige Publikationsreihe?<br />

Thomas Krüger: Wir möchten Anregungen<br />

geben, dass die Thematik 1968<br />

als gesellschaftspolitischer Einschnitt<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte <strong><strong>de</strong>r</strong> Bun<strong>de</strong>srepublik,<br />

aber auch in <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

DDR wahrgenommen wird. Denn<br />

68 hat nicht nur in Westeuropa stattgefun<strong>de</strong>n,<br />

son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch in <strong><strong>de</strong>r</strong> DDR<br />

durch die Aufstän<strong>de</strong> in Warschau und<br />

Prag entsprechen<strong>de</strong> Zeitenwen<strong>de</strong>n<br />

hervorgerufen und Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen<br />

ausgelöst. Mit unserer Ausstellung<br />

im Berliner Amerika Haus und mit<br />

unseren Publikationen möchten wir<br />

zur Diskussion über die jüngere Zeitgeschichte<br />

anregen, die vor allem bei<br />

vielen jungen Menschen völlig aus <strong>de</strong>m<br />

Blickfeld geraten <strong>ist</strong>. Deren Eltern und<br />

Großeltern haben sie durchaus noch im<br />

Gedächtnis, diskutieren sie aber i<strong>de</strong>ologisch<br />

sehr festgelegt. Die Diskussion zu<br />

öffnen und <strong>de</strong>n Leuten die Möglichkeit<br />

zu geben, sich ein eigenes Urteil zu<br />

bil<strong>de</strong>n: Das sind unsere Ziele.<br />

Hatten Sie manchmal <strong>de</strong>n Eindruck, dass im<br />

Westen die Speerspitze <strong><strong>de</strong>r</strong> Bewegung zum <strong>Teil</strong><br />

eine totalitäre Richtung einschlug?<br />

Die aktuelle Forschung we<strong>ist</strong> darauf<br />

hin, dass dies ein sehr komplexes Feld<br />

<strong>ist</strong>. Die sogenannte Avantgar<strong>de</strong> o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Speerspitze stellte nur einen <strong>Teil</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Leute dar, die jedoch nie die breite<br />

Mehrheit repräsentiert haben. Johano<br />

Strasser sagt beispielsweise, dass die<br />

Mehrheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Leute, vor allem aus<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> 68er-Stu<strong>de</strong>ntenbewegung, in die<br />

SPD eingetreten <strong>ist</strong>, und das kann<br />

man nicht als totalitär bezeichnen.<br />

Die i<strong>de</strong>ologische Zuspitzung war<br />

natürlich da, und diese muss man auch<br />

entsprechend kritisch unter die Lupe<br />

nehmen, aber <strong><strong>de</strong>r</strong> gravieren<strong>de</strong> Einschnitt<br />

hat kulturell stattgefun<strong>de</strong>n: Das<br />

D<strong>ist</strong>anzieren <strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Elterngeneration<br />

durch die Einflüsse <strong><strong>de</strong>r</strong> Rockmusik, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Frie<strong>de</strong>nsbewegung, <strong><strong>de</strong>r</strong> Anti-Vietnambewegung.<br />

All das fand weltweit statt,<br />

und sehr viele junge Leute i<strong>de</strong>ntifizierten<br />

sich damit. Im Anschluss daran<br />

pluralisierten und <strong>de</strong>mokratisierten<br />

sie so die Gesellschaft. Beispiele dafür<br />

sind die Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>la<strong>de</strong>nbewegung, ein<br />

breiteres Verständnis <strong>von</strong> Erziehung,<br />

die Diskussion an <strong>de</strong>n Universitäten.<br />

Die Bun<strong>de</strong>srepublik wur<strong>de</strong> zu einem<br />

Staat, <strong><strong>de</strong>r</strong> viel mehr Individualität<br />

ermöglichte. Das <strong>ist</strong> wahrscheinlich<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> markanteste Punkt, <strong><strong>de</strong>r</strong> 68 betrifft<br />

und <strong><strong>de</strong>r</strong> heute <strong>von</strong> weiten <strong>Teil</strong>en <strong><strong>de</strong>r</strong>er,<br />

die damals die Bewegung kritisierten,<br />

unbestritten <strong>ist</strong>.<br />

Mit <strong>de</strong>m Informationsangebot <strong><strong>de</strong>r</strong> bpb wollen<br />

Sie vor allem jüngere Menschen einla<strong>de</strong>n, sich<br />

mit <strong>de</strong>m Thema 68 zu beschäftigen. Warum,<br />

glauben Sie, <strong>ist</strong> die damalige Zeit beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s für<br />

die heutige Jugend <strong>von</strong> Interesse?<br />

Die 68er-Bewegung war selbst eine<br />

Jugendbewegung, und man kann an<br />

Jugendbewegungen sowohl die ambivalenten<br />

Komponenten politischer<br />

Urteilsbildung ablesen als auch das<br />

Feuer, sich politisch zu engagieren.<br />

Wir wollen mit dieser Ausstellung und<br />

mit <strong>de</strong>n Veranstaltungen junge Leute<br />

ansprechen, um das mit ihnen auch zu<br />

erörtern: Nicht nur mit <strong>de</strong>m Rückblick<br />

auf die 68er-Zeit, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch mit<br />

Blick auf die Virulenz politischen Engagements<br />

heute. Grün<strong>de</strong> gibt es genug.<br />

Die Schere zwischen arm und reich geht<br />

auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>, die Globalisierungs<strong>de</strong>batte<br />

wird sehr kontrovers geführt; es liegen<br />

also viele politische Themen auf <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Straße, und man hat aus verschie<strong>de</strong>nen<br />

Grün<strong>de</strong>n mit einer Jugend zu tun,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> man je<strong>de</strong>nfalls nicht in <strong><strong>de</strong>r</strong> Breite<br />

als politisierte Jugend begegnet. Man<br />

i<strong>de</strong>ntifiziert sich heute in stärkerem<br />

Maße mit an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Interessen als <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Politik – vor allem auch mit <strong>de</strong>m Entertainment<br />

–, hat die eigene individuelle<br />

Karriere im Blick, und die politischen<br />

Komponenten spielen nur zum <strong>Teil</strong><br />

eine Rolle. Unsere Ausstellung <strong>ist</strong> eine<br />

Art Staubsauger, um die Leute in <strong>de</strong>n<br />

zeitgeschichtlichen Raum zu holen und<br />

dann zu diskutieren. Es gibt eine Reihe<br />

<strong>von</strong> Diskussionsveranstaltungen, die<br />

zu unserer Überraschung min<strong>de</strong>stens<br />

zur Hälfte <strong>von</strong> jungen Leuten besucht<br />

sind. Das heißt, das Interesse <strong>ist</strong> im<br />

Ansatz da.<br />

Was kann unsere Generation konkret aus<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> 68er-Zeit sowohl im Positiven als auch<br />

im Negativen lernen, wenn sie versucht, sich<br />

politisch zu engagieren und gegen Missstän<strong>de</strong><br />

zu rebellieren?<br />

Um mit <strong>de</strong>m Positiven anzufangen: die<br />

Haltung, die Kreativität <strong>de</strong>s Protests,<br />

die Einbettung <strong>von</strong> Protestformen<br />

in die jugendkulturellen Kontexte<br />

sind Dinge, die 68 erfun<strong>de</strong>n und<br />

ausprobiert wur<strong>de</strong>n, <strong>von</strong> <strong>de</strong>nen man<br />

sicherlich lernen kann und die uns bis<br />

heute beeinflussen. Ich selbst kann als<br />

ehemaliger Bürgerrechtler <strong><strong>de</strong>r</strong> DDR<br />

sagen, dass viele <strong><strong>de</strong>r</strong> Protestslogans<br />

und -formen, die wir damals 1989<br />

realisiert haben, sehr viel mit 68 zu<br />

tun hatten und damit in Verbindung<br />

gebracht wer<strong>de</strong>n können. 89 <strong>ist</strong> ohne<br />

68 schwer <strong>de</strong>nkbar, und sowohl Prag<br />

als auch die Sit-ins und Teach-ins aus<br />

<strong>de</strong>m westlichen Europa haben dies<br />

beeinflusst.<br />

Und das Negative?<br />

Der Fehler, <strong>de</strong>n man vermei<strong>de</strong>n muss,<br />

<strong>ist</strong>, zu schnell <strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Rebellion in die<br />

Manie, in i<strong>de</strong>ologische Verkürzungen,<br />

in ungerechtfertigte, ungerechte und<br />

auch totalitäre Positionen überzuspringen.<br />

Und das <strong>ist</strong> auch ein Lerngegenstand,<br />

<strong>de</strong>n man an 68 abarbeiten sollte.<br />

Viele <strong><strong>de</strong>r</strong> Protagon<strong>ist</strong>en <strong><strong>de</strong>r</strong> damaligen<br />

Zeit wur<strong>de</strong>n in ihrem Überschwang<br />

zu Mao<strong>ist</strong>en o<strong><strong>de</strong>r</strong> grün<strong>de</strong>ten kommun<strong>ist</strong>ische<br />

Zellen, bar je<strong><strong>de</strong>r</strong> Kenntnisnahme,<br />

dass umter Maos Regime<br />

Millionen Menschen umgebracht hatte<br />

und <strong><strong>de</strong>r</strong> Kommunismus eine totalitäre<br />

Gesellschaftsordnung war. Man hat<br />

die nachvollziehbare Einfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ung<br />

<strong>von</strong> mehr Pluralität und Demokratie<br />

mit kommun<strong>ist</strong>ischen Alternativen<br />

angereichert. Bei aller Ambivalenz<br />

muss man sich damit kritisch auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzen<br />

und zu einem eigenen Urteil<br />

kommen. Um ein Beispiel zu geben:<br />

Sie sehen in unserer Ausstellung ein<br />

Vi<strong>de</strong>o <strong>von</strong> einer großen Veranstaltung<br />

an <strong><strong>de</strong>r</strong> Freien Universität, auf <strong><strong>de</strong>r</strong> ein<br />

Kritiker <strong><strong>de</strong>r</strong> Bewegung versucht zu<br />

sprechen, nach <strong>de</strong>n ersten Sätzen aber<br />

sofort vom Podium gerissen wird und<br />

hinter <strong>de</strong>n Kulissen verschwin<strong>de</strong>t. Die<br />

Meinungsfreiheit <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er hatte eben<br />

auch ihre Grenzen.<br />

05


06<br />

persönlich<br />

„ICH BIN EIN WIRKLICH RICHTIGER 68ER“<br />

politikorange: Wann fingen Sie an, sich politisch<br />

zu engagieren?<br />

Hans-Chr<strong>ist</strong>ian Ströbele: Bei mir<br />

war <strong><strong>de</strong>r</strong> 2. Juni 1967 ein Schlüsselerlebnis.<br />

Das war <strong><strong>de</strong>r</strong> Tag <strong><strong>de</strong>r</strong> Demonstration<br />

gegen <strong>de</strong>n Schah-Besuch. Am<br />

nächsten Tag habe ich in <strong><strong>de</strong>r</strong> BZ das<br />

Foto einer blutüberströmten Frau mit<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Überschrift: „Von Steinen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Chaoten getroffen“ gesehen. Aber<br />

dann sagte genau die selbe Frau: Von<br />

wegen, <strong>von</strong> einem Stein <strong><strong>de</strong>r</strong> Chaoten<br />

getroffen; ich wur<strong>de</strong> <strong>von</strong> einem Polizeiknüppel<br />

getroffen! Später hieß es,<br />

ein Poliz<strong>ist</strong> sei erstochen wor<strong>de</strong>n. Die<br />

Wahrheit war, dass ein völlig harmloser<br />

Mann namens Benno Ohnesorg <strong>von</strong><br />

einem Poliz<strong>ist</strong>en erschossen wur<strong>de</strong>.<br />

Ich hab mich über bei<strong>de</strong> Geschichten<br />

so empört, dass ich mich entschlossen<br />

habe, mich Horst Mahler, <strong><strong>de</strong>r</strong> damals<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Anwalt <strong><strong>de</strong>r</strong> Stu<strong>de</strong>nten war, als<br />

jur<strong>ist</strong>ischer Zuarbeiter zur Verfügung<br />

zu stellen. Von da an war ich <strong>Teil</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Bewegung und <strong><strong>de</strong>r</strong> Außerparlamentarischen<br />

Opposition ...<br />

... und damit <strong>Teil</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er Revolution.<br />

Genau. Wir kamen zu <strong><strong>de</strong>r</strong> Überzeugung:<br />

Diese Gesellschaft wollen wir<br />

nicht! Nur die Revolution kann die<br />

Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung bringen.<br />

ikonen |<br />

Ernesto „Che“ Rafael Guevara <strong>de</strong> la Serna<br />

(1928 – 1967)<br />

„Seien wir real<strong>ist</strong>isch, versuchen<br />

wir das Unmögliche.“<br />

Ich war da<strong>von</strong> total überzeugt.<br />

Damals antwortete ich auf die Frage<br />

nach einer Altersversicherung: Nee,<br />

brauche ich nicht, bis dahin hat die<br />

Revolution gesiegt. Ich habe die Revolution<br />

also nicht nur für notwendig,<br />

son<strong><strong>de</strong>r</strong>n für machbar und real<strong>ist</strong>isch<br />

gehalten.<br />

Schön und gut, aber eine Revolution beginnt<br />

man, in<strong>de</strong>m man sich gegen das etablierte<br />

System wen<strong>de</strong>t. Sie wur<strong>de</strong>n statt<strong>de</strong>ssen <strong>Teil</strong><br />

<strong>de</strong>s Systems, spätestens mit Ihrem Eintritt<br />

in die SPD.<br />

Es bil<strong>de</strong>te sich die Auffassung heraus,<br />

dass es mit ewigem Demonstrieren<br />

nicht weitergeht. Wir fingen an, die<br />

Frage <strong><strong>de</strong>r</strong> Gewalt zu diskutieren.<br />

Einige sind in <strong>de</strong>n Untergrund gegangen,<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>e wählten <strong>de</strong>n Gang durch<br />

die Institutionen. Ich bin <strong>de</strong>shalb 1970<br />

in die SPD eingetreten. Dutschke predigte:<br />

Wir kämpfen weiter für unsere<br />

Ziele, aber eben überall. An <strong>de</strong>n<br />

Werkstoren, im Gerichtssaal und in<br />

<strong>de</strong>n Institutionen.<br />

Gewalt war ja ohnehin ein zentrales Thema<br />

damals. Wie haben Sie sich positioniert?<br />

Ich habe diese Gewaltdiskussion<br />

mitgemacht, aber dazu nicht Stellung<br />

genommen. An<strong><strong>de</strong>r</strong>e haben sich bewaff-<br />

DER ROMANTISCHE REVOLUTIONäR<br />

Wer war er? An <strong><strong>de</strong>r</strong> Seite <strong>von</strong> Fi<strong>de</strong>l und Raoul Castro führte <strong><strong>de</strong>r</strong> gebürtige<br />

Argentinier die Guerillakämpfer gegen das kubanische Regime <strong>von</strong> Fulgencia<br />

Bat<strong>ist</strong>a. Resultat: Die Revolution siegte, und ab 1959 wur<strong>de</strong> Kuba<br />

sozial<strong>ist</strong>isch. „Comandante Che“ beteiligte sich maßgeblich an <strong><strong>de</strong>r</strong> sozialen<br />

Umgestaltung <strong><strong>de</strong>r</strong> Zuckerrohrinsel, war Chef <strong><strong>de</strong>r</strong> Nationalbank und knüpfte<br />

Kontakte zur DDR und Sowjetunion. Nebentätigkeiten: Arzt, Frauenheld,<br />

Zigarrenraucher.<br />

Und heute? Ein ungebrochener Mythos. Ob T-Shirts,<br />

Poster o<strong><strong>de</strong>r</strong> Taschentücher: Produkte mit Ches Konterfei<br />

wer<strong>de</strong>n heute immer noch millionenfach verkauft, vor<br />

allem an rebellieren<strong>de</strong> Teenager und pseudolinke Promis.<br />

net. Es gab die allgemeine Meinung,<br />

die Revolution sei angesagt. Man muss<br />

das auch über Deutschland hinaus<br />

sehen, es gab in vielen Län<strong><strong>de</strong>r</strong>n ähnliche<br />

Entwicklungen, man sah sich in<br />

einem weltweiten Zusammenhang.<br />

Es scheint, als sei heute <strong>von</strong> dieser weltweiten<br />

Bewegung wenig übrig geblieben – außer<br />

eines verklärten Rückblicks auf <strong>de</strong>n Mythos 68.<br />

68 hat Spuren hinterlassen: Deutschland<br />

<strong>ist</strong> in vielen Bereichen liberaler<br />

gewor<strong>de</strong>n. Als ich als Anwalt anfing,<br />

war es beispielsweise strafbar, wenn<br />

zwei erwachsene Männer Geschlechtsverkehr<br />

hatten. Das hatte zur Folge,<br />

dass sich um die Homosexuellenszene<br />

Verbrechen und Erpressung bil<strong>de</strong>ten.<br />

Heute <strong>ist</strong> Homosexualität gesellschaftlich<br />

akzeptiert. So gibt es eine ganze<br />

Reihe <strong>von</strong> Sachen, die sich durch das<br />

Infragestellen <strong><strong>de</strong>r</strong> etablierten Regeln<br />

verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t haben.<br />

Sehen Sie heute noch revolutionäres Potential?<br />

Ich sehe das Potential darin, dass<br />

auch in Heiligendamm so viele junge<br />

Leute da waren. Ihnen fehlt aber ein<br />

theoretischer Unterbau. Das führt<br />

dazu, dass das Engagement relativ<br />

schnell wie<strong><strong>de</strong>r</strong> weg <strong>ist</strong>. Das war damals<br />

mythos68 | April 2008<br />

Ein roter Schal <strong>ist</strong> sein Markenzeichen: Hans-Chr<strong>ist</strong>ian Ströbele<br />

sitzt als Abgeordneter <strong>von</strong> Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen<br />

Bun<strong>de</strong>stag. Ein Interview <strong>von</strong> Ulrike Schulz<br />

Er hat maßgeblich an <strong><strong>de</strong>r</strong> Gründung <strong><strong>de</strong>r</strong> linken Tageszeitung taz und <strong>de</strong>s<br />

Berliner Lan<strong>de</strong>sverban<strong>de</strong>s <strong><strong>de</strong>r</strong> Grünen mitgewirkt. Vielen gilt Hans-Chr<strong>ist</strong>ian<br />

Ströbele als Vorzeige-68er: Zusammen mit Horst Mahler, <strong>de</strong>m heutigen<br />

Holocaust-Leugner, schuf er 1969 das sozial<strong>ist</strong>ische Anwaltskollektiv. In <strong>de</strong>n<br />

70ern vertrat er die RAF-Gefangenen <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Generation.<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>s. Die APO hatte <strong>de</strong>n Anspruch,<br />

Theorien und Vorstellungen darüber<br />

zu entwickeln: Was <strong>ist</strong> falsch, was <strong>ist</strong><br />

die Ursache für <strong>de</strong>n Faschismus, und<br />

wo muss es hingehen, dass so etwas nie<br />

wie<strong><strong>de</strong>r</strong> passiert?<br />

Fin<strong>de</strong>n Sie im Rückblick, dass Sie erfolgreich<br />

mit Ihren Zielen waren?<br />

Natürlich hätte man einiges an<strong><strong>de</strong>r</strong>s<br />

machen können. Aber die Grundrichtung<br />

halte ich nach wie vor für<br />

so richtig, dass ich einen großen <strong>Teil</strong><br />

meines jetzigen politischen Lebens<br />

dafür einsetze und mich an <strong><strong>de</strong>r</strong> Frage<br />

orientiere: Wie kann ich zu einer<br />

Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt zu gerechteren<br />

Verhältnissen beitragen? Ich bin sicher,<br />

dass ich da auch weitermachen wer<strong>de</strong>,<br />

solange es meine Gesundheit zulässt.<br />

Warum wur<strong>de</strong> er <strong>von</strong> <strong>de</strong>n 68ern verehrt? Der<br />

Revolutionsstar verband erstmals jugendliches<br />

Charisma mit kommun<strong>ist</strong>ischen<br />

I<strong>de</strong>alen. Zu<strong>de</strong>m wollte er <strong>de</strong>n „Neuen<br />

Menschen“ schaffen – und zwar mit<br />

Gewalt. Che war aber auch <strong><strong>de</strong>r</strong> träumerische<br />

Weltverbesserer, <strong><strong>de</strong>r</strong> erst Lateinamerika,<br />

danach <strong>de</strong>n ganzen Planeten <strong>von</strong><br />

Armut, Krankheit und Ausbeutung befreien<br />

wollte. Sein Versuch in Bolivien scheiterte:<br />

Am 9. Oktober 1967 wur<strong>de</strong> er <strong>von</strong> einem<br />

bolivischen Feldwebel erschossen.


mythos68 | April 2008 persönlich<br />

2006 hatte <strong><strong>de</strong>r</strong> 27-Jährige selbst für<br />

die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus<br />

kandidiert, allerdings erfolglos.<br />

Seit<strong>de</strong>m <strong>ist</strong> es um <strong>de</strong>n Erben <strong>de</strong>s<br />

Revolutionärs etwas still gewor<strong>de</strong>n.<br />

Eigentlich <strong>ist</strong> Marek heute ein ganz<br />

normaler junger Mann, wären da nicht<br />

die ständigen Interviewanfragen. Mal<br />

sehen, welche Spuren er hinterlassen<br />

wird.<br />

politikorange: Erkennt <strong>de</strong>ine Mutter Seiten <strong>von</strong><br />

<strong>de</strong>inem Vater an dir?<br />

Marek Dutschke: Ich weiß es nicht.<br />

Gute Frage. Müsste man sie mal<br />

fragen.<br />

Gretchen Dutschke zog nach <strong>de</strong>m Tod ihres<br />

Lebensgefährten Rudi Dutschke in die Vereinigten<br />

Staaten. Dort b<strong>ist</strong> du auch groß gewor<strong>de</strong>n.<br />

Wann hast du angefangen, dich mit <strong>de</strong>inem<br />

Vater auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>zusetzen?<br />

Relativ spät, wür<strong>de</strong> ich sagen. Ungefähr<br />

mit 18, 19 Jahren. Mit 20, als<br />

ich nach Berlin ging, habe ich größere<br />

Schritte gemacht. Von meiner Mutter<br />

habe ich wenig erfahren, mehr <strong>von</strong><br />

Bekannten, die hier in Berlin leben,<br />

Rudi Dutschke<br />

(1940 – 1979)<br />

„Ich halte das bestehen<strong>de</strong><br />

parlamentarische System für<br />

unbrauchbar. Das heißt, wir<br />

haben in unserem Parlament<br />

keine Repräsentanten, die die<br />

Interessen unserer Bevölkerung –<br />

die wirklichen Interessen unserer<br />

Bevölkerung – ausdrücken.“<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> durch Bücher. Ich habe allerdings<br />

mit 20 Jahren nur Positives sehen<br />

können. Ich war noch nicht bereit,<br />

mich damit kritisch auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>zusetzen.<br />

Vor sieben Jahren hast du das Buch „Die Spuren<br />

meines Vaters“ geschrieben. Dort erklärst<br />

du, dass du in <strong><strong>de</strong>r</strong> Partei Bündnis90/Die<br />

Grünen die Spuren <strong>de</strong>ines Vaters am me<strong>ist</strong>en<br />

wie<strong><strong>de</strong>r</strong>erkennst.<br />

Ja, das glaube ich auch. Sehr<br />

simpel gedacht, eigentlich. Aber Rudi<br />

Dutschke war ein Gründungsmitglied<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Grünen. Politisch betrachtet,<br />

sind dort am ehesten Spuren <strong>von</strong> ihm<br />

erkennbar.<br />

Abgesehen <strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gründung <strong><strong>de</strong>r</strong> Grünen,<br />

warum waren die 68er so entschei<strong>de</strong>nd für die<br />

Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland? Nach Meinung<br />

vieler H<strong>ist</strong>oriker haben die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

politischen Reformen, z.B. in <strong><strong>de</strong>r</strong> Sozialpolitik,<br />

schon früher stattgefun<strong>de</strong>n.<br />

Das kann durchaus sein. Aber politische<br />

Reformen sind nicht alles. Es<br />

muss auch eine Auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> Bevölkerung geben. Die fand<br />

DER REVOLUTIONäRE RUDI<br />

damals in Berlin auf <strong>de</strong>n Straßen statt.<br />

Konfrontation zwischen völlig verschie<strong>de</strong>nen<br />

Meinungen kann nicht im<br />

Bun<strong>de</strong>stag beschlossen wer<strong>de</strong>n. 68 <strong>ist</strong><br />

es lautstark auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Straße passiert.<br />

Dabei soll es ziemlich autoritär zugegangen<br />

sein, erklärt <strong><strong>de</strong>r</strong> H<strong>ist</strong>oriker Götz Aly in seiner<br />

neuen Publikation „Unser Kampf“. Er glaubt<br />

totalitäre Aspekte <strong>de</strong>s Nationalsozialismus in<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> 68er Bewegung wie<strong><strong>de</strong>r</strong>zuerkennen. Was<br />

<strong>de</strong>nkst du darüber?<br />

Die 68er-Bewegung mit <strong>de</strong>m Nationalsozialismus<br />

zu vergleichen, scheint<br />

mir eine abwegige Interpretation zu<br />

sein. Es gab einmal eine Diskussion<br />

zwischen Ralf Dahrendorf, einem<br />

Liberalen <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Stun<strong>de</strong>, und<br />

Rudi Dutschke. Sie haben sich Stühle<br />

geschnappt und sich unter <strong>de</strong>m freien<br />

Himmel auf Autos gesetzt, um vor<br />

<strong>de</strong>n umliegen<strong>de</strong>n Stu<strong>de</strong>nten zu diskutieren.<br />

Das war ur<strong>de</strong>mokratisch!<br />

Selbst Habermas hat Rudi Dutschke<br />

einmal als Linksfasch<strong>ist</strong>en bezeichnet.<br />

Er hat es aber auch wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zurückgenommen.<br />

Wer war er? Rudi Dutschke wur<strong>de</strong> wegen seines Engagements in <strong><strong>de</strong>r</strong> evangelischen<br />

Jugend und <strong><strong>de</strong>r</strong> Verweigerung <strong>de</strong>s Wehrdienstes in <strong><strong>de</strong>r</strong> DDR das<br />

Studium verwehrt. Kurz vor <strong>de</strong>m Mauerbau sie<strong>de</strong>lte er nach West-Berlin<br />

über, studierte an <strong><strong>de</strong>r</strong> FU Soziologie. 1962 war er Mitbegrün<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> „Subversiven<br />

Aktion“. Die Gruppe schloss sich 1964 <strong>de</strong>m SDS an und übernahm an<br />

vielen Orten die Führerschaft.<br />

Und heute? Wie kaum eine an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Person steht <strong><strong>de</strong>r</strong> Name Rudi Dutschke für<br />

die Stu<strong>de</strong>ntenbewegung. Sein Streifenpulli <strong>ist</strong> bis heute im Heimatmuseum<br />

<strong>von</strong> Luckenwal<strong>de</strong>, Rudis Geburtsort, zu bewun<strong><strong>de</strong>r</strong>n.<br />

Ge<strong>de</strong>nktafel für Rudi Dutschke am Kurfürstendamm<br />

ikonen |<br />

Warum wur<strong>de</strong> er <strong>von</strong> <strong>de</strong>n 68ern verehrt? Rudi<br />

Dutschke wur<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> Öffentlichkeit<br />

weitaus bekanntester Vertreter <strong><strong>de</strong>r</strong> radikalen<br />

linken Stu<strong>de</strong>ntenbewegung, <strong><strong>de</strong>r</strong> durch seine<br />

utopischen, <strong>von</strong> religiösen Elementen nicht<br />

freien Entwürfe eines Sozialismus Sympathien<br />

weit über die Stu<strong>de</strong>ntenbewegung hinaus<br />

erhielt. Das Attentat auf ihn 1968 überlebte<br />

Rudi Dutschke nur knapp; er lebte zeitweise<br />

mit seiner Familie in Großbritannien und<br />

Dänemark und starb 1979 an <strong>de</strong>n Spätfolgen<br />

<strong>de</strong>s Attentats.<br />

07<br />

„SPUREN<br />

HINTERLASSEN“<br />

Spuren hat Rudi Dutschke vor allem in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Partei DIE GRÜNEN hinterlassen, meint Marek.<br />

Wo<strong>von</strong> er spricht, sollte er wissen – er <strong>ist</strong> Rudi<br />

Dutschkes Sohn. Von Anne Pietzunka


08<br />

alltäglich<br />

IMMER MÜSSEN WIR MACHEN, WAS WIR WOLLEN!<br />

„Deutschlands unartigste Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>“<br />

nannte ein Magazin vor 40 Jahren<br />

diese kleinen Rabauken aus <strong>de</strong>n Berliner<br />

Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>lä<strong>de</strong>n. Alles war erlaubt,<br />

was in Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>gärten streng verboten<br />

wur<strong>de</strong>: Wän<strong>de</strong> bemalen, aus <strong>de</strong>m<br />

Fenster klettern, mit <strong>de</strong>m Essen<br />

spielen. Der Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>la<strong>de</strong>n sollte die<br />

APO <strong><strong>de</strong>r</strong> Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>gartenwelt wer<strong>de</strong>n.<br />

Der dort praktizierte antiautoritäre<br />

Erziehungsstil sorgte in bürgerlichen<br />

Kreisen für Entsetzen.<br />

Die ersten Berliner Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>lä<strong>de</strong>n<br />

wur<strong>de</strong>n auf Initiative <strong>de</strong>s „Aktionsrates<br />

zur Befreiung <strong><strong>de</strong>r</strong> Frau“ 1968 gegrün<strong>de</strong>t.<br />

Sie sollten die Mütter entlasten<br />

und so ihre politische Arbeit im SDS<br />

för<strong><strong>de</strong>r</strong>n.<br />

„Bei uns war es immer laut und<br />

für Außenstehen<strong>de</strong> wahrscheinlich<br />

fürchterlich chaotisch“, erzählt Heike,<br />

die 1969 selbst in einem Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>la<strong>de</strong>n<br />

in Wilmersdorf war. Sie erinnert sich<br />

an das Mao-Poster und die „Chinablätter“<br />

<strong>de</strong>s Vaters.<br />

Im Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>la<strong>de</strong>n ging es nicht<br />

gera<strong>de</strong> zimperlich zu. „Bei uns hat es<br />

erstmal geknallt, und dann hat man<br />

vielleicht darüber gesprochen“, erklärt<br />

Heike. Die Gemeinschaft stand immer<br />

im Mittelpunkt. Man war ständig<br />

zusammen, lieferte sich mit an<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

Gruppen Rangeleien und ging mit <strong>de</strong>n<br />

Eltern auf je<strong>de</strong> Demonstration.<br />

Rückblickend sieht Heike die Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>la<strong>de</strong>nzeit<br />

als das Experiment einer<br />

neuen Ordnung. Der neue Mensch<br />

sollte geschaffen wer<strong>de</strong>n, und da<br />

begannen die Väter und Mütter <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Stu<strong>de</strong>ntenrevolte gleich mal bei ihren<br />

eigenen Sprösslingen.<br />

Doch was <strong>ist</strong> <strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>la<strong>de</strong>nbewegung<br />

geblieben?<br />

Auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Suche nach einer Antwort<br />

habe ich <strong>de</strong>n Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>la<strong>de</strong>n „Frischlinge“<br />

besucht. Ein kleiner, gemütlicher<br />

Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>la<strong>de</strong>n im Berliner Wedding.<br />

13 Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>, zwei Betreuerinnen – ein<br />

Luxus, <strong>de</strong>n heute nicht je<strong>de</strong>s Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>gartenkind<br />

genießen kann.<br />

Nach<strong>de</strong>m ich mich im Spielraum<br />

auf <strong>de</strong>m Antirutsch-Teppich nie<strong><strong>de</strong>r</strong>gelassen<br />

habe, bin ich in kürzester Zeit<br />

<strong>von</strong> Eisenbahnschienen umzingelt.<br />

Drei kleine Jungs lassen ihre Lok<br />

stürmisch um mich kreisen.<br />

Die bei<strong>de</strong>n Betreuerinnen Ines und<br />

Silke sind seit 15 Jahren dabei. Was<br />

ihnen gefalle, frage ich sie: „Im Kila <strong>ist</strong><br />

man für sich selbst verantwortlich. Es<br />

<strong>ist</strong> familiärer, kleiner, und man kennt<br />

die Eltern viel besser.“<br />

Je<strong><strong>de</strong>r</strong> Tag beginnt mit einem Morgenkreis,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Ruhe in <strong>de</strong>n Tag bringen<br />

soll. Danach kann munter gespielt,<br />

gebastelt und getobt wer<strong>de</strong>n. „Uns <strong>ist</strong><br />

die individuelle Betreuung <strong><strong>de</strong>r</strong> Kin<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

sehr wichtig“, betont Silke. Doch was<br />

<strong>ist</strong> <strong>von</strong> <strong>de</strong>m antiautoritären Konzept<br />

<strong>von</strong> damals geblieben? „Es gibt<br />

gewisse Regeln und Strukturen, ganz<br />

klar. Aber wir folgen keinem striktem<br />

Tagesablauf.“<br />

Heute organisieren die bei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n<br />

Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>la<strong>de</strong>n größtenteils selbst. Vor<br />

15 Jahren war das noch ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>s.<br />

Damals übernahmen die Eltern die<br />

Organisation: putzen, kochen, einkaufen.<br />

Heute kommt <strong>von</strong> montags<br />

bis donnerstags ein Bio-Lieferservice,<br />

manchmal gibt es auch Fleisch – in<br />

dieser Hinsicht <strong>ist</strong> man nicht mehr so<br />

strikt wie früher. Freitags kochen die<br />

Eltern noch selbst. Ein wenig Tradition<br />

muss auch gewahrt wer<strong>de</strong>n.<br />

Viele Eltern suchen heute zwar<br />

immer noch die Alternative zu Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>gärten,<br />

möchten aber nicht mehr<br />

so stark einbezogen wer<strong>de</strong>n wie früher.<br />

Als 2002 immer weniger Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> kamen<br />

und die Kila vor <strong>de</strong>m finanziellen Aus<br />

stand, spürten Ines und Silke, dass sich<br />

das alte Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>la<strong>de</strong>nsystem irgendwie<br />

mythos68 | April 2008<br />

Die Wän<strong>de</strong> sind mit dicken roten Pinselstrichen beschmiert. Ein kleiner Junge drückt seine grünbemalten Hän<strong>de</strong> gegen die weiße<br />

Tür. Drei Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> rennen grölend einem schwarzen Kater hinterher und wirbeln dabei mit Puppen und Teddybären durch die Luft. Ein<br />

kleines, zottelhaariges Mädchen verschwin<strong>de</strong>t mit ihrem Kopf in einem großen Nu<strong>de</strong>ltopf Von Kathrin Friedrich<br />

DIE REVOLTE IN DER REVOLTE<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> me<strong>ist</strong> <strong>von</strong> Männern geführten<br />

Debatte über 68 tauchen Frauen höchstens<br />

am Ran<strong>de</strong> auf. Ihre Rolle und Kritik an <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Bewegung wird nur selten erwähnt. Doch<br />

was wäre 68 ohne die Frauen gewesen?<br />

Von Ulrike Schulz<br />

Weiterführen<strong>de</strong> Lektüre:<br />

Ute Kätzel: Die 68erinnen. Berlin, 2002.<br />

„Tatsächlich waren wir selbst Akteurinnen<br />

und nicht etwa die Anhängsel<br />

<strong>von</strong> irgendwem“, sagt die ehemalige<br />

Hochschulreferentin <strong>de</strong>s SDS, Susanne<br />

Schunter-Kleemann. Die Frauen beteiligten<br />

sich nicht nur an <strong>de</strong>n Demos,<br />

son<strong><strong>de</strong>r</strong>n übernahmen eigene Aufgaben<br />

und bald auch das Wort. Eine kleine<br />

Auswahl: Annette Schwarzenau war<br />

Delegierte im „Zentralrat <strong><strong>de</strong>r</strong> Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>lä<strong>de</strong>n“<br />

und am Kacke-Attentat auf<br />

die Stern-Redaktion 1969 beteiligt.<br />

Sigrid Fronius war 1968 Vorsitzen<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>s AStA und Mitbegrün<strong><strong>de</strong>r</strong>in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Kritischen Universität. Sigrid Rüger<br />

war seit 1965 stu<strong>de</strong>ntische Sprecherin<br />

im Aka<strong>de</strong>mischen Senat und zu <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Zeit an <strong><strong>de</strong>r</strong> FU bekannter als Rudi<br />

Dutschke.<br />

Die I<strong>de</strong>e zur Gründung <strong>von</strong> Kommunen<br />

in Berlin hatte nicht Dieter<br />

Kunzelmann, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n Gretchen<br />

Dutschke-Klotz, die über Versuche in<br />

<strong>de</strong>n USA gelesen hatte. Das Ergebnis<br />

gefiel ihr aber nicht mehr, als Kunzelmann<br />

offene Beziehungsstrukturen<br />

for<strong><strong>de</strong>r</strong>te. Denn nun „sollte freie<br />

Sexualität be<strong>de</strong>uten, dass die Frauen<br />

<strong>de</strong>n Männern immer zur Verfügung<br />

stehen.“ Nur wenige Frauen, wie<br />

Dagmar Pryztulla, wohnten fest in<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Kommune. Viele litten dort, weil<br />

sie an <strong>de</strong>m Partner hingen, mit <strong>de</strong>m<br />

sie eingezogen waren. Eifersucht galt<br />

aber als bürgerliches Relikt, das zu<br />

überwin<strong>de</strong>n sei. Außer<strong>de</strong>m konnten<br />

die Frauen die freie Liebe nicht im<br />

gleichen Maße leben, weil die Männer,<br />

die ihnen gefielen, wegen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Dominanz <strong><strong>de</strong>r</strong> Kommunar<strong>de</strong>n dort<br />

keinen Platz hatten. Mit <strong>de</strong>n Folgen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> freien Liebe, sprich einer ungewollten<br />

Schwangerschaft, mussten sie<br />

auch me<strong>ist</strong> allein fertig wer<strong>de</strong>n. Den<br />

größten Diskussionsbedarf gab es aber<br />

– wie in einer Kleinfamilie – über die<br />

alltäglichen Pflichten <strong>de</strong>s Haushaltes,<br />

<strong>de</strong>nn die Kommunar<strong>de</strong>n beteiligten<br />

sich nur ungern an Abwasch und<br />

Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>versorgung.<br />

Das Hauptproblem <strong><strong>de</strong>r</strong> Frauen mit<br />

Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>n war <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeitmangel. Helke<br />

ausgelebt hatte. „Wir haben gemerkt,<br />

dass die Eltern einfach keine Zeit<br />

mehr hatten, soviel Eigeninitiative in<br />

<strong>de</strong>n Kila zu stecken“, erklärt Ines. So<br />

ließen sich die bei<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Vorstand<br />

wählen und reduzierten die Pflichten<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Eltern. Seit<strong>de</strong>m läuft es bei <strong>de</strong>n<br />

„Frischlingen“ wie<strong><strong>de</strong>r</strong> rund. Silke<br />

glaubt, dass man sich langsam wie<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

auf die alten Werte zurückbesinne. Die<br />

Eltern treffen sich auch mal nach 16<br />

Uhr im Kila, um zusammenzusitzen,<br />

sich auszutauschen und ihren Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

beim Spielen zuzuschauen.<br />

Seit die ersten Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>lä<strong>de</strong>n ihre<br />

Türen öffneten, hat sich viel verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t.<br />

Die Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> sollen immer noch zu<br />

einem selbstbestimmten Leben herangeführt<br />

wer<strong>de</strong>n, jedoch behutsamer als<br />

noch vor 40 Jahren.<br />

Mag <strong><strong>de</strong>r</strong> Begriff „antiautoritär“<br />

heute auch überholt sein, die Revolte<br />

in <strong>de</strong>n Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>gärten hat eine freiere<br />

Pädagogik hervorgebracht.<br />

Die Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>lä<strong>de</strong>n <strong>von</strong> heute sind<br />

nicht mehr nur das „Experiment einer<br />

neuen Ordnung“, sie haben sich ihren<br />

Platz in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>gartenlandschaft<br />

erkämpft und sind dort nicht mehr<br />

wegzu<strong>de</strong>nken.<br />

San<strong><strong>de</strong>r</strong> grün<strong>de</strong>te <strong>de</strong>shalb <strong>de</strong>n „Aktionsrat<br />

zur Befreiung <strong><strong>de</strong>r</strong> Frauen“, aus <strong>de</strong>m<br />

die ersten Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>lä<strong>de</strong>n hervorgingen.<br />

Die Frauen wollten abwechselnd auf<br />

die Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> aufpassen, um mehr Zeit<br />

für Politik zu haben.<br />

Mehr und mehr wur<strong>de</strong> ihnen ihre<br />

eigene Unterdrückung bewusst. So<br />

for<strong><strong>de</strong>r</strong>te San<strong><strong>de</strong>r</strong> eine Diskussion im<br />

SDS über ihre Situation. Der SDS war<br />

zwar männerdominiert, und Gretchen<br />

Dutschke-Klotz beschreibt, dass die<br />

me<strong>ist</strong>en Frauen ausgelacht wur<strong>de</strong>n,<br />

wenn sie sich zu Wort mel<strong>de</strong>ten,<br />

<strong>de</strong>nnoch war er ein Stück egalitärer<br />

als <strong><strong>de</strong>r</strong> Rest <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft. Wenn<br />

sich etwas am Geschlechterverhältnis<br />

än<strong><strong>de</strong>r</strong>n konnte, dann hier. Als die<br />

„Genossen“ sich aber auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Frankfurter<br />

Delegiertenkonferenz im Herbst 68<br />

weigerten, darüber zu re<strong>de</strong>n, hagelte<br />

es ein Tomaten. Die wüten<strong>de</strong>n Stu<strong>de</strong>ntinnen<br />

grün<strong>de</strong>ten Frauengruppen.<br />

Manche sagen, es sei das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s SDS<br />

gewesen. Für die Frauenbewegung war<br />

es je<strong>de</strong>nfalls ein Anfang.


mythos68 | April 2008 alltäglich<br />

Der Minirock<br />

1961 erstmals in einer Kollektion präsentiert, wur<strong>de</strong><br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Mini erst mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Vermarktung <strong><strong>de</strong>r</strong> Antibabypille<br />

Mitte <strong><strong>de</strong>r</strong> Sechziger zum Symbol <strong><strong>de</strong>r</strong> sexuellen Freiheit<br />

und Rebellion. Nicht nur die Beine, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch<br />

die immer noch konservativen Moralvorstellungen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Gesellschaft wur<strong>de</strong>n mit ihm bloßgelegt.<br />

Franziska Langner<br />

Wo sind die schrillen Farben?<br />

Die Sensations-Ankündigungen in<br />

draller Schrift? Nackte Haut? Die<br />

Aufmachung <strong>ist</strong> ungewohnt bie<strong><strong>de</strong>r</strong>.<br />

Ein junger Roy Black lächelt verlegen<br />

vom Cover, es gibt we<strong><strong>de</strong>r</strong> Extras noch<br />

Gratisposter. Nur ein Stück Bein <strong>von</strong><br />

Barry Gibb für <strong>de</strong>n Starschnitt. Doch<br />

das <strong>ist</strong> sie tatsächlich.<br />

Über Roys geschleckter Frisur<br />

leuchten die fünf vertrauten Großbuchstaben:<br />

BRAVO. 52. Ausgabe,<br />

28. Dezember 1968. Preis: Eine<br />

Deutschmark.<br />

Umblättern. Die LP <strong>von</strong> Tom Jones<br />

<strong>ist</strong> die Platte <strong><strong>de</strong>r</strong> Woche, als Beilage<br />

gibt es 50 Starfotos für die Geldbörse<br />

und zehn neue Beatles-Texte. Doch<br />

wo bleiben die Freizügigkeit und <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Freisinn <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er?<br />

Twiggy<br />

Der Hungerwahn beginnt: lange, dünne Beine; flacher<br />

Busen und die Betonung <strong>de</strong>s Gesichtes mit möglichst<br />

großen Augen – gepuscht <strong>von</strong> falschen Wimpern und<br />

einem blass geschminkten Mund. Als umjubeltes Idol<br />

sollte sie so kindlich und mädchenhaft wie möglich<br />

sein.<br />

Jacky Kennedy Stil<br />

als First Lady <strong>von</strong> Amerika (1961-62) verkörpert sie das<br />

modische I<strong>de</strong>al und wur<strong>de</strong> unbewusst Trend-Setter <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Kostüme. Mit ihrer Kleidung „rockte“ sie das Weiße Haus,<br />

trotz ihrer repräsentativen Position. 1962 wur<strong>de</strong> ihre<br />

Lieblingsfarbe Rosa zur Mo<strong>de</strong>farbe erklärt.<br />

09<br />

DIE SECHZIGER: IN MODE<br />

DIE BRAVE BRAVO<br />

Sex, Drugs and Rock ’n’ roll? Pustekuchen. In <strong>de</strong>n wil<strong>de</strong>n Jahren war Deutschlands beliebteste Jugendzeitschrift mit<br />

Moral und Frotté-Nachthem<strong>de</strong>n gefüllt. Von Wlada Ullmer<br />

Dr. Sommer heißt noch Dr. Vollmer<br />

und <strong>ist</strong> stockkonservativ. In Schicksalsbriefen<br />

schil<strong><strong>de</strong>r</strong>t er die „schwierigsten<br />

Fälle aus seiner Praxis“. Einer 17-Jährigen,<br />

die eine heimliche Liebesbeziehung<br />

mit ihrer Freundin hat, rät er<br />

Folgen<strong>de</strong>s: „Mädchenfreundschaften<br />

sind tief und ausschließlich. Doch mit<br />

Liebe haben sie nichts zu tun.“ Früher<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> später wer<strong>de</strong> sie schon <strong>de</strong>n passen<strong>de</strong>n<br />

Jungen kennen lernen. Petting<br />

und Onanie sind zwar nicht mehr<br />

tabu, aber auch nach <strong><strong>de</strong>r</strong> sexuellen<br />

Revolution bleibt es dabei: Mädchen<br />

lieben Jungs, Jungs lieben Mädchen.<br />

Punkt.<br />

Nicht, dass die BRAVO völlig<br />

asexuell wäre. Nur: Sex heißt hier<br />

Geschlechtsverkehr und <strong>ist</strong> ungefähr<br />

so spannend wie Haferkleie. Die<br />

Hippie<br />

Als Protest gegen <strong>de</strong>n Vietnam-Krieg kehrten junge Männer und Frauen <strong>de</strong>m konventionellen<br />

Kleidungstil <strong>de</strong>n Rücken. Sie wandten sich nicht-westlichen Kulturen<br />

und Religionen zu. Die bunte und flippige Mo<strong>de</strong> als Symbol <strong><strong>de</strong>r</strong> Freiheit wur<strong>de</strong> in<br />

<strong>de</strong>n 70er Jahren vermarktet und ihrer eigentlichen Funktion beraubt.<br />

Son<strong><strong>de</strong>r</strong>beilage „Ent<strong>de</strong>cke <strong>de</strong>inen<br />

Körper“ liest sich wie eine Mischung<br />

aus Gebrauchsanweisung und medizinischem<br />

Fachbuch. „Die Serie, <strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

man spricht“ – so ihr geheimnisvoller<br />

Untertitel – glänzt mit Beiträgen<br />

wie „Der gebändigte Instinkt – Vom<br />

Fortpflanzungstrieb bei Mensch und<br />

Tier.“<br />

Die Kids <strong>von</strong> heute wür<strong>de</strong>n die<br />

BRAVO nicht anrühren – selbst ihre<br />

Biobücher sind aufregen<strong><strong>de</strong>r</strong>. Während<br />

sie bei „That’s me“ echte Nacke<strong>de</strong>is<br />

zu sehen bekommen, musste sich die<br />

Jugend <strong>von</strong> damals mit gemalten Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

uni<strong>de</strong>ntifizierbaren Geschlechts<br />

begnügen. Auch die Fragen waren<br />

harmloser: „Mein Freund <strong>ist</strong> nicht<br />

streng genug zu mir,“ sorgte sich 1968<br />

eine 15-Jährige. 40 Jahre später fragt<br />

Op-Art<br />

ein schwarz- weißer, geometrischer Stil, <strong><strong>de</strong>r</strong> auf Kontrasten aufbaut und, passend<br />

zu bewegten Zeiten, immer in Bewegung zu sein schien. Er spiegelte sich<br />

in Kleidung und Schmuck, wie Ohrringen, Ringen, Plastik- und Glasbroschen<br />

wie<strong><strong>de</strong>r</strong>.<br />

Pop- Art<br />

Bunte, fröhliche Mustermotive, unkonventionelle und zweckentfrem<strong>de</strong>te<br />

Mo<strong>de</strong> – wie zum Beispiel PVC-Regenmäntel als Sommerkleidung<br />

– prägten eine unkonventionelle Zeit.<br />

ein junger Leser: „Habt ihr Tipps zum<br />

One-Night-Stand?“<br />

Während <strong><strong>de</strong>r</strong> wil<strong>de</strong>n Jahre bleibt<br />

die BRAVO überwiegend … brav.<br />

Unter <strong>de</strong>m Titel „Träume in Spitze<br />

und Rüschen“ präsentieren die Mo<strong>de</strong>ls<br />

hochanständige Nachthem<strong>de</strong>n, man<br />

wirbt für Milch und Pickelsalbe. Die<br />

Heldin <strong><strong>de</strong>r</strong> damals noch fotolosen<br />

Love-Story geht zwar heimlich in <strong>de</strong>n<br />

„Beatschuppen“ und hat eine Liebelei<br />

mit <strong>de</strong>m Rockstar David Blue. Die<br />

erotische Seite ihrer Amouren bleibt<br />

aber stets im Dunkeln.<br />

Letzte Seite. Brigitte Bardot lächelt<br />

schmollmundig zum Abschied. Sex,<br />

Drugs and Rock ’n’ roll? Nicht gefun<strong>de</strong>n.<br />

Die sexuelle Aufklärung passierte<br />

in <strong>de</strong>n 68ern sicher auf an<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

Wegen.


10<br />

alltäglich<br />

HEIDSCHI BUMBEIDSCHI ODER HELLO GOODBYE?<br />

Neue Musikrichtungen wie <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Psyche<strong>de</strong>lic Rock etablieren sich und<br />

reißen eine ganze Jugendgeneration<br />

in ihren Bann und Rausch. Die Songs<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> 68er preisen, sicherlich auch durch<br />

die Erfindung <strong><strong>de</strong>r</strong> Pille inspiriert,<br />

sexuelle Hemmungslosigkeit, freie<br />

Liebe, ekstatische Exzesse und die<br />

Einnahme <strong>von</strong> bewusstseinserweitern<strong>de</strong>n<br />

Substanzen. Vertreter wie<br />

Janis Joplin, Jimi Hendrix, The Doors,<br />

The Who o<strong><strong>de</strong>r</strong> Jefferson Airplane, die<br />

für Aufregung und Empörung sorgen,<br />

da sie als „Gefahr für Ordnung und<br />

Sitte“ angesehen wer<strong>de</strong>n, schaffen es<br />

in Deutschland zwar nie an die Spitze<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Charts, haben aber <strong>de</strong>nnoch einen<br />

gravieren<strong>de</strong>n Einfluss auf die Jugendkultur<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> BRD im Jahre 68. Motiviert<br />

SEx, DRUGS AND COMICS<br />

Als Schundliteratur verhöhnt, als gewaltverherrlichend<br />

und obszön verschrien: Comics. Zum<br />

En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Sechziger sind sie <strong><strong>de</strong>r</strong> Inbegriff <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Pop Art. Allerdings nur in <strong>de</strong>n USA. In Deutschland<br />

<strong>ist</strong> es still um die bunten <strong>Bild</strong>chen mit ihren<br />

Sprechblasen, zumin<strong>de</strong>st bis Alfred <strong>von</strong> Meysenbug<br />

1968 als Mittel <strong><strong>de</strong>r</strong> Rebellion <strong>Bild</strong> und Text<br />

vereint.<br />

Von Anja Breljak<br />

ikonen |<br />

James Marshall „Jimi“ Hendrix<br />

(1942 – 1970)<br />

„Wenn die Macht <strong><strong>de</strong>r</strong> Liebe<br />

die Liebe zur Macht übersteigt,<br />

erst dann wird die Welt endlich<br />

wissen, was Frie<strong>de</strong>n heißt.“<br />

<strong>von</strong> <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>ologien <strong><strong>de</strong>r</strong> Beatniks<br />

entwickelt sich schließlich En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Sechziger auch in Deutschland eine<br />

neue Musikrichtung – <strong><strong>de</strong>r</strong> „Krautrock“.<br />

Mit ihren <strong>de</strong>utschsprachigen<br />

Texten transportierten Bands wie<br />

Amon Düül <strong>de</strong>n Revolutionsgedanken<br />

auf die Tanzfläche.<br />

Die <strong>de</strong>utschen Charts hingegen<br />

wer<strong>de</strong>n <strong>von</strong> traditionellen Schlagern<br />

und internationalem Pop überschattet.<br />

Die Hitpara<strong>de</strong> in Deutschland könnte<br />

unterschiedlicher und farbenfroher<br />

nicht sein: Der kleine Knirps Heintje<br />

erfreut sich großer Beliebtheit und<br />

bege<strong>ist</strong>ert Mütter und brave Mä<strong>de</strong>ls<br />

mit Songs wie „Mama“, „Du sollst<br />

nicht weinen“ o<strong><strong>de</strong>r</strong> „Heidschi Bumbeidschi“.<br />

Neben Heintje spielt unter<br />

Ihr Blick geht ins Leere. Verträumt<br />

und hoffnungsvoll schaut sie aus <strong>de</strong>m<br />

schwarzen Kasten heraus, ver<strong>de</strong>ckt<br />

mit <strong>de</strong>m linken Arm ihre nackten<br />

Brüste, <strong><strong>de</strong>r</strong> rechte zieht am Reißverschluss,<br />

öffnet die Jeans und offenbart<br />

einen auf ihrem Unterleib kleben<strong>de</strong>n<br />

500-Mark-Schein. „Die kleine Liebe<br />

und das große Geschäft <strong><strong>de</strong>r</strong> Verkäuferin<br />

Jolly Boom“, heißt es in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

gezackten Sprechblase, schwarz auf<br />

weiß. Sie, Jolly Boom, <strong>ist</strong> umgeben<br />

<strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Ware, die sie verkauft. Jolly<br />

Boom wird allmählich selbst zur<br />

Ware.<br />

1968. Stu<strong>de</strong>ntinnen und Stu<strong>de</strong>nten<br />

<strong>de</strong>monstrieren, rebellieren gegen ihre<br />

Eltern, gegen das System. Sie schmeißen<br />

Steine. Der 28-jährige Alfred <strong>von</strong><br />

Meysenbug hingegen malt Comics.<br />

Jolly Boom erwacht in Meysenbugs<br />

DER GENIALE GITARRENGOTT<br />

Wer war er? Der Mann, <strong><strong>de</strong>r</strong> als erster solch wil<strong>de</strong>, psyche<strong>de</strong>lisch-verträumte<br />

und innovative Töne einer Fen<strong><strong>de</strong>r</strong> Stratocaster entlockte. Mit seinen Bands<br />

wie „The Jimi Hendrix Experience“ verän<strong><strong>de</strong>r</strong>te <strong><strong>de</strong>r</strong> kreative Wuschelkopf<br />

aus Amerika die Rockmusik nachhaltig. Seine sanften Harmonien, lyrischen<br />

Texte und ekstatischen Soli fesselten weltweit zigtausen<strong>de</strong> Fans. Kurz gesagt:<br />

Hendrix war <strong><strong>de</strong>r</strong> vielleicht wichtigste Gitarr<strong>ist</strong> aller Zeiten. Und ein visionärer<br />

Ausnahmemusiker, <strong>de</strong>ssen exzessive Karriere ein jähes En<strong>de</strong> fand: Mit<br />

nur 27 Jahren erstickte er in einem Londoner Hotelzimmer an seinem eigenen<br />

Erbrochenen. Um es mit <strong>de</strong>n Worten <strong>von</strong> Konzertveranstalter Fritz Rau<br />

zu sagen: „Jimi war ein Ikarus <strong>de</strong>s Blues, <strong><strong>de</strong>r</strong> in die Sterne flog, <strong><strong>de</strong>r</strong> Sonne zu<br />

nah kam und verbrannte.“<br />

mythos68 | April 2008<br />

1968 <strong>ist</strong> ein Jahr voller be<strong>de</strong>uten<strong><strong>de</strong>r</strong> Ereignisse und Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen.<br />

Das spiegelt sich auch in <strong><strong>de</strong>r</strong> Musik wi<strong><strong>de</strong>r</strong>.<br />

Von Nadja Wohlleben<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>em <strong><strong>de</strong>r</strong> ehemalige Staubsauger-<br />

Vertreter Tom „The Tiger“ Jones<br />

mit „Delilah“ o<strong><strong>de</strong>r</strong> „Help Yourself“<br />

ganz oben in <strong><strong>de</strong>r</strong> Hitpara<strong>de</strong> mit. Der<br />

Traumschwiegersohn <strong><strong>de</strong>r</strong> BRD Peter<br />

Alexan<strong><strong>de</strong>r</strong> beglückt Großmütterchen<br />

& Co. mit Hits wie „Der letzte<br />

Walzer“, welcher auf heimischen Plattenspielern<br />

hoch und runter du<strong>de</strong>lt.<br />

Neben ihm bringen die kalifornischen<br />

Vorzeigejungs The Bee Gees, mit<br />

<strong>de</strong>m Song „Massachusetts“ und mit<br />

einem strahlen<strong>de</strong>n Zahnpastalächeln<br />

bewaffnet, Sonne und amerikanisches<br />

Lebensgefühl in <strong>de</strong>utsche Wohnstuben.<br />

Frauenversteher und Fönwellenträger<br />

Roy Black hingegen stillt<br />

mit schwülstigen Kraftballa<strong>de</strong>n wie<br />

„Bleib bei mir“ sehnsüchtig schmacht-<br />

erstem Comic-Strip „Supermädchen“<br />

zum Leben, als Rebellion gegen <strong>de</strong>n<br />

Kapitalismus und die unerbittliche<br />

Konsumgesellschaft, die aus <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

folgsamen Verkäuferin Jolly eine<br />

Prostituierte macht. Ganz im Stil <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Pop Art zeichnet Meysenbug nach<br />

Fotovorlagen, die er <strong>von</strong> Freun<strong>de</strong>n<br />

und Bekannten nachstellen lässt,<br />

montiert Werbesprüche und politische<br />

Flugblätter in die lockere <strong>Bild</strong>erfolge<br />

und lässt somit Realität und Fantasie<br />

verschmelzen. Daher brüllt auch je<strong>de</strong>s<br />

<strong>Bild</strong> Jollys Worte: „Alles <strong>ist</strong> käuflich!“<br />

Sie <strong>ist</strong> unverschämt nah am Leser,<br />

fixiert mit dre<strong>ist</strong>en Blicken die Außenwelt<br />

und sprengt alle Strukturregeln<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Comic-Kunst.<br />

Ebenfalls 1968 erscheint <strong><strong>de</strong>r</strong> Comic-<br />

Band „Glamour Girl“ – die Erzählstruktur<br />

noch wil<strong><strong>de</strong>r</strong>, die <strong>Bild</strong>er noch<br />

en<strong>de</strong> Herzen <strong>de</strong>utscher Frauen (und<br />

Männer). Das bis dato erfolgreichste<br />

Exportprodukt Großbritanniens<br />

sind The Beatles – vier Pilzköpfe aus<br />

Liverpool, die mit Hits wie „Hello<br />

Goodbye“ o<strong><strong>de</strong>r</strong> „Hey Ju<strong>de</strong>“ sowohl<br />

die <strong>de</strong>utschen, als auch die weltweiten<br />

Charts im Sturm erobern.<br />

Verrückte Welt – verrückte Hitpara<strong>de</strong>.<br />

So <strong>ist</strong> das 1968. Und obwohl<br />

die Ikonen <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit zume<strong>ist</strong> schon im<br />

Jenseits verweilen, führen sie auch im<br />

Diesseits zu Recht noch einige Playl<strong>ist</strong>s<br />

an. Vielleicht nicht gera<strong>de</strong> Heintje mit<br />

seinem Tophit „Heidschi Bumbeidschi“,<br />

doch Musiklegen<strong>de</strong>n wie die<br />

Rolling Stones rollen immer noch,<br />

und ihre Songs bleiben unsterblich.<br />

pornografischer. Im Gegensatz zu<br />

Jolly <strong>ist</strong> die Protagon<strong>ist</strong>in in „Glamour<br />

Girl“, Carla Ehrlich, bereits<br />

eine Prostituierte, die sich im Laufe<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Bild</strong>erfolge zur provozieren<strong>de</strong>n<br />

Künstlerin und Femin<strong>ist</strong>in entwickelt.<br />

Carlas Atem spürt man auf <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

letzten Seite: zufrie<strong>de</strong>ne Augen, leicht<br />

geöffneter Mund. Eine Nahaufnahme.<br />

Sie wird bei einer Protestaktion <strong>de</strong>s<br />

Sozial<strong>ist</strong>ischen Deutschen Stu<strong>de</strong>ntenbun<strong>de</strong>s<br />

(SDS) – <strong>de</strong>ssen Mitglied auch<br />

Meysenbug war – während einer<br />

SPD-Veranstaltung verhaftet. „Jetzt<br />

gehöre ich dazu!!“, schreit sie <strong>de</strong>m<br />

Leser ins Gesicht. Und dann, mit <strong>de</strong>m<br />

Zuklappen <strong><strong>de</strong>r</strong> letzten Seite, schließt<br />

sich dieses Kapitel ihres Lebens.<br />

Warum wur<strong>de</strong> er <strong>von</strong> <strong>de</strong>n 68ern verehrt? Hendrix<br />

spielte <strong>de</strong>n perfekten Sound zur Revolte:<br />

Mutig, rebellisch, glaubwürdig rockend. Auf<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Bühne gab er <strong>de</strong>n „Wild Man of Rock“,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> die künstlerische Freiheit voll auslebte und<br />

seine Gitarre gera<strong>de</strong>zu zeremoniell verbrannte.<br />

Mit seinen Songs wie „Are You Experienced?“<br />

zeigte Jimi <strong>de</strong>n verstaubten Rocktraditionen<br />

<strong>de</strong>n erhobenen Mittelfinger. Legendär: Seine<br />

verstören<strong>de</strong> Interpretation <strong><strong>de</strong>r</strong> amerikanischen<br />

Nationalhymne auf <strong>de</strong>m Woodstock Festival.<br />

Und heute? Hendrix’ Musik hat nicht an Anziehungskraft eingebüßt: Jährlich wer<strong>de</strong>n Millionen CDs verkauft, immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

fin<strong>de</strong>t sich unveröffentlichtes Material <strong>de</strong>s Künstlers. Wirklich tot <strong>ist</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> ewig junge Hippieprinz noch nicht.


mythos68 | April 2008 alltäglich<br />

„<br />

WIR WAREN DIE SCHÖNSTEN, DIE BUNTESTEN,<br />

DIE SCHNELLSTEN, DIE KLÜGSTEN“<br />

Ein Interview mit Rainer Langhans. Von Kathrin Friedrich, Sonja Knüppel und Lystte Laffin<br />

Rainer Langhans wur<strong>de</strong> 1940 in<br />

Oschersleben geboren. Nach<strong>de</strong>m er<br />

sich ein Jahr für <strong>de</strong>n Militärdienst<br />

verpflichtet hatte, begann er an <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

FU Berlin Psychologie zu studieren.<br />

Er wollte sich und die Menschen<br />

besser verstehen lernen. <strong>Dieses</strong> Bestreben<br />

führte ihn im März 1967 in die<br />

Kommune 1, in <strong><strong>de</strong>r</strong> er ein Jahr später<br />

als Politstar und Freund Uschi Obermaiers<br />

berühmt wur<strong>de</strong>. Nach<strong>de</strong>m sich<br />

die Kommune aufgelöst hatte, suchte<br />

Langhans seinen Weg in <strong><strong>de</strong>r</strong> Spiritualität.<br />

Heute lebt Langhans in München<br />

und experimentiert zusammen mit<br />

vier Frauen an einem neuen sozialen<br />

Projekt namens „Harem“. Im Februar<br />

2008 erschien seine Autobiographie<br />

„Ich bin’s. Die ersten 68 Jahre.“<br />

Rainer, wenn du heute an die Stu<strong>de</strong>ntenbewegung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> 68er zurück<strong>de</strong>nkst, welcher Aspekt<br />

fasziniert dich am me<strong>ist</strong>en?<br />

Es <strong>ist</strong> diese spirituelle Seite <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

ganzen Geschichte, <strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> ich heute<br />

meine, dass sie die wesentliche überhaupt<br />

<strong>ist</strong>. Sie vermag als Einzige zu<br />

erklären, was wir damals erlebt haben.<br />

Diesen merkwürdigen, h<strong>ist</strong>orisch<br />

einzigartigen Gefühlsaufstand, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

gleichzeitig auf <strong><strong>de</strong>r</strong> ganzen Welt stattfand.<br />

1967 und nicht erst 68 war so<br />

eine Art Urknall gewesen. 67 haben<br />

wir wirklich geglaubt, so wird die<br />

Welt. Die ganze Welt wird zu Kommunen,<br />

erstmal <strong><strong>de</strong>r</strong> SDS und dann<br />

Westberlin. Die Kommune hat kein<br />

Papier produziert, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n Gefühle<br />

Uschi Obermaier<br />

(*1946)<br />

„Ich habe viele Dummheiten<br />

gemacht. Aber keine, die ich<br />

bereue.“<br />

und innere Entwicklungen, und<br />

dadurch <strong>ist</strong> sie heute für die H<strong>ist</strong>oriker<br />

kaum fassbar. Zugleich hatten wir aber<br />

auch die größte Auswirkung. Bei <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Stu<strong>de</strong>ntenrevolte haben sich die Leute<br />

gefragt, ob die Stu<strong>de</strong>nten nicht ganz<br />

dicht wären. Aber Sex, da weiß je<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

was das <strong>ist</strong>, das interessiert.<br />

Aber die Leute haben bei <strong>de</strong>m Spruch „Wer<br />

zweimal mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Selben pennt, gehört schon<br />

zum Establishment“ auch gedacht, ihr wärt<br />

nicht mehr ganz dicht?<br />

Ja, das war natürlich ein Spruch<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Presse. Niemals unserer. Diesen<br />

Sexscheiß, <strong>de</strong>n die immer im Kopf<br />

haben, bis heute. Wir haben das<br />

damals aber gewusst und gedacht,<br />

dass sie sich ruhig etwas aus<strong>de</strong>nken<br />

können – je schlimmer <strong>de</strong>sto besser.<br />

Die <strong>Bild</strong>-Zeitung haben wir uns auch<br />

immer beschafft und überlegt, was wir<br />

für <strong>Bild</strong>er und Shows liefern könnten,<br />

die <strong>de</strong>utlicher machen, dass man freier<br />

sein kann und dass es schön <strong>ist</strong>, liebevoll<br />

zu sein.<br />

Es gibt heute noch Leute, auch aus<br />

<strong>de</strong>m Kommunenumfeld, die sagen,<br />

dass wir uns bei <strong>de</strong>m Rückenfoto das<br />

erste Mal nackt gesehen haben und<br />

eigentlich total verklemmt gewesen<br />

wären. Scheiße nein! Wir waren in<br />

einer gewissen Weise zärtlich miteinan<strong><strong>de</strong>r</strong>,<br />

aber nicht nur auf dieser<br />

sexuellen Ebene. Meiner Ansicht<br />

nach <strong>ist</strong> Sexualität ein Son<strong><strong>de</strong>r</strong>gebiet<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> größeren Liebe o<strong><strong>de</strong>r</strong> Zärtlichkeit.<br />

Sofern es körperlich wird, <strong>ist</strong> es eher<br />

ein Hin<strong><strong>de</strong>r</strong>nis für Intimität.<br />

Wenn es euch nicht um diesen ganzen „Sexscheiß“<br />

ging, wie können wir uns dann das<br />

Leben in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kommune vorstellen?<br />

Die Kommune war eine Gemeinschaft<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> lei<strong>de</strong>nschaftlich an sich<br />

selbst Interessierten. Wir hießen ja<br />

auch Horrorkommune, weil wir gemeinsam<br />

auf total intrapsychische<br />

Erkundungen gegangen sind. Ich bin<br />

in dieser Phase ziemlich am Schluss<br />

dazugekommen. Du wur<strong>de</strong>st da nach<br />

Strich und Fa<strong>de</strong>n auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>genommen,<br />

in Bezug auf <strong>de</strong>ine Reflexe,<br />

<strong>de</strong>in Denken, <strong>de</strong>ine Reaktionen und<br />

so weiter. Du warst ständig unter Beobachtung,<br />

nie allein, Tag und Nacht.<br />

Durch unsere Aktionen <strong>ist</strong> diese innere<br />

Arbeit dann natürlich völlig zu kurz<br />

gekommen. Ich hab dann En<strong>de</strong> 67<br />

gesagt, dass wir dieses Innere weiter<br />

erforschen müssen. Denn die Dritte<br />

Welt o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Krieg sind eigentlich in<br />

unserem Inneren.<br />

Wie war damals euer Verhältnis untereinan<strong><strong>de</strong>r</strong>,<br />

gab es hierarchische Strukturen?<br />

Wir kannten uns einfach wahnsinnig<br />

gut und mochten uns auch gerne. Es<br />

gab natürlich Auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzungen.<br />

Dieter Kunzelmann wollte immer <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Chef sein. Das war okay. Er war auch<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Erfahrenste. Wir bei<strong>de</strong> waren ein<br />

bisschen wie ein Ehepaar. Er war <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

extrovertierte, ewige Action-Typ. Wie<br />

ein Springteufelchen sprühte er voller<br />

I<strong>de</strong>en. Ich war <strong><strong>de</strong>r</strong> Intellektuelle, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

für die ganzen schlauen Typen, die<br />

natürlich auch in unserem Umkreis<br />

DAS KIFFENDE KOMMUNENMODEL<br />

Wer war sie? Uschi Obermaier wuchs ganz unspektakulär in einer bürgerlichen<br />

Familie auf und hatte auch ein unspektakuläres Leben vor sich. Bis sie auf<br />

<strong>de</strong>n prachtlockigen Rainer Langhans traf, in die Kommune 1 einzog und<br />

fortan öffentlichkeitswirksam für Emanzipation und freie Liebe eintrat.<br />

Als begehrtes Mo<strong>de</strong>l erschienen ihre Fotos in zahlreichen Illustrierten, wo<br />

sie auch stolz <strong>von</strong> ihren Jointdrehkünsten und prominenten Affären, unter<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>em Mick Jagger und Jimi Hendrix, berichtete.<br />

Und heute? Seit mehreren Jahren schon wohnt das einstige Groupie bei Los<br />

Angeles und arbeitet als Schmuck<strong>de</strong>signerin. Ihre Exzesse und Erfahrungen<br />

wur<strong>de</strong>n letztes Jahr mit <strong>de</strong>m eher belanglosen Streifen „Das wil<strong>de</strong> Leben“ auf<br />

die Leinwand gebracht. Für Fotostrecken lässt die inzwischen 61-Jährige nur<br />

noch selten ihre Hüllen fallen – zuletzt für <strong>de</strong>n „Stern“.<br />

waren, alles wun<strong><strong>de</strong>r</strong>bar gerechtfertigt<br />

hat. Intellektuelle sind scheißängstlich<br />

und immer spät dran. Wir waren<br />

zusammen ein tolles Team. Deshalb<br />

waren wir bei<strong>de</strong>n die Autoritäten.<br />

Dieter war fast eine an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Generation.<br />

Er wirkte so alt auf uns, mit<br />

diesem Bart – wie ein Rübezahl. Ihm<br />

<strong>ist</strong> übrigens Unrecht getan wor<strong>de</strong>n.<br />

Er hat viel mehr Aufmerksamkeit verdient.<br />

Er hätte sie so gern gehabt – hat<br />

sie nie bekommen.<br />

Hast du heute eigentlich noch Kontakt zu <strong>de</strong>n<br />

ehemaligen Kommunar<strong>de</strong>n?<br />

Als ich meinen Weg in die Innerlichkeit<br />

und zur Spiritualität fand,<br />

haben meine früheren Leute, die ich<br />

so gut zu kennen glaubte, mit <strong>de</strong>nen<br />

ich mein ganzes Bewusstsein und<br />

meine ganze I<strong>de</strong>ntität gebil<strong>de</strong>t hatte,<br />

gemeint, dass ich jetzt völlig durchgeknallt<br />

wäre.<br />

Fritz Teufel war <strong><strong>de</strong>r</strong> Erste und Einzige,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> sich bei mir nach 20 Jahren<br />

gemel<strong>de</strong>t und gesagt hat, dass sie mir<br />

unrecht getan hätten. Die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

haben das nicht gemacht. Die fin<strong>de</strong>n<br />

mich nach wie vor scheiße und irgendwie<br />

blö<strong>de</strong> und durchgeknallt. Ich bin<br />

ja <strong><strong>de</strong>r</strong> große Verräter für die.<br />

ikonen |<br />

Warum wur<strong>de</strong> sie <strong>von</strong> <strong>de</strong>n 68ern verehrt?<br />

Uschi wur<strong>de</strong> zum Sexsymbol einer<br />

ganzen Generation, die sich nach<br />

ungezügelter Freiheit sehnte. Das<br />

Kommunenleben war für sie kein<br />

Ausdruck gesellschaftlichen Protests,<br />

son<strong><strong>de</strong>r</strong>n eine tabulose Partygemeinschaft<br />

mit Non-Stop-Drogenkonsum.<br />

Mit je<strong><strong>de</strong>r</strong> Menge Charme, nackter<br />

Haut und frechen Sprüchen schaffte<br />

sie es zur attraktiven Medienikone <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Revolte, ohne überhaupt irgendwie<br />

politisch aktiv zu sein.<br />

11


12<br />

Am Stuttgarter Platz entstand in einer<br />

Altbauwohnung die berühmt-berüchtigte<br />

Wohngemeinschaft „Kommune<br />

1“. Rainer Langhans und an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Intellektuelle<br />

ließen sich hier während <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

stürmischen Zeiten nie<strong><strong>de</strong>r</strong>. „Der Stutti<br />

hatte einen zwielichtigen Ruf, das war<br />

nicht gera<strong>de</strong> die Vorzeigeecke <strong>von</strong><br />

Charlottenburg. Dort gab’s <strong>de</strong>shalb<br />

damals relativ große und günstige Altbauwohnungen“,<br />

so Eckhard Schmidt.<br />

Im Spätsommer 68 zog die Kommune<br />

dann in eine verlassene Fabrik in<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Stephanstraße 60 in Moabit. Mit<br />

dieser zweiten Phase wer<strong>de</strong>n heute<br />

vor allem Sex, Drogen und Musik<br />

in Verbindung gebracht. Die alten<br />

Fabrikräume wur<strong>de</strong>n mittlerweile<br />

renoviert und zu Ferienwohnungen<br />

umgebaut, die man mieten kann. Auf<br />

diesem Weg können auch schwäbische<br />

Reisegruppen das wil<strong>de</strong> Leben <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Kommune nachspielen.<br />

Haus <strong><strong>de</strong>r</strong> ehemaligen Kommune 1<br />

Schauplatz <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s <strong>von</strong> Benno Ohnesorg<br />

mythos68 | April 2008<br />

„Die Presse hat stark polemisiert“, kritisiert Schmidt. Wer damals einen Parka trug, sei schon<br />

allein aufgrund <strong><strong>de</strong>r</strong> Kleidung als potenzieller Staatsfeind eingestuft wor<strong>de</strong>n. Auch das negative<br />

<strong>Bild</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Kommune 1 sei dadurch entstan<strong>de</strong>n. Schmidt <strong>ist</strong> froh, dass im Zuge <strong><strong>de</strong>r</strong> Bewegung und<br />

danach mehrere Verlage und Zeitungen gegrün<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>m Springer-Monopol entgegentraten.<br />

Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s durch die massive Hetze <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Bild</strong>zeitung wur<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Konzern zum erklärten<br />

Feind <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er. „Als ein paar Leute <strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Bewegung die Springerwagen auf <strong>de</strong>m Parkplatz<br />

angezün<strong>de</strong>t haben, das fand ich zum damaligen Zeitpunkt okay.“ Der Anschlag auf die Transporter<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Bild</strong>zeitung ereignete sich Kochstraße/Lin<strong>de</strong>nstraße. Umso grotesker <strong>ist</strong> es, dass ein <strong>Teil</strong><br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Kochstraße, <strong><strong>de</strong>r</strong> direkt am Gebäu<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Axel-Springer-Verlags vorbeiführt, Anfang 2007 in<br />

Rudi-Dutschke-Straße umbenannt wur<strong>de</strong>. Schmidt muss schmunzeln: „Das fand ich im Nachhinein<br />

interessant.“ Er habe sich in seinem Leben noch nie eine <strong>Bild</strong>zeitung gekauft.<br />

„Als Benno Ohnesorg <strong>von</strong> einem Berliner Poliz<strong>ist</strong>en<br />

erschossen wur<strong>de</strong>, gab das <strong>de</strong>m Ganzen eine politische<br />

Dimension“, erinnert sich Eckhard Schmidt. „Allmählich<br />

geriet die Situation außer Kontrolle.“ Das Radio<br />

verbreitete die Nachricht über die Demonstration zum<br />

nahen<strong>de</strong>n Besuch <strong>de</strong>s Schahs <strong>von</strong> Persien schnell. Der<br />

Treffpunkt: die Deutsche Oper. Der damals Auszubil<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

beobachtete das Treiben <strong>von</strong> einer Baumkrone<br />

aus, bis ein Poliz<strong>ist</strong> ihn freundlich auffor<strong><strong>de</strong>r</strong>te, herunterzukommen.<br />

Nach einem Schuss und <strong>de</strong>m Abtransport<br />

<strong>de</strong>s Toten seien die wüten<strong>de</strong>n Demonstranten<br />

dann weiter zum Kurfürstendamm gezogen. Der h<strong>ist</strong>orische<br />

Schuss fiel an <strong><strong>de</strong>r</strong> Ecke Krummestraße. Heute<br />

steht hier ein Supermarkt. Die Cornflakes-Packungen<br />

im Regal weisen je<strong>de</strong> Erinnerung an das tragische<br />

Ereignis <strong>von</strong> sich.<br />

Axel-Springer-Verlag


mythos68 | April 2008<br />

Kurfürstendamm<br />

Im westlichen Zentrum Berlins, die Gegenwart: Menschenmassen strömen <strong>de</strong>n Ku’damm entlang. Sie drängeln und schieben<br />

sich an <strong>de</strong>n Schaufensterauslagen vorbei und konsumieren. Für die Demonstranten <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er-Bewegung war hier <strong><strong>de</strong>r</strong> Ort, um<br />

möglichst viel Aufmerksamkeit zu erregen. „Man traf sich am Kranzler, setzte sich auf die Straße und dann ging gar nichts<br />

mehr“, erinnert sich Eckhard Schmidt heute. „In <strong>de</strong>n Tagen nach <strong>de</strong>m Tod <strong>von</strong> Benno Ohnesorg ging die Demo ab. Die Wut <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

jungen Leute wur<strong>de</strong> durch dieses Ereignis schnell entfacht. In <strong>de</strong>n nächsten Tagen hatten die Glaser viel zu tun.“ Eine Menge<br />

Schaufensterscheiben seien zu Bruch gegangen. Insbeson<strong><strong>de</strong>r</strong>e das Kaufhaus <strong>de</strong>s Westens, kurz KaDeWe, am Wittenbergplatz<br />

wur<strong>de</strong> zur Zielscheibe <strong>de</strong>s Zorns. „Das KaDeWe war die Inkarnation <strong>de</strong>s Kapitalismus, es war Symbol für die Deka<strong>de</strong>nz<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft“, beschreibt Schmidt. „Protestaktionen richteten sich immer gegen Institutionen, auch gegen das Amerika<br />

Haus.“ Ursprünglich zur Vermittlung amerikanischer Kultur eingerichtet, wur<strong>de</strong> das Zentrum in <strong><strong>de</strong>r</strong> Har<strong>de</strong>nbergstraße zum<br />

Treffpunkt militanter Demonstranten gegen <strong>de</strong>n Vietnamkrieg. Zur Zeit <strong>ist</strong> in <strong>de</strong>m Gebäu<strong>de</strong> die 68er-Ausstellung <strong><strong>de</strong>r</strong> Bun<strong>de</strong>szentrale<br />

für politische <strong>Bild</strong>ung zu besichtigen.<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> „Dicken Wirtin“, nahe <strong>de</strong>s S-Bahnhofs Savignyplatz, lauschte Schmidt damals <strong>de</strong>n<br />

Gesprächen <strong><strong>de</strong>r</strong> politisch engagierten Stu<strong>de</strong>nten <strong>de</strong>s Otto-Suhr-Instituts <strong><strong>de</strong>r</strong> Freien Universität. Auch<br />

Rudi Dutschke und die späteren RAF-Terror<strong>ist</strong>en Andreas Baa<strong><strong>de</strong>r</strong> und Gudrun Ensslin diskutierten<br />

hier mit. Politik <strong>ist</strong> immer noch ein zentrales Gesprächsthema: „Joschka Fischer <strong>ist</strong> kriminell“,<br />

dröhnt es aus einer Ecke <strong><strong>de</strong>r</strong> Kneipe. Ein ergrauter Herr hat es sich dort mit einem Bier gemütlich<br />

gemacht und kann nun mit politischen Parolen nicht an sich halten. Zwei Tische weiter wird wild<br />

über die Situation <strong>de</strong>s „kleinen Bürgers“ in <strong><strong>de</strong>r</strong> Bun<strong>de</strong>srepublik diskutiert. Es sind nicht nur die alten<br />

Holztische, die in <strong><strong>de</strong>r</strong> „Dicken Wirtin“ ein wenig Nostalgie <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er versprühen.<br />

Kaufhaus <strong>de</strong>s Westens<br />

Amerika Haus<br />

Die „Dicke Wirtin“<br />

SPURENSUCHE<br />

13<br />

Was bleibt übrig? Auf Spurensuche im<br />

Berlin <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er<br />

Von Lea Gerschwitz und Lene Albrecht<br />

Die Einrichtung <strong><strong>de</strong>r</strong> „Dicken<br />

Wirtin“ wirkt wie ein Spagat zwischen<br />

<strong>de</strong>n Zeiten: Ein glänzen<strong><strong>de</strong>r</strong> Plasma-<br />

<strong>Bild</strong>schirm steht inmitten einer dunklen,<br />

alten Holzvertäfelung. Die Kneipe<br />

am Savignyplatz hat viele Jahrzehnte<br />

hinter sich. Hier in Charlottenburg,<br />

wo heute die Bürgerlichen West-Berlins<br />

durch die Straßen flanieren, war<br />

früher <strong><strong>de</strong>r</strong> Szene-Treff <strong><strong>de</strong>r</strong> Stu<strong>de</strong>nten.<br />

Damals nahm Eckhard Schmidt<br />

gerne hier am Tresen Platz, um über<br />

Hochschule, Politik o<strong><strong>de</strong>r</strong> Weltverbesserung<br />

zu diskutieren. Heute sitzt er<br />

wie<strong><strong>de</strong>r</strong> hier und erinnert sich. Nach<strong>de</strong>m<br />

er vom Gymnasium geflogen<br />

war, machte Schmidt zunächst eine<br />

Ausbildung zum Automechaniker.<br />

Später holte er sein Abitur nach, studierte<br />

und arbeitete als Lehrer. Heute<br />

unterrichtet er an einer Berufsschule.<br />

Der damals 17-Jährige hat die 68er-<br />

Bewegung hautnah miterlebt. Im<br />

Gespräch mit ihm begeben wir uns<br />

auf Spurensuche in das Berlin dieser<br />

aufregen<strong>de</strong>n Zeit.


14<br />

international<br />

AUF DER SUCHE NACH DEM DUFT DER SOMMERWIESE<br />

San Francisco zwischen Hippie und Heute. Von Markus Hujara<br />

An manchen beson<strong><strong>de</strong>r</strong>en Tagen<br />

kannst du sie noch sehen. Im Gol<strong>de</strong>n-<br />

Gate-Park zwischen <strong>de</strong>n großen alten<br />

Bäumen. Dort, wo nur schmale bleiche<br />

Sonnenstrahlen durch <strong>de</strong>n Nebel blinzeln.<br />

Folge <strong>de</strong>m Geruch einer frisch<br />

gemähten Sommerwiese, und dann<br />

stehen sie plötzlich vor dir. Seine Haare<br />

wild, die Instrumente selten. Ihr Busen<br />

blank und Blumen im Haar. Und <strong>von</strong><br />

irgendwoher fährt ein Einradler quer<br />

durch das Panorama.<br />

Sicher, <strong><strong>de</strong>r</strong> Tanz <strong>de</strong>s verrückten Alt-<br />

Hippie-Paares, er darf nicht fehlen<br />

– wie das wohlige Schein-Schrecken<br />

<strong>von</strong> Alcatraz, die Freiheits-Brise auf <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Gol<strong>de</strong>n-Gate-Bridge und die Le<strong><strong>de</strong>r</strong>tunte<br />

im Schwulenviertel Castro, die<br />

genüsslich an einem Melonen-Martini<br />

schlürft.<br />

Doch was <strong>ist</strong> gewor<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>m<br />

Traum einer Generation, einem<br />

Lebensstil, <strong><strong>de</strong>r</strong> doch gera<strong>de</strong> die Negation<br />

<strong>von</strong> Marke, das Gegenteil <strong>von</strong><br />

Schubla<strong>de</strong> sein wollte, wenn „Hippie-<br />

Culture“ gleich neben <strong><strong>de</strong>r</strong> Bimmelbahn<br />

als beson<strong><strong>de</strong>r</strong>es Highlight <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Touri-Tour angepriesen wird?<br />

Tatsächlich hat diese Stadt <strong>de</strong>n Duft<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Freiheit zu lange inhaliert. Er steckt<br />

zu tief in ihren Poren, als dass sie ihn<br />

jemals wie<strong><strong>de</strong>r</strong> auswaschen könnte.<br />

Sie begleitet, nein, sie bestimmt ihr<br />

Schicksal. Ohne ihn wäre die Emanzipation<br />

kaum zu <strong>de</strong>nken, die Schwulen-<br />

Bewegung kaum zu verstehen. Diese<br />

Stadt – sie <strong>ist</strong> die Stadt <strong>de</strong>s gelebten<br />

Ego-Imperativs: SEI, WIE DU SEIN<br />

WILLST! Die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en schauen dir<br />

dabei zu. O<strong><strong>de</strong>r</strong> eben auch nicht. Wie<br />

selbstverständlich die Bewohner <strong>von</strong><br />

„The City“ mit all <strong>de</strong>n Frei<strong>de</strong>nkern<br />

und Aussteigern, Durchgeknallten und<br />

Verrückten, Gescheiterten und Hilfesuchen<strong>de</strong>n<br />

gleichermaßen umgehen<br />

– es <strong>ist</strong> beeindruckend. Die Grenzen<br />

zwischen bedingungsloser Liberalität<br />

und gesellschaftlicher Gleichgültigkeit<br />

sind dabei fließend. Natürlich darf<br />

musiziert wer<strong>de</strong>n, was die fernöst-<br />

lichen Instrumente hergeben, doch<br />

genauso stört sich niemand am zum<br />

Himmel stinken<strong>de</strong>n Obdachlosen, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

täglich vom Sozialamts-Sicherheitsdienst<br />

zurück auf die Straße geschickt<br />

wird. Einmal gut durchlüften, einmal<br />

das Duftspray kräftig in <strong>de</strong>n Wartesaal<br />

halten, und alles war nur ein böser,<br />

nasaler Traum.<br />

So <strong>ist</strong> San Francisco nicht nur<br />

gelebte Freiheit, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch eine<br />

ganz normale US-amerikanische<br />

Metropole mit ihren sozialen Ungerechtigkeiten,<br />

ignorierten Problemen<br />

und natürlich ihrem ureigenen<br />

Kapitalismus. Kult und Mythos, das<br />

<strong>ist</strong> eben auch Mehrwert und Profit.<br />

Und so <strong>ist</strong> Haight-Ashbury, jenes<br />

legendäre Straßenkreuz, wo <strong><strong>de</strong>r</strong> Ruf<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Hippies zum ersten Mal vernommen<br />

und in die Welt hinaus gesen<strong>de</strong>t<br />

wur<strong>de</strong>, inzwischen eingekre<strong>ist</strong> <strong>von</strong><br />

„hippen“ Designerlä<strong>de</strong>n. Wer hier in<br />

<strong>de</strong>n pseudo-alternativen Shops einkauft,<br />

muss für das Batik-Shirt tief in<br />

mythos68 | April 2008<br />

ExPORTARTIKEL: SEx, DRUGS, LOVE & PEACE<br />

„Sit-ins“, Straßenkrawalle, sexuelle Revolution: Kaum eine an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Protestkultur hat die <strong>de</strong>utsche Stu<strong>de</strong>ntenbewegung so sehr beeinflusst wie die <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

USA. Doch im „Land <strong><strong>de</strong>r</strong> unbegrenzten Möglichkeiten“ steht 1968 auch für gescheiterte Träume und blutige Konflikte. Von Tino Höfert<br />

Wie antiamerikanisch war die <strong>de</strong>utsche<br />

68er-Bewegung? Betrachtet man<br />

die vielen Proteste, die sich En<strong>de</strong><br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> sechziger Jahre gegen die USA<br />

richteten, scheint die Antwort offensichtlich:<br />

Die zentrale Parole auf <strong>de</strong>n<br />

Antikriegs<strong>de</strong>mos lautete: „Amis raus<br />

aus Vietnam!“ Dutzen<strong>de</strong> Male flogen<br />

Eier gegen das Berliner Amerika Haus,<br />

beim legendären Pudding-Attentat<br />

bekam US-Vizepräsi<strong>de</strong>nt Hubert H.<br />

Humphrey die Kritik <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>utschen<br />

Stu<strong>de</strong>nten am eigenen Leibe zu spüren.<br />

Und für die Kommune 1 waren die<br />

Amerikaner „arme Schweine, die ihr<br />

Coca-Cola-Blut im vietnamesischen<br />

Dschungel verspritzen“. Die Welt-<br />

ikonen |<br />

Martin Luther King Jr.<br />

(1929 – 1968)<br />

„Ich habe einen Traum, dass<br />

meine vier Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> eines Tages in<br />

einer Nation leben<br />

wer<strong>de</strong>n, in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

man sie nicht nach<br />

ihrer Hautfarbe,<br />

son<strong><strong>de</strong>r</strong>n nach<br />

ihrem Charakter<br />

beurteilen wird.“<br />

macht USA war ein klares Feindbild,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> infame Superlativ <strong>de</strong>s westlichen<br />

Kapitalismus.<br />

Was dabei me<strong>ist</strong> übersehen wird:<br />

Was wären die 68er ohne ihre großen<br />

Vorbil<strong><strong>de</strong>r</strong> aus <strong>de</strong>n US-Universitäten<br />

gewesen? Die revolutionären I<strong>de</strong>en<br />

importierte man zweifelsohne aus <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

amerikanischen Gegenkultur: Emanzipation,<br />

sexuelle Freiheit, Aufstand<br />

gegen verstaubte Traditionen. Schon<br />

ab 1964 veranstalteten Stu<strong>de</strong>nten<br />

aus Berkeley und New York „Sit-ins“,<br />

besetzten Rektorate und Verwaltungsgebäu<strong>de</strong>.<br />

Überregionale Hochschulgruppen<br />

wie „Free Speech Movement“<br />

und „Stu<strong>de</strong>nts for a Democratic<br />

DER FRIEDLICHE FRIEDENSSTIFTER<br />

Wer war er? Der Pastorensohn aus Atlanta entwickelte sich in <strong>de</strong>n 60er Jahren<br />

zur Galionsfigur <strong><strong>de</strong>r</strong> schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Der brillante Rhetoriker<br />

– er hielt bis zu 200 Re<strong>de</strong>n pro Jahr – organisierte dutzen<strong>de</strong> Demos<br />

und Protestaktionen für die Rechte <strong><strong>de</strong>r</strong> Afroamerikaner. Und zwar mit<br />

Erfolg: 1964 wur<strong>de</strong> das Gesetz zur Aufhebung <strong><strong>de</strong>r</strong> Rassentrennung verkün<strong>de</strong>t.<br />

Obwohl die Kennedy-Brü<strong><strong>de</strong>r</strong> zu seinen größten För<strong><strong>de</strong>r</strong>ern gehörten,<br />

geriet King immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> ins Fa<strong>de</strong>nkreuz <strong>von</strong> FBI, Justiz und Ku-Klux-Klan.<br />

Am 4. April 1968 wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>m Frie<strong>de</strong>nsnobelpre<strong>ist</strong>räger sein mutiges Engagement<br />

zum Verhängnis: Auf <strong>de</strong>m Balkon eines Motels in Memphis fiel er<br />

einem Attentat zum Opfer.<br />

Society“ organisierten Workshops,<br />

Diskussionsrun<strong>de</strong>n und zahlreiche<br />

Konzerte. Während die west<strong>de</strong>utsche<br />

Stu<strong>de</strong>ntenbewegung noch auf eine<br />

Initialzündung wartete, brach die<br />

kulturelle Umwälzung in <strong>de</strong>n USA<br />

wie eine Welle über das Land herein<br />

– getragen <strong>von</strong> <strong>de</strong>n psyche<strong>de</strong>lischen<br />

Revolutionsklängen <strong><strong>de</strong>r</strong> kalifornischen<br />

Blumenkin<strong><strong>de</strong>r</strong>, die ihre Botschaft <strong>von</strong><br />

„Make Love, Not War!“ in die gesamte<br />

Welt verbreiteten. Sex, Drugs, Love<br />

& Peace entwickelten sich zu hervorragen<strong>de</strong>n<br />

Exportartikeln – auch nach<br />

Deutschland.<br />

Doch die Träume <strong>von</strong> Liebe und<br />

Frie<strong>de</strong>n fan<strong>de</strong>n ein jähes En<strong>de</strong>: Am<br />

Abend <strong>de</strong>s 4. April 1968 wur<strong>de</strong> Martin<br />

Luther King <strong>von</strong> einem weißen Attentäter<br />

in Memphis nie<strong><strong>de</strong>r</strong>geschossen.<br />

Mit <strong>de</strong>m Tod <strong>de</strong>s schwarzen Bürgerrechtlers<br />

starben die Hoffnungen<br />

<strong>von</strong> Millionen Afroamerikanern auf<br />

Gleichberechtigung. Wie so oft gipfelte<br />

die Wut in fataler Gewalt: Plün<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen,<br />

Straßenschlachten, unschuldige<br />

Opfer. Knapp zwei Monate später<br />

das zweite Attentat: Der <strong>de</strong>mokratische<br />

Präsi<strong>de</strong>ntschaftskandidat Robert F.<br />

Kennedy wur<strong>de</strong> erschossen. Amerikas<br />

Obrigkeit schien machtlos – und auch<br />

die stu<strong>de</strong>ntische Protestkultur musste<br />

in diesen Tagen die Grenzen ihrer<br />

Weltverbesserungsträume erkennen.<br />

die Tasche greifen, um sich so frei und<br />

unbeschwert zu fühlen wie die Vertreter<br />

einer früheren Generation, <strong>de</strong>nen<br />

scheinbar noch Liebe, Frie<strong>de</strong>n, eine<br />

verstimmte Gitarre und ein bisschen<br />

LSD zum Glück gereichte.<br />

Doch wie wun<strong><strong>de</strong>r</strong>bar lässt sich das<br />

alles vergessen, wenn im Park wie<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

die Bühnen aufgebaut, die Peace, Pace,<br />

Rainbow und Earth-Fahnen gehisst<br />

wer<strong>de</strong>n, die Jongleure kommen, die<br />

Veggie-Burger bruzzeln, die Kin<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

tanzen und bunte Seifenblasen blasen.<br />

Der Hippie braucht wohl in allen<br />

Zeiten das Ereignis, das Gemeinschaftsgefühl.<br />

Er sucht die Masse, um<br />

das Freisein zu fin<strong>de</strong>n.<br />

Die Verstärker drehen auf. Ist es<br />

Reggae o<strong><strong>de</strong>r</strong> Rock ‘n’ Roll – egal. Du<br />

b<strong>ist</strong> glücklich. Und langsam, ganz langsam<br />

steigt er an dir hinauf, du kannst<br />

ihn spüren, um dich, in dir. Du atmest<br />

ihn tief ein, immer tiefer, <strong>de</strong>n Duft<br />

einer frisch gemähten Sommerwiese.<br />

Warum wur<strong>de</strong> er <strong>von</strong> <strong>de</strong>n 68ern verehrt? Als<br />

„Schwarzer Gandhi“ bewies King eindrucksvoll,<br />

dass man durch friedlichen Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>stand<br />

politische Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen erreichen kann. Ob<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Busboykott <strong>von</strong> Montgomery o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

berühmte Marsch nach Washington: Kings<br />

Aktionen stärkten nicht nur das Selbstbewusstsein<br />

<strong>von</strong> Millionen Schwarzen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

beeinflussten auch die stu<strong>de</strong>ntische Protestkultur.<br />

Und heute? Fest steht: Ohne King hätte Präsi<strong>de</strong>ntschaftskandidat Barack Obama wohl niemals eine Chance, ins Weiße Haus<br />

einzuziehen. Erst Jahrzehnte später erkannte Amerikas Obrigkeit die h<strong>ist</strong>orische Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Bürgerrechtlers an. Pikant: Sein<br />

Tod wur<strong>de</strong> nie vollständig aufgeklärt.


mythos68 | April 2008 international<br />

Als <strong><strong>de</strong>r</strong> junge Politaktiv<strong>ist</strong> Jacob<br />

Ludvigsen im September 1971<br />

<strong>de</strong>n Fre<strong>ist</strong>aat Chr<strong>ist</strong>iania auf einem<br />

verlassenen Kasernengelän<strong>de</strong> im<br />

Kopenhagener Hafen ausrief, war<br />

die stu<strong>de</strong>ntische Protestbewegung<br />

auch in Dänemark bereits in vollem<br />

Gange. Im April 1968 hatten rund<br />

100 Psychologiestu<strong>de</strong>nten <strong>Teil</strong>e <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Kopenhagener Universität besetzt, um<br />

gegen die hierarchischen Strukturen<br />

innerhalb <strong>de</strong>s Hochschulsystems zu<br />

protestieren. Dem Stu<strong>de</strong>nten Finn<br />

Ejnar Madsen gelang es gar, während<br />

<strong>de</strong>s jährlichen Universitätsfests<br />

das Rednerpult zu erobern und in<br />

Anwesenheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Königsfamilie eine<br />

flammen<strong>de</strong> Re<strong>de</strong> gegen die Klassengesellschaft<br />

zu halten.<br />

So gesehen kann auch in Dänemark<br />

das Jahr 1968 als Geburtsstun<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Stu<strong>de</strong>ntenbewegung gesehen wer<strong>de</strong>n,<br />

die zeitgleich in <strong>de</strong>n USA und in<br />

großen <strong>Teil</strong>en Europas eine ganze<br />

Generation politisierte. Dennoch<br />

wird in Dänemark nur selten <strong>von</strong> „<strong>de</strong>n<br />

68ern“ gesprochen. Ein Grund dafür<br />

mag sein, dass die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Ereignisse <strong>de</strong>s dänischen „Jugendaufruhrs“,<br />

wie die Bewegung in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

dänischen Sprache zume<strong>ist</strong> bezeichnet<br />

wird, einige Jahre später stattfan<strong>de</strong>n.<br />

Stark vom Woodstock-Ge<strong>ist</strong> inspiriert<br />

zogen im Sommer 1970 tausen<strong>de</strong><br />

vor allem aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Hauptstadt stammen<strong>de</strong><br />

junge Leute nach Thy, einem<br />

entlegenen Landstrich im nördlichen<br />

Jütland, um das erste dänische Rockfestival<br />

zu besuchen. Viele blieben,<br />

lebten fortan eine Art Kommunenleben<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> freien Natur und huldigten<br />

<strong>de</strong>m einfachen Lebensstil und <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

freien Sexualmoral.<br />

Das be<strong>de</strong>utendste Ereignis innerhalb<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> dänischen Bewegung <strong>ist</strong><br />

jedoch die Besetzung <strong><strong>de</strong>r</strong> Kopenhagener<br />

„Bådmandsstræ<strong>de</strong>s Kaserne“ im<br />

DIE ZWEITE REVOLTE AM ÖRESUND<br />

Ausgang <strong>de</strong>s „Fre<strong>ist</strong>aat Chr<strong>ist</strong>iania“: Autonomes Gebiet mit eigenen Regeln<br />

September 1971, die bis heute weit<br />

über die Grenzen Dänemarks hinaus<br />

unter <strong>de</strong>m Namen „Fre<strong>ist</strong>aat Chr<strong>ist</strong>iania“<br />

bekannt <strong>ist</strong>. Die Chr<strong>ist</strong>ianiter, wie<br />

sich die Bewohner <strong>de</strong>s Areals nennen,<br />

betrachten ihren Fre<strong>ist</strong>aat als ein autonomes<br />

Gebiet mit eigenen Regeln und<br />

Gesetzen. Obwohl das Gelän<strong>de</strong> immer<br />

noch <strong>de</strong>m Staat Dänemark gehört,<br />

wur<strong>de</strong> das bunte Treiben in <strong>de</strong>m<br />

naturschön gelegenen Alternatividyll<br />

<strong>von</strong> offizieller Seite rund 30 Jahre lang<br />

toleriert. Die Bewohner errichteten<br />

eigene Häuser, die seither Architekten<br />

aus aller Welt inspiriert haben.<br />

Werkstätten, Lokale und Geschäfte<br />

wur<strong>de</strong>n eröffnet. Weltweite berühmt<br />

<strong>ist</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Fre<strong>ist</strong>aat nicht zuletzt <strong>de</strong>swegen,<br />

weil bis vor kurzem <strong><strong>de</strong>r</strong> Verkauf <strong>von</strong><br />

Cannabis auf <strong>de</strong>m Gelän<strong>de</strong> toleriert<br />

wur<strong>de</strong>. Chr<strong>ist</strong>iania gilt als eine <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

beliebtesten Tourismusattraktionen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> dänischen Hauptstadt und hat<br />

maßgeblich dazu beigetragen, dass<br />

Dänemark über Jahrzehnte hinweg in<br />

weiten <strong>Teil</strong>en <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt als beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s<br />

liberales Land wahrgenommen wur<strong>de</strong>.<br />

Und auch manch ein Kopenhagener,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> sich nicht unbedingt zur linken<br />

Szene zählen wür<strong>de</strong>, genießt insgeheim<br />

Spaziergänge auf <strong>de</strong>m naturbelassenen<br />

Uferareal inmitten <strong><strong>de</strong>r</strong> Großstadt.<br />

37 Jahre nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Besetzung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Kaserne <strong>ist</strong> es nicht mehr vorrangig<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> liberale Umgang mit alternativen<br />

Freiräumen wie Chr<strong>ist</strong>iania, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

das <strong>Bild</strong> vom politischen Dänemark<br />

prägt. Brennen<strong>de</strong> Dänenflaggen<br />

und Botschaften in <strong>de</strong>n arabischen<br />

Län<strong><strong>de</strong>r</strong>n haben sich in <strong>de</strong>n Vor<strong><strong>de</strong>r</strong>grund<br />

gedrängt. Doch es wäre zu<br />

kurz gegriffen, diese Geschehnisse<br />

lediglich als Protest gegen die provokanten<br />

Mohammed-Karikaturen<br />

einer dänischen Tageszeitung zu<br />

interpretieren. Die politische Kultur<br />

<strong>de</strong>s einst liberalen Musterlan<strong>de</strong>s im<br />

Nor<strong>de</strong>n befin<strong>de</strong>t sich spätestens seit<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Parlamentswahl <strong>von</strong> 2001 im<br />

radikalen Wan<strong>de</strong>l.<br />

Nur wenige Monate nach seiner<br />

Wahl blies Min<strong>ist</strong>erpräsi<strong>de</strong>nt An<strong><strong>de</strong>r</strong>s<br />

Fogh Rasmussen, <strong>de</strong>ssen rechtsliberalkonservative<br />

Min<strong><strong>de</strong>r</strong>heitsregierung<br />

sich seither auf die Stimmen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

rechtspopul<strong>ist</strong>ischen Dänischen Volkspartei<br />

stützt, zum Kulturkampf. Damit<br />

<strong>ist</strong> nicht nur die Auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung<br />

mit <strong><strong>de</strong>r</strong> muslimischen Min<strong><strong>de</strong>r</strong>heit<br />

im Land gemeint, die sich nach Verabschiedung<br />

<strong>de</strong>s europaweit restriktivsten<br />

Zuwan<strong><strong>de</strong>r</strong>ungsgesetzes sowie<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Etablierung immer härterer und<br />

zuweilen offen rass<strong>ist</strong>ischer Debatten<br />

in <strong>Teil</strong>en zunehmend radikal gebärt.<br />

Vielmehr bemüht sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Regierungschef<br />

<strong>de</strong>s über Jahrzehnte hinweg sozial<strong>de</strong>mokratisch<br />

geprägten Dänemarks,<br />

die seiner Ansicht nach linkslastige<br />

<strong>Bild</strong>ungselite zu einer grundsätzlichen<br />

Werte<strong>de</strong>batte herauszufor<strong><strong>de</strong>r</strong>n.<br />

Ein Freiraum wie Chr<strong>ist</strong>iania fin<strong>de</strong>t<br />

keinen Platz im Kulturverständnis<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Rechtsregierung. Durch intensive<br />

Razzien wur<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> laxen Drogenpolitik<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Chr<strong>ist</strong>ianiter ein Riegel<br />

vorgeschoben. Auch die Ex<strong>ist</strong>enzberechtigung<br />

<strong>de</strong>s gesamten Projekts<br />

wur<strong>de</strong> immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> in Frage gestellt.<br />

Bald schon wer<strong>de</strong>n die ersten Häuser<br />

auf <strong>de</strong>m besetzten Kasernengelän<strong>de</strong><br />

neuen Appartements mit Meeresblick<br />

weichen.<br />

In einer Linie mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Chr<strong>ist</strong>iania-<br />

Politik <strong><strong>de</strong>r</strong> dänischen Regierung<br />

steht <strong><strong>de</strong>r</strong> Abriss <strong>de</strong>s Kopenhagener<br />

Jugendzentrums „Ungdomshuset“ vor<br />

gut einem Jahr. Wie Chr<strong>ist</strong>iania war<br />

auch das „Ungdomshuset“ eine <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Institutionen linker Alternativkultur<br />

in Dänemark. Auch in <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen<br />

Nachrichten wur<strong>de</strong> ausführlich über<br />

die manchmal gewalttätigen Proteste<br />

im Zusammenhang mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Räu-<br />

mung berichtet. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Tat lieferten<br />

sich junge Leute aus <strong><strong>de</strong>r</strong> autonomen<br />

Szene mehrere Tage in Folge Straßenschlachten<br />

mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Polizei. Was<br />

angesichts <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Bild</strong>er <strong>von</strong> brennen<strong>de</strong>n<br />

Autos und zerschmetterten Schaufenstern<br />

zume<strong>ist</strong> übersehen wur<strong>de</strong>, waren<br />

die vielen friedlich <strong>de</strong>monstrieren<strong>de</strong>n<br />

Menschen, die in jenen Tagen ihrer<br />

Unzufrie<strong>de</strong>nheit nicht nur mit <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Räumung, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n mit <strong><strong>de</strong>r</strong> gesamten<br />

politischen Situation zum Ausdruck<br />

brachten. Der Abriss <strong>de</strong>s „Ungdomshuset“<br />

<strong>ist</strong> somit lediglich als Auslöser,<br />

nicht jedoch als Ursache für das Aufkeimen<br />

dieser neuen Jugendbewegung<br />

zu bewerten.<br />

Es wird vermutet, dass die gewalttätigen<br />

Ausschreitungen im Zuge <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Räumung manchem dänischen Innenpolitiker<br />

nicht ungelegen kamen.<br />

Auf diese Weise war es möglich, die<br />

Demonstranten als chaotische Krawallmacher<br />

abzustempeln, <strong><strong>de</strong>r</strong>er man<br />

schnell Herr wer<strong>de</strong>n musste. Doch<br />

die friedlichen Proteste dauerten an.<br />

So sah man auch in <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n<br />

Wochen 15-jährige Jugendliche Seit<br />

an Seit mit ihren Eltern für mehr<br />

kommunale Mitbestimmung und<br />

kulturelle Freiräume <strong>de</strong>monstrieren.<br />

Ein gutes Jahr nach <strong>de</strong>n Demonstrationen<br />

für das „Ungdomshuset“ <strong>ist</strong><br />

festzustellen, dass die dänische Jugend,<br />

wie schon einmal vor 40 Jahren, politisiert<br />

<strong>ist</strong>. Nach sieben Jahren nationalkonservativer<br />

Kulturpolitik scheint<br />

es, als sähen viele junge Leute <strong>de</strong>n<br />

liberalen Zeitge<strong>ist</strong>, für <strong>de</strong>n ihre Eltern<br />

in <strong>de</strong>n Jahren nach 1968 auf die Straße<br />

gingen, in Gefahr. Viele sind offenbar<br />

bereit, die damals erstrittenen Werte<br />

zu verteidigen. Die oftmals beklagte<br />

Politikverdrossenheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Jugend <strong>ist</strong><br />

zumin<strong>de</strong>st in Dänemark zu einem<br />

Kapitel in <strong>de</strong>n Geschichtsbüchern<br />

gewor<strong>de</strong>n.<br />

15<br />

In seiner Neujahrsansprache vom Jahr 2002 kündigte <strong><strong>de</strong>r</strong> neu<br />

gewählte dänische Min<strong>ist</strong>erpräsi<strong>de</strong>nt An<strong><strong>de</strong>r</strong>s Fogh Rasmussen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

aus seiner Sicht „linken Meinungstyrannei“ <strong>de</strong>n Kampf an. Doch<br />

längst nicht alle Dänen sind mit <strong>de</strong>m neokonservativen Kurs <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Rechtsregierung einverstan<strong>de</strong>n. Spätestens seit <strong>de</strong>m Abriss <strong>de</strong>s<br />

alternativen Jugendzentrums „Ungdomshuset“ in Kopenhagen<br />

vor gut einem Jahr formiert sich eine neue kritische Jugendbewegung.<br />

Die jungen Leute verteidigen Normen und Werte, die<br />

ihre Eltern in <strong>de</strong>n Jahren nach 1968 erstritten haben.<br />

Von Ebbe Volquardsen


16<br />

international<br />

ALLONS ENFANTS DE LA PATRIE!<br />

Von Franziska Deregoski<br />

Die politisch orientierten Stu<strong>de</strong>nten<br />

Frankreichs gehörten nicht zu jenen,<br />

die eine sexuelle Revolution planten.<br />

Ihr erklärtes Ziel war, die Menschen<br />

dieses Lan<strong>de</strong>s <strong>von</strong> <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

„revision<strong>ist</strong>ischen Führer“ loszureißen,<br />

ihnen die Augen zu öffnen. Die Revision<strong>ist</strong>en,<br />

das waren die Vertreter <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Kommun<strong>ist</strong>ischen Partei Frankreichs<br />

unter Wal<strong>de</strong>ck Rochet, die <strong>de</strong>m Kurs<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Regierung folgten; in <strong>de</strong>n Augen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Stu<strong>de</strong>nten unglaubwürdige Verrä-<br />

ikonen |<br />

Ho Chi Minh<br />

(1890 – 1969)<br />

„Nichts <strong>ist</strong> kostbarer als<br />

Unabhängigkeit und Freiheit.“<br />

ter, die die Lehren Marx, Lenins und<br />

Mao Zedongs vernachlässigten.<br />

Der erste Schritt zur Verwirklichung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Ziele <strong><strong>de</strong>r</strong> Stu<strong>de</strong>nten war<br />

die Gründung <strong><strong>de</strong>r</strong> Kommun<strong>ist</strong>ischen<br />

Marx<strong>ist</strong>isch-Lenin<strong>ist</strong>ischen Partei<br />

Frankreichs (FCML). Wie in <strong><strong>de</strong>r</strong> proletarischen<br />

Kulturrevolution Chinas<br />

wollten die marx<strong>ist</strong>isch-lenin<strong>ist</strong>ischen<br />

Stu<strong>de</strong>nten im Gegensatz zu Frankreichs<br />

alteingesessenen Kommun<strong>ist</strong>en<br />

durch Generalstreiks eine Diktatur <strong>de</strong>s<br />

DER VIETNAMESISCHE VOLKSHELD<br />

Proletariats errichten. Zwei Parteien<br />

gleicher politischer Orientierung also,<br />

die ihr Dogma vom „Kommunismus“<br />

jedoch sehr verschie<strong>de</strong>n auslegten.<br />

Am 11. März 1968 stan<strong>de</strong>n die<br />

Revolutionäre auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Rue Gay-Lussac<br />

im Quartier Latin und blickten auf<br />

das, was <strong>von</strong> <strong>de</strong>n Kämpfen <strong><strong>de</strong>r</strong> vergangenen<br />

Nacht noch übrig war. In<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> „Nacht <strong><strong>de</strong>r</strong> Barrika<strong>de</strong>n“ hatten<br />

sie <strong>de</strong>m Staat die Stirn geboten, bis<br />

die Ordnungshüter sie mit Tränengas<br />

Wer war er? Aus einfachen Verhältnissen stammend, erkannte <strong><strong>de</strong>r</strong> junge Ho Chi<br />

früh die Ungerechtigkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> französischen Kolonialbesatzung Vietnams. Auf<br />

seiner mehrjährigen Weltreise studierte er an <strong><strong>de</strong>r</strong> Moskauer Universität und<br />

lernte französische Sozial<strong>ist</strong>en kennen, die ihn mit <strong>de</strong>n Schriften <strong>von</strong> Marx<br />

und Lenin vertraut machten. Als eifriger Jungrevolutionär zurückgekehrt,<br />

grün<strong>de</strong>te Minh 1930 die Kommun<strong>ist</strong>ische Partei Vietnams und zog mit <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

ländlichen Bevölkerung in <strong>de</strong>n bewaffneten Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>stand. 1945 wur<strong>de</strong> Nordvietnam<br />

unabhängig, und <strong><strong>de</strong>r</strong> Freiheitsheld blieb bis zu seinem Tod Präsi<strong>de</strong>nt.<br />

mythos68 | April 2008<br />

zurückdrängten. Einige <strong>von</strong> ihnen<br />

wur<strong>de</strong>n verhaftet, viele verletzt. Auf<br />

Dauer, propagierten sie, wird die Herrschaft<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> „kapital<strong>ist</strong>ischen Monopolbourgeoisie“<br />

durch <strong>de</strong>n Ansturm <strong>de</strong>s<br />

Volkes hinweggefegt wer<strong>de</strong>n. Sowohl<br />

Stu<strong>de</strong>nten als auch Arbeiter wollten<br />

weiterkämpfen, um Frankreich eine<br />

zweite Revolution zu bringen.<br />

Warum wur<strong>de</strong> er <strong>von</strong> <strong>de</strong>n 68ern verehrt? Ho Chi<br />

Minh war <strong><strong>de</strong>r</strong> Prototyp Che Guevaras – nur<br />

ohne Zigarren und Barett. Der vietnamesische<br />

Revolutionär etablierte als erster <strong>de</strong>n<br />

Kommunismus außerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> Sowjetunion.<br />

Sein politisches Hauptziel: Der konsequente<br />

Kampf gegen westlichen Kapitalismus, Kolonialismus<br />

und Vietnams <strong>Teil</strong>ung.<br />

Und heute? In seiner asiatischen Heimat wird <strong><strong>de</strong>r</strong> einstige „Vater <strong><strong>de</strong>r</strong> Nation“ – <strong><strong>de</strong>r</strong> selbst jedoch nie Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> hatte – immer noch<br />

wie ein Heiliger verehrt. Aber in Europa? Fast in <strong><strong>de</strong>r</strong> Be<strong>de</strong>utungslosigkeit verschwun<strong>de</strong>n. Für eine posthume Karriere als Vermarktungssymbol<br />

fehlte <strong>de</strong>m Mann mit <strong>de</strong>m markanten Kinnbart wohl einfach <strong><strong>de</strong>r</strong> jugendliche Charme.<br />

Fotograf<br />

Kameramann<br />

Redakteur<br />

Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ator<br />

Journal<strong>ist</strong><br />

Medienmacher .<br />

www.jugendpresse.<strong>de</strong>


mythos68 | April 2008 theoretisch<br />

„Das Kapital“ <strong>von</strong> Karl Marx, Herbert<br />

Marcuses „Der eindimensionale<br />

Mensch“ o<strong><strong>de</strong>r</strong> Wilhelm Reichs „Die<br />

Funktion <strong>de</strong>s Orgasmus“ – stapelweise<br />

türmten sich diese und an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Bücher<br />

in <strong>de</strong>n Zimmern <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er. Die Seiten<br />

sind abgegriffen und haben unzählige<br />

Eselsohren. Bis tief in die Nacht<br />

diskutierten die Studieren<strong>de</strong>n in<br />

Lesezirkeln. So je<strong>de</strong>nfalls will es das<br />

gängige Klischee.<br />

„Bücher spielten für das Selbstverständnis<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Bewegung eine zentrale<br />

Rolle“, sagt über diese Zeit auch <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Sozialphilosoph Oskar Negt. Gemeinsam<br />

mit <strong>de</strong>m Politikwissenschaftler<br />

Heinrich Oberreuter sollte er am 13.<br />

März über das theoretische Selbstverständnis<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> 68er diskutieren. Die<br />

Veranstaltung unter <strong>de</strong>m Titel „Am<br />

En<strong>de</strong> nur Praxis?“ fand im Rahmen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Ausstellung „68 – Brennpunkt<br />

Berlin“ <strong><strong>de</strong>r</strong> Bun<strong>de</strong>szentrale für politische<br />

<strong>Bild</strong>ung im Amerika Haus<br />

statt. Um Berlin aber geht es an<br />

diesem Abend wenig. Und auch die<br />

Theorie hat es, angesichts manch weit<br />

ausholen<strong><strong>de</strong>r</strong> Schil<strong><strong>de</strong>r</strong>ung Oberreuters,<br />

seinerzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />

am Geschw<strong>ist</strong>er-Scholl-Institut<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Universität München, manches<br />

Mal schwer, sich zu behaupten. Auch<br />

Negt, <strong><strong>de</strong>r</strong> damals Ass<strong>ist</strong>ent <strong>von</strong> Jürgen<br />

Habermas in Frankfurt/Main war,<br />

zeigt sich als erinnerungsreicher Zeitzeuge.<br />

Eine kontroverse Diskussion<br />

zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n mag aber nicht<br />

so recht in Gang kommen.<br />

Dennoch erfährt mensch einiges<br />

über das „Selbstverständnis <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er“.<br />

Schnell wird klar, dass dieses Selbstverständnis<br />

nicht vor <strong>de</strong>n gut gefüllten<br />

Sitzreihen <strong><strong>de</strong>r</strong> Bühne Halt macht. Im<br />

Gegenteil: Einleitend stellt <strong><strong>de</strong>r</strong> Journal<strong>ist</strong><br />

Stefan Reinecke, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n Abend<br />

mo<strong><strong>de</strong>r</strong>iert, Themen und Bücher <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

68er vor. Er nennt Schlagworte wie<br />

Kritische Theorie, Demokratisierung<br />

und Feminismus. Das Publikum<br />

protestiert sogleich ungefragt: „Was<br />

<strong>ist</strong> mit Ernst Bloch?“, „Schon mal<br />

was <strong>von</strong> Karl Marx gehört?“ Die<br />

ANZEIGE_FLUTER_MÄRZ08 28.03.2008 15:04 Uhr Seite 1<br />

Zwischenrufer, alle älteren Semesters,<br />

scheinen sich um einige Aspekte ihrer<br />

ganz persönlichen Lektüre <strong>von</strong> damals<br />

betrogen zu fühlen. Sehr biografisch<br />

geprägt sind auch die nächsten Wortmeldungen<br />

aus <strong>de</strong>m Publikum.<br />

„Worin aber besteht die Aktualität<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> theoretischen Vor<strong>de</strong>nker <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Bewegung?“ Stefan Reinecke versucht<br />

noch einmal, die Diskussion auf <strong>de</strong>m<br />

Podium in Gang zu bringen. Oskar<br />

Negt fällt sogleich sein eigenes Buch<br />

„Öffentlichkeit und Erfahrung“ ein,<br />

das ja wohl nicht ohne Grund eben erst<br />

ins Französische übersetzt wor<strong>de</strong>n sei.<br />

Darüber hinaus seien Marx’ Thesen<br />

aktueller <strong>de</strong>nn je: „Zum ersten Mal in<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte haben wir heute einen<br />

funktionieren<strong>de</strong>n Kapitalismus, so wie<br />

Marx ihn beschrieben hat.“ Oberreuter<br />

pflichtet <strong>de</strong>m bei und spricht<br />

mit Sorge über die zunehmen<strong>de</strong><br />

Ökonomisierung aller Lebensbereiche.<br />

„Entfremdung“ und „Eindimensionalität“,<br />

das sind für Negt und Oberreuter<br />

keine verstaubten Vokabeln.<br />

Es sind Symptome, wie sie in unserer<br />

heutigen, vermeintlich plural<strong>ist</strong>ischen,<br />

Gesellschaft auftreten. So verstan<strong>de</strong>n<br />

tritt Theorie als alltägliche Praxis auf,<br />

als „Kritik mit <strong>de</strong>m Glauben an Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung“,<br />

so Negt.<br />

Etwa als die Praxis eines Publikums,<br />

das sein Re<strong><strong>de</strong>r</strong>echt einfor<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Und<br />

dies umso lauter, als <strong><strong>de</strong>r</strong> Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ator<br />

um knappe Fragen bittet. „Warum<br />

wird das Publikum zum Fragesteller<br />

<strong>de</strong>gradiert?“ – „Ist es nicht journal<strong>ist</strong>ische<br />

Bequemlichkeit, sich nur mit<br />

<strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen Kontext zu beschäftigen?“<br />

Und „warum sind es immer<br />

nur die Männer“, die ihre Stimmen<br />

zum Thema erheben? Das „nur“ im<br />

Veranstaltungstitel kann getrost ersetzt<br />

wer<strong>de</strong>n: Am En<strong>de</strong> auch Praxis.<br />

„Es gab die Theorie genauso wenig<br />

wie die 68er“, so Oberreuter. Dass die<br />

Experten zu 68 nicht nur auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Bühne<br />

zu suchen sind und sich die Theorien<br />

über <strong>de</strong>n Köpfen vieler verstreuten, das<br />

zeigte <strong><strong>de</strong>r</strong> Abend allemal.<br />

17<br />

AM ENDE AUCH PRAxIS<br />

Was ein Diskussionsabend über das Selbstverständnis <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er lehrt. Von Urszula Wozniak und Josephine Ziegler<br />

fluter.<strong>de</strong><br />

Das Jugendmagazin „fluter“<br />

erscheint vier Mal im Jahr. Das<br />

Online-Magazin „fluter.<strong>de</strong>“ präsentiert<br />

täglich neue Beiträge<br />

und Diskussionen, wöchentlich<br />

Film- und Buchbesprechungen,<br />

Aktuelles und monatliche<br />

Themenschwerpunkte.<br />

Die China-<br />

Ausgabe<br />

erscheint<br />

im Sommer<br />

2008<br />

Kostenloses Jahresabo fluter<br />

Ja, ich will die nächsten vier Ausgaben <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeitschrift fluter kostenlos<br />

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18<br />

NACH DEM ENDE DER UTOPIE<br />

Der Sozialphilosoph Herbert Marcuse war für<br />

die <strong>de</strong>utsche und die amerikanische Stu<strong>de</strong>ntenbewegung<br />

<strong>von</strong> zentraler Be<strong>de</strong>utung. 40 Jahre<br />

nach 68 <strong>ist</strong> seine Warnung vor <strong>de</strong>m „eindimensionalen<br />

Menschen“ immer noch aktuell – und<br />

weitgehend vergessen.<br />

Von Franziska Langner, Janna Schlen<strong><strong>de</strong>r</strong>,<br />

Urszula Wozniak<br />

ikonen |<br />

theoretisch<br />

40 Jahre später:<br />

Eindimensionaler Mensch o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

gelungene Befreiung?<br />

Die Sozialforscher <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

„Frankfurter Schule“<br />

„Die rastlose Selbstzerstörung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Aufklärung<br />

zwingt das Denken dazu,<br />

sich auch die letzte<br />

Arglosigkeit gegenüber<br />

<strong>de</strong>n Gewohnheiten und<br />

Richtungen <strong>de</strong>s Zeitge<strong>ist</strong>es<br />

zu verbieten.“<br />

(Theodor W. Ad)<br />

2008. Pia <strong>ist</strong> aufgeregt, ihr <strong>ist</strong><br />

schlecht. An <strong>de</strong>n Schläfen spürt sie<br />

ein heißes Kribbeln. Sie studiert<br />

Politikwissenschaft an <strong><strong>de</strong>r</strong> Freien Universität<br />

Berlin und steht kurz vor ihrer<br />

Zwischenprüfung. Eigentlich hätte sie<br />

sich damit lieber noch Zeit gelassen,<br />

aber auf diese Weise <strong>ist</strong> sie schneller als<br />

viele ihrer Kommilitonen – und unter<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Regelstudienzeit.<br />

Mehr le<strong>ist</strong>en müssen, um mehr<br />

erreichen zu können. Ein Mantra, das<br />

heutzutage nicht nur Pia antreibt, während<br />

sie zielstrebig auf das Schwarze<br />

Brett zusteuert, um sich durch das<br />

Dickicht <strong><strong>de</strong>r</strong> Praktikumsangebote zu<br />

kämpfen.<br />

Die Anfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen möglicher<br />

Arbeitgeber sind vielfältig: Praktika,<br />

Fremdsprachenkenntnisse, Auslandserfahrung.<br />

Pia möchte als nächstes nach<br />

Shanghai. „Dann stehen mir wirklich<br />

alle Türen offen“, meint sie. In <strong>de</strong>n<br />

hohen Ansprüchen dieser Tage sieht<br />

sie Möglichkeiten.<br />

„Sie können je<strong>de</strong> Farbe haben,<br />

solange es schwarz <strong>ist</strong>“, hat Henry Ford<br />

einmal gesagt. Für <strong>de</strong>n Philosophen<br />

Herbert Marcuse war dieser Satz<br />

Ausdruck seiner Theorie vom „eindimensionalen<br />

Menschen“, <strong><strong>de</strong>r</strong> glaubt,<br />

alles haben zu können, am En<strong>de</strong> aber<br />

nur an die Gesellschaft angepasst lebt.<br />

Hätte Pia gut 40 Jahre früher an <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

FU studiert, wäre sie Herbert Marcuse<br />

vielleicht begegnet.<br />

DIE CHEFIDEOLOGEN<br />

Wer waren sie? Als „Frankfurter Schule“ wird <strong><strong>de</strong>r</strong> intellektuelle<br />

Kreis <strong>von</strong> Soziologen und Philosophen bezeichnet,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> sich kritisch mit <strong>de</strong>n Missstän<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen<br />

Industriegesellschaft auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzte. Zu <strong>de</strong>n einflussreichsten<br />

und bekanntesten Vertretern gehörten Max<br />

Horkheimer (1895 – 1973), Herbert Marcuse (1898 –<br />

1979), Theodor W. Adorno (1903 – 1969) und Jürgen<br />

Habermas (*1929). Der Name geht zurück auf <strong>de</strong>n geografischen<br />

Ursprung <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaftskritiker, das Institut<br />

für Sozialforschung in Frankfurt. Kern ihrer Forschungen<br />

war die Auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung mit I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>s Marxismus in<br />

Bezug auf die verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ten gesellschaftlichen Verhältnisse.<br />

Als Hauptwerke <strong><strong>de</strong>r</strong> Frankfurter Schule gelten „Dialektik<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Aufklärung“, „Der eindimensionale Mensch“ und<br />

„Minima Moralia“.<br />

Und heute? Inzwischen gehören die Texte <strong>von</strong> Marcuse und Co. zum Standardrepertoire <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaftswissenschaften.<br />

Doch gibt es ein greifbares Erbe? Wohl, dass nachfolgen<strong>de</strong> Generationen immer aufs Neue ihr soziales<br />

Umfeld kritisch betrachten und hinterfragen.<br />

So wie Luise, die an einem warmen<br />

Julitag im Jahr 1967 im brechendvollen<br />

Hörsaal sitzt. Auch sie <strong>ist</strong><br />

aufgeregt, aber schlecht <strong>ist</strong> ihr nicht.<br />

Wochenlang hat sie zusammen mit<br />

<strong>de</strong>m Sozial<strong>ist</strong>ischen Deutschen Stu<strong>de</strong>ntenbund<br />

SDS Flyer gedruckt, über<br />

Nächte hinweg an Fragen und Formulierungen<br />

gefeilt. Auch Luise will<br />

etwas erreichen, aber nicht innerhalb<br />

<strong>de</strong>s Systems, in <strong>de</strong>m sie lebt. Sie will<br />

es verän<strong><strong>de</strong>r</strong>n.<br />

Endlich, nach langer Vorbereitung,<br />

betritt Marcuse das Podium. Vier<br />

Aben<strong>de</strong> in Folge spricht er zu und<br />

mit <strong>de</strong>n Stu<strong>de</strong>nten. Über die Utopie,<br />

die eigene Gesellschaft grundlegend<br />

verän<strong><strong>de</strong>r</strong>n zu können, über die Unfähigkeit,<br />

Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen umzusetzen.<br />

Er wird nicht mü<strong>de</strong>, die Stu<strong>de</strong>nten zu<br />

ermuntern, selbst ihre Beiträge zu le<strong>ist</strong>en,<br />

und er diskutiert mit ihnen seine<br />

Theorien. „Wogegen <strong>ist</strong> die Stu<strong>de</strong>ntenopposition<br />

gerichtet?“, fragt Marcuse,<br />

da wir doch scheinbar in einem<br />

freien, <strong>de</strong>mokratischen Land leben.<br />

Gegen die herrschen<strong>de</strong>n Institutionen,<br />

durch <strong><strong>de</strong>r</strong>en Interessen unsere wahren<br />

Bedürfnisse unterdrückt wer<strong>de</strong>n, antwortet<br />

er im selben Atemzug. Aber<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>s als viele radikalere Denker sieht<br />

er einen <strong>Teil</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Schuld bei jenen, die<br />

sich freiwillig unterdrücken lassen.<br />

Mehr als alles an<strong><strong>de</strong>r</strong>e predigt Marcuse<br />

die Vernunft. Luise <strong>ist</strong> fasziniert <strong>von</strong><br />

seinen Worten. Hun<strong><strong>de</strong>r</strong>te Male hat<br />

mythos68 | April 2008<br />

sie seinen Aufsatz Repressive Toleranz<br />

gelesen und stimmt mit ihm überein,<br />

dass wir allzu bereitwillig an die Freiheit<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Entscheidung glauben, ohne<br />

zu hinterfragen, ob es diese wirklich<br />

gibt.<br />

Herbert Marcuse spielte für Luise<br />

und die Stu<strong>de</strong>ntenbewegung <strong><strong>de</strong>r</strong> 60er<br />

eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle. Er wünschte<br />

sich eine Welt, in <strong><strong>de</strong>r</strong> Technik und<br />

Kunst, Arbeit und Spiel miteinan<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

einhergehen, stellt Freu<strong>de</strong> und Glück<br />

über die Angst vor Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen.<br />

Aber er weiß auch, wie angenehm und<br />

sicher es scheint, die bestehen<strong>de</strong> Gesellschaft<br />

nicht zu hinterfragen.<br />

Pia hat heute, 40 Jahre später, <strong>von</strong><br />

Marcuse noch nie etwas gehört. Sie<br />

glaubt, alle Freiheiten zu haben, um<br />

ihre Zukunftswünsche zu verwirklichen.<br />

Wie tausend an<strong><strong>de</strong>r</strong>e nimmt sie<br />

unbezahlte Praktika, verschulte und<br />

verwirtschaftlichte Studiengänge als<br />

selbstverständlich hin, als Notwendigkeit,<br />

<strong>de</strong>n späteren Traumjob zu<br />

bekommen. Für Pia wären Luises<br />

Vorstellungen und ihre Wünsche<br />

nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong><strong>de</strong>r</strong> eigenen<br />

Gesellschaft utopisch. Das waren sie<br />

für Marcuse und Luise auch. Aber<br />

Herbert Marcuse war sich sicher, dass<br />

man aufhören muss, tiefgreifen<strong>de</strong><br />

gesellschaftliche Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen als<br />

Utopie zu bezeichnen. Nur mit einem<br />

solchen „En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Utopie“ bestand für<br />

ihn die Möglichkeit zum Wan<strong>de</strong>l.<br />

Warum wur<strong>de</strong>n sie <strong>von</strong> <strong>de</strong>n 68ern verehrt? Straßenkrawalle<br />

zu führen und Uni-Rektorate zu<br />

besetzen war das eine – klare Vorstellungen<br />

einer besseren Welt zu vertreten und zu<br />

diskutieren etwas an<strong><strong>de</strong>r</strong>es. In <strong>de</strong>n Essays und<br />

Vorträgen <strong><strong>de</strong>r</strong> Sozialforscher erkannte die<br />

Stu<strong>de</strong>ntenbewegung <strong>von</strong> 68, wo<strong>von</strong> sich die<br />

Gesellschaft befreien müsse: Kapitalismus,<br />

Naturbeherrschung, autoritäre Strukturen.<br />

Auf vielen Vortragsreisen ermutigten sie die<br />

Stu<strong>de</strong>nten dazu, die Umgestaltung ihrer<br />

Lebenswelt selbst in die Hand zu nehmen.<br />

Die Theorien <strong><strong>de</strong>r</strong> Frankfurter Schule hatten<br />

entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Einfluss auf <strong>de</strong>n SDS und die<br />

APO. So vermerkte Rudi Dutschke einmal in<br />

seinem Tagebuch: „Unsere Strömung ohne ihn<br />

[Marcuse] – wer kann es sich ganz <strong>de</strong>nken?<br />

Ging uns bei Ernst Bloch ähnlich, bei<strong>de</strong> aber<br />

wer<strong>de</strong>n unsere Generation nie verlassen.“


mythos68 | April 2008 universitär<br />

Freie Universität, Stu<strong>de</strong>ntenprotest – ohne die Hochschulen wäre<br />

68 nicht <strong>de</strong>nkbar gewesen. Und heute? Wir begeben uns auf<br />

Spurensuche an die Quelle <strong><strong>de</strong>r</strong> Stu<strong>de</strong>ntenbewegung, zum Otto-<br />

Suhr-Institut. Von Josephine Ziegler<br />

Der erste Takt verwirrt die Stu<strong>de</strong>nten<br />

noch. Verdis Requiem erhebt<br />

sich pathetisch und erfüllt <strong>de</strong>n Hörsaal.<br />

Vielleicht haben sie Ton Steine Scherben<br />

erwartet, gewiss keine Klassik.<br />

Feierlich tritt eine kleine Prozession<br />

ins Blickfeld. Wür<strong>de</strong>voll schauen die<br />

jungen Frauen und Männer drein,<br />

sie tragen schwarze Anzüge und<br />

Blazer, ihr Haar <strong>ist</strong> geschniegelt. Als<br />

die Musik verstummt, beginnt ihr<br />

Anführer zur Vollversammlung zu<br />

sprechen. Er betont, wie gut sich die<br />

Freie Universität Berlin (FU) unter<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Führung ihres Präsi<strong>de</strong>nten Dieter<br />

Lenzen entwickelt hat. In einer Grafik<br />

<strong>ist</strong> zu sehen, wie die Eliteför<strong><strong>de</strong>r</strong>ung<br />

noch weitergehen soll: die Anzahl <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Stu<strong>de</strong>nten auf Dauer min<strong><strong>de</strong>r</strong>n, <strong>de</strong>n<br />

nie<strong><strong>de</strong>r</strong>en Bachelor nur noch an <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Humboldt-Uni abnehmen. Die Stu<strong>de</strong>nten<br />

lachen. Sie verstehen die Ironie<br />

<strong>de</strong>s Dieter-Lenzen-Fanclubs, <strong><strong>de</strong>r</strong> hier<br />

auftritt. Aber die Essenz seiner Worte<br />

<strong>ist</strong> bitterernst.<br />

Die Konzepte <strong>de</strong>s Präsidiums sind<br />

es, gegen die sich dieser Aktionstag an<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> FU im Januar 2008 richtet: verschärfte<br />

Zulassungsbedingungen, Le<strong>ist</strong>ungsdruck<br />

und Fächerzwang durch<br />

Bachelor und Master, Schließung <strong>von</strong><br />

Instituten, auslaufen<strong>de</strong> Studiengänge,<br />

Wegrationalisieren <strong>von</strong> Büchermassen.<br />

Die Stu<strong>de</strong>nten begehren gegen die<br />

fortschreiten<strong>de</strong> Verwirtschaftlichung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Uni auf. „Tu nichts Unnützes“,<br />

„Denk an <strong>de</strong>inen Lebenslauf“, „Schalte<br />

<strong>de</strong>ine Konkurrenz aus“ – so geben<br />

Aufkleber überall auf <strong>de</strong>m Campus<br />

in Dahlem <strong>de</strong>m Unmut <strong><strong>de</strong>r</strong> Studis<br />

Ausdruck. Sie wollen weiter selbstbestimmt<br />

und nicht an einer „Denkfabrik“<br />

studieren, die Nachschub für<br />

die Wirtschaft liefert. Die Reformen<br />

gehen für sie in die falsche Richtung.<br />

Es sind zu viele, die zu schnell und<br />

ohne Mitbestimmung <strong><strong>de</strong>r</strong> rund 30.000<br />

Stu<strong>de</strong>nten vorangetrieben wer<strong>de</strong>n.<br />

Schon beim Protest <strong><strong>de</strong>r</strong> FU-Stu<strong>de</strong>nten<br />

seit 1967 spielten Reformen<br />

eine Rolle. In ihren Augen war es<br />

längst überfällig, die Strukturen und<br />

Konventionen zu erneuern. „Was das<br />

Ganze zu einer Bewegung machte,<br />

waren die Reaktionen <strong><strong>de</strong>r</strong>er, die wir das<br />

Establishment nannten“, erinnert sich<br />

Bodo Zeuner, emeritierter Professor<br />

<strong>de</strong>s Otto-Suhr-Instituts für Politikwissenschaft<br />

(OSI), damals Ass<strong>ist</strong>ent. Kritische<br />

Vorträge an <strong><strong>de</strong>r</strong> FU verhin<strong><strong>de</strong>r</strong>te<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> damalige Hochschulrektor Herbert<br />

Lüers, und die Polizei reagierte nicht<br />

nur bei Demos über, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch,<br />

als sie massenhaft Stu<strong>de</strong>nten aus <strong>de</strong>m<br />

Henry-Ford-Bau trug, um das erste<br />

Sit-in Deutschlands aufzulösen.<br />

Lichtdurchflutet steht <strong><strong>de</strong>r</strong> 50er-<br />

Jahre Bau in <strong><strong>de</strong>r</strong> Wintersonne 2008.<br />

Vier Männer fallen auf. Sie stehen in<br />

und vor <strong>de</strong>m Bau, drehen ab und an<br />

eine Run<strong>de</strong>. „Zivilpoliz<strong>ist</strong>en“ munkelt<br />

man in <strong><strong>de</strong>r</strong> Fachschaftsinitiative<br />

<strong>de</strong>s OSI. Ganz in <strong><strong>de</strong>r</strong> Nähe trifft sie<br />

die letzten Vorbereitungen für <strong>de</strong>n<br />

Aktionstag. Etwa hun<strong><strong>de</strong>r</strong>t bunte Luftballons<br />

hängen unter <strong><strong>de</strong>r</strong> niedrigen<br />

Decke im Roten Café, einer besetzten<br />

und alternativ bewirtschafteten Villa.<br />

Die Ballons sollen im Henry-Ford-<br />

Bau steigen. Doch wie reinkommen?<br />

Zwei Eingänge sind abgeschlossen, die<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>en scheinen bewacht. Drei junge<br />

Männer erklären sich zum Ablenkungsmanöver<br />

bereit. Vermummt<br />

rennen sie los. Mit gerunzelter Stirn<br />

schaut ein vermeintlicher Zivilpoliz<strong>ist</strong><br />

ihnen nach. Die Szene hat nichts<br />

Kriminelles mehr, als kurz darauf die<br />

bunten Ballons in <strong><strong>de</strong>r</strong> Morgensonne<br />

steigen. Harmlos und fröhlich hängen<br />

sie unter <strong><strong>de</strong>r</strong> hohen Decke zwischen<br />

<strong>de</strong>n <strong>Bild</strong>ern berühmter FUler, darunter<br />

Rudi Dutschke. Ernst blickt er auf die<br />

Papierstu<strong>de</strong>nten, die, an je<strong>de</strong>m Ballon<br />

erhängt, dann doch <strong>de</strong>n Protest in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Spaßaktion entlarven.<br />

Me<strong>ist</strong> sind es die Politikstu<strong>de</strong>nten,<br />

die aktiv wer<strong>de</strong>n. Auch die Wahlbeteiligung<br />

zum Studieren<strong>de</strong>nparlament<br />

(StuPa) <strong>ist</strong> am Fachbereich überdurchschnittlich<br />

hoch. Insgesamt liegt sie an<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> FU nur bei 11 Prozent, und das seit<br />

Jahren. „Die Resignation in Bezug auf<br />

die Frage, ob man durch eigenes Han<strong>de</strong>ln<br />

überhaupt etwas verän<strong><strong>de</strong>r</strong>n kann,<br />

<strong>ist</strong> wohl gestiegen“, sagt Bodo Zeuner.<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> Tat gehen die Mitbestimmungsrechte<br />

<strong>de</strong>s StuPa heute gegen null.<br />

Dabei <strong>ist</strong> es das letzte Rudiment <strong>de</strong>s<br />

Mo<strong>de</strong>lls Gruppenuniversität.<br />

Als 1968 das OSI aus Protest gegen<br />

die Notstandsgesetze besetzt war,<br />

nutzten alle Beteiligten, <strong>von</strong> <strong>de</strong>n<br />

Stu<strong>de</strong>nten bis zum Institutsrektor, die<br />

Situation, um die „verknöcherten Universitätsstrukturen“<br />

zu reformieren.<br />

Weitreichen<strong>de</strong> Mitbestimmungsrechte<br />

für Stu<strong>de</strong>nten wur<strong>de</strong>n erkämpft. Das<br />

Mo<strong>de</strong>ll diente als Vorbild für das<br />

neue Hochschulgesetz <strong>von</strong> 1969,<br />

<strong>ist</strong> heute aber wie<strong><strong>de</strong>r</strong> weitgehend<br />

abgeschafft. Die Tradition, in <strong><strong>de</strong>r</strong> die<br />

FU steht – 1948 <strong>von</strong> Stu<strong>de</strong>nten aus<br />

Protest gegen die <strong>von</strong> <strong>de</strong>n Sowjets<br />

indoktrinierte Hochschullehre <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

heutigen Humboldt-Universität ins<br />

Leben gerufen – sie scheint nicht mehr<br />

präsent zu sein.<br />

Ist die neue Stu<strong>de</strong>ntengeneration<br />

wirklich so unpolitisch? Viele wollen<br />

sich nicht einer politischer Richtung<br />

zuordnen lassen. Parteipräferenzen<br />

sind ihnen zu dogmatisch. Zeuner<br />

kritisiert: „Wenn sich Stu<strong>de</strong>nten<br />

engagieren, dann häufig für sehr isolierte<br />

Ziele, die nicht in gesamtgesellschaftliche<br />

Programmatik eingebettet<br />

wer<strong>de</strong>n.“ Die etwa 300 anwesen<strong>de</strong>n<br />

Stu<strong>de</strong>nten in <strong><strong>de</strong>r</strong> Vollversammlung<br />

2008 beschließen, das Sommersemester<br />

zum Protestsemester zu erklären.<br />

Ein Rahmen <strong>ist</strong> damit gesteckt. Nun<br />

<strong>ist</strong> es an <strong>de</strong>n Stu<strong>de</strong>nten, sich auf ihr<br />

Erbe zu besinnen.<br />

„Standpunkt beziehen“<br />

„Je<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>ist</strong> politisch“<br />

„Das soziale Leben“<br />

Lea, 21, Gesellschafts-<br />

und Wirtschaftskommunikation,<br />

Dres<strong>de</strong>n<br />

In meinen Augen <strong>ist</strong> auch<br />

jemand politisch, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich<br />

interessiert und seinen<br />

Standpunkt bezieht. Man<br />

muss nicht in irgen<strong>de</strong>inem<br />

Ortsverband tätig sein.<br />

Chr<strong>ist</strong>opher, 29, BWL,<br />

Berlin<br />

Je<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>ist</strong> politisch. Trotz<strong>de</strong>m<br />

versuche ich, mich<br />

rauszuhalten. Man weiß<br />

nie, was für Auswirkungen<br />

das hat, was man<br />

tut. Aber an<strong><strong>de</strong>r</strong>e nutzen<br />

dieses Machtvakuum aus.<br />

Tillmann, 22, Mathematik<br />

und Psychologie, Berlin<br />

Sachen, die das persönliche<br />

Leben betreffen,<br />

wie das soziale Leben<br />

in meinem Gegend. Ich<br />

wür<strong>de</strong> mir wünschen, daß<br />

ich da besser Einfluss<br />

nehmen könnte.<br />

19<br />

KEIN NACHSCHUB AUS<br />

DER DENKFABRIK<br />

fruchtfleisch |<br />

Was <strong>ist</strong> politisch?<br />

B<strong>ist</strong> du politisch?<br />

„Im Konsens regeln“<br />

Nina, 20, Medizin,<br />

Marburg<br />

Politisch <strong>ist</strong> alles, was die<br />

Gesellschaft betrifft. Die<br />

Art und Weise, wie man<br />

mit Problemen umgeht,<br />

sie im Konsens zu regeln<br />

und das in <strong>de</strong>n öffentlichen<br />

Raum zu tragen.<br />

„Ich bewege einiges“<br />

Dennis, 21, studiert<br />

Medizin in Langenfeld<br />

Auf je<strong>de</strong>n Fall! Ich bin<br />

zwar nicht parteipolitisch,<br />

aber ich organisier mich<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> Fachschaft. Dort<br />

bewege ich einiges. Auch<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> Schule war ich<br />

schon aktiv gewesen.<br />

Welche Themen sind dir wichtig?<br />

„Steuern, Geld, Bafög“<br />

Gerald, 23, Chemie,<br />

Storkow<br />

Natürlich in erster Linie<br />

die Themen, die mich<br />

selber betreffen. Die Uni,<br />

weil ick nun mal Stu<strong>de</strong>nt<br />

bin. Und die Themen, die<br />

meine Zukunft betreffen:<br />

Steuern, Geld, Bafög.


20<br />

universitär<br />

DIE MENSAFALLE ODER BIST DU POLITISCH?<br />

Ist <strong><strong>de</strong>r</strong> heutige Stu<strong>de</strong>nt zwar politisch<br />

interessiert, jedoch politisch nicht<br />

aktiv? Die gesammelten Gedanken<br />

und Befindlichkeiten <strong><strong>de</strong>r</strong> Befragten<br />

wollen wir, Berliner Stu<strong>de</strong>nten <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Europäischen Ethnologie, in einem<br />

kurzen Film präsentieren, <strong><strong>de</strong>r</strong> im<br />

Rahmen unseres Studienprojektes<br />

„Mythos 1968“ entsteht. Dort diskutieren<br />

wir seit einigen Monaten<br />

die verschie<strong>de</strong>nsten Blickwinkel auf<br />

die Zeit <strong><strong>de</strong>r</strong> großen Stu<strong>de</strong>ntenrevolte<br />

und lernen auch, dass damals nur<br />

eine kleine Min<strong><strong>de</strong>r</strong>heit <strong><strong>de</strong>r</strong> Stu<strong>de</strong>nten<br />

wirklich politisch engagiert war. Die<br />

damaligen Ereignisse jähren sich nun<br />

zum 40. Mal.<br />

Wir zählen erneut die Namen auf<br />

unserer L<strong>ist</strong>e. Es fehlen immer noch<br />

drei. Insgesamt 15 Stu<strong>de</strong>nten möchten<br />

wir heute für unsere Umfrage<br />

gewinnen. Die me<strong>ist</strong>en Stu<strong>de</strong>nten<br />

machen einen großen Bogen um uns.<br />

Wir fragen „Was <strong>ist</strong> politisch?“ und<br />

dann: „B<strong>ist</strong> Du politisch?“ Die junge<br />

Stu<strong>de</strong>ntin mit <strong>de</strong>n langen offenen<br />

Haaren hat nun einen leicht gequälten<br />

Gesichtsausdruck. Hätte sie bloß nicht<br />

<strong>de</strong>n Blick erwi<strong><strong>de</strong>r</strong>t und wäre wie all die<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>en schnell an <strong><strong>de</strong>r</strong> Kamera vorbei-<br />

Im kommen<strong>de</strong>n Mai veranstalten die Hochschulgruppen<br />

<strong>de</strong>s neuen SDS – jetzt mit <strong>de</strong>m<br />

Namen „Sozial<strong>ist</strong>isch-<strong>de</strong>mokratischer Studieren<strong>de</strong>nverband“<br />

– einen Kongress in Berlin<br />

unter <strong>de</strong>m Motto „40 Jahre 1968 – Die letzte<br />

Schlacht gewinnen wir“. Wollt ihr zu <strong>de</strong>n Straßenkämpfen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Sechziger zurückkehren?<br />

Auf <strong>de</strong>m Kongress wollen wir<br />

uns eingehend mit <strong>de</strong>m Phänomen<br />

1968 befassen, das mehr war als nur<br />

eine Revolte <strong>von</strong> Studieren<strong>de</strong>n. In<br />

dieser Zeit wur<strong>de</strong>n weltweit antikapital<strong>ist</strong>ische<br />

und antiimperial<strong>ist</strong>ische<br />

Kämpfe ausgetragen: Pariser Mai,<br />

Prager Frühling, Vietnam. Natürlich<br />

spielt für uns auch die <strong>de</strong>utsche Studieren<strong>de</strong>nbewegung<br />

eine wichtige Rolle.<br />

Von Konservativen wird ihr heute die<br />

Verrohung <strong>von</strong> Werten und Sitten<br />

gehuscht. Doch sie besinnt sich, sagt,<br />

sie sei politisch interessiert, informiere<br />

sich über das politische Geschehen.<br />

Selbst engagiert, nein, das sei sie nicht.<br />

Eine Antwort, die wir während <strong>de</strong>s<br />

Drehs noch oft hören wer<strong>de</strong>n.<br />

Was aber interessiert die Stu<strong>de</strong>nten<br />

heute, welche Vorbil<strong><strong>de</strong>r</strong> haben sie, für<br />

welche Themen können sie sich bege<strong>ist</strong>ern?<br />

Wir wollen es wissen und so<br />

stehen wir eine Woche später erneut<br />

ausgerüstet mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Kamera und<br />

einem ermuntern<strong>de</strong>n Lächeln mitten<br />

im Strom <strong><strong>de</strong>r</strong> Stu<strong>de</strong>nten, die es zur<br />

Mittagszeit in die Mensa zieht.<br />

Diesmal sind wir an die Freie Universität<br />

gefahren, En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> sechziger<br />

Jahre einer <strong><strong>de</strong>r</strong> Hauptschauplätze<br />

<strong>de</strong>s stu<strong>de</strong>ntischen Aufbegehrens.<br />

Wir haben aus <strong>de</strong>n letzten Umfragen<br />

gelernt. Geduldig bleiben, lieber<br />

Einzelne statt Gruppen ansprechen,<br />

nicht sofort die Kamera präsentieren.<br />

Trotz<strong>de</strong>m ergreift sie uns wie<strong><strong>de</strong>r</strong>, die<br />

„Angst <strong>de</strong>s Forschers vor <strong>de</strong>m Feld“.<br />

Zu<strong>de</strong>m haben wir Be<strong>de</strong>nken, die<br />

Stu<strong>de</strong>nten mit <strong>de</strong>m Thema Politik<br />

abzuschrecken. Zugegeben, unsere<br />

Fragen sind unbequem, sie rühren<br />

am Selbstverständnis und for<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

„MIT BLOßEM PFLEGEN VON IKONEN KOMMEN WIR NICHT WEITER“<br />

Der Kern <strong><strong>de</strong>r</strong> Protestbewegung <strong>von</strong> 68 konzentrierte sich im Sozial<strong>ist</strong>ischen Deutschen Stu<strong>de</strong>ntenbund (SDS) – bis dieser sich 1970 auflöste. 2007<br />

grün<strong>de</strong>ten Linkspartei-Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n Hochschulverband „Die Linke.SDS“. Ein nostalgischer Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>belebungsversuch? Parallelen seien erkennbar, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Rahmen aber habe sich verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t, so Georg Frankl <strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Berliner SDS-Gruppe im Interview. Von Tino Höfert<br />

vorgeworfen, an<strong><strong>de</strong>r</strong>e beanspruchen die<br />

Vollendung <strong>von</strong> 1968 mit <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Bild</strong>ung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> rot-grünen Bun<strong>de</strong>sregierung für<br />

sich. Wir lehnen bei<strong>de</strong> Interpretationen<br />

ab und wollen nirgendwohin<br />

zurückkehren. Wir wollen herausfin<strong>de</strong>n,<br />

wie die erfolgreichste <strong>de</strong>utsche<br />

Studieren<strong>de</strong>nbewegung entstand und<br />

scheiterte und was wir im Kampf<br />

gegen Kapitalismus und für Frie<strong>de</strong>n<br />

heute daraus lernen können.<br />

Wollt ihr mit diesem Kampf also an die Tradition<br />

<strong>de</strong>s SDS <strong>von</strong> damals anknüpfen?<br />

Klar. Aber <strong><strong>de</strong>r</strong> Rahmen, in <strong>de</strong>m wir<br />

heute han<strong>de</strong>ln, hat sich stark verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t.<br />

Im Gegensatz zu <strong>de</strong>n Sechziger<br />

Jahren sind wir heute in einer Phase<br />

wirtschaftlicher Instabilität, welche<br />

die gesellschaftlichen Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>sprüche<br />

zuspitzt: Wohlstand für wenige,<br />

Armut für viele.<br />

Auch die Hochschulen haben sich<br />

verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t – heute kämpfen wir gegen<br />

<strong>de</strong>n Elitewahn, gegen jegliche Form<br />

<strong>von</strong> Studiengebühren und gegen die<br />

zu hohe Arbeitsbelastung, weil all dies<br />

nicht im Sinne <strong><strong>de</strong>r</strong> großen Mehrheit<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Studieren<strong>de</strong>n <strong>ist</strong>. Dazu setzen wir<br />

uns unter an<strong><strong>de</strong>r</strong>em für eine Demokratisierung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Hochschulen, für<br />

einen freien Masterzugang und für<br />

die Stärkung <strong><strong>de</strong>r</strong> kritischen Wissenschaften<br />

ein.<br />

Große inhaltliche Differenzen zum<br />

damaligen SDS sehe ich nicht, jedoch<br />

müssen wir <strong>de</strong>n verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ten Rahmen<br />

auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Suche nach Antworten und<br />

Strategien berücksichtigen.<br />

mythos68 | April 2008<br />

„Politik? Nee, ich bin Naturwissenschaftler!“ „Macht doch nichts!“,<br />

rufen wir <strong>de</strong>m da<strong>von</strong>eilen<strong>de</strong>n Stu<strong>de</strong>nten hinterher. Doch da <strong>ist</strong> er<br />

auch schon in <strong><strong>de</strong>r</strong> Menge verschwun<strong>de</strong>n, die hungrig in die Mensa<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Humboldt-Universität strömt.<br />

Von Susanne Hauer, Michael Sacher, Chr<strong>ist</strong>ine Wehner<br />

eine persönliche Positionierung ein.<br />

Was be<strong>de</strong>utet es, politisch zu sein?<br />

Es <strong>ist</strong> wie bei so vielen Gedanken<br />

und Gefühlen, die man im Stillen<br />

in sich trägt – kommt es darauf an<br />

sie konkret zu <strong>de</strong>finieren, gerät man<br />

schnell in Schwierigkeiten, sucht nach<br />

geeigneten Worten. Manchmal gibt<br />

es die nicht, zumal vor einer Kamera.<br />

Um so mehr freuen wir uns, wenn sich<br />

die Stu<strong>de</strong>nten ganz offen auf unsere<br />

Fragen einlassen und ihr politisches<br />

Denken und Han<strong>de</strong>ln im Alltag<br />

beschreiben. Bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Frage nach persönlichen<br />

Vorbil<strong><strong>de</strong>r</strong>n nennen viele ihre<br />

eigene Großmutter lieber als bekannte<br />

Gesellschaftsverän<strong><strong>de</strong>r</strong>er.<br />

Ob das vor 40 Jahren auch so gewesen<br />

wäre? Am wichtigsten scheint es<br />

<strong>de</strong>n Stu<strong>de</strong>nten jedoch, die eigene Individualität<br />

zu wahren und nieman<strong>de</strong>m<br />

nachzueifern. Mit fast je<strong><strong>de</strong>r</strong> Antwort<br />

kommen auch wir wie<strong><strong>de</strong>r</strong> ins Grübeln,<br />

erfahren neue Sichtweisen auf Politik<br />

und Beweggrün<strong>de</strong>, sich politisch zu<br />

engagieren o<strong><strong>de</strong>r</strong> nicht.<br />

Ist je<strong><strong>de</strong>r</strong> politisch? Es <strong>ist</strong> schwer,<br />

Haltungen zu Dingen zu entwickeln.<br />

Einige Stu<strong>de</strong>nten haben eine politische<br />

Meinung, nennen Missstän<strong>de</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Gesellschaft. An<strong><strong>de</strong>r</strong>e wen<strong>de</strong>n sich<br />

bewusst <strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Politik ab, sehen für<br />

sich keinen Raum, politisch aktiv zu<br />

wer<strong>de</strong>n. Die Fragen erwischen manche<br />

eiskalt, sie kommen ins Grübeln. Und<br />

wie<strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>e scheinen sich noch<br />

lange mit unseren Fragen zu beschäftigen.<br />

Im Laufe <strong>de</strong>s Drehtages an <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

FU kommt ein Stu<strong>de</strong>nt noch zweimal<br />

zu uns und möchte noch etwas in<br />

die Kamera sagen. Er wirkt froh, ja<br />

fast erleichtert, dass wir ihm unsere<br />

Fragen gestellt haben. Auch wir haben<br />

das Gefühl, dass einen die Fragen,<br />

einmal gestellt, nicht so schnell wie<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

loslassen.<br />

Die Drehtermine sind vorbei, als<br />

nächstes kommt <strong><strong>de</strong>r</strong> schwierige Prozess<br />

<strong>de</strong>s Filmschnei<strong>de</strong>ns. Trotz <strong><strong>de</strong>r</strong> vielen<br />

unterschiedlichen Antworten zeichnet<br />

sich doch eine Ten<strong>de</strong>nz unter <strong>de</strong>n<br />

befragten Stu<strong>de</strong>nten ab: Politisches<br />

Engagement manifestiert sich bei <strong>de</strong>n<br />

me<strong>ist</strong>en als eine „aktive Passivität“,<br />

so lässt es sich vielleicht am besten<br />

beschreiben.<br />

Ein Berliner Geschichtsstu<strong>de</strong>nt <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Humboldt-Universität drückt es so<br />

aus: „Ich bin passiver Beobachter, das<br />

aber sehr viel“.<br />

Die Vi<strong>de</strong>odokumentation <strong><strong>de</strong>r</strong> Umfrage:<br />

www.netzeitung.<strong>de</strong>/spezial/mythos68<br />

Neue Herausfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen schreien nach neuen<br />

Vorbil<strong><strong>de</strong>r</strong>n. Präsentiert uns „Die Linke.SDS“<br />

bald einen neuen Rudi Dutschke?<br />

Der SDS <strong>von</strong> 68 betrachtete die<br />

Hochschulen als <strong>Teil</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft,<br />

<strong>de</strong>n man nur verän<strong><strong>de</strong>r</strong>n kann, wenn<br />

man die ganze Gesellschaft verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t.<br />

Der Kampf für Demokratie sowie<br />

gegen Krieg und Kapitalismus <strong>ist</strong><br />

damals wie heute ein Kampf auch für<br />

die Freiheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Wissenschaft. Rudi<br />

Dutschke war hier ein be<strong>de</strong>uten<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Protagon<strong>ist</strong>, und vielleicht können<br />

wir einiges <strong>von</strong> ihm lernen, aber mit<br />

bloßem Pflegen <strong>von</strong> Ikonen kommen<br />

wir sicher nicht weiter.


mythos68 | April 2008 universitär<br />

„BURN, WARE-HOUSE, BURN!“<br />

Die Frankfurter Kaufhausbrandstiftungen im April 1968 markieren <strong>de</strong>n Beginn <strong>de</strong>s RAF-Kampfes gegen das System BRD. Doch wo kam dieser radikale I<strong>de</strong>alismus her?<br />

Liegen die Wurzeln <strong>de</strong>s linken Terrorismus in <strong><strong>de</strong>r</strong> Protestkultur <strong>von</strong> 68? Wie aus Stu<strong>de</strong>nten Staatsfein<strong>de</strong> wur<strong>de</strong>n: Eine Spurensuche.<br />

Es <strong>ist</strong> die Nacht vom 2. auf <strong>de</strong>n 3.<br />

April 1968. Kurz nach Mitternacht<br />

mel<strong>de</strong>t ein Unbekannter <strong><strong>de</strong>r</strong> Deutschen<br />

Presseagentur in Frankfurt am<br />

Main: „Gleich brennt’s bei Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

und im Kaufhof. Es <strong>ist</strong> ein politischer<br />

Racheakt.“ Minuten nach diesem<br />

Anruf fressen sich die Feuerflammen<br />

bereits lichterloh durch das Mobiliar<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> besagten Einkaufspaläste in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Mainmetropole. Die angerückte Feuerwehr<br />

hat die Brän<strong>de</strong> zwar schnell<br />

unter Kontrolle, doch durch die<br />

eingeschalteten Sprinkler überfluten<br />

tausen<strong>de</strong> Liter Löschwasser die Kaufhausetagen.<br />

Der Sachscha<strong>de</strong>n beträgt<br />

fast 700.000 Mark. Schnell steht<br />

fest: Es han<strong>de</strong>lt sich um Brandstiftung.<br />

Insgesamt drei kleine Bomben<br />

– zusammengebastelt aus Benzin,<br />

Weckern und Tesafilm – wur<strong>de</strong>n zuvor<br />

in Schränken versteckt und lösten<br />

um 24 Uhr die Feuer aus. Nur zwei<br />

Tage später wer<strong>de</strong>n vier Verdächtige<br />

festgenommen: Allesamt Mitte 20<br />

und mit Kontakten zur Stu<strong>de</strong>ntenbewegung.<br />

Unter ihnen sind auch zwei<br />

Personen, die Jahre später die <strong>de</strong>utsche<br />

Geschichte entschei<strong>de</strong>nd mitprägen<br />

sollten. Ihre Namen: Andreas Baa<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

und Gudrun Ensslin, die Mitbegrün<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Roten Armee Fraktion.<br />

Ein Brandanschlag auf Einkaufspaläste<br />

– war das die Antwort auf<br />

gesellschaftliche Repressionen und<br />

Polizeigewalt? Auf die bürgerliche<br />

Spießigkeit, <strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> sich so zahlreiche<br />

Jugendliche und Studieren<strong>de</strong><br />

Mao Zedong<br />

(1893 – 1976)<br />

„Alles, was <strong><strong>de</strong>r</strong> Feind bekämpft,<br />

müssen wir unterstützen. Alles,<br />

was <strong><strong>de</strong>r</strong> Feind unterstützt,<br />

müssen wir bekämpfen.“<br />

abgrenzen wollten? Klar <strong>ist</strong>: Nach<br />

<strong>de</strong>m tödlichen Polizeischuss auf<br />

Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967<br />

radikalisierten sich die Stu<strong>de</strong>ntenvereinigungen<br />

in Berlin, Frankfurt,<br />

München und an<strong><strong>de</strong>r</strong>en <strong>de</strong>utschen<br />

Städten immer mehr. Die Aktionen<br />

wur<strong>de</strong>n zunehmend provokanter, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Ton härter. Und so wur<strong>de</strong> auch diskutiert,<br />

ob man „Gewalt gegen Sachen“<br />

als legitimes Mittel <strong>de</strong>s politischen<br />

Protests anerkennen könne. Andreas<br />

Baa<strong><strong>de</strong>r</strong>, 24, und die Pfarrerstochter<br />

Gudrun Ensslin, 28 und German<strong>ist</strong>ikstu<strong>de</strong>ntin<br />

an <strong><strong>de</strong>r</strong> FU Berlin,<br />

bekommen all diese Entwicklungen<br />

mit. Ob <strong><strong>de</strong>r</strong> Vietnamkongress o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Demos für mehr Mitbestimmung:<br />

Bei<strong>de</strong> waren sie dabei. Zu dieser Zeit<br />

hatte Ensslin auch erste Kontakte zu<br />

Rudi Dutschke und an<strong><strong>de</strong>r</strong>en SDS-<br />

Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong>n geknüpft. Baa<strong><strong>de</strong>r</strong> war<br />

weniger als typischer Linker, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

vielmehr als draufgängerischer Macho<br />

bekannt. Die Härte <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>utschen<br />

Staatsordnung bekam <strong><strong>de</strong>r</strong> gebürtige<br />

Münchner früh zu spüren: Im Juni<br />

1962 kam es bei <strong>de</strong>n Schwabinger<br />

Krawallen zu harten Auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzungen<br />

zwischen Polizei und Jugendlichen.<br />

Anneliese Baa<strong><strong>de</strong>r</strong> erinnert sich<br />

an <strong>de</strong>n Kommentar ihres Sohnes:<br />

„Weißt du, Mutter: In einem Staat,<br />

wo Polizei mit Gummiknüppeln gegen<br />

singen<strong>de</strong> junge Leute vorgeht, da <strong>ist</strong><br />

etwas nicht in Ordnung.“<br />

Anfang 1968 sind Andreas Baa<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

und Gudrun Ensslin schon länger ein<br />

DER MäCHTIGE MAOIST<br />

Paar. Ihr gemeinsamer Hass auf das<br />

Establishment vereint sich in <strong>de</strong>m<br />

Eifer, etwas zu verän<strong><strong>de</strong>r</strong>n. Nur: Die<br />

bisherigen Protestaktionen waren<br />

für sie nicht genug. Durch bloßes<br />

Diskutieren könne keine Revolution<br />

ausgelöst wer<strong>de</strong>n, <strong><strong>de</strong>r</strong> SDS wäre schon<br />

längst „zu einem lahmen Verein abgesackt“.<br />

Der Schritt in die Illegalität<br />

also als logische Konsequenz?<br />

Bereits im Mai 1967 brannte ein<br />

Kaufhaus – allerdings nicht in Frankfurt<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> Berlin, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n in Brüssel.<br />

Bei <strong>de</strong>m Feuer im „A l´Innovation“<br />

starben mehr als 200 Menschen. Als<br />

Reaktion auf die Katastrophe gestaltete<br />

die Berliner Kommune 1 um Werner<br />

Langhans ein Flugblatt. Die Toten<br />

wur<strong>de</strong>n zwar bedauert, doch an<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits<br />

verglich man ihr Leid mit <strong>de</strong>m<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Napalmopfer im Vietnam: „Ein<br />

brennen<strong>de</strong>s Kaufhaus mit brennen<strong>de</strong>n<br />

Menschen vermittelte zum ersten Mal<br />

in einer europäischen Großstadt jenes<br />

kn<strong>ist</strong>ern<strong>de</strong> Vietnamgefühl, das wir in<br />

Berlin bislang noch missen müssen.“<br />

Noch <strong>de</strong>utlicher wur<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Ton im<br />

Flugblatt Nr. 2: „Wenn es irgendwo<br />

brennt in <strong><strong>de</strong>r</strong> nächsten Zeit, [...]<br />

seid bitte nicht überrascht. Brüssel<br />

hat uns die einzige Antwort darauf<br />

gegeben: Burn, ware-house, burn!“<br />

Waren diese Worte die Legitimation<br />

für Gewalt gegen Sachen, um Brandbomben<br />

in <strong>de</strong>utsche Kaufhäuser zu<br />

legen? Dass Baa<strong><strong>de</strong>r</strong> und Ensslin das<br />

Flugblatt gelesen haben, erscheint<br />

<strong>de</strong>nkbar. Inwieweit es sie jedoch bei<br />

Wer war er? Als ländlicher Guerillaführer befreite Mao China <strong>von</strong> jahrzehntelanger<br />

Besatzung. Nach <strong><strong>de</strong>r</strong> erfolgreichen Revolution gegen die national-<strong>de</strong>mokratische<br />

Regierung proklamierte Mao 1949 die Volksrepublik China. Als Staatsoberhaupt<br />

und Chef <strong><strong>de</strong>r</strong> Kommun<strong>ist</strong>ischen Partei bestimmte er fast 30 Jahre lang die<br />

Politik <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s, seine autoritäre Herrschaftsform ging als „Maoismus“ in die<br />

Geschichte ein. Im Rahmen seiner Kulturrevolution wur<strong>de</strong> ganz China umgewälzt,<br />

reaktionäre Kräfte zerschlagen und jegliche Kunst zensiert.<br />

Und heute? Maos Ge<strong>ist</strong> beeinflusst die politischen Geschicke <strong><strong>de</strong>r</strong> wirtschaftlich<br />

aufstreben<strong>de</strong>n Volksrepublik immer noch stark. So wären die diesjährigen<br />

Olympischen Spiele in Peking und ihre bombastische Inszenierung wohl ganz<br />

nach <strong>de</strong>m Geschmack <strong>de</strong>s Machthabers gewesen.<br />

ihrer eigenen Aktion beeinflusst hat,<br />

<strong>ist</strong> rein spekulativ.<br />

Im späteren Prozess – <strong><strong>de</strong>r</strong> sich<br />

mit munteren Angeklagten und<br />

dutzen<strong>de</strong>n Sympathisanten eher zu<br />

einem „Justizhappening“ entwickelt<br />

– unterstreicht Gudrun Ensslin <strong>de</strong>n<br />

politischen Hintergrund <strong><strong>de</strong>r</strong> Tat: „Ich<br />

interessiere mich nicht für ein paar<br />

verbrannte Schaumstoffmatratzen,<br />

ich re<strong>de</strong> <strong>von</strong> verbrannten Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

in Vietnam.“ Das Urteil: Drei Jahre<br />

Zuchthaus. Nach acht Monaten Haft<br />

kommen die Angeklagten auf freien<br />

Fuß, da <strong><strong>de</strong>r</strong>en Anwalt, <strong><strong>de</strong>r</strong> späterer<br />

Holocaust-Leugner Horst Mahler,<br />

Revision eingelegt hat.<br />

Diese <strong>ist</strong> noch nicht entschie<strong>de</strong>n,<br />

da befin<strong>de</strong>n sich Ensslin und Baa<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

schon auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Flucht, Richtung Paris.<br />

Sie tauchen unter. Nur ein knappes<br />

Jahr später, im Sommer 1970, lässt<br />

sich das Paar zusammen mit an<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

späteren RAF-Begrün<strong><strong>de</strong>r</strong>n in einem<br />

jordanischen Camp militärisch ausbil<strong>de</strong>n.<br />

Der Beginn einer neuen I<strong>de</strong>ologie:<br />

Von nun an sollten keine Bomben<br />

mehr auf Kaufhäuser geworfen wer<strong>de</strong>n<br />

– son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auf Menschen.<br />

Weiterführen<strong>de</strong> Lektüre im Programm <strong><strong>de</strong>r</strong> bpb:<br />

Anne Siemens: Für die RAF war er das System, für<br />

mich <strong><strong>de</strong>r</strong> Vater. Bereitstellungspauschale €4,00.<br />

Bestellnummer 1651.<br />

ikonen |<br />

Warum wur<strong>de</strong> er <strong>von</strong> <strong>de</strong>n 68ern verehrt?<br />

Für Mao konnte <strong><strong>de</strong>r</strong> Kapitalismus<br />

nur durch eine Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong>de</strong>s<br />

Menschen überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n.<br />

Seine „Mao-Bibel“ war für viele<br />

linke Stu<strong>de</strong>nten revolutionäre<br />

Pflichtlektüre. Dass infolge seiner<br />

politischen „Säuberungskampagnen“<br />

und seines diktatorischen<br />

Machtstrebens mehr als 30 Millionen<br />

Chinesen <strong>de</strong>n Tod fan<strong>de</strong>n,<br />

wur<strong>de</strong> dabei me<strong>ist</strong>ens kritiklos<br />

übersehen.<br />

21<br />

Von Tino Höfert


22<br />

gegenwärtig<br />

Erst waren es nur einige wenige,<br />

und sie hatten eine Vision. Spirituelle<br />

Werte, wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Glaube an Frie<strong>de</strong>n,<br />

Liebe und absolute individuelle Freiheit,<br />

fan<strong>de</strong>n über junge Leute mit<br />

Blumen im Haar plötzlich <strong>de</strong>n Weg<br />

in eine wohlstandsorientierte und<br />

vor Sicherheits<strong>de</strong>nken blin<strong>de</strong> Gesellschaft.<br />

Die sogenannten Hippies<br />

propagierten ein <strong>von</strong> bürgerlichen<br />

Tabus befreites Leben. Gemeinsam<br />

mit <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er-Bewegung war ihnen<br />

das Auflehnen gegen die bürgerlichspießigen<br />

Strukturen. Im Vergleich zu<br />

ihren revolutionsorientierten Altersgenossen<br />

dominierten dabei stärker individual<strong>ist</strong>ische<br />

Selbstverwirklichung<br />

als gesellschaftspolitische Konzepte.<br />

Gemeinsam hatten Hippies und 68er<br />

<strong>de</strong>nnoch viel. Die Jugend suchte sich<br />

selbst in <strong><strong>de</strong>r</strong> Bewusstseinserweiterung<br />

und ihr Glück in <strong><strong>de</strong>r</strong> freien Liebe. Und<br />

wie das eben <strong>ist</strong> mit Menschen, die<br />

1968. 1988. 2008.<br />

Irgendwie verrückt. Alle feiern 68.<br />

Genau 40 Jahre danach, und das,<br />

obwohl richtige Jubiläen erst nach 50<br />

Jahren begangen wer<strong>de</strong>n. Und wie sehr<br />

68 heroisiert wird! „Unser Kampf“ tönt<br />

da beispielsweise <strong><strong>de</strong>r</strong> damals 21-jährige<br />

Götz Aly <strong>von</strong> <strong>de</strong>n Bestsellerl<strong>ist</strong>en – die<br />

Titel-Anlehnung an „Mein Kampf“<br />

<strong>von</strong> 1924 <strong>ist</strong> bewusst unglücklich<br />

gewählt. Sicher, das war schon was:<br />

„Unser erfolgreicher Kampf“ gegen<br />

<strong>de</strong>n Vietnamkrieg, <strong>de</strong>n Schah <strong>von</strong><br />

Persien, gegen Spießbürgerlichkeit,<br />

Altnazis, BILD und sexuelle Verklemmtheit.<br />

Scha<strong>de</strong> nur, dass es <strong>Bild</strong><br />

immer noch so meinungsmanipulativ<br />

wie damals gibt. Und auch Spießbürgerlichkeit<br />

<strong>ist</strong>, sogar unter Alt-68ern,<br />

nicht ausgestorben. Von Alt- sowie<br />

Neunazis ganz zu schweigen.<br />

Irgendwo muss aber ein Sinn liegen,<br />

dass so viele Medien <strong><strong>de</strong>r</strong>zeit einem<br />

Hype erliegen, eine Generation zu<br />

feiern, die justamente das Pensionsalter<br />

<strong>de</strong>n Mut haben, neue Wege zu gehen,<br />

sie ziehen an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Menschen gera<strong>de</strong>zu<br />

magisch an. Wenn eine Bewegung <strong>de</strong>n<br />

Hedonismus zum Lebensinhalt erklärt<br />

und sexuelle Tabus zu einem Tabu,<br />

dann muss sie nicht lange warten,<br />

bis sie Zulauf fin<strong>de</strong>t. Denn wer sehnt<br />

sich nicht – damals wie heute – nach<br />

einem Leben ohne Begrenzung und<br />

Druck, nach Selbstverwirklichung<br />

und persönlicher Akzeptanz? So wird<br />

aus einem überschaubaren sozialen<br />

Experiment schon nach kurzer Zeit<br />

eine Massenbewegung.<br />

Doch schon zeigt sich die Kehrseite<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Medaille: Traumtänzer und<br />

Drogensüchtige wan<strong>de</strong>ln in bunten<br />

Gewän<strong><strong>de</strong>r</strong>n durch die Städte. Der<br />

Aufruf zu mehr Solidarität und gegenseitiger<br />

Unterstützung mutiert zur<br />

plumpen Ausre<strong>de</strong>, um die mangeln<strong>de</strong><br />

Bereitschaft, sich selbst produktiv in<br />

die Gemeinschaft einzubringen, zu<br />

erreicht. Das muss man diesen Alten<br />

lassen: ihre Selbstvermarktung <strong>ist</strong> hemmungslos.<br />

Welche an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Generation<br />

danach hat ähnliches vollbracht?<br />

Rechnen wir nach. Als am 11.<br />

April 1968 in Berlin die drei fatalen<br />

Schüsse auf Rudi Dutschke abgegeben<br />

wur<strong>de</strong>n, war <strong><strong>de</strong>r</strong> 1940 geborene<br />

Stu<strong>de</strong>ntenführer gera<strong>de</strong> 28 Jahre alt<br />

und die, die ihm in Hörsälen und auf<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Straße folgten, so zwischen 17<br />

und 30. Und wer regierte die Straße<br />

20 Jahre später, also 1988 in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

„next generation“? Richtig: keiner.<br />

O<strong><strong>de</strong>r</strong> doch: Zumin<strong>de</strong>st im Osten<br />

war die Bürgerrechtsbewegung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

DDR gera<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>m Weg, mal eben<br />

die friedliche Revolution 89 zu vollbringen,<br />

aber im Westen interessierte<br />

das nachhaltig wenig. Dort gab ein<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>er ab dieser Zeit <strong>de</strong>n Ton auf<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Straße an: Matthias Roeingh.<br />

Der damals 29-Jährige wuchs aus<br />

<strong>de</strong>m Nichts zum Straßenkämpfer für<br />

mythos68 | April 2008<br />

WENN SUBKULTUR ZUM MAINSTREAM WIRD<br />

40 Jahre nach 68 <strong>ist</strong> die Subkultur in <strong><strong>de</strong>r</strong> Masse aufgegangen.<br />

Aus einem überschaubaren sozialen Experiment wird eine<br />

Massenbewegung. Viele <strong><strong>de</strong>r</strong> damaligen I<strong>de</strong>ale scheinen verloren<br />

Trotz<strong>de</strong>m gibt’s ein fettes Dankeschön an 68.<br />

Von Sybille Pfeffer<br />

vertuschen. Was die Visionäre zuvor<br />

noch in letzter Konsequenz versuchen<br />

umzusetzen, verkommt immer mehr<br />

zu einem oberflächlichen Medienspektakel<br />

unreifer Teenager. Die Musikindustrie<br />

nutzt ihre Chance und nutzt<br />

professionelle Marketinginstrumente<br />

und ausgeklügelte PR-Strategien,<br />

um die Idole <strong><strong>de</strong>r</strong> Generation noch<br />

gewinnbringen<strong><strong>de</strong>r</strong> zu vermarkten. So<br />

<strong>ist</strong> anzunehmen, dass es nicht immer<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Ausdruck innerer Überzeugung<br />

<strong>ist</strong>, wie sich die Bands und Lie<strong><strong>de</strong>r</strong>macher<br />

präsentierten. Es <strong>ist</strong> oftmals<br />

nichts an<strong><strong>de</strong>r</strong>es als knallhartes Marketing<br />

– o<strong><strong>de</strong>r</strong> Corporate I<strong>de</strong>ntity, wie<br />

wir heute sagen – mit <strong>de</strong>m einzigen<br />

Ziel, die Verkaufszahlen noch weiter<br />

zu steigern.<br />

Am 6. Oktober 1967 – also schon<br />

zwei Jahre vor <strong>de</strong>m legendären Woodstock-Festival<br />

– wur<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Hippie und<br />

seine Kultur in einem riesigen Sarg<br />

symbolisch zu Grabe getragen. Der<br />

festliche Umzug durch Haight-Ashbury<br />

in San Francisco, <strong><strong>de</strong>r</strong> Keimzelle<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Flower-Power-Subkultur, war ein<br />

Auflehnen gegen ihre immer stärkere<br />

Kommerzialisierung und Fehlinterpretation.<br />

Who‘s next? Ein Zwischenruf. Von Holger Kulick<br />

alle, die 1960 und später das Licht<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Welt erblickten. Er führte im Juli<br />

1989 als „Dr. Motte“ getarnt die erste<br />

„Lovepara<strong>de</strong>“ über <strong>de</strong>n Ku‘damm.<br />

Zunächst nur mit 150 Techno-<br />

Getreuen, später mit zwei Millionen.<br />

Seine „Tanzbewegung“ applaudierte<br />

je<strong>de</strong>s Jahr <strong>de</strong>n abgehobenen Re<strong>de</strong>n<br />

ihres Gurus, <strong><strong>de</strong>r</strong> zu Füßen <strong><strong>de</strong>r</strong> Berliner<br />

Siegessäule ernsthaft „Frie<strong>de</strong>, Freu<strong>de</strong>,<br />

Eierkuchen“ postulierte und nebenher<br />

<strong>de</strong>m Demonstrationsrecht ein neues<br />

Gesicht verlieh: Seine markenrechtlich<br />

geschützte Kommerz-“Lovepara<strong>de</strong>“<br />

wur<strong>de</strong> als politische Demonstration<br />

anerkannt. Durch wen? Wahrscheinlich<br />

Alt-68er, die als Jur<strong>ist</strong>en in <strong>de</strong>n<br />

zuständigen Institutionen saßen.<br />

Aber Roeingh und sein Ruhm sind<br />

trotz<strong>de</strong>m verpufft, und die Alt-68er<br />

können umso stolzer zeigen: „Ätsch,<br />

wir sind immer noch da!“ Doch: for<br />

what? Denn was <strong>ist</strong> heute? Stellt sich<br />

<strong>de</strong>nen 40 Jahre später niemand ent-<br />

Fatal<strong>ist</strong>en mögen behaupten, das<br />

alternative Lebensmo<strong>de</strong>ll <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er-<br />

Generation sei gescheitert und in<br />

einer Welt <strong><strong>de</strong>r</strong> freien Marktwirtschaft<br />

schlicht nicht praktikabel. Im neuen<br />

Jahrtausend fin<strong>de</strong>n wir uns in einer<br />

globalen Gesellschaft wie<strong><strong>de</strong>r</strong>, die sich<br />

mehr <strong>de</strong>nn je an <strong>de</strong>n Maximen <strong>de</strong>s<br />

Profits ausrichtet, sinnlose Kriege führt<br />

und vor sozialer Ungleichheit strotzt.<br />

Vielleicht <strong>ist</strong> ein Zusammenleben in<br />

Frie<strong>de</strong>n und Solidarität tatsächlich<br />

(noch) nicht massentauglich.<br />

Doch mitunter haben wir es dieser<br />

Generation <strong>von</strong> Visionären zu verdanken,<br />

dass wir heute als einzelne<br />

Individuen die Wahl haben, wie wir<br />

in dieser kapital<strong>ist</strong>ischen Welt leben<br />

wollen. Ob mono- o<strong><strong>de</strong>r</strong> polygam, lesbisch,<br />

schwul, mit Fetisch o<strong><strong>de</strong>r</strong> ohne,<br />

meditierend, betend, athe<strong>ist</strong>isch: Die<br />

Allgemeinheit <strong>ist</strong> toleranter gewor<strong>de</strong>n,<br />

offener, vielleicht sogar menschlicher.<br />

Gescheitert o<strong><strong>de</strong>r</strong> nicht, eines steht<br />

je<strong>de</strong>nfalls fest: Die Blumenkin<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

haben <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Horizont<br />

erweitert. Und dafür haben sie ein<br />

dickes fettes Dankeschön verdient!<br />

gegen und setzt überfällige Impulse<br />

für die kommen<strong>de</strong> Zeit? Wo <strong>ist</strong> anno<br />

2008 die eigene Generation versteckt?<br />

Genießt sie ganz einfach nur jene<br />

Freiheit, die 68er für sie eroberten?<br />

Und wenn ja, wie füllt sie diese<br />

aus? Mit Komasaufen, freundlichen<br />

G8-Besuchen, Konsumterror und<br />

Endlos-Chatten im Netz? Ein Lichtblick<br />

verspricht das Jugendfestival<br />

Berlin 08 zu wer<strong>de</strong>n. Mehrere Tausend<br />

junger Leute treffen sich ein Wochenen<strong>de</strong><br />

lang in <strong><strong>de</strong>r</strong> Berliner Wuhlhei<strong>de</strong>,<br />

um über Politik und Gesellschaft<br />

zu diskutieren. Wer weiß: Vielleicht<br />

treten sie eine neue Jugendbewegung<br />

in Gang. Denn es <strong>ist</strong> nicht mehr 1968.<br />

Es <strong>ist</strong> 2008. Es <strong>ist</strong> an <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit.<br />

Ausführliche Informationen über Berlin 08 unter<br />

http://www.du-machst.<strong>de</strong>/berlin08


mythos68 | April 2008 Glossar<br />

APO – Außerparlamentarische Opposition<br />

Bezeichnung für die antiautoritäre Protestbewegung, die in <strong><strong>de</strong>r</strong> Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland Mitte bis En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> 60er<br />

Jahre Jahre vor allem <strong>von</strong> Stu<strong>de</strong>nten und Jugendlichen getragen wur<strong>de</strong> und die versuchte, (neue radikale) politische<br />

Vorstellungen und gesellschaftliche Reformen (z.T. mittels provokativer Protestaktionen) durchzusetzen bzw. restriktive<br />

Maßnahmen zu verhin<strong><strong>de</strong>r</strong>n (z.B. Notstandsgesetzgebung). Vergleichbare Protestbewegungen gab es in an<strong><strong>de</strong>r</strong>en westlichen<br />

Län<strong><strong>de</strong>r</strong>n. Die APO wur<strong>de</strong> durch die Schwäche <strong><strong>de</strong>r</strong> parlamentarischen Opposition nach 1966 zu einer wichtigen<br />

politischen Kraft und verlor nach En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Großen Koalition (1969) rasch an politischer Be<strong>de</strong>utung.<br />

Quelle: Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon 4., aktual. Aufl. Bonn: Dietz 2006.<br />

Gruppe 47<br />

Die Gruppe 47 war eine <strong>von</strong> Hans Werner Richter 1947 gegrün<strong>de</strong>te Vereinigung <strong>von</strong> Autoren und Literaturkritikern.<br />

Sie strebten in ihrem literarischen Schreiben eine Reinigung <strong><strong>de</strong>r</strong> durch <strong>de</strong>n Nationalsozialismus verseuchten Sprache an<br />

und wollten zu neuen, real<strong>ist</strong>ischen und betont nüchternen Beschreibungskategorien gelangen. Bei <strong>de</strong>n regelmäßigen<br />

Herbsttreffen <strong><strong>de</strong>r</strong> Gruppe lasen die me<strong>ist</strong>en be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n Schriftsteller <strong><strong>de</strong>r</strong> Bun<strong>de</strong>srepublik ihre Manuskripte vor und<br />

stellten sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Kritik <strong>de</strong>s Kreises. Seit 1950 wur<strong>de</strong> in unregelmäßigen Abstän<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> „Preis <strong><strong>de</strong>r</strong> Gruppe 47“ vergeben.<br />

Die Treffen, auf <strong>de</strong>nen auch wichtige Verleger anwesend waren, wur<strong>de</strong>n zur tonangeben<strong>de</strong>n Literaturmesse. Den For<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen<br />

nach einem klaren politischen Standpunkt, wie er in <strong>de</strong>n 60er Jahren <strong>von</strong> jüngeren Schriftstellern vertreten<br />

wur<strong>de</strong>, konnte die Gruppe 47 nicht mehr entsprechen. Das letzte öffentliche Treffen fand 1967 statt.<br />

Quelle: Axel Schildt: Rebellion und Reform. Die Bun<strong>de</strong>srepublik <strong><strong>de</strong>r</strong> Sechzigerjahre, Bonn 2005.<br />

Aus <strong><strong>de</strong>r</strong> bpb-Reihe „Zeitbil<strong><strong>de</strong>r</strong>“.<br />

Notstandsgesetze<br />

Die sogenannten Notstandsgesetze gehen zurück auf eine For<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong><strong>de</strong>r</strong> Alliierten nach <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Zweiten<br />

Weltkriegs, die ihre dort stationierten Truppen geschützt sehen wollten. Diese gesetzlichen Vorbehalte wur<strong>de</strong>n im Besatzungsstatut<br />

<strong>von</strong> 1949 und im Deutschlandvertrag <strong>von</strong> 1952 geregelt, bis die Bun<strong>de</strong>srepublik 1955 ihre volle staatliche<br />

Souveränität erhielt. Das Grundgesetz hatte ursprünglich mit Rücksicht auf die schlechten Erfahrungen aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Weimarer Republik nur wenige und lückenhafte Bestimmungen enthalten, auf <strong><strong>de</strong>r</strong>en Grundlage die staatlichen Organe<br />

Notstandssituationen – Unruhen, Spannungen etc. – begegnen konnten. Heftige Auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzungen entwickelten<br />

sich in <strong>de</strong>n 60er Jahren vor allem <strong>de</strong>shalb, weil unter Fe<strong><strong>de</strong>r</strong>führung <strong>de</strong>s Innenmin<strong>ist</strong>eriums – zunächst – geheime<br />

Pläne („Schubla<strong>de</strong>ngesetze“) entwickelt wur<strong>de</strong>n. Danach sollte im Verteidigungsfall, im „Spannungsfall“, beim inneren<br />

Notstand und im Katastrophenfall die gesetzgeben<strong>de</strong> Gewalt auf die Bun<strong>de</strong>sregierung übergehen. Die sozial<strong>de</strong>mokratische<br />

Opposition im Bun<strong>de</strong>stag hatte die Notstandsgesetze <strong>de</strong>shalb strikt abgelehnt. In <strong>de</strong>n Verhandlungen zur <strong>Bild</strong>ung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Großen Koalition wur<strong>de</strong> dagegen vereinbart, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Bun<strong>de</strong>stag in einem Rumpfparlament <strong>von</strong> 33 Abgeordneten<br />

gemäß seiner politischen Zusammensetzung als Kontrollorgan vorzusehen sei. Das Notstandsgesetz wur<strong>de</strong> als 17.<br />

Gesetz zur än<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong>de</strong>s Grundgesetzes am 24. Juni 1968 mit <strong>de</strong>n Stimmen <strong><strong>de</strong>r</strong> Parteien <strong><strong>de</strong>r</strong> Großen Koalition gegen<br />

einige Abweichler aus <strong>de</strong>n Reihen <strong><strong>de</strong>r</strong> SPD und gegen die Stimmen <strong><strong>de</strong>r</strong> FDP-Fraktion mit <strong><strong>de</strong>r</strong> notwendigen Zweidrittel-<br />

Mehrheit verabschie<strong>de</strong>t.<br />

Quelle: Axel Schildt: Rebellion und Reform. Die Bun<strong>de</strong>srepublik <strong><strong>de</strong>r</strong> Sechzigerjahre, Bonn 2005.<br />

Aus <strong><strong>de</strong>r</strong> bpb-Reihe „Zeitbil<strong><strong>de</strong>r</strong>“.<br />

Prager Frühling<br />

Dieser Begriff kennzeichnet <strong>de</strong>n Versuch <strong><strong>de</strong>r</strong> neuen Parteiführung <strong><strong>de</strong>r</strong> tschechoslowakischen Kommun<strong>ist</strong>en unter Alexan<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Dubcek <strong>von</strong> Januar bis August 1968, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu verwirklichen, d.h., unter<br />

Vorbehalt <strong><strong>de</strong>r</strong> „führen<strong>de</strong>n Rolle <strong><strong>de</strong>r</strong> Partei“ bürgerliche Freiheiten (Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit usw.) zu realisieren.<br />

Die Sowjetunion betrachtete <strong>de</strong>n Prager Frühling jedoch als eine Gefahr für die Einheitlichkeit <strong>de</strong>s Ostblocks. Auch<br />

die Einheitspartei <strong><strong>de</strong>r</strong> DDR, die SED, griff <strong>de</strong>n Kurs <strong><strong>de</strong>r</strong> neuen tschechoslowakischen Parteiführung als konterrevolutionär<br />

und frie<strong>de</strong>nsgefähr<strong>de</strong>nd an. Durch <strong>de</strong>n Einmarsch <strong>von</strong> Truppen <strong><strong>de</strong>r</strong> Sowjetunion und weiterer Staaten <strong>de</strong>s Warschauer<br />

Pakts (Truppen <strong><strong>de</strong>r</strong> Nationalen Volksarmee <strong><strong>de</strong>r</strong> DDR überschritten die Grenze nicht) am 20./21. August 1968 wur<strong>de</strong> das<br />

Reformexperiment gewaltsam been<strong>de</strong>t.<br />

Quelle: Axel Schildt: Rebellion und Reform. Die Bun<strong>de</strong>srepublik <strong><strong>de</strong>r</strong> Sechzigerjahre, Bonn 2005.<br />

Aus <strong><strong>de</strong>r</strong> bpb-Reihe „Zeitbil<strong><strong>de</strong>r</strong>“.<br />

Weiterführen<strong>de</strong> Lektüre im Programm <strong><strong>de</strong>r</strong> bpb<br />

zu bestellen unter www.bpb.<strong>de</strong>/shop<br />

Norbert Frei: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest<br />

(Mitte April 2008)<br />

Bestellnummer: 1699 Bereitstellungspauschale: 4,00 €<br />

Bernd Greiner: Krieg ohne Fronten – Die USA in<br />

Vietnam (2007)<br />

Bestellnummer: 1648 Bereitstellungspauschale: 6,00 €<br />

Götz Aly: Unser Kampf. 1968 – Ein irritierter Blick<br />

zurück (Mai 2008)<br />

Bestellnummer: 1696 Bereitstellungspauschale: 4,00 €<br />

Peter Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong>: Rebellion und Wahn. Mein 68 –<br />

Eine autobiographische Erzählung (2008)<br />

Bestellnummer: 1701 Bereitstellungspauschale: 4,00 €<br />

Weitere Informationen unter: www.bpb.<strong>de</strong>/1968<br />

Axel Schildt: Zeitbil<strong><strong>de</strong>r</strong>: Rebellion und Reform –<br />

Die Bun<strong>de</strong>srepublik <strong><strong>de</strong>r</strong> Sechzigerjahre (2005)<br />

Bestellnummer: 3962 Bereitstellungspauschale: 2,00 €<br />

Stefan Wolle: Zeitbil<strong><strong>de</strong>r</strong>: Aufbruch in die Stagnation –<br />

Die DDR in <strong>de</strong>n Sechzigerjahren (2005)<br />

Bestellnummer: 3961 Bereitstellungspauschale: 2,00 €<br />

Stefan Wolle: Die heile Welt <strong><strong>de</strong>r</strong> Diktatur (1999)<br />

Bestellnummer: 1349 Bereitstellungspauschale: 2,00 €<br />

Aus Politik und Zeitgeschichte 14-15/2008: 1968<br />

Bestellnummer 7814<br />

Aus Politik und Zeitgeschichte 20/08: Prager Frühling<br />

Bestellnummer 7820 (Mitte Mai 2008)<br />

Der Sozial<strong>ist</strong>ische Deutsche Stu<strong>de</strong>ntenbund (SDS)<br />

23<br />

wur<strong>de</strong> nach <strong>de</strong>m Zweiten Weltkrieg als Stu<strong>de</strong>ntenorganisation <strong><strong>de</strong>r</strong> SPD gegrün<strong>de</strong>t. Zahlreiche spätere Parteifunktionäre,<br />

etwa Helmut Schmidt, begannen ihre politische Karriere im SDS. Nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Verabschiedung <strong>de</strong>s sozial<strong>de</strong>mokratischen<br />

Go<strong>de</strong>sberger Programms 1959 begann sich <strong><strong>de</strong>r</strong> SDS – im schroffen Gegensatz zur SPD – immer weiter nach<br />

links zu wen<strong>de</strong>n, woraufhin die SPD ihren Stu<strong>de</strong>ntenverband ausschloss. In <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Jahren wur<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> SDS<br />

zum Sammelbecken verschie<strong>de</strong>ner linker Strömungen, die jeweils die relativ kleinen Gruppen <strong><strong>de</strong>r</strong> Universitätsstädte<br />

dominierten: Vertreter einer sozial<strong>ist</strong>ischen Neuen Linken zwischen Sozial<strong>de</strong>mokratie und Kommunismus, Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> illegalen Kommun<strong>ist</strong>ischen Partei und zunehmend Anhänger einer antiautoritären Bewegung, die nicht mehr im<br />

Proletariat, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n in gesellschaftlichen Randgruppen, etwa <strong>de</strong>n noch nicht ins „System“ integrierten Stu<strong>de</strong>nten, das<br />

Subjekt revolutionärer Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen erblickten. Vor allem die zuletzt genannte antiautoritäre Strömung wur<strong>de</strong> zum<br />

Kern <strong><strong>de</strong>r</strong> spektakulären Jugendproteste, die das letzte Drittel <strong><strong>de</strong>r</strong> 60er Jahre prägten, obwohl sie wohl nur etwa die<br />

Hälfte <strong><strong>de</strong>r</strong> wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um 2 000 bis maximal 4 000 Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s SDS stellte.<br />

Quelle: Axel Schildt: Rebellion und Reform. Die Bun<strong>de</strong>srepublik <strong><strong>de</strong>r</strong> Sechzigerjahre, Bonn 2005.<br />

Aus <strong><strong>de</strong>r</strong> bpb-Reihe „Zeitbil<strong><strong>de</strong>r</strong>“.<br />

„Spiegel“-Affäre<br />

Die als „Spiegel“-Affäre bekannte Episo<strong>de</strong> war in Wirklichkeit eine Strauß-Affäre. Am 10. Oktober 1962 analysierte<br />

ein „Spiegel“-Artikel unter <strong>de</strong>m Titel „Bedingt abwehrbereit“ das NATO-Stabsmanöver „Fallex 61“. Er kam zu <strong>de</strong>m<br />

Schluß, daß die Verteidigung <strong><strong>de</strong>r</strong> Bun<strong>de</strong>srepublik im Falle eines Angriffs <strong>de</strong>s Warschauer Pakts keineswegs gesichert sei<br />

und daß das Konzept <strong>de</strong>s vorbeugen<strong>de</strong>n Schlages <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n eher gefähr<strong>de</strong>te als sicherte.<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> Nacht vom 26. zum 27. Oktober 1962, achtzehn Tage nach <strong>de</strong>m Erscheinen <strong>de</strong>s Artikels, wur<strong>de</strong>n die Redaktionsräume<br />

<strong>de</strong>s „Spiegel“ in Hamburg, die „Spiegel“-Redaktion in Bonn und mehrere Privatwohnungen im Hamburg <strong>von</strong><br />

Beamten <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>skriminalamtes und <strong><strong>de</strong>r</strong> Hamburger Polizei durchsucht. Der eigentlich zuständige Bun<strong>de</strong>sjustizmin<strong>ist</strong>er<br />

Wolfgang Stammberger (FDP) wur<strong>de</strong> ebenso wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Hamburger Innensenator Helmut Schmidt (SPD) gar nicht<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> erst verspätet informiert. Die Verhaftung <strong>de</strong>s Artikelschreibers Conrad Ahlers während seines Urlaubs in Spanien<br />

hatte – wie sich später herausstellte – Verteidigungsmin<strong>ist</strong>er Strauß unter Umgehung <strong>de</strong>s Auswärtigen Amtes über <strong>de</strong>n<br />

Militärattaché an <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>utschen Botschaft in Madrid veranlasst.<br />

Der „Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein, <strong><strong>de</strong>r</strong> Ver<br />

lagsdirektor und mehrere leiten<strong>de</strong> Redakteure wur<strong>de</strong>n verhaftet. Angeordnet hatte diese Maßnahmen die Bun<strong>de</strong>sanwaltschaft<br />

in Karlsruhe, nach<strong>de</strong>m ein <strong>von</strong> ihr angefor<strong><strong>de</strong>r</strong>tes Gutachten <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverteidigungsmin<strong>ist</strong>eriums am<br />

19. Oktober zu <strong>de</strong>m Ergebnis gekommen war, daß <strong><strong>de</strong>r</strong> „Spiegel“-Artikel „Bedingt abwehrbereit“ geheimzuhalten<strong>de</strong><br />

Tatsachen veröffentlicht habe, die er durch Verrat <strong>von</strong> Angehörigen <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverteidigungsmin<strong>ist</strong>eriums erhalten<br />

habe. Die Begründungen für die Haftbefehle lauteten auf Tatverdacht <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>sverrats, <strong><strong>de</strong>r</strong> lan<strong>de</strong>sverräterischen<br />

Fälschung und <strong><strong>de</strong>r</strong> aktiven Bestechung.<br />

Die „Spiegel“-Affäre führte zu einer Regierungskrise: Die FDP-Fraktion for<strong><strong>de</strong>r</strong>te wie die SPD <strong>de</strong>n Rücktritt <strong>von</strong> Verteidigungsmin<strong>ist</strong>er<br />

Strauß und zog ihre fünf Min<strong>ist</strong>er aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Regierung zurück. Bun<strong>de</strong>skanzler Konrad A<strong>de</strong>nauer bil<strong>de</strong>te<br />

am 14. Dezember ein neues Kabinett, <strong>de</strong>m Strauß nicht mehr angehörte, und kündigte seinen Rücktritt für <strong>de</strong>n Herbst<br />

1963 an. Darüber hinaus hatte die „Spiegel“-Krise weitreichen<strong>de</strong> Folgen für die politische Kultur <strong><strong>de</strong>r</strong> Bun<strong>de</strong>srepublik<br />

Deutschland.<br />

Quelle: Informationen zur politischen <strong>Bild</strong>ung: Zeiten <strong>de</strong>s Wan<strong>de</strong>ls (Heft 258)<br />

Vietnamkrieg<br />

Die 68er: Ausstellung in Frankfurt<br />

Nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Nie<strong><strong>de</strong>r</strong>lage <strong><strong>de</strong>r</strong> französischen Truppen gegen die kommun<strong>ist</strong>isch geführte Unabhängigkeitsbewegung in<br />

Vietnam 1954 verfestigte sich die Trennung <strong>de</strong>s ehemals französischen Kolonialbesitzes in zwei Staaten: <strong>de</strong>n kommun<strong>ist</strong>ischen<br />

Nor<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>n bald <strong>von</strong> korrupten Diktatoren geführten Sü<strong>de</strong>n. Amerikanische Truppen engagierten sich<br />

zunehmend in Südvietnam. Sie wollten die dort im Untergrund kämpfen<strong>de</strong>n Vietcong-Rebellen bekämpfen, die sich<br />

für eine Vereinigung mit <strong>de</strong>m kommun<strong>ist</strong>ischen Nor<strong>de</strong>n aussprachen und <strong>von</strong> diesem unterstützt wur<strong>de</strong>n. Mitte <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

60er traten die USA auch offiziell in <strong>de</strong>n Krieg ein und suchten eine Entscheidung durch ein Flächenbombar<strong>de</strong>ment<br />

Nordvietnams. Auch im Sü<strong>de</strong>n setzten die US-Truppen die Strategie großflächiger Entlaubung <strong>von</strong> Dschungelgebieten<br />

ein, um <strong>de</strong>m Vietcong sein Operationsfeld zu nehmen. Dennoch dominierten diese seit einer großen Offensive 1968<br />

das Kriegsgeschehen. Der grausam geführte Krieg gilt als erster Fernsehkrieg <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte. Seine <strong>Bild</strong>er ließen<br />

in <strong>de</strong>n USA auch angesichts <strong>von</strong> 40.000 eigenen Opfern selbst eine mächtige Antikriegsbewegung entstehen. Der<br />

Vietnamkrieg galt für die jugendliche Protestbewegung in <strong><strong>de</strong>r</strong> gesamten westlichen Welt als Beweis für <strong>de</strong>n Verrat aller<br />

humanitären I<strong>de</strong>ale durch die westlichen Kriegsparteien.<br />

Quelle: Axel Schildt: Rebellion und Reform. Die Bun<strong>de</strong>srepublik <strong><strong>de</strong>r</strong> Sechzigerjahre, Bonn 2005.<br />

Aus <strong><strong>de</strong>r</strong> bpb-Reihe „Zeitbil<strong><strong>de</strong>r</strong>“.<br />

Das Jahr steht als Chiffre für die Stu<strong>de</strong>ntenproteste in <strong><strong>de</strong>r</strong> zweiten Hälfte <strong><strong>de</strong>r</strong> 60er Jahre Jahre, für ihre Vorgeschichte und ihre lange<br />

Wirkung bis heute. Es markiert eine <strong><strong>de</strong>r</strong> nachhaltigsten Zäsuren <strong><strong>de</strong>r</strong> Nachkriegsgeschichte. Frankfurt am Main war neben Berlin <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

wichtigste Schauplatz <strong><strong>de</strong>r</strong> Revolte in Deutschland. 2008 fin<strong>de</strong>t in Frankfurt eine umfassen<strong>de</strong> Ausstellung zum Thema statt – eingebettet in<br />

einen vielseitigen Veranstaltungssommer zu 1968. Die Ausstellung <strong>ist</strong> als groß angelegtes Erinnerungspanorama multimedial aufgebaut.<br />

Präsentiert wer<strong>de</strong>n auf 700 qm ca. 700 Originaldokumente wie Flugblätter, Zeitschriften, Transparente, o<strong><strong>de</strong>r</strong> Wandzeitungen, Fotografien,<br />

Alltagsobjekte, Ton- und Vi<strong>de</strong>oaufnahmen, Musikbeispiele sowie Interviews mit Protagon<strong>ist</strong>en.<br />

„Die 68er“ fin<strong>de</strong>t im H<strong>ist</strong>orischen Museum, Saalgasse 19, Frankfurt am Main statt. Die Ausstellung <strong>ist</strong> geöffnet vom 1. Mai bis 31. August<br />

2008, Dienstag bis Sonntag <strong>von</strong> 10 bis 18 Uhr, Mittwoch <strong>von</strong> 10 bis 21 Uhr. Der Eintritt beträgt 6 Euro (ermäßigt 3 Euro). Führung nach<br />

Anmeldung möglich. Weitere Informationen unter www.die-68er.<strong>de</strong>.


24<br />

gegenwärtig<br />

SCHAUMSCHLäGER ODER BOMBENLEGER?<br />

WAS HEUTIGE MEDIEN BEWEGT.<br />

Medien und 68. Vielschichtig <strong>ist</strong> diese nunmehr 40 Jahre andauern<strong>de</strong> Beziehung<br />

schon immer gewesen. Von Sandra Bieler<br />

Während die BILD-Zeitung kein<br />

gutes Haar an Dutschke & Co. ließ,<br />

setzten die jungen Rebellen kurzerhand<br />

auf eine Gegenöffentlichkeit.<br />

Prächtig verstan<strong>de</strong>n sie es, sich in<br />

Szene zu setzen. Eine <strong><strong>de</strong>r</strong> berühmtesten<br />

Fotografien <strong>von</strong> damals: Ein <strong>Bild</strong>, auf<br />

<strong>de</strong>m die Kommunar<strong>de</strong>n nackt an einer<br />

Wand posieren.<br />

Auch heute noch ziert dieses <strong>Bild</strong><br />

zahlreiche Medien. Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t allerdings<br />

hat sich das Ausmaß an Öffentlichkeit,<br />

das die 68er heute genießen.<br />

In einem scheint man sich einig zu<br />

sein: Wer zum 40jährigen Jubiläum<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Jugendrevolte hip sein will, bringt<br />

die 68er auf <strong>de</strong>n Titel. Sie begegneten<br />

uns in informativ-ironischen<br />

Artikelserien beim SPIEGEL o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong>de</strong>tailreichen Son<strong><strong>de</strong>r</strong>ausgaben in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

ZEIT. Mit aufreizen<strong>de</strong>n Fotokollagen<br />

will <strong><strong>de</strong>r</strong> Stern die Sinne reizen, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Fernsehsen<strong><strong>de</strong>r</strong> ARTE versucht dasselbe<br />

mit seinem musikreichen ´Summer of<br />

Love`. Unter <strong>de</strong>n Top Ten <strong>de</strong>s medialen<br />

Schlagabtauschs: freie Liebe, die<br />

heutige Be<strong>de</strong>utung <strong>von</strong> 68 und die<br />

Gewaltfrage.<br />

Für die einen <strong>ist</strong> die Erinnerung an<br />

die 68er und ihre Ziele sehr unbequem,<br />

für die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en einfach ein Quotenfänger<br />

mit Vorführeffekt. Angesichts <strong>de</strong>s<br />

medialen 68er-Overkills sind außergewöhnliche<br />

I<strong>de</strong>en willkommen. So<br />

lässt <strong><strong>de</strong>r</strong> SPIEGEL beispielsweise die<br />

ergrauten Kommune-1-Bewohner<br />

auf einem Friedhof zusammentreffen.<br />

Einer <strong>von</strong> ihnen, bemerkt <strong><strong>de</strong>r</strong> Autor<br />

dabei süffisant, sehe heute so aus „wie<br />

einer jener Rentner, die er 40 Jahre<br />

zuvor auf <strong>de</strong>m Ku´damm erschreckt<br />

hat“. Ironie und D<strong>ist</strong>anz – das <strong>ist</strong> die<br />

Antwort <strong><strong>de</strong>r</strong> ehemaligen Stimme <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

kritischen Gegenöffentlichkeit beim<br />

Rückblick ins eigene Antlitz. Die<br />

Frage nach <strong>de</strong>m Erreichten <strong>ist</strong> eben<br />

umstritten. Ein „Weltereignis“, das<br />

muss die noch junge WELT ONLINE<br />

feststellen, war 1968 allemal. Im selben<br />

Atemzug schreibt das digitale Medium:<br />

„Wer mag sie noch hören, die Veteranenerinnerungen?<br />

Sie sind so langweilig<br />

wie an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Leute Träume.“<br />

Nicht alle Medien <strong>de</strong>nken so. Für<br />

viele sind Zeitzeugen das Fenster in die<br />

Vergangenheit. Mit <strong><strong>de</strong>r</strong>en Hilfe sollen<br />

68 und spätere Phänomene wie <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

RAF-Terrorismus verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n.<br />

Denn wer 68 reflektiert, kommt um<br />

die heikle Gewaltfrage nicht herum.<br />

„Die Debatte über die Gewalt gegen<br />

Sachen begab sich auf einen Weg, an<br />

<strong>de</strong>ssen En<strong>de</strong> die Billigung <strong>de</strong>s Terrors<br />

stand“, vermutet die ZEIT. Scheint<br />

dieses Argument noch verständlich,<br />

so führt es <strong><strong>de</strong>r</strong> H<strong>ist</strong>oriker Götz Aly ad<br />

absurdum. In <strong><strong>de</strong>r</strong> FRANKFURTER<br />

RUNDSCHAU betitelt er als „Väter<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> 68er“ Nazis wie Goebbels und<br />

sieht Gemeinsames in „Propagandatechnik“<br />

und Kritik am konservativen<br />

Uniwesen.<br />

Die Berichterstattung über 68 wird<br />

auch zur Auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Medien mit sich selbst. Nach einem<br />

Schlagzeilen-Ping-Pong im <strong>de</strong>utschen<br />

Zeitungs-Dickicht färbte die FR das<br />

Verquere wie<strong><strong>de</strong>r</strong> schön: Aly „geht die<br />

Sache sportlich an“, als „knackige Polemik“.<br />

Dank Web 2.0 diskutieren die<br />

Leser online <strong><strong>de</strong>r</strong>weil fleißig mit. 2008<br />

funktioniert Medien<strong>de</strong>mokratie, 1968<br />

hätte das wohl niemand für möglich<br />

gehalten.<br />

mythos68 | April 2008<br />

Egal ob verherrlichend o<strong><strong>de</strong>r</strong> kritisch,<br />

objektiv berichtend o<strong><strong>de</strong>r</strong> popul<strong>ist</strong>isch:<br />

Der Medienrummel um 68<br />

<strong>ist</strong> in vollem Gange. Wer sich <strong>de</strong>m<br />

ganzen entziehen will, hat nur eine<br />

Möglichkeit: BILD lesen. Der flammen<strong>de</strong><br />

Revolutionsgegner <strong>von</strong> einst<br />

<strong>ist</strong> erstaunlich ruhig gewor<strong>de</strong>n. Mit<br />

keiner Zeile würdigt die Boulevardzeitung<br />

dieses Jubiläum. Was übrig<br />

bleibt, sind gewohnt platte Titel wie<br />

„Bumsen statt Bomben“ o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Traum <strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> „romantischen Revoluzzerin<br />

zum Verknallen“. Warum das<br />

so <strong>ist</strong>, verrät uns ein Blick in die BER-<br />

LINER MORGENPOST: Es <strong>ist</strong> eben<br />

immer noch einfacher über „Hippies,<br />

Haschisch, Happenings und natürlich<br />

Flower-Power!“ zu schreiben als über<br />

„diesen ewigen 68er-M<strong>ist</strong>“.<br />

Weiterführen<strong>de</strong> Lektüre im Programm <strong><strong>de</strong>r</strong> bpb:<br />

Martin Klimke/ Joachim Scharloth (Hrsg.): 1968.<br />

Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Stu<strong>de</strong>ntenbewegung (2007). Bereitstellungspauschale<br />

4,00 €. Bestellnr. 1697

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