Dieses Bild von Günter Zint ist Teil der ... - Politikorange.de
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68<br />
mythos<br />
<strong>Dieses</strong> <strong>Bild</strong> <strong>von</strong> <strong>Günter</strong> <strong>Zint</strong> <strong>ist</strong> <strong>Teil</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Ausstellung „68 - Brennpunkt Berlin“
IMPRESSUM<br />
EDITORIAL<br />
Stu<strong>de</strong>ntenbewegung, Kommune und kreativer Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>stand – Schlagworte, die ein Lebensgefühl umreißen. 1968. 40 Jahre sind vergangen, mit <strong>de</strong>n „68er“ verbin<strong>de</strong>n wir mehr als nur eine Generation. 68<br />
steht für Bewegung, einen Mythos. Doch was verbirgt sich dahinter? Um das herauszufin<strong>de</strong>n, haben sich junge Medienmacher auf Spurensuche begeben.<br />
I<strong>de</strong>e und inhaltliche Vorbereitung zu dieser politikorange entstan<strong>de</strong>n im Rahmen eines Studienprojektes <strong><strong>de</strong>r</strong> Humboldt-Universität zu Berlin und <strong><strong>de</strong>r</strong> FH Potsdam. Studieren<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Europäischen Ethnologie<br />
und junge Medienmacher aus Berlin und ganz Deutschland haben hinter die Kulissen einer ganzen Generation geblickt. Sie haben nach <strong>de</strong>n Ikonen <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit gesucht und Theorien hinterfragt. Sie<br />
erforschten gesellschaftliche Rahmenbedingungen <strong>von</strong> damals und die Auswirkungen <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er auf heute.<br />
Im verklären<strong>de</strong>n Rückblick wird 68 oft zu einem Mythos. Der Blickwinkel <strong>von</strong> politikorange <strong>ist</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>s. Frisch, fruchtig, selbst gepresst – und immer schön kritisch.<br />
Viel Spaß beim Lesen wünscht<br />
Die Redaktion<br />
Herausgeber<br />
politikorange c/o Jugendpresse Deutschland e.V.<br />
Wöhlertstraße 18, D-10115 Berlin<br />
www.jugendpresse.<strong>de</strong><br />
Team<br />
Lene Albrecht, Sandra Bieler, Anja Breljak, Robert Claus, Franziska Deregoski, Maxi Engel, Kathrin Friedrich, Lea Gerschwitz, Susanne Hauer, Tino Höfert, Markus<br />
Hujara, Sonja Knüppel, Holger Kulick, Lysette Laffin, Franziska Langner, Bea Marer, Yuca Meubrink, Sybille Pfeffer, Anne Pietzunka, Michael Sacher, Janna<br />
Schlen<strong><strong>de</strong>r</strong>, Ulrike Schulz, Mimoza Troni, Wlada Ullmer, Ebbe Volquardsen, Chr<strong>ist</strong>ine Wehner, Nadja Wohlleben, Urszula Wozniak, Josephine Ziegler<br />
Chefredaktion (V.i.S.d.P.)<br />
Michael Metzger (m.metzger@jugendpresse.<strong>de</strong>)<br />
Redaktionsleitung<br />
Jan an Haack (jan.anhaack@gmx.<strong>de</strong>)<br />
Michael Metzger (m.metzger@jugendpresse.<strong>de</strong>)<br />
Sven Trojanowski (sven_jugendpresse@european-journal<strong>ist</strong>.eu)<br />
Redaktionelle Unterstützung<br />
Anja Breljak, Julian Görlitz, Matthias Stohr-Niklas<br />
Gestalterische Gesamtleitung<br />
Matthias Stohr-Niklas (m.stohr-niklas@jugendpresse.<strong>de</strong>)<br />
Fotos<br />
Titelbild: <strong>Günter</strong> <strong>Zint</strong> (<strong>Bild</strong> <strong>ist</strong> <strong>Teil</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Ausstellung „68 - Brennpunkt Berlin“)<br />
Josephine Scheibe (j.scheibe@hotmail.<strong>de</strong>), alle außer:<br />
bpb (S.4 li.), David Ausserhofer, FU Berlin (S.18)<br />
jugendfotos.<strong>de</strong>: Fre<strong><strong>de</strong>r</strong>ic Maximilian Bozada (S.2), Michaela Zimmermann (S.5), Gisela Gürtler (S.6), Marcel Bruhnke (S.10), Stephan Gagler (S.14), Barbara Reich (S.15),<br />
Loly Bayer (S.16), Kai Döhring (S.17 o.), Jan-David Günther (S.17 u.), Felix Heubaum (S.18) Matthias Riens (S.21), Michael Metzger (S.22), Daniela Uhrich (S.24)<br />
Layout & Satz<br />
Anja Breljak (anja@jpb.<strong>de</strong>) & Matthias Stohr-Niklas<br />
Druck<br />
BVZ Berliner Zeitungsdruck GmbH, Berlin<br />
20.000 Exemplare<br />
Organisation<br />
Michael Metzger (JPD), Falk Blask (HU Berlin)<br />
Alle namentlich gekennzeichneten Beiträge geben die Meinungen ihrer Verfasser wie<strong><strong>de</strong>r</strong> und stimmen nicht zwangsläufig mit <strong>de</strong>n Auffassungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Herausgeber<br />
überein. Für Inhalte genannter Quellen und Links übernimmt die Redaktion keine Haftung. Eine Online-Version gibt es auf www.politikorange.<strong>de</strong> und unter<br />
www.netzeitung.<strong>de</strong>/spezial/mythos68.<br />
informierend<br />
STUDEnTEnREVOLTE zUM AnGUCkEn | 04<br />
nATIOn SUCHT MyTHOS | 04<br />
REISE In DIE zEITGESCHICHTE | 05<br />
persönlich<br />
„ICH bIn EIn wIRkLICH RICHTIGER 68ER“ | 06<br />
„SPUREn HInTERLASSEn“ | 07<br />
alltäglich<br />
IMMER MüSSEn wIR MACHEn, wAS wIR wOLLEn | 08<br />
DIE REVOLTE In DER REVOLTE | 08<br />
DIE SECHzIGER: In MODE | 09<br />
DIE bRAVE bRAVO | 09<br />
HEIDSCHI bUMbEIDSCHI ODER HELLO GOODbyE? | 10<br />
SEx, DRUGS AnD COMICS | 10<br />
„DIE SCHönSTEn, DIE bUnTESTEn, DIE SCHnELLSTEn, DIE kLüGSTEn“ | 11
international mythos68 blickt hinter die kulissen einer ganzen Generation. Diese Ausgabe <strong>ist</strong> eine<br />
ExPORTARTIkEL: SEx, DRUGS, LOVE & PEACE | 14<br />
AUF DER SUCHE nACH DEM DUFT DER SOMMERwIESE | 14<br />
DIE zwEITE REVOLTE AM öRESUnD | 15<br />
ALLOnS EnFAnTS DE LA PATRIE! | 16<br />
theoretisch<br />
AM EnDE AUCH PRAxIS | 17<br />
nACH DEM EnDE DER UTOPIE | 18<br />
universitär<br />
kEIn nACHSCHUb AUS DER DEnkFAbRIk | 19<br />
DIE MEnSAFALLE ODER bIST DU POLITISCH | 20<br />
„IM bLOßEn PFLEGEn VOn IkOnEn kOMMEn wIR nICHT wEITER“ | 20<br />
„bURn, wARE-HOUSE, bURn!“ | 21<br />
gegenwärtig<br />
wEnn SUbkULTUR zUM MAInSTREAM wIRD | 22<br />
1968. 1988. 2008. | 04<br />
SCHAUMSCHLäGER ODER bOMbEnLEGER | 05<br />
kooperation <strong><strong>de</strong>r</strong> Jugendpresse Deutschland und <strong><strong>de</strong>r</strong> bun<strong>de</strong>szentrale für politische bildung.<br />
Die Themenausgabe <strong>von</strong> politikorange entstand im Rahmen eines Studienprojekts <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Europäischen Ethnologie <strong><strong>de</strong>r</strong> Humboldt-Universität zu berlin und <strong><strong>de</strong>r</strong> FH Potsdam.<br />
Ein <strong>Teil</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Artikel sowie ergänzen<strong>de</strong>s Text-, bild- und Vi<strong>de</strong>omaterial wird <strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
netzeitung unter www.netzeitung.<strong>de</strong>/spezial/mythos68 veröffentlicht.<br />
Die Redaktion arbeitet unabhängig, dies <strong>ist</strong> ein Prinzip <strong><strong>de</strong>r</strong> Arbeit <strong>von</strong> politikorange.<br />
weitere Informationen: www.politikorange.<strong>de</strong><br />
www.jugendpresse.<strong>de</strong><br />
www.bpb.<strong>de</strong>
04<br />
informierend<br />
NATION SUCHT MYTHOS<br />
Geschichte wird gemacht.<br />
Mythen auch. Nicht erst zum<br />
40. Jubiläum <strong>ist</strong> 68 mediales<br />
Lieblingsthema. Längst <strong>ist</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Mythosbegriff zum geflügelten<br />
Wort gewor<strong>de</strong>n.<br />
Von Robert Claus<br />
Gründungsakte und Traditionen<br />
verewigen sich in Mythen. Sie erhalten<br />
Deutungshoheit über die Geschichte<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> eigenen Gemeinschaft und bestimmen<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong>en aktuelles Selbstverständnis.<br />
In Deutschland jedoch verbietet es<br />
sich aufgrund <strong><strong>de</strong>r</strong> nationalsozial<strong>ist</strong>ischen<br />
Verbrechen, eine ausschließlich<br />
positive nationale Tradition zu<br />
schreiben.<br />
Die „kulturelle Revolution“ <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er<br />
arbeitete die NS-Vergangenheit ihrer<br />
Elterngeneration auf und brach mit<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong>en Überlieferungen, ihren Mythen.<br />
Durch <strong>de</strong>n <strong>von</strong> Rudi Dutschke ausgerufenen<br />
„Marsch durch die Institutionen“<br />
gelangten viele <strong><strong>de</strong>r</strong> damaligen<br />
Protagon<strong>ist</strong>en über die Jahre in höhere<br />
Positionen. Die ehemalige Stu<strong>de</strong>ntenbewegung<br />
erhielt Macht und Einfluss<br />
in Medien, Kultur und Politik.<br />
Das Jahr 1968 be<strong>de</strong>utet für linksliberale<br />
Kreise die Überwindung <strong>de</strong>s<br />
postfasch<strong>ist</strong>ischen Miefs. Bis heute<br />
zehren Politiker dieser Generation<br />
vom Mythos, eine kulturell <strong>de</strong>mokratische<br />
Gesellschaft in <strong><strong>de</strong>r</strong> BRD<br />
gegrün<strong>de</strong>t zu haben.<br />
Doch <strong>ist</strong> dieser Gründungsmythos<br />
seither stark umkämpft. Denn Konservative<br />
beschuldigen die 68er, heute wie<br />
damals, traditionelle Werte im Namen<br />
„femin<strong>ist</strong>ischer Kuschelpädagogik“ zu<br />
verwahrlosen. Aus Parolen wie „High<br />
sein, frei sein, Terror muss dabei sein“<br />
spräche blanker Realitätsverlust. Der<br />
hart erarbeitete Wohlstand <strong>de</strong>s Wirtschaftsbooms<br />
in <strong>de</strong>n 50ern sei <strong>de</strong>n<br />
Stu<strong>de</strong>nten zu Kopf gestiegen, heißt<br />
es heute oft.<br />
Deutschland sucht seine Mythen –<br />
bei<strong>de</strong> Seiten bringen ihre h<strong>ist</strong>orischen<br />
Erfolge in Stellung. Was <strong>de</strong>n einen 68,<br />
<strong>ist</strong> <strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>en ihr Wirtschaftswun<strong><strong>de</strong>r</strong>.<br />
Verteufelung und Glorifizierung<br />
beherrschen die Diskussion. Verhan<strong>de</strong>lt<br />
wird nicht weniger als die Grundlage<br />
eines zeitgemäßen nationalen<br />
Selbstverständnisses. Solange jedoch<br />
keine <strong><strong>de</strong>r</strong> bei<strong>de</strong>n Seiten nachgibt, wird<br />
es kaum differenziertere Darstellungen<br />
geben.<br />
mythos68 | April 2008<br />
STUDENTENREVOLTE ZUM ANGUCKEN<br />
Zahlreiche Ausstellungen über 68 sprießen dieser Tage aus <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n. Mit zweien da<strong>von</strong> haben wir<br />
uns ausführlich auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>gesetzt. Von Bea Marer und Mimoza Troni<br />
Das Amerika Haus 2008: Zur Ausstellungseröffnung, wenige Wochen später nach einer Farbbeutelattacke<br />
„Achtung, Achtung! Räumen Sie<br />
unverzüglich die Straße!“, dröhnt es<br />
aus <strong>de</strong>n Lautsprechern <strong>de</strong>s Wasserwerfers.<br />
Vor <strong>de</strong>m Amerika Haus am<br />
Bahnhof Zoo wer<strong>de</strong>n Passanten ins<br />
Jahr 1968 versetzt. Anfang 2008 hat<br />
hier die Bun<strong>de</strong>szentrale für politische<br />
<strong>Bild</strong>ung /bpb ihre Ausstellung „’68<br />
– Brennpunkt Berlin“ eröffnet. Ein<br />
halbes Jahr lang empfängt das h<strong>ist</strong>orische<br />
Polizeifahrzeug nun die Besucher.<br />
Kernstück <strong><strong>de</strong>r</strong> Ausstellung <strong>ist</strong> eine<br />
Werkschau <strong>de</strong>s Fotografen <strong>Günter</strong><br />
<strong>Zint</strong>; das wissenschaftliche Konzept<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Ausstellung stammt <strong>von</strong> Dr. Jürgen<br />
Reiche vom Haus <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland.<br />
Für die Ausstellung <strong>ist</strong> das Amerika<br />
Haus ein h<strong>ist</strong>orischer Ort. Es wur<strong>de</strong><br />
einst eingerichtet, um <strong>de</strong>n Nachkriegs<strong>de</strong>utschen<br />
die US-amerikanische<br />
Kultur näherzubringen. 1968 fan<strong>de</strong>n<br />
vor <strong>de</strong>m zentral gelegenen Gebäu<strong>de</strong><br />
Proteste gegen <strong>de</strong>n Vietnamkrieg statt,<br />
Steine flogen gegen die Fenster. Heute<br />
hängen an <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n Schwarz-<br />
Weiß-Photographien, Vi<strong>de</strong>os laufen,<br />
auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n <strong>ist</strong> eine Zeitle<strong>ist</strong>e mit<br />
<strong>de</strong>n relevanten Ereignissen und Daten<br />
gedruckt, und Helme und Knüppel<br />
<strong>von</strong> damals sind Ausstellungsstücke<br />
innerhalb <strong>de</strong>s Gebäu<strong>de</strong>s statt Kampfarsenal<br />
auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Straße davor. Schnell wird<br />
klar, dass diese Bewegung vielseitig<br />
gewesen sein muss. Die Einführung<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Antibabypille verän<strong><strong>de</strong>r</strong>te das<br />
konservative Familienbild und die<br />
damaligen Moralvorstellungen. Und<br />
über <strong>de</strong>m Ausgang steht „Wer zweimal<br />
mit <strong><strong>de</strong>r</strong>selben pennt, gehört schon<br />
zum Establishment“ – ein Spruch aus<br />
<strong>de</strong>n damaligen Kommunen.<br />
Vor allem Schulklassen und Stu<strong>de</strong>nten-Gruppen<br />
besuchen die Ausstellung.<br />
Heute sind auch Andrea Szatmary<br />
und Claudia Rücker dort. Sie<br />
interessieren sich <strong><strong>de</strong>r</strong>zeit beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s für<br />
das Thema 1968, <strong>de</strong>nn sie planen für<br />
die zweite Jahreshälfte eine eigene Aus-<br />
stellung, die in Zusammenarbeit mit<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Humboldt-Universität zu Berlin<br />
und <strong><strong>de</strong>r</strong> Fachhochschule Potsdam im<br />
Ephraim-Palais stattfin<strong>de</strong>t. Auftraggeber<br />
<strong>ist</strong> die Stiftung Stadtmuseum.<br />
Noch eine Ausstellung zum Thema<br />
68? Klar, in <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er-Revolte gibt es<br />
entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> h<strong>ist</strong>orische Wegmarken,<br />
auf die kein Rückblick, keine<br />
Ausstellung verzichten darf: Der<br />
Besuch <strong>de</strong>s Schahs, <strong><strong>de</strong>r</strong> Schuss auf<br />
Benno Ohnesorg, die Kampagne <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Springer-Presse. Und doch: Immer<br />
wie<strong><strong>de</strong>r</strong> gelingt es, unterschiedliche<br />
Schwerpunkte zu setzen. Eine Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>heit<br />
bei Andrea Szatmary und<br />
Claudia Rücker <strong>ist</strong> das <strong><strong>de</strong>r</strong> Bezug zur<br />
Polizei: Einzelne Poliz<strong>ist</strong>en etablierten<br />
damals schon erste Formen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Deeskalations-Strategie.<br />
Ob Amerika Haus o<strong><strong>de</strong>r</strong> Ephraim-<br />
Palais: Damit ein h<strong>ist</strong>orisches Ereignis<br />
zu einer lebendigen Ausstellung wird,<br />
muss eine Menge vorbereitet wer<strong>de</strong>n.<br />
Am Anfang recherchierten Andrea<br />
Szatmary und Claudia Rücker im<br />
Internet, dann in diversen Archiven.<br />
Die bei<strong>de</strong>n arbeiteten sich durch Berge<br />
<strong>von</strong> Dokumenten. „Wir durchstöberten<br />
das APO-Archiv, das Hamburger<br />
Institut für Sozialforschung, das<br />
Archiv <strong><strong>de</strong>r</strong> Polizeih<strong>ist</strong>orischen Sammlungen<br />
und das Stadtmuseum Berlin“,<br />
erinnert sich Andrea Szatmary. „Und<br />
wir führten Interviews mit ehemaligen<br />
Stu<strong>de</strong>nten und mit bekannten Personen<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit, zum Bespiel mit <strong>de</strong>m<br />
Grünen-Politiker Ströbele über <strong>de</strong>n<br />
Tod <strong>von</strong> Benno Ohnesorg.“<br />
Bis ein Ausstellungskonzept steht,<br />
vergeht viel Zeit. „Das <strong>ist</strong> vergleichbar<br />
mit einem Regisseur, <strong><strong>de</strong>r</strong> ein Drehbuch<br />
schreibt“, sagt Szatmary. Mit Hilfe <strong>von</strong><br />
Designern, Grafikern, <strong><strong>de</strong>r</strong> Stiftung und<br />
in enger Zusammenarbeit mit Stu<strong>de</strong>nten<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Humboldt-Universität wer<strong>de</strong>n<br />
ihre Pläne dann umgesetzt.<br />
Während Andrea Szatmary und<br />
Claudia Rücker noch in <strong><strong>de</strong>r</strong> Vorbe-<br />
reitung stecken, <strong>ist</strong> bei <strong><strong>de</strong>r</strong> bpb ein<br />
begleiten<strong>de</strong>s Veranstaltungsprogramm<br />
bereits in vollem Gange. Eine Filmreihe<br />
zum Vietnamkrieg im Rahmen<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Berlinale, zwei Wochenen<strong>de</strong>n mit<br />
Filmen aus <strong>de</strong>n späten 60er Jahren<br />
sowie eine Vielzahl <strong>von</strong> Podien- und<br />
Zeitzeugengesprächen, allesamt in<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Jahreshälfte, rahmen die<br />
Ausstellung und vertiefen die Auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung<br />
mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte.<br />
Neben Debatten über weiterhin<br />
strittige Aspekte <strong><strong>de</strong>r</strong> h<strong>ist</strong>orischen<br />
Ereignisse selbst bietet die Frage nach<br />
<strong>de</strong>n Langzeitfolgen <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er-Revolte<br />
zentralen Diskussionsstoff. Die Entwicklung<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Geschlechterbeziehungen<br />
seit 1968 wird in <strong><strong>de</strong>r</strong> Podienfolge<br />
ebenso in <strong>de</strong>n Blick genommen wie<br />
die Auswirkungen <strong>von</strong> 68 auf Theater<br />
und Künste o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Zusammenhang<br />
zwischen 68 und <strong>de</strong>n Neuen Sozialen<br />
Bewegungen <strong><strong>de</strong>r</strong> 70er und 80er. Und<br />
auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Besucher darf mitre<strong>de</strong>n.<br />
Die Frage, ob die Auswirkungen <strong>von</strong><br />
68 auch heute noch zu spüren sind,<br />
kann per Knopfdruck beantwortet<br />
wer<strong>de</strong>n: Ja, Nein, Weiß nicht. So wird<br />
Geschichte auf <strong>de</strong>n Punkt gebracht.<br />
Ausstellungsinfos<br />
68 – Brennpunkt Berlin<br />
Amerika Haus<br />
Har<strong>de</strong>nbergstraße 22-24, 10623 Berlin<br />
31. Januar bis 31. Mai 2008<br />
Gruppen ab 10 Personen haben die Möglichkeit,<br />
sich für eine Führung anzumel<strong>de</strong>n. Für Schüler-<br />
und Jugendgruppen kostenfrei, für alle an<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />
2,00 Euro pro Person.<br />
berlin68 – Sichten einer Revolte<br />
Ephraim-Palais<br />
Poststr. 16, 10178 Berlin<br />
9. Juni bis 2. November 2008<br />
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10 bis<br />
18 Uhr, Mittwoch 12 bis 20 Uhr, montags<br />
geschlossen
mythos68 | April 2008 informierend<br />
REISE IN DIE ZEITGESCHICHTE<br />
Thomas Krüger (Jahrgang1959) <strong>ist</strong> seit Juni 2000 Präsi<strong>de</strong>nt<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Bun<strong>de</strong>szentrale für politische <strong>Bild</strong>ung /bpb. Deren<br />
Hauptaufgabe <strong>ist</strong> es, durch Veranstaltungen, Ausstellungen,<br />
Veröffentlichungen und Lehrmaterial zur aktiven Auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung<br />
mit Politik anzuregen. Ein Interview über die aktuelle<br />
68er-Ausstellung <strong><strong>de</strong>r</strong> bpb im Amerika Haus und das alte Lied<br />
<strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> damaligen und heutigen Jugend.<br />
Von Maxi Engel<br />
politikorange: 68 dürfte wohl im Moment das<br />
me<strong>ist</strong> diskutierte geschichtliche Thema <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Bun<strong>de</strong>srepublik sein. Zahlreiche Publikationen<br />
haben sich bereits mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Stu<strong>de</strong>ntenrevolte<br />
auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>gesetzt. Welche neuen<br />
Einblicke bringen die <strong>von</strong> Ihnen initiierte Ausstellung<br />
und die jetzige Publikationsreihe?<br />
Thomas Krüger: Wir möchten Anregungen<br />
geben, dass die Thematik 1968<br />
als gesellschaftspolitischer Einschnitt<br />
in <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte <strong><strong>de</strong>r</strong> Bun<strong>de</strong>srepublik,<br />
aber auch in <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
DDR wahrgenommen wird. Denn<br />
68 hat nicht nur in Westeuropa stattgefun<strong>de</strong>n,<br />
son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch in <strong><strong>de</strong>r</strong> DDR<br />
durch die Aufstän<strong>de</strong> in Warschau und<br />
Prag entsprechen<strong>de</strong> Zeitenwen<strong>de</strong>n<br />
hervorgerufen und Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen<br />
ausgelöst. Mit unserer Ausstellung<br />
im Berliner Amerika Haus und mit<br />
unseren Publikationen möchten wir<br />
zur Diskussion über die jüngere Zeitgeschichte<br />
anregen, die vor allem bei<br />
vielen jungen Menschen völlig aus <strong>de</strong>m<br />
Blickfeld geraten <strong>ist</strong>. Deren Eltern und<br />
Großeltern haben sie durchaus noch im<br />
Gedächtnis, diskutieren sie aber i<strong>de</strong>ologisch<br />
sehr festgelegt. Die Diskussion zu<br />
öffnen und <strong>de</strong>n Leuten die Möglichkeit<br />
zu geben, sich ein eigenes Urteil zu<br />
bil<strong>de</strong>n: Das sind unsere Ziele.<br />
Hatten Sie manchmal <strong>de</strong>n Eindruck, dass im<br />
Westen die Speerspitze <strong><strong>de</strong>r</strong> Bewegung zum <strong>Teil</strong><br />
eine totalitäre Richtung einschlug?<br />
Die aktuelle Forschung we<strong>ist</strong> darauf<br />
hin, dass dies ein sehr komplexes Feld<br />
<strong>ist</strong>. Die sogenannte Avantgar<strong>de</strong> o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Speerspitze stellte nur einen <strong>Teil</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Leute dar, die jedoch nie die breite<br />
Mehrheit repräsentiert haben. Johano<br />
Strasser sagt beispielsweise, dass die<br />
Mehrheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Leute, vor allem aus<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> 68er-Stu<strong>de</strong>ntenbewegung, in die<br />
SPD eingetreten <strong>ist</strong>, und das kann<br />
man nicht als totalitär bezeichnen.<br />
Die i<strong>de</strong>ologische Zuspitzung war<br />
natürlich da, und diese muss man auch<br />
entsprechend kritisch unter die Lupe<br />
nehmen, aber <strong><strong>de</strong>r</strong> gravieren<strong>de</strong> Einschnitt<br />
hat kulturell stattgefun<strong>de</strong>n: Das<br />
D<strong>ist</strong>anzieren <strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Elterngeneration<br />
durch die Einflüsse <strong><strong>de</strong>r</strong> Rockmusik, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Frie<strong>de</strong>nsbewegung, <strong><strong>de</strong>r</strong> Anti-Vietnambewegung.<br />
All das fand weltweit statt,<br />
und sehr viele junge Leute i<strong>de</strong>ntifizierten<br />
sich damit. Im Anschluss daran<br />
pluralisierten und <strong>de</strong>mokratisierten<br />
sie so die Gesellschaft. Beispiele dafür<br />
sind die Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>la<strong>de</strong>nbewegung, ein<br />
breiteres Verständnis <strong>von</strong> Erziehung,<br />
die Diskussion an <strong>de</strong>n Universitäten.<br />
Die Bun<strong>de</strong>srepublik wur<strong>de</strong> zu einem<br />
Staat, <strong><strong>de</strong>r</strong> viel mehr Individualität<br />
ermöglichte. Das <strong>ist</strong> wahrscheinlich<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> markanteste Punkt, <strong><strong>de</strong>r</strong> 68 betrifft<br />
und <strong><strong>de</strong>r</strong> heute <strong>von</strong> weiten <strong>Teil</strong>en <strong><strong>de</strong>r</strong>er,<br />
die damals die Bewegung kritisierten,<br />
unbestritten <strong>ist</strong>.<br />
Mit <strong>de</strong>m Informationsangebot <strong><strong>de</strong>r</strong> bpb wollen<br />
Sie vor allem jüngere Menschen einla<strong>de</strong>n, sich<br />
mit <strong>de</strong>m Thema 68 zu beschäftigen. Warum,<br />
glauben Sie, <strong>ist</strong> die damalige Zeit beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s für<br />
die heutige Jugend <strong>von</strong> Interesse?<br />
Die 68er-Bewegung war selbst eine<br />
Jugendbewegung, und man kann an<br />
Jugendbewegungen sowohl die ambivalenten<br />
Komponenten politischer<br />
Urteilsbildung ablesen als auch das<br />
Feuer, sich politisch zu engagieren.<br />
Wir wollen mit dieser Ausstellung und<br />
mit <strong>de</strong>n Veranstaltungen junge Leute<br />
ansprechen, um das mit ihnen auch zu<br />
erörtern: Nicht nur mit <strong>de</strong>m Rückblick<br />
auf die 68er-Zeit, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch mit<br />
Blick auf die Virulenz politischen Engagements<br />
heute. Grün<strong>de</strong> gibt es genug.<br />
Die Schere zwischen arm und reich geht<br />
auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>, die Globalisierungs<strong>de</strong>batte<br />
wird sehr kontrovers geführt; es liegen<br />
also viele politische Themen auf <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Straße, und man hat aus verschie<strong>de</strong>nen<br />
Grün<strong>de</strong>n mit einer Jugend zu tun,<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> man je<strong>de</strong>nfalls nicht in <strong><strong>de</strong>r</strong> Breite<br />
als politisierte Jugend begegnet. Man<br />
i<strong>de</strong>ntifiziert sich heute in stärkerem<br />
Maße mit an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Interessen als <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Politik – vor allem auch mit <strong>de</strong>m Entertainment<br />
–, hat die eigene individuelle<br />
Karriere im Blick, und die politischen<br />
Komponenten spielen nur zum <strong>Teil</strong><br />
eine Rolle. Unsere Ausstellung <strong>ist</strong> eine<br />
Art Staubsauger, um die Leute in <strong>de</strong>n<br />
zeitgeschichtlichen Raum zu holen und<br />
dann zu diskutieren. Es gibt eine Reihe<br />
<strong>von</strong> Diskussionsveranstaltungen, die<br />
zu unserer Überraschung min<strong>de</strong>stens<br />
zur Hälfte <strong>von</strong> jungen Leuten besucht<br />
sind. Das heißt, das Interesse <strong>ist</strong> im<br />
Ansatz da.<br />
Was kann unsere Generation konkret aus<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> 68er-Zeit sowohl im Positiven als auch<br />
im Negativen lernen, wenn sie versucht, sich<br />
politisch zu engagieren und gegen Missstän<strong>de</strong><br />
zu rebellieren?<br />
Um mit <strong>de</strong>m Positiven anzufangen: die<br />
Haltung, die Kreativität <strong>de</strong>s Protests,<br />
die Einbettung <strong>von</strong> Protestformen<br />
in die jugendkulturellen Kontexte<br />
sind Dinge, die 68 erfun<strong>de</strong>n und<br />
ausprobiert wur<strong>de</strong>n, <strong>von</strong> <strong>de</strong>nen man<br />
sicherlich lernen kann und die uns bis<br />
heute beeinflussen. Ich selbst kann als<br />
ehemaliger Bürgerrechtler <strong><strong>de</strong>r</strong> DDR<br />
sagen, dass viele <strong><strong>de</strong>r</strong> Protestslogans<br />
und -formen, die wir damals 1989<br />
realisiert haben, sehr viel mit 68 zu<br />
tun hatten und damit in Verbindung<br />
gebracht wer<strong>de</strong>n können. 89 <strong>ist</strong> ohne<br />
68 schwer <strong>de</strong>nkbar, und sowohl Prag<br />
als auch die Sit-ins und Teach-ins aus<br />
<strong>de</strong>m westlichen Europa haben dies<br />
beeinflusst.<br />
Und das Negative?<br />
Der Fehler, <strong>de</strong>n man vermei<strong>de</strong>n muss,<br />
<strong>ist</strong>, zu schnell <strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Rebellion in die<br />
Manie, in i<strong>de</strong>ologische Verkürzungen,<br />
in ungerechtfertigte, ungerechte und<br />
auch totalitäre Positionen überzuspringen.<br />
Und das <strong>ist</strong> auch ein Lerngegenstand,<br />
<strong>de</strong>n man an 68 abarbeiten sollte.<br />
Viele <strong><strong>de</strong>r</strong> Protagon<strong>ist</strong>en <strong><strong>de</strong>r</strong> damaligen<br />
Zeit wur<strong>de</strong>n in ihrem Überschwang<br />
zu Mao<strong>ist</strong>en o<strong><strong>de</strong>r</strong> grün<strong>de</strong>ten kommun<strong>ist</strong>ische<br />
Zellen, bar je<strong><strong>de</strong>r</strong> Kenntnisnahme,<br />
dass umter Maos Regime<br />
Millionen Menschen umgebracht hatte<br />
und <strong><strong>de</strong>r</strong> Kommunismus eine totalitäre<br />
Gesellschaftsordnung war. Man hat<br />
die nachvollziehbare Einfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ung<br />
<strong>von</strong> mehr Pluralität und Demokratie<br />
mit kommun<strong>ist</strong>ischen Alternativen<br />
angereichert. Bei aller Ambivalenz<br />
muss man sich damit kritisch auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzen<br />
und zu einem eigenen Urteil<br />
kommen. Um ein Beispiel zu geben:<br />
Sie sehen in unserer Ausstellung ein<br />
Vi<strong>de</strong>o <strong>von</strong> einer großen Veranstaltung<br />
an <strong><strong>de</strong>r</strong> Freien Universität, auf <strong><strong>de</strong>r</strong> ein<br />
Kritiker <strong><strong>de</strong>r</strong> Bewegung versucht zu<br />
sprechen, nach <strong>de</strong>n ersten Sätzen aber<br />
sofort vom Podium gerissen wird und<br />
hinter <strong>de</strong>n Kulissen verschwin<strong>de</strong>t. Die<br />
Meinungsfreiheit <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er hatte eben<br />
auch ihre Grenzen.<br />
05
06<br />
persönlich<br />
„ICH BIN EIN WIRKLICH RICHTIGER 68ER“<br />
politikorange: Wann fingen Sie an, sich politisch<br />
zu engagieren?<br />
Hans-Chr<strong>ist</strong>ian Ströbele: Bei mir<br />
war <strong><strong>de</strong>r</strong> 2. Juni 1967 ein Schlüsselerlebnis.<br />
Das war <strong><strong>de</strong>r</strong> Tag <strong><strong>de</strong>r</strong> Demonstration<br />
gegen <strong>de</strong>n Schah-Besuch. Am<br />
nächsten Tag habe ich in <strong><strong>de</strong>r</strong> BZ das<br />
Foto einer blutüberströmten Frau mit<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Überschrift: „Von Steinen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Chaoten getroffen“ gesehen. Aber<br />
dann sagte genau die selbe Frau: Von<br />
wegen, <strong>von</strong> einem Stein <strong><strong>de</strong>r</strong> Chaoten<br />
getroffen; ich wur<strong>de</strong> <strong>von</strong> einem Polizeiknüppel<br />
getroffen! Später hieß es,<br />
ein Poliz<strong>ist</strong> sei erstochen wor<strong>de</strong>n. Die<br />
Wahrheit war, dass ein völlig harmloser<br />
Mann namens Benno Ohnesorg <strong>von</strong><br />
einem Poliz<strong>ist</strong>en erschossen wur<strong>de</strong>.<br />
Ich hab mich über bei<strong>de</strong> Geschichten<br />
so empört, dass ich mich entschlossen<br />
habe, mich Horst Mahler, <strong><strong>de</strong>r</strong> damals<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Anwalt <strong><strong>de</strong>r</strong> Stu<strong>de</strong>nten war, als<br />
jur<strong>ist</strong>ischer Zuarbeiter zur Verfügung<br />
zu stellen. Von da an war ich <strong>Teil</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Bewegung und <strong><strong>de</strong>r</strong> Außerparlamentarischen<br />
Opposition ...<br />
... und damit <strong>Teil</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er Revolution.<br />
Genau. Wir kamen zu <strong><strong>de</strong>r</strong> Überzeugung:<br />
Diese Gesellschaft wollen wir<br />
nicht! Nur die Revolution kann die<br />
Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung bringen.<br />
ikonen |<br />
Ernesto „Che“ Rafael Guevara <strong>de</strong> la Serna<br />
(1928 – 1967)<br />
„Seien wir real<strong>ist</strong>isch, versuchen<br />
wir das Unmögliche.“<br />
Ich war da<strong>von</strong> total überzeugt.<br />
Damals antwortete ich auf die Frage<br />
nach einer Altersversicherung: Nee,<br />
brauche ich nicht, bis dahin hat die<br />
Revolution gesiegt. Ich habe die Revolution<br />
also nicht nur für notwendig,<br />
son<strong><strong>de</strong>r</strong>n für machbar und real<strong>ist</strong>isch<br />
gehalten.<br />
Schön und gut, aber eine Revolution beginnt<br />
man, in<strong>de</strong>m man sich gegen das etablierte<br />
System wen<strong>de</strong>t. Sie wur<strong>de</strong>n statt<strong>de</strong>ssen <strong>Teil</strong><br />
<strong>de</strong>s Systems, spätestens mit Ihrem Eintritt<br />
in die SPD.<br />
Es bil<strong>de</strong>te sich die Auffassung heraus,<br />
dass es mit ewigem Demonstrieren<br />
nicht weitergeht. Wir fingen an, die<br />
Frage <strong><strong>de</strong>r</strong> Gewalt zu diskutieren.<br />
Einige sind in <strong>de</strong>n Untergrund gegangen,<br />
an<strong><strong>de</strong>r</strong>e wählten <strong>de</strong>n Gang durch<br />
die Institutionen. Ich bin <strong>de</strong>shalb 1970<br />
in die SPD eingetreten. Dutschke predigte:<br />
Wir kämpfen weiter für unsere<br />
Ziele, aber eben überall. An <strong>de</strong>n<br />
Werkstoren, im Gerichtssaal und in<br />
<strong>de</strong>n Institutionen.<br />
Gewalt war ja ohnehin ein zentrales Thema<br />
damals. Wie haben Sie sich positioniert?<br />
Ich habe diese Gewaltdiskussion<br />
mitgemacht, aber dazu nicht Stellung<br />
genommen. An<strong><strong>de</strong>r</strong>e haben sich bewaff-<br />
DER ROMANTISCHE REVOLUTIONäR<br />
Wer war er? An <strong><strong>de</strong>r</strong> Seite <strong>von</strong> Fi<strong>de</strong>l und Raoul Castro führte <strong><strong>de</strong>r</strong> gebürtige<br />
Argentinier die Guerillakämpfer gegen das kubanische Regime <strong>von</strong> Fulgencia<br />
Bat<strong>ist</strong>a. Resultat: Die Revolution siegte, und ab 1959 wur<strong>de</strong> Kuba<br />
sozial<strong>ist</strong>isch. „Comandante Che“ beteiligte sich maßgeblich an <strong><strong>de</strong>r</strong> sozialen<br />
Umgestaltung <strong><strong>de</strong>r</strong> Zuckerrohrinsel, war Chef <strong><strong>de</strong>r</strong> Nationalbank und knüpfte<br />
Kontakte zur DDR und Sowjetunion. Nebentätigkeiten: Arzt, Frauenheld,<br />
Zigarrenraucher.<br />
Und heute? Ein ungebrochener Mythos. Ob T-Shirts,<br />
Poster o<strong><strong>de</strong>r</strong> Taschentücher: Produkte mit Ches Konterfei<br />
wer<strong>de</strong>n heute immer noch millionenfach verkauft, vor<br />
allem an rebellieren<strong>de</strong> Teenager und pseudolinke Promis.<br />
net. Es gab die allgemeine Meinung,<br />
die Revolution sei angesagt. Man muss<br />
das auch über Deutschland hinaus<br />
sehen, es gab in vielen Län<strong><strong>de</strong>r</strong>n ähnliche<br />
Entwicklungen, man sah sich in<br />
einem weltweiten Zusammenhang.<br />
Es scheint, als sei heute <strong>von</strong> dieser weltweiten<br />
Bewegung wenig übrig geblieben – außer<br />
eines verklärten Rückblicks auf <strong>de</strong>n Mythos 68.<br />
68 hat Spuren hinterlassen: Deutschland<br />
<strong>ist</strong> in vielen Bereichen liberaler<br />
gewor<strong>de</strong>n. Als ich als Anwalt anfing,<br />
war es beispielsweise strafbar, wenn<br />
zwei erwachsene Männer Geschlechtsverkehr<br />
hatten. Das hatte zur Folge,<br />
dass sich um die Homosexuellenszene<br />
Verbrechen und Erpressung bil<strong>de</strong>ten.<br />
Heute <strong>ist</strong> Homosexualität gesellschaftlich<br />
akzeptiert. So gibt es eine ganze<br />
Reihe <strong>von</strong> Sachen, die sich durch das<br />
Infragestellen <strong><strong>de</strong>r</strong> etablierten Regeln<br />
verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t haben.<br />
Sehen Sie heute noch revolutionäres Potential?<br />
Ich sehe das Potential darin, dass<br />
auch in Heiligendamm so viele junge<br />
Leute da waren. Ihnen fehlt aber ein<br />
theoretischer Unterbau. Das führt<br />
dazu, dass das Engagement relativ<br />
schnell wie<strong><strong>de</strong>r</strong> weg <strong>ist</strong>. Das war damals<br />
mythos68 | April 2008<br />
Ein roter Schal <strong>ist</strong> sein Markenzeichen: Hans-Chr<strong>ist</strong>ian Ströbele<br />
sitzt als Abgeordneter <strong>von</strong> Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen<br />
Bun<strong>de</strong>stag. Ein Interview <strong>von</strong> Ulrike Schulz<br />
Er hat maßgeblich an <strong><strong>de</strong>r</strong> Gründung <strong><strong>de</strong>r</strong> linken Tageszeitung taz und <strong>de</strong>s<br />
Berliner Lan<strong>de</strong>sverban<strong>de</strong>s <strong><strong>de</strong>r</strong> Grünen mitgewirkt. Vielen gilt Hans-Chr<strong>ist</strong>ian<br />
Ströbele als Vorzeige-68er: Zusammen mit Horst Mahler, <strong>de</strong>m heutigen<br />
Holocaust-Leugner, schuf er 1969 das sozial<strong>ist</strong>ische Anwaltskollektiv. In <strong>de</strong>n<br />
70ern vertrat er die RAF-Gefangenen <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Generation.<br />
an<strong><strong>de</strong>r</strong>s. Die APO hatte <strong>de</strong>n Anspruch,<br />
Theorien und Vorstellungen darüber<br />
zu entwickeln: Was <strong>ist</strong> falsch, was <strong>ist</strong><br />
die Ursache für <strong>de</strong>n Faschismus, und<br />
wo muss es hingehen, dass so etwas nie<br />
wie<strong><strong>de</strong>r</strong> passiert?<br />
Fin<strong>de</strong>n Sie im Rückblick, dass Sie erfolgreich<br />
mit Ihren Zielen waren?<br />
Natürlich hätte man einiges an<strong><strong>de</strong>r</strong>s<br />
machen können. Aber die Grundrichtung<br />
halte ich nach wie vor für<br />
so richtig, dass ich einen großen <strong>Teil</strong><br />
meines jetzigen politischen Lebens<br />
dafür einsetze und mich an <strong><strong>de</strong>r</strong> Frage<br />
orientiere: Wie kann ich zu einer<br />
Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt zu gerechteren<br />
Verhältnissen beitragen? Ich bin sicher,<br />
dass ich da auch weitermachen wer<strong>de</strong>,<br />
solange es meine Gesundheit zulässt.<br />
Warum wur<strong>de</strong> er <strong>von</strong> <strong>de</strong>n 68ern verehrt? Der<br />
Revolutionsstar verband erstmals jugendliches<br />
Charisma mit kommun<strong>ist</strong>ischen<br />
I<strong>de</strong>alen. Zu<strong>de</strong>m wollte er <strong>de</strong>n „Neuen<br />
Menschen“ schaffen – und zwar mit<br />
Gewalt. Che war aber auch <strong><strong>de</strong>r</strong> träumerische<br />
Weltverbesserer, <strong><strong>de</strong>r</strong> erst Lateinamerika,<br />
danach <strong>de</strong>n ganzen Planeten <strong>von</strong><br />
Armut, Krankheit und Ausbeutung befreien<br />
wollte. Sein Versuch in Bolivien scheiterte:<br />
Am 9. Oktober 1967 wur<strong>de</strong> er <strong>von</strong> einem<br />
bolivischen Feldwebel erschossen.
mythos68 | April 2008 persönlich<br />
2006 hatte <strong><strong>de</strong>r</strong> 27-Jährige selbst für<br />
die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus<br />
kandidiert, allerdings erfolglos.<br />
Seit<strong>de</strong>m <strong>ist</strong> es um <strong>de</strong>n Erben <strong>de</strong>s<br />
Revolutionärs etwas still gewor<strong>de</strong>n.<br />
Eigentlich <strong>ist</strong> Marek heute ein ganz<br />
normaler junger Mann, wären da nicht<br />
die ständigen Interviewanfragen. Mal<br />
sehen, welche Spuren er hinterlassen<br />
wird.<br />
politikorange: Erkennt <strong>de</strong>ine Mutter Seiten <strong>von</strong><br />
<strong>de</strong>inem Vater an dir?<br />
Marek Dutschke: Ich weiß es nicht.<br />
Gute Frage. Müsste man sie mal<br />
fragen.<br />
Gretchen Dutschke zog nach <strong>de</strong>m Tod ihres<br />
Lebensgefährten Rudi Dutschke in die Vereinigten<br />
Staaten. Dort b<strong>ist</strong> du auch groß gewor<strong>de</strong>n.<br />
Wann hast du angefangen, dich mit <strong>de</strong>inem<br />
Vater auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>zusetzen?<br />
Relativ spät, wür<strong>de</strong> ich sagen. Ungefähr<br />
mit 18, 19 Jahren. Mit 20, als<br />
ich nach Berlin ging, habe ich größere<br />
Schritte gemacht. Von meiner Mutter<br />
habe ich wenig erfahren, mehr <strong>von</strong><br />
Bekannten, die hier in Berlin leben,<br />
Rudi Dutschke<br />
(1940 – 1979)<br />
„Ich halte das bestehen<strong>de</strong><br />
parlamentarische System für<br />
unbrauchbar. Das heißt, wir<br />
haben in unserem Parlament<br />
keine Repräsentanten, die die<br />
Interessen unserer Bevölkerung –<br />
die wirklichen Interessen unserer<br />
Bevölkerung – ausdrücken.“<br />
o<strong><strong>de</strong>r</strong> durch Bücher. Ich habe allerdings<br />
mit 20 Jahren nur Positives sehen<br />
können. Ich war noch nicht bereit,<br />
mich damit kritisch auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>zusetzen.<br />
Vor sieben Jahren hast du das Buch „Die Spuren<br />
meines Vaters“ geschrieben. Dort erklärst<br />
du, dass du in <strong><strong>de</strong>r</strong> Partei Bündnis90/Die<br />
Grünen die Spuren <strong>de</strong>ines Vaters am me<strong>ist</strong>en<br />
wie<strong><strong>de</strong>r</strong>erkennst.<br />
Ja, das glaube ich auch. Sehr<br />
simpel gedacht, eigentlich. Aber Rudi<br />
Dutschke war ein Gründungsmitglied<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Grünen. Politisch betrachtet,<br />
sind dort am ehesten Spuren <strong>von</strong> ihm<br />
erkennbar.<br />
Abgesehen <strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gründung <strong><strong>de</strong>r</strong> Grünen,<br />
warum waren die 68er so entschei<strong>de</strong>nd für die<br />
Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland? Nach Meinung<br />
vieler H<strong>ist</strong>oriker haben die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
politischen Reformen, z.B. in <strong><strong>de</strong>r</strong> Sozialpolitik,<br />
schon früher stattgefun<strong>de</strong>n.<br />
Das kann durchaus sein. Aber politische<br />
Reformen sind nicht alles. Es<br />
muss auch eine Auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung<br />
in <strong><strong>de</strong>r</strong> Bevölkerung geben. Die fand<br />
DER REVOLUTIONäRE RUDI<br />
damals in Berlin auf <strong>de</strong>n Straßen statt.<br />
Konfrontation zwischen völlig verschie<strong>de</strong>nen<br />
Meinungen kann nicht im<br />
Bun<strong>de</strong>stag beschlossen wer<strong>de</strong>n. 68 <strong>ist</strong><br />
es lautstark auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Straße passiert.<br />
Dabei soll es ziemlich autoritär zugegangen<br />
sein, erklärt <strong><strong>de</strong>r</strong> H<strong>ist</strong>oriker Götz Aly in seiner<br />
neuen Publikation „Unser Kampf“. Er glaubt<br />
totalitäre Aspekte <strong>de</strong>s Nationalsozialismus in<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> 68er Bewegung wie<strong><strong>de</strong>r</strong>zuerkennen. Was<br />
<strong>de</strong>nkst du darüber?<br />
Die 68er-Bewegung mit <strong>de</strong>m Nationalsozialismus<br />
zu vergleichen, scheint<br />
mir eine abwegige Interpretation zu<br />
sein. Es gab einmal eine Diskussion<br />
zwischen Ralf Dahrendorf, einem<br />
Liberalen <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Stun<strong>de</strong>, und<br />
Rudi Dutschke. Sie haben sich Stühle<br />
geschnappt und sich unter <strong>de</strong>m freien<br />
Himmel auf Autos gesetzt, um vor<br />
<strong>de</strong>n umliegen<strong>de</strong>n Stu<strong>de</strong>nten zu diskutieren.<br />
Das war ur<strong>de</strong>mokratisch!<br />
Selbst Habermas hat Rudi Dutschke<br />
einmal als Linksfasch<strong>ist</strong>en bezeichnet.<br />
Er hat es aber auch wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zurückgenommen.<br />
Wer war er? Rudi Dutschke wur<strong>de</strong> wegen seines Engagements in <strong><strong>de</strong>r</strong> evangelischen<br />
Jugend und <strong><strong>de</strong>r</strong> Verweigerung <strong>de</strong>s Wehrdienstes in <strong><strong>de</strong>r</strong> DDR das<br />
Studium verwehrt. Kurz vor <strong>de</strong>m Mauerbau sie<strong>de</strong>lte er nach West-Berlin<br />
über, studierte an <strong><strong>de</strong>r</strong> FU Soziologie. 1962 war er Mitbegrün<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> „Subversiven<br />
Aktion“. Die Gruppe schloss sich 1964 <strong>de</strong>m SDS an und übernahm an<br />
vielen Orten die Führerschaft.<br />
Und heute? Wie kaum eine an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Person steht <strong><strong>de</strong>r</strong> Name Rudi Dutschke für<br />
die Stu<strong>de</strong>ntenbewegung. Sein Streifenpulli <strong>ist</strong> bis heute im Heimatmuseum<br />
<strong>von</strong> Luckenwal<strong>de</strong>, Rudis Geburtsort, zu bewun<strong><strong>de</strong>r</strong>n.<br />
Ge<strong>de</strong>nktafel für Rudi Dutschke am Kurfürstendamm<br />
ikonen |<br />
Warum wur<strong>de</strong> er <strong>von</strong> <strong>de</strong>n 68ern verehrt? Rudi<br />
Dutschke wur<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> Öffentlichkeit<br />
weitaus bekanntester Vertreter <strong><strong>de</strong>r</strong> radikalen<br />
linken Stu<strong>de</strong>ntenbewegung, <strong><strong>de</strong>r</strong> durch seine<br />
utopischen, <strong>von</strong> religiösen Elementen nicht<br />
freien Entwürfe eines Sozialismus Sympathien<br />
weit über die Stu<strong>de</strong>ntenbewegung hinaus<br />
erhielt. Das Attentat auf ihn 1968 überlebte<br />
Rudi Dutschke nur knapp; er lebte zeitweise<br />
mit seiner Familie in Großbritannien und<br />
Dänemark und starb 1979 an <strong>de</strong>n Spätfolgen<br />
<strong>de</strong>s Attentats.<br />
07<br />
„SPUREN<br />
HINTERLASSEN“<br />
Spuren hat Rudi Dutschke vor allem in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Partei DIE GRÜNEN hinterlassen, meint Marek.<br />
Wo<strong>von</strong> er spricht, sollte er wissen – er <strong>ist</strong> Rudi<br />
Dutschkes Sohn. Von Anne Pietzunka
08<br />
alltäglich<br />
IMMER MÜSSEN WIR MACHEN, WAS WIR WOLLEN!<br />
„Deutschlands unartigste Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>“<br />
nannte ein Magazin vor 40 Jahren<br />
diese kleinen Rabauken aus <strong>de</strong>n Berliner<br />
Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>lä<strong>de</strong>n. Alles war erlaubt,<br />
was in Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>gärten streng verboten<br />
wur<strong>de</strong>: Wän<strong>de</strong> bemalen, aus <strong>de</strong>m<br />
Fenster klettern, mit <strong>de</strong>m Essen<br />
spielen. Der Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>la<strong>de</strong>n sollte die<br />
APO <strong><strong>de</strong>r</strong> Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>gartenwelt wer<strong>de</strong>n.<br />
Der dort praktizierte antiautoritäre<br />
Erziehungsstil sorgte in bürgerlichen<br />
Kreisen für Entsetzen.<br />
Die ersten Berliner Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>lä<strong>de</strong>n<br />
wur<strong>de</strong>n auf Initiative <strong>de</strong>s „Aktionsrates<br />
zur Befreiung <strong><strong>de</strong>r</strong> Frau“ 1968 gegrün<strong>de</strong>t.<br />
Sie sollten die Mütter entlasten<br />
und so ihre politische Arbeit im SDS<br />
för<strong><strong>de</strong>r</strong>n.<br />
„Bei uns war es immer laut und<br />
für Außenstehen<strong>de</strong> wahrscheinlich<br />
fürchterlich chaotisch“, erzählt Heike,<br />
die 1969 selbst in einem Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>la<strong>de</strong>n<br />
in Wilmersdorf war. Sie erinnert sich<br />
an das Mao-Poster und die „Chinablätter“<br />
<strong>de</strong>s Vaters.<br />
Im Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>la<strong>de</strong>n ging es nicht<br />
gera<strong>de</strong> zimperlich zu. „Bei uns hat es<br />
erstmal geknallt, und dann hat man<br />
vielleicht darüber gesprochen“, erklärt<br />
Heike. Die Gemeinschaft stand immer<br />
im Mittelpunkt. Man war ständig<br />
zusammen, lieferte sich mit an<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />
Gruppen Rangeleien und ging mit <strong>de</strong>n<br />
Eltern auf je<strong>de</strong> Demonstration.<br />
Rückblickend sieht Heike die Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>la<strong>de</strong>nzeit<br />
als das Experiment einer<br />
neuen Ordnung. Der neue Mensch<br />
sollte geschaffen wer<strong>de</strong>n, und da<br />
begannen die Väter und Mütter <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Stu<strong>de</strong>ntenrevolte gleich mal bei ihren<br />
eigenen Sprösslingen.<br />
Doch was <strong>ist</strong> <strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>la<strong>de</strong>nbewegung<br />
geblieben?<br />
Auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Suche nach einer Antwort<br />
habe ich <strong>de</strong>n Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>la<strong>de</strong>n „Frischlinge“<br />
besucht. Ein kleiner, gemütlicher<br />
Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>la<strong>de</strong>n im Berliner Wedding.<br />
13 Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>, zwei Betreuerinnen – ein<br />
Luxus, <strong>de</strong>n heute nicht je<strong>de</strong>s Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>gartenkind<br />
genießen kann.<br />
Nach<strong>de</strong>m ich mich im Spielraum<br />
auf <strong>de</strong>m Antirutsch-Teppich nie<strong><strong>de</strong>r</strong>gelassen<br />
habe, bin ich in kürzester Zeit<br />
<strong>von</strong> Eisenbahnschienen umzingelt.<br />
Drei kleine Jungs lassen ihre Lok<br />
stürmisch um mich kreisen.<br />
Die bei<strong>de</strong>n Betreuerinnen Ines und<br />
Silke sind seit 15 Jahren dabei. Was<br />
ihnen gefalle, frage ich sie: „Im Kila <strong>ist</strong><br />
man für sich selbst verantwortlich. Es<br />
<strong>ist</strong> familiärer, kleiner, und man kennt<br />
die Eltern viel besser.“<br />
Je<strong><strong>de</strong>r</strong> Tag beginnt mit einem Morgenkreis,<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Ruhe in <strong>de</strong>n Tag bringen<br />
soll. Danach kann munter gespielt,<br />
gebastelt und getobt wer<strong>de</strong>n. „Uns <strong>ist</strong><br />
die individuelle Betreuung <strong><strong>de</strong>r</strong> Kin<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
sehr wichtig“, betont Silke. Doch was<br />
<strong>ist</strong> <strong>von</strong> <strong>de</strong>m antiautoritären Konzept<br />
<strong>von</strong> damals geblieben? „Es gibt<br />
gewisse Regeln und Strukturen, ganz<br />
klar. Aber wir folgen keinem striktem<br />
Tagesablauf.“<br />
Heute organisieren die bei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n<br />
Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>la<strong>de</strong>n größtenteils selbst. Vor<br />
15 Jahren war das noch ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>s.<br />
Damals übernahmen die Eltern die<br />
Organisation: putzen, kochen, einkaufen.<br />
Heute kommt <strong>von</strong> montags<br />
bis donnerstags ein Bio-Lieferservice,<br />
manchmal gibt es auch Fleisch – in<br />
dieser Hinsicht <strong>ist</strong> man nicht mehr so<br />
strikt wie früher. Freitags kochen die<br />
Eltern noch selbst. Ein wenig Tradition<br />
muss auch gewahrt wer<strong>de</strong>n.<br />
Viele Eltern suchen heute zwar<br />
immer noch die Alternative zu Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>gärten,<br />
möchten aber nicht mehr<br />
so stark einbezogen wer<strong>de</strong>n wie früher.<br />
Als 2002 immer weniger Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> kamen<br />
und die Kila vor <strong>de</strong>m finanziellen Aus<br />
stand, spürten Ines und Silke, dass sich<br />
das alte Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>la<strong>de</strong>nsystem irgendwie<br />
mythos68 | April 2008<br />
Die Wän<strong>de</strong> sind mit dicken roten Pinselstrichen beschmiert. Ein kleiner Junge drückt seine grünbemalten Hän<strong>de</strong> gegen die weiße<br />
Tür. Drei Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> rennen grölend einem schwarzen Kater hinterher und wirbeln dabei mit Puppen und Teddybären durch die Luft. Ein<br />
kleines, zottelhaariges Mädchen verschwin<strong>de</strong>t mit ihrem Kopf in einem großen Nu<strong>de</strong>ltopf Von Kathrin Friedrich<br />
DIE REVOLTE IN DER REVOLTE<br />
In <strong><strong>de</strong>r</strong> me<strong>ist</strong> <strong>von</strong> Männern geführten<br />
Debatte über 68 tauchen Frauen höchstens<br />
am Ran<strong>de</strong> auf. Ihre Rolle und Kritik an <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Bewegung wird nur selten erwähnt. Doch<br />
was wäre 68 ohne die Frauen gewesen?<br />
Von Ulrike Schulz<br />
Weiterführen<strong>de</strong> Lektüre:<br />
Ute Kätzel: Die 68erinnen. Berlin, 2002.<br />
„Tatsächlich waren wir selbst Akteurinnen<br />
und nicht etwa die Anhängsel<br />
<strong>von</strong> irgendwem“, sagt die ehemalige<br />
Hochschulreferentin <strong>de</strong>s SDS, Susanne<br />
Schunter-Kleemann. Die Frauen beteiligten<br />
sich nicht nur an <strong>de</strong>n Demos,<br />
son<strong><strong>de</strong>r</strong>n übernahmen eigene Aufgaben<br />
und bald auch das Wort. Eine kleine<br />
Auswahl: Annette Schwarzenau war<br />
Delegierte im „Zentralrat <strong><strong>de</strong>r</strong> Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>lä<strong>de</strong>n“<br />
und am Kacke-Attentat auf<br />
die Stern-Redaktion 1969 beteiligt.<br />
Sigrid Fronius war 1968 Vorsitzen<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>s AStA und Mitbegrün<strong><strong>de</strong>r</strong>in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Kritischen Universität. Sigrid Rüger<br />
war seit 1965 stu<strong>de</strong>ntische Sprecherin<br />
im Aka<strong>de</strong>mischen Senat und zu <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Zeit an <strong><strong>de</strong>r</strong> FU bekannter als Rudi<br />
Dutschke.<br />
Die I<strong>de</strong>e zur Gründung <strong>von</strong> Kommunen<br />
in Berlin hatte nicht Dieter<br />
Kunzelmann, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n Gretchen<br />
Dutschke-Klotz, die über Versuche in<br />
<strong>de</strong>n USA gelesen hatte. Das Ergebnis<br />
gefiel ihr aber nicht mehr, als Kunzelmann<br />
offene Beziehungsstrukturen<br />
for<strong><strong>de</strong>r</strong>te. Denn nun „sollte freie<br />
Sexualität be<strong>de</strong>uten, dass die Frauen<br />
<strong>de</strong>n Männern immer zur Verfügung<br />
stehen.“ Nur wenige Frauen, wie<br />
Dagmar Pryztulla, wohnten fest in<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Kommune. Viele litten dort, weil<br />
sie an <strong>de</strong>m Partner hingen, mit <strong>de</strong>m<br />
sie eingezogen waren. Eifersucht galt<br />
aber als bürgerliches Relikt, das zu<br />
überwin<strong>de</strong>n sei. Außer<strong>de</strong>m konnten<br />
die Frauen die freie Liebe nicht im<br />
gleichen Maße leben, weil die Männer,<br />
die ihnen gefielen, wegen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Dominanz <strong><strong>de</strong>r</strong> Kommunar<strong>de</strong>n dort<br />
keinen Platz hatten. Mit <strong>de</strong>n Folgen<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> freien Liebe, sprich einer ungewollten<br />
Schwangerschaft, mussten sie<br />
auch me<strong>ist</strong> allein fertig wer<strong>de</strong>n. Den<br />
größten Diskussionsbedarf gab es aber<br />
– wie in einer Kleinfamilie – über die<br />
alltäglichen Pflichten <strong>de</strong>s Haushaltes,<br />
<strong>de</strong>nn die Kommunar<strong>de</strong>n beteiligten<br />
sich nur ungern an Abwasch und<br />
Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>versorgung.<br />
Das Hauptproblem <strong><strong>de</strong>r</strong> Frauen mit<br />
Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>n war <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeitmangel. Helke<br />
ausgelebt hatte. „Wir haben gemerkt,<br />
dass die Eltern einfach keine Zeit<br />
mehr hatten, soviel Eigeninitiative in<br />
<strong>de</strong>n Kila zu stecken“, erklärt Ines. So<br />
ließen sich die bei<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Vorstand<br />
wählen und reduzierten die Pflichten<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Eltern. Seit<strong>de</strong>m läuft es bei <strong>de</strong>n<br />
„Frischlingen“ wie<strong><strong>de</strong>r</strong> rund. Silke<br />
glaubt, dass man sich langsam wie<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
auf die alten Werte zurückbesinne. Die<br />
Eltern treffen sich auch mal nach 16<br />
Uhr im Kila, um zusammenzusitzen,<br />
sich auszutauschen und ihren Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />
beim Spielen zuzuschauen.<br />
Seit die ersten Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>lä<strong>de</strong>n ihre<br />
Türen öffneten, hat sich viel verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t.<br />
Die Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> sollen immer noch zu<br />
einem selbstbestimmten Leben herangeführt<br />
wer<strong>de</strong>n, jedoch behutsamer als<br />
noch vor 40 Jahren.<br />
Mag <strong><strong>de</strong>r</strong> Begriff „antiautoritär“<br />
heute auch überholt sein, die Revolte<br />
in <strong>de</strong>n Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>gärten hat eine freiere<br />
Pädagogik hervorgebracht.<br />
Die Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>lä<strong>de</strong>n <strong>von</strong> heute sind<br />
nicht mehr nur das „Experiment einer<br />
neuen Ordnung“, sie haben sich ihren<br />
Platz in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>gartenlandschaft<br />
erkämpft und sind dort nicht mehr<br />
wegzu<strong>de</strong>nken.<br />
San<strong><strong>de</strong>r</strong> grün<strong>de</strong>te <strong>de</strong>shalb <strong>de</strong>n „Aktionsrat<br />
zur Befreiung <strong><strong>de</strong>r</strong> Frauen“, aus <strong>de</strong>m<br />
die ersten Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>lä<strong>de</strong>n hervorgingen.<br />
Die Frauen wollten abwechselnd auf<br />
die Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> aufpassen, um mehr Zeit<br />
für Politik zu haben.<br />
Mehr und mehr wur<strong>de</strong> ihnen ihre<br />
eigene Unterdrückung bewusst. So<br />
for<strong><strong>de</strong>r</strong>te San<strong><strong>de</strong>r</strong> eine Diskussion im<br />
SDS über ihre Situation. Der SDS war<br />
zwar männerdominiert, und Gretchen<br />
Dutschke-Klotz beschreibt, dass die<br />
me<strong>ist</strong>en Frauen ausgelacht wur<strong>de</strong>n,<br />
wenn sie sich zu Wort mel<strong>de</strong>ten,<br />
<strong>de</strong>nnoch war er ein Stück egalitärer<br />
als <strong><strong>de</strong>r</strong> Rest <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft. Wenn<br />
sich etwas am Geschlechterverhältnis<br />
än<strong><strong>de</strong>r</strong>n konnte, dann hier. Als die<br />
„Genossen“ sich aber auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Frankfurter<br />
Delegiertenkonferenz im Herbst 68<br />
weigerten, darüber zu re<strong>de</strong>n, hagelte<br />
es ein Tomaten. Die wüten<strong>de</strong>n Stu<strong>de</strong>ntinnen<br />
grün<strong>de</strong>ten Frauengruppen.<br />
Manche sagen, es sei das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s SDS<br />
gewesen. Für die Frauenbewegung war<br />
es je<strong>de</strong>nfalls ein Anfang.
mythos68 | April 2008 alltäglich<br />
Der Minirock<br />
1961 erstmals in einer Kollektion präsentiert, wur<strong>de</strong><br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Mini erst mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Vermarktung <strong><strong>de</strong>r</strong> Antibabypille<br />
Mitte <strong><strong>de</strong>r</strong> Sechziger zum Symbol <strong><strong>de</strong>r</strong> sexuellen Freiheit<br />
und Rebellion. Nicht nur die Beine, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch<br />
die immer noch konservativen Moralvorstellungen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Gesellschaft wur<strong>de</strong>n mit ihm bloßgelegt.<br />
Franziska Langner<br />
Wo sind die schrillen Farben?<br />
Die Sensations-Ankündigungen in<br />
draller Schrift? Nackte Haut? Die<br />
Aufmachung <strong>ist</strong> ungewohnt bie<strong><strong>de</strong>r</strong>.<br />
Ein junger Roy Black lächelt verlegen<br />
vom Cover, es gibt we<strong><strong>de</strong>r</strong> Extras noch<br />
Gratisposter. Nur ein Stück Bein <strong>von</strong><br />
Barry Gibb für <strong>de</strong>n Starschnitt. Doch<br />
das <strong>ist</strong> sie tatsächlich.<br />
Über Roys geschleckter Frisur<br />
leuchten die fünf vertrauten Großbuchstaben:<br />
BRAVO. 52. Ausgabe,<br />
28. Dezember 1968. Preis: Eine<br />
Deutschmark.<br />
Umblättern. Die LP <strong>von</strong> Tom Jones<br />
<strong>ist</strong> die Platte <strong><strong>de</strong>r</strong> Woche, als Beilage<br />
gibt es 50 Starfotos für die Geldbörse<br />
und zehn neue Beatles-Texte. Doch<br />
wo bleiben die Freizügigkeit und <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Freisinn <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er?<br />
Twiggy<br />
Der Hungerwahn beginnt: lange, dünne Beine; flacher<br />
Busen und die Betonung <strong>de</strong>s Gesichtes mit möglichst<br />
großen Augen – gepuscht <strong>von</strong> falschen Wimpern und<br />
einem blass geschminkten Mund. Als umjubeltes Idol<br />
sollte sie so kindlich und mädchenhaft wie möglich<br />
sein.<br />
Jacky Kennedy Stil<br />
als First Lady <strong>von</strong> Amerika (1961-62) verkörpert sie das<br />
modische I<strong>de</strong>al und wur<strong>de</strong> unbewusst Trend-Setter <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Kostüme. Mit ihrer Kleidung „rockte“ sie das Weiße Haus,<br />
trotz ihrer repräsentativen Position. 1962 wur<strong>de</strong> ihre<br />
Lieblingsfarbe Rosa zur Mo<strong>de</strong>farbe erklärt.<br />
09<br />
DIE SECHZIGER: IN MODE<br />
DIE BRAVE BRAVO<br />
Sex, Drugs and Rock ’n’ roll? Pustekuchen. In <strong>de</strong>n wil<strong>de</strong>n Jahren war Deutschlands beliebteste Jugendzeitschrift mit<br />
Moral und Frotté-Nachthem<strong>de</strong>n gefüllt. Von Wlada Ullmer<br />
Dr. Sommer heißt noch Dr. Vollmer<br />
und <strong>ist</strong> stockkonservativ. In Schicksalsbriefen<br />
schil<strong><strong>de</strong>r</strong>t er die „schwierigsten<br />
Fälle aus seiner Praxis“. Einer 17-Jährigen,<br />
die eine heimliche Liebesbeziehung<br />
mit ihrer Freundin hat, rät er<br />
Folgen<strong>de</strong>s: „Mädchenfreundschaften<br />
sind tief und ausschließlich. Doch mit<br />
Liebe haben sie nichts zu tun.“ Früher<br />
o<strong><strong>de</strong>r</strong> später wer<strong>de</strong> sie schon <strong>de</strong>n passen<strong>de</strong>n<br />
Jungen kennen lernen. Petting<br />
und Onanie sind zwar nicht mehr<br />
tabu, aber auch nach <strong><strong>de</strong>r</strong> sexuellen<br />
Revolution bleibt es dabei: Mädchen<br />
lieben Jungs, Jungs lieben Mädchen.<br />
Punkt.<br />
Nicht, dass die BRAVO völlig<br />
asexuell wäre. Nur: Sex heißt hier<br />
Geschlechtsverkehr und <strong>ist</strong> ungefähr<br />
so spannend wie Haferkleie. Die<br />
Hippie<br />
Als Protest gegen <strong>de</strong>n Vietnam-Krieg kehrten junge Männer und Frauen <strong>de</strong>m konventionellen<br />
Kleidungstil <strong>de</strong>n Rücken. Sie wandten sich nicht-westlichen Kulturen<br />
und Religionen zu. Die bunte und flippige Mo<strong>de</strong> als Symbol <strong><strong>de</strong>r</strong> Freiheit wur<strong>de</strong> in<br />
<strong>de</strong>n 70er Jahren vermarktet und ihrer eigentlichen Funktion beraubt.<br />
Son<strong><strong>de</strong>r</strong>beilage „Ent<strong>de</strong>cke <strong>de</strong>inen<br />
Körper“ liest sich wie eine Mischung<br />
aus Gebrauchsanweisung und medizinischem<br />
Fachbuch. „Die Serie, <strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
man spricht“ – so ihr geheimnisvoller<br />
Untertitel – glänzt mit Beiträgen<br />
wie „Der gebändigte Instinkt – Vom<br />
Fortpflanzungstrieb bei Mensch und<br />
Tier.“<br />
Die Kids <strong>von</strong> heute wür<strong>de</strong>n die<br />
BRAVO nicht anrühren – selbst ihre<br />
Biobücher sind aufregen<strong><strong>de</strong>r</strong>. Während<br />
sie bei „That’s me“ echte Nacke<strong>de</strong>is<br />
zu sehen bekommen, musste sich die<br />
Jugend <strong>von</strong> damals mit gemalten Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />
uni<strong>de</strong>ntifizierbaren Geschlechts<br />
begnügen. Auch die Fragen waren<br />
harmloser: „Mein Freund <strong>ist</strong> nicht<br />
streng genug zu mir,“ sorgte sich 1968<br />
eine 15-Jährige. 40 Jahre später fragt<br />
Op-Art<br />
ein schwarz- weißer, geometrischer Stil, <strong><strong>de</strong>r</strong> auf Kontrasten aufbaut und, passend<br />
zu bewegten Zeiten, immer in Bewegung zu sein schien. Er spiegelte sich<br />
in Kleidung und Schmuck, wie Ohrringen, Ringen, Plastik- und Glasbroschen<br />
wie<strong><strong>de</strong>r</strong>.<br />
Pop- Art<br />
Bunte, fröhliche Mustermotive, unkonventionelle und zweckentfrem<strong>de</strong>te<br />
Mo<strong>de</strong> – wie zum Beispiel PVC-Regenmäntel als Sommerkleidung<br />
– prägten eine unkonventionelle Zeit.<br />
ein junger Leser: „Habt ihr Tipps zum<br />
One-Night-Stand?“<br />
Während <strong><strong>de</strong>r</strong> wil<strong>de</strong>n Jahre bleibt<br />
die BRAVO überwiegend … brav.<br />
Unter <strong>de</strong>m Titel „Träume in Spitze<br />
und Rüschen“ präsentieren die Mo<strong>de</strong>ls<br />
hochanständige Nachthem<strong>de</strong>n, man<br />
wirbt für Milch und Pickelsalbe. Die<br />
Heldin <strong><strong>de</strong>r</strong> damals noch fotolosen<br />
Love-Story geht zwar heimlich in <strong>de</strong>n<br />
„Beatschuppen“ und hat eine Liebelei<br />
mit <strong>de</strong>m Rockstar David Blue. Die<br />
erotische Seite ihrer Amouren bleibt<br />
aber stets im Dunkeln.<br />
Letzte Seite. Brigitte Bardot lächelt<br />
schmollmundig zum Abschied. Sex,<br />
Drugs and Rock ’n’ roll? Nicht gefun<strong>de</strong>n.<br />
Die sexuelle Aufklärung passierte<br />
in <strong>de</strong>n 68ern sicher auf an<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />
Wegen.
10<br />
alltäglich<br />
HEIDSCHI BUMBEIDSCHI ODER HELLO GOODBYE?<br />
Neue Musikrichtungen wie <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Psyche<strong>de</strong>lic Rock etablieren sich und<br />
reißen eine ganze Jugendgeneration<br />
in ihren Bann und Rausch. Die Songs<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> 68er preisen, sicherlich auch durch<br />
die Erfindung <strong><strong>de</strong>r</strong> Pille inspiriert,<br />
sexuelle Hemmungslosigkeit, freie<br />
Liebe, ekstatische Exzesse und die<br />
Einnahme <strong>von</strong> bewusstseinserweitern<strong>de</strong>n<br />
Substanzen. Vertreter wie<br />
Janis Joplin, Jimi Hendrix, The Doors,<br />
The Who o<strong><strong>de</strong>r</strong> Jefferson Airplane, die<br />
für Aufregung und Empörung sorgen,<br />
da sie als „Gefahr für Ordnung und<br />
Sitte“ angesehen wer<strong>de</strong>n, schaffen es<br />
in Deutschland zwar nie an die Spitze<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Charts, haben aber <strong>de</strong>nnoch einen<br />
gravieren<strong>de</strong>n Einfluss auf die Jugendkultur<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> BRD im Jahre 68. Motiviert<br />
SEx, DRUGS AND COMICS<br />
Als Schundliteratur verhöhnt, als gewaltverherrlichend<br />
und obszön verschrien: Comics. Zum<br />
En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Sechziger sind sie <strong><strong>de</strong>r</strong> Inbegriff <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Pop Art. Allerdings nur in <strong>de</strong>n USA. In Deutschland<br />
<strong>ist</strong> es still um die bunten <strong>Bild</strong>chen mit ihren<br />
Sprechblasen, zumin<strong>de</strong>st bis Alfred <strong>von</strong> Meysenbug<br />
1968 als Mittel <strong><strong>de</strong>r</strong> Rebellion <strong>Bild</strong> und Text<br />
vereint.<br />
Von Anja Breljak<br />
ikonen |<br />
James Marshall „Jimi“ Hendrix<br />
(1942 – 1970)<br />
„Wenn die Macht <strong><strong>de</strong>r</strong> Liebe<br />
die Liebe zur Macht übersteigt,<br />
erst dann wird die Welt endlich<br />
wissen, was Frie<strong>de</strong>n heißt.“<br />
<strong>von</strong> <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>ologien <strong><strong>de</strong>r</strong> Beatniks<br />
entwickelt sich schließlich En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Sechziger auch in Deutschland eine<br />
neue Musikrichtung – <strong><strong>de</strong>r</strong> „Krautrock“.<br />
Mit ihren <strong>de</strong>utschsprachigen<br />
Texten transportierten Bands wie<br />
Amon Düül <strong>de</strong>n Revolutionsgedanken<br />
auf die Tanzfläche.<br />
Die <strong>de</strong>utschen Charts hingegen<br />
wer<strong>de</strong>n <strong>von</strong> traditionellen Schlagern<br />
und internationalem Pop überschattet.<br />
Die Hitpara<strong>de</strong> in Deutschland könnte<br />
unterschiedlicher und farbenfroher<br />
nicht sein: Der kleine Knirps Heintje<br />
erfreut sich großer Beliebtheit und<br />
bege<strong>ist</strong>ert Mütter und brave Mä<strong>de</strong>ls<br />
mit Songs wie „Mama“, „Du sollst<br />
nicht weinen“ o<strong><strong>de</strong>r</strong> „Heidschi Bumbeidschi“.<br />
Neben Heintje spielt unter<br />
Ihr Blick geht ins Leere. Verträumt<br />
und hoffnungsvoll schaut sie aus <strong>de</strong>m<br />
schwarzen Kasten heraus, ver<strong>de</strong>ckt<br />
mit <strong>de</strong>m linken Arm ihre nackten<br />
Brüste, <strong><strong>de</strong>r</strong> rechte zieht am Reißverschluss,<br />
öffnet die Jeans und offenbart<br />
einen auf ihrem Unterleib kleben<strong>de</strong>n<br />
500-Mark-Schein. „Die kleine Liebe<br />
und das große Geschäft <strong><strong>de</strong>r</strong> Verkäuferin<br />
Jolly Boom“, heißt es in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
gezackten Sprechblase, schwarz auf<br />
weiß. Sie, Jolly Boom, <strong>ist</strong> umgeben<br />
<strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Ware, die sie verkauft. Jolly<br />
Boom wird allmählich selbst zur<br />
Ware.<br />
1968. Stu<strong>de</strong>ntinnen und Stu<strong>de</strong>nten<br />
<strong>de</strong>monstrieren, rebellieren gegen ihre<br />
Eltern, gegen das System. Sie schmeißen<br />
Steine. Der 28-jährige Alfred <strong>von</strong><br />
Meysenbug hingegen malt Comics.<br />
Jolly Boom erwacht in Meysenbugs<br />
DER GENIALE GITARRENGOTT<br />
Wer war er? Der Mann, <strong><strong>de</strong>r</strong> als erster solch wil<strong>de</strong>, psyche<strong>de</strong>lisch-verträumte<br />
und innovative Töne einer Fen<strong><strong>de</strong>r</strong> Stratocaster entlockte. Mit seinen Bands<br />
wie „The Jimi Hendrix Experience“ verän<strong><strong>de</strong>r</strong>te <strong><strong>de</strong>r</strong> kreative Wuschelkopf<br />
aus Amerika die Rockmusik nachhaltig. Seine sanften Harmonien, lyrischen<br />
Texte und ekstatischen Soli fesselten weltweit zigtausen<strong>de</strong> Fans. Kurz gesagt:<br />
Hendrix war <strong><strong>de</strong>r</strong> vielleicht wichtigste Gitarr<strong>ist</strong> aller Zeiten. Und ein visionärer<br />
Ausnahmemusiker, <strong>de</strong>ssen exzessive Karriere ein jähes En<strong>de</strong> fand: Mit<br />
nur 27 Jahren erstickte er in einem Londoner Hotelzimmer an seinem eigenen<br />
Erbrochenen. Um es mit <strong>de</strong>n Worten <strong>von</strong> Konzertveranstalter Fritz Rau<br />
zu sagen: „Jimi war ein Ikarus <strong>de</strong>s Blues, <strong><strong>de</strong>r</strong> in die Sterne flog, <strong><strong>de</strong>r</strong> Sonne zu<br />
nah kam und verbrannte.“<br />
mythos68 | April 2008<br />
1968 <strong>ist</strong> ein Jahr voller be<strong>de</strong>uten<strong><strong>de</strong>r</strong> Ereignisse und Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen.<br />
Das spiegelt sich auch in <strong><strong>de</strong>r</strong> Musik wi<strong><strong>de</strong>r</strong>.<br />
Von Nadja Wohlleben<br />
an<strong><strong>de</strong>r</strong>em <strong><strong>de</strong>r</strong> ehemalige Staubsauger-<br />
Vertreter Tom „The Tiger“ Jones<br />
mit „Delilah“ o<strong><strong>de</strong>r</strong> „Help Yourself“<br />
ganz oben in <strong><strong>de</strong>r</strong> Hitpara<strong>de</strong> mit. Der<br />
Traumschwiegersohn <strong><strong>de</strong>r</strong> BRD Peter<br />
Alexan<strong><strong>de</strong>r</strong> beglückt Großmütterchen<br />
& Co. mit Hits wie „Der letzte<br />
Walzer“, welcher auf heimischen Plattenspielern<br />
hoch und runter du<strong>de</strong>lt.<br />
Neben ihm bringen die kalifornischen<br />
Vorzeigejungs The Bee Gees, mit<br />
<strong>de</strong>m Song „Massachusetts“ und mit<br />
einem strahlen<strong>de</strong>n Zahnpastalächeln<br />
bewaffnet, Sonne und amerikanisches<br />
Lebensgefühl in <strong>de</strong>utsche Wohnstuben.<br />
Frauenversteher und Fönwellenträger<br />
Roy Black hingegen stillt<br />
mit schwülstigen Kraftballa<strong>de</strong>n wie<br />
„Bleib bei mir“ sehnsüchtig schmacht-<br />
erstem Comic-Strip „Supermädchen“<br />
zum Leben, als Rebellion gegen <strong>de</strong>n<br />
Kapitalismus und die unerbittliche<br />
Konsumgesellschaft, die aus <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
folgsamen Verkäuferin Jolly eine<br />
Prostituierte macht. Ganz im Stil <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Pop Art zeichnet Meysenbug nach<br />
Fotovorlagen, die er <strong>von</strong> Freun<strong>de</strong>n<br />
und Bekannten nachstellen lässt,<br />
montiert Werbesprüche und politische<br />
Flugblätter in die lockere <strong>Bild</strong>erfolge<br />
und lässt somit Realität und Fantasie<br />
verschmelzen. Daher brüllt auch je<strong>de</strong>s<br />
<strong>Bild</strong> Jollys Worte: „Alles <strong>ist</strong> käuflich!“<br />
Sie <strong>ist</strong> unverschämt nah am Leser,<br />
fixiert mit dre<strong>ist</strong>en Blicken die Außenwelt<br />
und sprengt alle Strukturregeln<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Comic-Kunst.<br />
Ebenfalls 1968 erscheint <strong><strong>de</strong>r</strong> Comic-<br />
Band „Glamour Girl“ – die Erzählstruktur<br />
noch wil<strong><strong>de</strong>r</strong>, die <strong>Bild</strong>er noch<br />
en<strong>de</strong> Herzen <strong>de</strong>utscher Frauen (und<br />
Männer). Das bis dato erfolgreichste<br />
Exportprodukt Großbritanniens<br />
sind The Beatles – vier Pilzköpfe aus<br />
Liverpool, die mit Hits wie „Hello<br />
Goodbye“ o<strong><strong>de</strong>r</strong> „Hey Ju<strong>de</strong>“ sowohl<br />
die <strong>de</strong>utschen, als auch die weltweiten<br />
Charts im Sturm erobern.<br />
Verrückte Welt – verrückte Hitpara<strong>de</strong>.<br />
So <strong>ist</strong> das 1968. Und obwohl<br />
die Ikonen <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit zume<strong>ist</strong> schon im<br />
Jenseits verweilen, führen sie auch im<br />
Diesseits zu Recht noch einige Playl<strong>ist</strong>s<br />
an. Vielleicht nicht gera<strong>de</strong> Heintje mit<br />
seinem Tophit „Heidschi Bumbeidschi“,<br />
doch Musiklegen<strong>de</strong>n wie die<br />
Rolling Stones rollen immer noch,<br />
und ihre Songs bleiben unsterblich.<br />
pornografischer. Im Gegensatz zu<br />
Jolly <strong>ist</strong> die Protagon<strong>ist</strong>in in „Glamour<br />
Girl“, Carla Ehrlich, bereits<br />
eine Prostituierte, die sich im Laufe<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Bild</strong>erfolge zur provozieren<strong>de</strong>n<br />
Künstlerin und Femin<strong>ist</strong>in entwickelt.<br />
Carlas Atem spürt man auf <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
letzten Seite: zufrie<strong>de</strong>ne Augen, leicht<br />
geöffneter Mund. Eine Nahaufnahme.<br />
Sie wird bei einer Protestaktion <strong>de</strong>s<br />
Sozial<strong>ist</strong>ischen Deutschen Stu<strong>de</strong>ntenbun<strong>de</strong>s<br />
(SDS) – <strong>de</strong>ssen Mitglied auch<br />
Meysenbug war – während einer<br />
SPD-Veranstaltung verhaftet. „Jetzt<br />
gehöre ich dazu!!“, schreit sie <strong>de</strong>m<br />
Leser ins Gesicht. Und dann, mit <strong>de</strong>m<br />
Zuklappen <strong><strong>de</strong>r</strong> letzten Seite, schließt<br />
sich dieses Kapitel ihres Lebens.<br />
Warum wur<strong>de</strong> er <strong>von</strong> <strong>de</strong>n 68ern verehrt? Hendrix<br />
spielte <strong>de</strong>n perfekten Sound zur Revolte:<br />
Mutig, rebellisch, glaubwürdig rockend. Auf<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Bühne gab er <strong>de</strong>n „Wild Man of Rock“,<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> die künstlerische Freiheit voll auslebte und<br />
seine Gitarre gera<strong>de</strong>zu zeremoniell verbrannte.<br />
Mit seinen Songs wie „Are You Experienced?“<br />
zeigte Jimi <strong>de</strong>n verstaubten Rocktraditionen<br />
<strong>de</strong>n erhobenen Mittelfinger. Legendär: Seine<br />
verstören<strong>de</strong> Interpretation <strong><strong>de</strong>r</strong> amerikanischen<br />
Nationalhymne auf <strong>de</strong>m Woodstock Festival.<br />
Und heute? Hendrix’ Musik hat nicht an Anziehungskraft eingebüßt: Jährlich wer<strong>de</strong>n Millionen CDs verkauft, immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
fin<strong>de</strong>t sich unveröffentlichtes Material <strong>de</strong>s Künstlers. Wirklich tot <strong>ist</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> ewig junge Hippieprinz noch nicht.
mythos68 | April 2008 alltäglich<br />
„<br />
WIR WAREN DIE SCHÖNSTEN, DIE BUNTESTEN,<br />
DIE SCHNELLSTEN, DIE KLÜGSTEN“<br />
Ein Interview mit Rainer Langhans. Von Kathrin Friedrich, Sonja Knüppel und Lystte Laffin<br />
Rainer Langhans wur<strong>de</strong> 1940 in<br />
Oschersleben geboren. Nach<strong>de</strong>m er<br />
sich ein Jahr für <strong>de</strong>n Militärdienst<br />
verpflichtet hatte, begann er an <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
FU Berlin Psychologie zu studieren.<br />
Er wollte sich und die Menschen<br />
besser verstehen lernen. <strong>Dieses</strong> Bestreben<br />
führte ihn im März 1967 in die<br />
Kommune 1, in <strong><strong>de</strong>r</strong> er ein Jahr später<br />
als Politstar und Freund Uschi Obermaiers<br />
berühmt wur<strong>de</strong>. Nach<strong>de</strong>m sich<br />
die Kommune aufgelöst hatte, suchte<br />
Langhans seinen Weg in <strong><strong>de</strong>r</strong> Spiritualität.<br />
Heute lebt Langhans in München<br />
und experimentiert zusammen mit<br />
vier Frauen an einem neuen sozialen<br />
Projekt namens „Harem“. Im Februar<br />
2008 erschien seine Autobiographie<br />
„Ich bin’s. Die ersten 68 Jahre.“<br />
Rainer, wenn du heute an die Stu<strong>de</strong>ntenbewegung<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> 68er zurück<strong>de</strong>nkst, welcher Aspekt<br />
fasziniert dich am me<strong>ist</strong>en?<br />
Es <strong>ist</strong> diese spirituelle Seite <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
ganzen Geschichte, <strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> ich heute<br />
meine, dass sie die wesentliche überhaupt<br />
<strong>ist</strong>. Sie vermag als Einzige zu<br />
erklären, was wir damals erlebt haben.<br />
Diesen merkwürdigen, h<strong>ist</strong>orisch<br />
einzigartigen Gefühlsaufstand, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
gleichzeitig auf <strong><strong>de</strong>r</strong> ganzen Welt stattfand.<br />
1967 und nicht erst 68 war so<br />
eine Art Urknall gewesen. 67 haben<br />
wir wirklich geglaubt, so wird die<br />
Welt. Die ganze Welt wird zu Kommunen,<br />
erstmal <strong><strong>de</strong>r</strong> SDS und dann<br />
Westberlin. Die Kommune hat kein<br />
Papier produziert, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n Gefühle<br />
Uschi Obermaier<br />
(*1946)<br />
„Ich habe viele Dummheiten<br />
gemacht. Aber keine, die ich<br />
bereue.“<br />
und innere Entwicklungen, und<br />
dadurch <strong>ist</strong> sie heute für die H<strong>ist</strong>oriker<br />
kaum fassbar. Zugleich hatten wir aber<br />
auch die größte Auswirkung. Bei <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Stu<strong>de</strong>ntenrevolte haben sich die Leute<br />
gefragt, ob die Stu<strong>de</strong>nten nicht ganz<br />
dicht wären. Aber Sex, da weiß je<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
was das <strong>ist</strong>, das interessiert.<br />
Aber die Leute haben bei <strong>de</strong>m Spruch „Wer<br />
zweimal mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Selben pennt, gehört schon<br />
zum Establishment“ auch gedacht, ihr wärt<br />
nicht mehr ganz dicht?<br />
Ja, das war natürlich ein Spruch<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Presse. Niemals unserer. Diesen<br />
Sexscheiß, <strong>de</strong>n die immer im Kopf<br />
haben, bis heute. Wir haben das<br />
damals aber gewusst und gedacht,<br />
dass sie sich ruhig etwas aus<strong>de</strong>nken<br />
können – je schlimmer <strong>de</strong>sto besser.<br />
Die <strong>Bild</strong>-Zeitung haben wir uns auch<br />
immer beschafft und überlegt, was wir<br />
für <strong>Bild</strong>er und Shows liefern könnten,<br />
die <strong>de</strong>utlicher machen, dass man freier<br />
sein kann und dass es schön <strong>ist</strong>, liebevoll<br />
zu sein.<br />
Es gibt heute noch Leute, auch aus<br />
<strong>de</strong>m Kommunenumfeld, die sagen,<br />
dass wir uns bei <strong>de</strong>m Rückenfoto das<br />
erste Mal nackt gesehen haben und<br />
eigentlich total verklemmt gewesen<br />
wären. Scheiße nein! Wir waren in<br />
einer gewissen Weise zärtlich miteinan<strong><strong>de</strong>r</strong>,<br />
aber nicht nur auf dieser<br />
sexuellen Ebene. Meiner Ansicht<br />
nach <strong>ist</strong> Sexualität ein Son<strong><strong>de</strong>r</strong>gebiet<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> größeren Liebe o<strong><strong>de</strong>r</strong> Zärtlichkeit.<br />
Sofern es körperlich wird, <strong>ist</strong> es eher<br />
ein Hin<strong><strong>de</strong>r</strong>nis für Intimität.<br />
Wenn es euch nicht um diesen ganzen „Sexscheiß“<br />
ging, wie können wir uns dann das<br />
Leben in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kommune vorstellen?<br />
Die Kommune war eine Gemeinschaft<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> lei<strong>de</strong>nschaftlich an sich<br />
selbst Interessierten. Wir hießen ja<br />
auch Horrorkommune, weil wir gemeinsam<br />
auf total intrapsychische<br />
Erkundungen gegangen sind. Ich bin<br />
in dieser Phase ziemlich am Schluss<br />
dazugekommen. Du wur<strong>de</strong>st da nach<br />
Strich und Fa<strong>de</strong>n auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>genommen,<br />
in Bezug auf <strong>de</strong>ine Reflexe,<br />
<strong>de</strong>in Denken, <strong>de</strong>ine Reaktionen und<br />
so weiter. Du warst ständig unter Beobachtung,<br />
nie allein, Tag und Nacht.<br />
Durch unsere Aktionen <strong>ist</strong> diese innere<br />
Arbeit dann natürlich völlig zu kurz<br />
gekommen. Ich hab dann En<strong>de</strong> 67<br />
gesagt, dass wir dieses Innere weiter<br />
erforschen müssen. Denn die Dritte<br />
Welt o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Krieg sind eigentlich in<br />
unserem Inneren.<br />
Wie war damals euer Verhältnis untereinan<strong><strong>de</strong>r</strong>,<br />
gab es hierarchische Strukturen?<br />
Wir kannten uns einfach wahnsinnig<br />
gut und mochten uns auch gerne. Es<br />
gab natürlich Auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzungen.<br />
Dieter Kunzelmann wollte immer <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Chef sein. Das war okay. Er war auch<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Erfahrenste. Wir bei<strong>de</strong> waren ein<br />
bisschen wie ein Ehepaar. Er war <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
extrovertierte, ewige Action-Typ. Wie<br />
ein Springteufelchen sprühte er voller<br />
I<strong>de</strong>en. Ich war <strong><strong>de</strong>r</strong> Intellektuelle, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
für die ganzen schlauen Typen, die<br />
natürlich auch in unserem Umkreis<br />
DAS KIFFENDE KOMMUNENMODEL<br />
Wer war sie? Uschi Obermaier wuchs ganz unspektakulär in einer bürgerlichen<br />
Familie auf und hatte auch ein unspektakuläres Leben vor sich. Bis sie auf<br />
<strong>de</strong>n prachtlockigen Rainer Langhans traf, in die Kommune 1 einzog und<br />
fortan öffentlichkeitswirksam für Emanzipation und freie Liebe eintrat.<br />
Als begehrtes Mo<strong>de</strong>l erschienen ihre Fotos in zahlreichen Illustrierten, wo<br />
sie auch stolz <strong>von</strong> ihren Jointdrehkünsten und prominenten Affären, unter<br />
an<strong><strong>de</strong>r</strong>em Mick Jagger und Jimi Hendrix, berichtete.<br />
Und heute? Seit mehreren Jahren schon wohnt das einstige Groupie bei Los<br />
Angeles und arbeitet als Schmuck<strong>de</strong>signerin. Ihre Exzesse und Erfahrungen<br />
wur<strong>de</strong>n letztes Jahr mit <strong>de</strong>m eher belanglosen Streifen „Das wil<strong>de</strong> Leben“ auf<br />
die Leinwand gebracht. Für Fotostrecken lässt die inzwischen 61-Jährige nur<br />
noch selten ihre Hüllen fallen – zuletzt für <strong>de</strong>n „Stern“.<br />
waren, alles wun<strong><strong>de</strong>r</strong>bar gerechtfertigt<br />
hat. Intellektuelle sind scheißängstlich<br />
und immer spät dran. Wir waren<br />
zusammen ein tolles Team. Deshalb<br />
waren wir bei<strong>de</strong>n die Autoritäten.<br />
Dieter war fast eine an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Generation.<br />
Er wirkte so alt auf uns, mit<br />
diesem Bart – wie ein Rübezahl. Ihm<br />
<strong>ist</strong> übrigens Unrecht getan wor<strong>de</strong>n.<br />
Er hat viel mehr Aufmerksamkeit verdient.<br />
Er hätte sie so gern gehabt – hat<br />
sie nie bekommen.<br />
Hast du heute eigentlich noch Kontakt zu <strong>de</strong>n<br />
ehemaligen Kommunar<strong>de</strong>n?<br />
Als ich meinen Weg in die Innerlichkeit<br />
und zur Spiritualität fand,<br />
haben meine früheren Leute, die ich<br />
so gut zu kennen glaubte, mit <strong>de</strong>nen<br />
ich mein ganzes Bewusstsein und<br />
meine ganze I<strong>de</strong>ntität gebil<strong>de</strong>t hatte,<br />
gemeint, dass ich jetzt völlig durchgeknallt<br />
wäre.<br />
Fritz Teufel war <strong><strong>de</strong>r</strong> Erste und Einzige,<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> sich bei mir nach 20 Jahren<br />
gemel<strong>de</strong>t und gesagt hat, dass sie mir<br />
unrecht getan hätten. Die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />
haben das nicht gemacht. Die fin<strong>de</strong>n<br />
mich nach wie vor scheiße und irgendwie<br />
blö<strong>de</strong> und durchgeknallt. Ich bin<br />
ja <strong><strong>de</strong>r</strong> große Verräter für die.<br />
ikonen |<br />
Warum wur<strong>de</strong> sie <strong>von</strong> <strong>de</strong>n 68ern verehrt?<br />
Uschi wur<strong>de</strong> zum Sexsymbol einer<br />
ganzen Generation, die sich nach<br />
ungezügelter Freiheit sehnte. Das<br />
Kommunenleben war für sie kein<br />
Ausdruck gesellschaftlichen Protests,<br />
son<strong><strong>de</strong>r</strong>n eine tabulose Partygemeinschaft<br />
mit Non-Stop-Drogenkonsum.<br />
Mit je<strong><strong>de</strong>r</strong> Menge Charme, nackter<br />
Haut und frechen Sprüchen schaffte<br />
sie es zur attraktiven Medienikone <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Revolte, ohne überhaupt irgendwie<br />
politisch aktiv zu sein.<br />
11
12<br />
Am Stuttgarter Platz entstand in einer<br />
Altbauwohnung die berühmt-berüchtigte<br />
Wohngemeinschaft „Kommune<br />
1“. Rainer Langhans und an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Intellektuelle<br />
ließen sich hier während <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
stürmischen Zeiten nie<strong><strong>de</strong>r</strong>. „Der Stutti<br />
hatte einen zwielichtigen Ruf, das war<br />
nicht gera<strong>de</strong> die Vorzeigeecke <strong>von</strong><br />
Charlottenburg. Dort gab’s <strong>de</strong>shalb<br />
damals relativ große und günstige Altbauwohnungen“,<br />
so Eckhard Schmidt.<br />
Im Spätsommer 68 zog die Kommune<br />
dann in eine verlassene Fabrik in<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Stephanstraße 60 in Moabit. Mit<br />
dieser zweiten Phase wer<strong>de</strong>n heute<br />
vor allem Sex, Drogen und Musik<br />
in Verbindung gebracht. Die alten<br />
Fabrikräume wur<strong>de</strong>n mittlerweile<br />
renoviert und zu Ferienwohnungen<br />
umgebaut, die man mieten kann. Auf<br />
diesem Weg können auch schwäbische<br />
Reisegruppen das wil<strong>de</strong> Leben <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Kommune nachspielen.<br />
Haus <strong><strong>de</strong>r</strong> ehemaligen Kommune 1<br />
Schauplatz <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s <strong>von</strong> Benno Ohnesorg<br />
mythos68 | April 2008<br />
„Die Presse hat stark polemisiert“, kritisiert Schmidt. Wer damals einen Parka trug, sei schon<br />
allein aufgrund <strong><strong>de</strong>r</strong> Kleidung als potenzieller Staatsfeind eingestuft wor<strong>de</strong>n. Auch das negative<br />
<strong>Bild</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Kommune 1 sei dadurch entstan<strong>de</strong>n. Schmidt <strong>ist</strong> froh, dass im Zuge <strong><strong>de</strong>r</strong> Bewegung und<br />
danach mehrere Verlage und Zeitungen gegrün<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>m Springer-Monopol entgegentraten.<br />
Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s durch die massive Hetze <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Bild</strong>zeitung wur<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Konzern zum erklärten<br />
Feind <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er. „Als ein paar Leute <strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Bewegung die Springerwagen auf <strong>de</strong>m Parkplatz<br />
angezün<strong>de</strong>t haben, das fand ich zum damaligen Zeitpunkt okay.“ Der Anschlag auf die Transporter<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Bild</strong>zeitung ereignete sich Kochstraße/Lin<strong>de</strong>nstraße. Umso grotesker <strong>ist</strong> es, dass ein <strong>Teil</strong><br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Kochstraße, <strong><strong>de</strong>r</strong> direkt am Gebäu<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Axel-Springer-Verlags vorbeiführt, Anfang 2007 in<br />
Rudi-Dutschke-Straße umbenannt wur<strong>de</strong>. Schmidt muss schmunzeln: „Das fand ich im Nachhinein<br />
interessant.“ Er habe sich in seinem Leben noch nie eine <strong>Bild</strong>zeitung gekauft.<br />
„Als Benno Ohnesorg <strong>von</strong> einem Berliner Poliz<strong>ist</strong>en<br />
erschossen wur<strong>de</strong>, gab das <strong>de</strong>m Ganzen eine politische<br />
Dimension“, erinnert sich Eckhard Schmidt. „Allmählich<br />
geriet die Situation außer Kontrolle.“ Das Radio<br />
verbreitete die Nachricht über die Demonstration zum<br />
nahen<strong>de</strong>n Besuch <strong>de</strong>s Schahs <strong>von</strong> Persien schnell. Der<br />
Treffpunkt: die Deutsche Oper. Der damals Auszubil<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
beobachtete das Treiben <strong>von</strong> einer Baumkrone<br />
aus, bis ein Poliz<strong>ist</strong> ihn freundlich auffor<strong><strong>de</strong>r</strong>te, herunterzukommen.<br />
Nach einem Schuss und <strong>de</strong>m Abtransport<br />
<strong>de</strong>s Toten seien die wüten<strong>de</strong>n Demonstranten<br />
dann weiter zum Kurfürstendamm gezogen. Der h<strong>ist</strong>orische<br />
Schuss fiel an <strong><strong>de</strong>r</strong> Ecke Krummestraße. Heute<br />
steht hier ein Supermarkt. Die Cornflakes-Packungen<br />
im Regal weisen je<strong>de</strong> Erinnerung an das tragische<br />
Ereignis <strong>von</strong> sich.<br />
Axel-Springer-Verlag
mythos68 | April 2008<br />
Kurfürstendamm<br />
Im westlichen Zentrum Berlins, die Gegenwart: Menschenmassen strömen <strong>de</strong>n Ku’damm entlang. Sie drängeln und schieben<br />
sich an <strong>de</strong>n Schaufensterauslagen vorbei und konsumieren. Für die Demonstranten <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er-Bewegung war hier <strong><strong>de</strong>r</strong> Ort, um<br />
möglichst viel Aufmerksamkeit zu erregen. „Man traf sich am Kranzler, setzte sich auf die Straße und dann ging gar nichts<br />
mehr“, erinnert sich Eckhard Schmidt heute. „In <strong>de</strong>n Tagen nach <strong>de</strong>m Tod <strong>von</strong> Benno Ohnesorg ging die Demo ab. Die Wut <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
jungen Leute wur<strong>de</strong> durch dieses Ereignis schnell entfacht. In <strong>de</strong>n nächsten Tagen hatten die Glaser viel zu tun.“ Eine Menge<br />
Schaufensterscheiben seien zu Bruch gegangen. Insbeson<strong><strong>de</strong>r</strong>e das Kaufhaus <strong>de</strong>s Westens, kurz KaDeWe, am Wittenbergplatz<br />
wur<strong>de</strong> zur Zielscheibe <strong>de</strong>s Zorns. „Das KaDeWe war die Inkarnation <strong>de</strong>s Kapitalismus, es war Symbol für die Deka<strong>de</strong>nz<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft“, beschreibt Schmidt. „Protestaktionen richteten sich immer gegen Institutionen, auch gegen das Amerika<br />
Haus.“ Ursprünglich zur Vermittlung amerikanischer Kultur eingerichtet, wur<strong>de</strong> das Zentrum in <strong><strong>de</strong>r</strong> Har<strong>de</strong>nbergstraße zum<br />
Treffpunkt militanter Demonstranten gegen <strong>de</strong>n Vietnamkrieg. Zur Zeit <strong>ist</strong> in <strong>de</strong>m Gebäu<strong>de</strong> die 68er-Ausstellung <strong><strong>de</strong>r</strong> Bun<strong>de</strong>szentrale<br />
für politische <strong>Bild</strong>ung zu besichtigen.<br />
In <strong><strong>de</strong>r</strong> „Dicken Wirtin“, nahe <strong>de</strong>s S-Bahnhofs Savignyplatz, lauschte Schmidt damals <strong>de</strong>n<br />
Gesprächen <strong><strong>de</strong>r</strong> politisch engagierten Stu<strong>de</strong>nten <strong>de</strong>s Otto-Suhr-Instituts <strong><strong>de</strong>r</strong> Freien Universität. Auch<br />
Rudi Dutschke und die späteren RAF-Terror<strong>ist</strong>en Andreas Baa<strong><strong>de</strong>r</strong> und Gudrun Ensslin diskutierten<br />
hier mit. Politik <strong>ist</strong> immer noch ein zentrales Gesprächsthema: „Joschka Fischer <strong>ist</strong> kriminell“,<br />
dröhnt es aus einer Ecke <strong><strong>de</strong>r</strong> Kneipe. Ein ergrauter Herr hat es sich dort mit einem Bier gemütlich<br />
gemacht und kann nun mit politischen Parolen nicht an sich halten. Zwei Tische weiter wird wild<br />
über die Situation <strong>de</strong>s „kleinen Bürgers“ in <strong><strong>de</strong>r</strong> Bun<strong>de</strong>srepublik diskutiert. Es sind nicht nur die alten<br />
Holztische, die in <strong><strong>de</strong>r</strong> „Dicken Wirtin“ ein wenig Nostalgie <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er versprühen.<br />
Kaufhaus <strong>de</strong>s Westens<br />
Amerika Haus<br />
Die „Dicke Wirtin“<br />
SPURENSUCHE<br />
13<br />
Was bleibt übrig? Auf Spurensuche im<br />
Berlin <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er<br />
Von Lea Gerschwitz und Lene Albrecht<br />
Die Einrichtung <strong><strong>de</strong>r</strong> „Dicken<br />
Wirtin“ wirkt wie ein Spagat zwischen<br />
<strong>de</strong>n Zeiten: Ein glänzen<strong><strong>de</strong>r</strong> Plasma-<br />
<strong>Bild</strong>schirm steht inmitten einer dunklen,<br />
alten Holzvertäfelung. Die Kneipe<br />
am Savignyplatz hat viele Jahrzehnte<br />
hinter sich. Hier in Charlottenburg,<br />
wo heute die Bürgerlichen West-Berlins<br />
durch die Straßen flanieren, war<br />
früher <strong><strong>de</strong>r</strong> Szene-Treff <strong><strong>de</strong>r</strong> Stu<strong>de</strong>nten.<br />
Damals nahm Eckhard Schmidt<br />
gerne hier am Tresen Platz, um über<br />
Hochschule, Politik o<strong><strong>de</strong>r</strong> Weltverbesserung<br />
zu diskutieren. Heute sitzt er<br />
wie<strong><strong>de</strong>r</strong> hier und erinnert sich. Nach<strong>de</strong>m<br />
er vom Gymnasium geflogen<br />
war, machte Schmidt zunächst eine<br />
Ausbildung zum Automechaniker.<br />
Später holte er sein Abitur nach, studierte<br />
und arbeitete als Lehrer. Heute<br />
unterrichtet er an einer Berufsschule.<br />
Der damals 17-Jährige hat die 68er-<br />
Bewegung hautnah miterlebt. Im<br />
Gespräch mit ihm begeben wir uns<br />
auf Spurensuche in das Berlin dieser<br />
aufregen<strong>de</strong>n Zeit.
14<br />
international<br />
AUF DER SUCHE NACH DEM DUFT DER SOMMERWIESE<br />
San Francisco zwischen Hippie und Heute. Von Markus Hujara<br />
An manchen beson<strong><strong>de</strong>r</strong>en Tagen<br />
kannst du sie noch sehen. Im Gol<strong>de</strong>n-<br />
Gate-Park zwischen <strong>de</strong>n großen alten<br />
Bäumen. Dort, wo nur schmale bleiche<br />
Sonnenstrahlen durch <strong>de</strong>n Nebel blinzeln.<br />
Folge <strong>de</strong>m Geruch einer frisch<br />
gemähten Sommerwiese, und dann<br />
stehen sie plötzlich vor dir. Seine Haare<br />
wild, die Instrumente selten. Ihr Busen<br />
blank und Blumen im Haar. Und <strong>von</strong><br />
irgendwoher fährt ein Einradler quer<br />
durch das Panorama.<br />
Sicher, <strong><strong>de</strong>r</strong> Tanz <strong>de</strong>s verrückten Alt-<br />
Hippie-Paares, er darf nicht fehlen<br />
– wie das wohlige Schein-Schrecken<br />
<strong>von</strong> Alcatraz, die Freiheits-Brise auf <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Gol<strong>de</strong>n-Gate-Bridge und die Le<strong><strong>de</strong>r</strong>tunte<br />
im Schwulenviertel Castro, die<br />
genüsslich an einem Melonen-Martini<br />
schlürft.<br />
Doch was <strong>ist</strong> gewor<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>m<br />
Traum einer Generation, einem<br />
Lebensstil, <strong><strong>de</strong>r</strong> doch gera<strong>de</strong> die Negation<br />
<strong>von</strong> Marke, das Gegenteil <strong>von</strong><br />
Schubla<strong>de</strong> sein wollte, wenn „Hippie-<br />
Culture“ gleich neben <strong><strong>de</strong>r</strong> Bimmelbahn<br />
als beson<strong><strong>de</strong>r</strong>es Highlight <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Touri-Tour angepriesen wird?<br />
Tatsächlich hat diese Stadt <strong>de</strong>n Duft<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Freiheit zu lange inhaliert. Er steckt<br />
zu tief in ihren Poren, als dass sie ihn<br />
jemals wie<strong><strong>de</strong>r</strong> auswaschen könnte.<br />
Sie begleitet, nein, sie bestimmt ihr<br />
Schicksal. Ohne ihn wäre die Emanzipation<br />
kaum zu <strong>de</strong>nken, die Schwulen-<br />
Bewegung kaum zu verstehen. Diese<br />
Stadt – sie <strong>ist</strong> die Stadt <strong>de</strong>s gelebten<br />
Ego-Imperativs: SEI, WIE DU SEIN<br />
WILLST! Die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en schauen dir<br />
dabei zu. O<strong><strong>de</strong>r</strong> eben auch nicht. Wie<br />
selbstverständlich die Bewohner <strong>von</strong><br />
„The City“ mit all <strong>de</strong>n Frei<strong>de</strong>nkern<br />
und Aussteigern, Durchgeknallten und<br />
Verrückten, Gescheiterten und Hilfesuchen<strong>de</strong>n<br />
gleichermaßen umgehen<br />
– es <strong>ist</strong> beeindruckend. Die Grenzen<br />
zwischen bedingungsloser Liberalität<br />
und gesellschaftlicher Gleichgültigkeit<br />
sind dabei fließend. Natürlich darf<br />
musiziert wer<strong>de</strong>n, was die fernöst-<br />
lichen Instrumente hergeben, doch<br />
genauso stört sich niemand am zum<br />
Himmel stinken<strong>de</strong>n Obdachlosen, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
täglich vom Sozialamts-Sicherheitsdienst<br />
zurück auf die Straße geschickt<br />
wird. Einmal gut durchlüften, einmal<br />
das Duftspray kräftig in <strong>de</strong>n Wartesaal<br />
halten, und alles war nur ein böser,<br />
nasaler Traum.<br />
So <strong>ist</strong> San Francisco nicht nur<br />
gelebte Freiheit, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch eine<br />
ganz normale US-amerikanische<br />
Metropole mit ihren sozialen Ungerechtigkeiten,<br />
ignorierten Problemen<br />
und natürlich ihrem ureigenen<br />
Kapitalismus. Kult und Mythos, das<br />
<strong>ist</strong> eben auch Mehrwert und Profit.<br />
Und so <strong>ist</strong> Haight-Ashbury, jenes<br />
legendäre Straßenkreuz, wo <strong><strong>de</strong>r</strong> Ruf<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Hippies zum ersten Mal vernommen<br />
und in die Welt hinaus gesen<strong>de</strong>t<br />
wur<strong>de</strong>, inzwischen eingekre<strong>ist</strong> <strong>von</strong><br />
„hippen“ Designerlä<strong>de</strong>n. Wer hier in<br />
<strong>de</strong>n pseudo-alternativen Shops einkauft,<br />
muss für das Batik-Shirt tief in<br />
mythos68 | April 2008<br />
ExPORTARTIKEL: SEx, DRUGS, LOVE & PEACE<br />
„Sit-ins“, Straßenkrawalle, sexuelle Revolution: Kaum eine an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Protestkultur hat die <strong>de</strong>utsche Stu<strong>de</strong>ntenbewegung so sehr beeinflusst wie die <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
USA. Doch im „Land <strong><strong>de</strong>r</strong> unbegrenzten Möglichkeiten“ steht 1968 auch für gescheiterte Träume und blutige Konflikte. Von Tino Höfert<br />
Wie antiamerikanisch war die <strong>de</strong>utsche<br />
68er-Bewegung? Betrachtet man<br />
die vielen Proteste, die sich En<strong>de</strong><br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> sechziger Jahre gegen die USA<br />
richteten, scheint die Antwort offensichtlich:<br />
Die zentrale Parole auf <strong>de</strong>n<br />
Antikriegs<strong>de</strong>mos lautete: „Amis raus<br />
aus Vietnam!“ Dutzen<strong>de</strong> Male flogen<br />
Eier gegen das Berliner Amerika Haus,<br />
beim legendären Pudding-Attentat<br />
bekam US-Vizepräsi<strong>de</strong>nt Hubert H.<br />
Humphrey die Kritik <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>utschen<br />
Stu<strong>de</strong>nten am eigenen Leibe zu spüren.<br />
Und für die Kommune 1 waren die<br />
Amerikaner „arme Schweine, die ihr<br />
Coca-Cola-Blut im vietnamesischen<br />
Dschungel verspritzen“. Die Welt-<br />
ikonen |<br />
Martin Luther King Jr.<br />
(1929 – 1968)<br />
„Ich habe einen Traum, dass<br />
meine vier Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> eines Tages in<br />
einer Nation leben<br />
wer<strong>de</strong>n, in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
man sie nicht nach<br />
ihrer Hautfarbe,<br />
son<strong><strong>de</strong>r</strong>n nach<br />
ihrem Charakter<br />
beurteilen wird.“<br />
macht USA war ein klares Feindbild,<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> infame Superlativ <strong>de</strong>s westlichen<br />
Kapitalismus.<br />
Was dabei me<strong>ist</strong> übersehen wird:<br />
Was wären die 68er ohne ihre großen<br />
Vorbil<strong><strong>de</strong>r</strong> aus <strong>de</strong>n US-Universitäten<br />
gewesen? Die revolutionären I<strong>de</strong>en<br />
importierte man zweifelsohne aus <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
amerikanischen Gegenkultur: Emanzipation,<br />
sexuelle Freiheit, Aufstand<br />
gegen verstaubte Traditionen. Schon<br />
ab 1964 veranstalteten Stu<strong>de</strong>nten<br />
aus Berkeley und New York „Sit-ins“,<br />
besetzten Rektorate und Verwaltungsgebäu<strong>de</strong>.<br />
Überregionale Hochschulgruppen<br />
wie „Free Speech Movement“<br />
und „Stu<strong>de</strong>nts for a Democratic<br />
DER FRIEDLICHE FRIEDENSSTIFTER<br />
Wer war er? Der Pastorensohn aus Atlanta entwickelte sich in <strong>de</strong>n 60er Jahren<br />
zur Galionsfigur <strong><strong>de</strong>r</strong> schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Der brillante Rhetoriker<br />
– er hielt bis zu 200 Re<strong>de</strong>n pro Jahr – organisierte dutzen<strong>de</strong> Demos<br />
und Protestaktionen für die Rechte <strong><strong>de</strong>r</strong> Afroamerikaner. Und zwar mit<br />
Erfolg: 1964 wur<strong>de</strong> das Gesetz zur Aufhebung <strong><strong>de</strong>r</strong> Rassentrennung verkün<strong>de</strong>t.<br />
Obwohl die Kennedy-Brü<strong><strong>de</strong>r</strong> zu seinen größten För<strong><strong>de</strong>r</strong>ern gehörten,<br />
geriet King immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> ins Fa<strong>de</strong>nkreuz <strong>von</strong> FBI, Justiz und Ku-Klux-Klan.<br />
Am 4. April 1968 wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>m Frie<strong>de</strong>nsnobelpre<strong>ist</strong>räger sein mutiges Engagement<br />
zum Verhängnis: Auf <strong>de</strong>m Balkon eines Motels in Memphis fiel er<br />
einem Attentat zum Opfer.<br />
Society“ organisierten Workshops,<br />
Diskussionsrun<strong>de</strong>n und zahlreiche<br />
Konzerte. Während die west<strong>de</strong>utsche<br />
Stu<strong>de</strong>ntenbewegung noch auf eine<br />
Initialzündung wartete, brach die<br />
kulturelle Umwälzung in <strong>de</strong>n USA<br />
wie eine Welle über das Land herein<br />
– getragen <strong>von</strong> <strong>de</strong>n psyche<strong>de</strong>lischen<br />
Revolutionsklängen <strong><strong>de</strong>r</strong> kalifornischen<br />
Blumenkin<strong><strong>de</strong>r</strong>, die ihre Botschaft <strong>von</strong><br />
„Make Love, Not War!“ in die gesamte<br />
Welt verbreiteten. Sex, Drugs, Love<br />
& Peace entwickelten sich zu hervorragen<strong>de</strong>n<br />
Exportartikeln – auch nach<br />
Deutschland.<br />
Doch die Träume <strong>von</strong> Liebe und<br />
Frie<strong>de</strong>n fan<strong>de</strong>n ein jähes En<strong>de</strong>: Am<br />
Abend <strong>de</strong>s 4. April 1968 wur<strong>de</strong> Martin<br />
Luther King <strong>von</strong> einem weißen Attentäter<br />
in Memphis nie<strong><strong>de</strong>r</strong>geschossen.<br />
Mit <strong>de</strong>m Tod <strong>de</strong>s schwarzen Bürgerrechtlers<br />
starben die Hoffnungen<br />
<strong>von</strong> Millionen Afroamerikanern auf<br />
Gleichberechtigung. Wie so oft gipfelte<br />
die Wut in fataler Gewalt: Plün<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen,<br />
Straßenschlachten, unschuldige<br />
Opfer. Knapp zwei Monate später<br />
das zweite Attentat: Der <strong>de</strong>mokratische<br />
Präsi<strong>de</strong>ntschaftskandidat Robert F.<br />
Kennedy wur<strong>de</strong> erschossen. Amerikas<br />
Obrigkeit schien machtlos – und auch<br />
die stu<strong>de</strong>ntische Protestkultur musste<br />
in diesen Tagen die Grenzen ihrer<br />
Weltverbesserungsträume erkennen.<br />
die Tasche greifen, um sich so frei und<br />
unbeschwert zu fühlen wie die Vertreter<br />
einer früheren Generation, <strong>de</strong>nen<br />
scheinbar noch Liebe, Frie<strong>de</strong>n, eine<br />
verstimmte Gitarre und ein bisschen<br />
LSD zum Glück gereichte.<br />
Doch wie wun<strong><strong>de</strong>r</strong>bar lässt sich das<br />
alles vergessen, wenn im Park wie<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
die Bühnen aufgebaut, die Peace, Pace,<br />
Rainbow und Earth-Fahnen gehisst<br />
wer<strong>de</strong>n, die Jongleure kommen, die<br />
Veggie-Burger bruzzeln, die Kin<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
tanzen und bunte Seifenblasen blasen.<br />
Der Hippie braucht wohl in allen<br />
Zeiten das Ereignis, das Gemeinschaftsgefühl.<br />
Er sucht die Masse, um<br />
das Freisein zu fin<strong>de</strong>n.<br />
Die Verstärker drehen auf. Ist es<br />
Reggae o<strong><strong>de</strong>r</strong> Rock ‘n’ Roll – egal. Du<br />
b<strong>ist</strong> glücklich. Und langsam, ganz langsam<br />
steigt er an dir hinauf, du kannst<br />
ihn spüren, um dich, in dir. Du atmest<br />
ihn tief ein, immer tiefer, <strong>de</strong>n Duft<br />
einer frisch gemähten Sommerwiese.<br />
Warum wur<strong>de</strong> er <strong>von</strong> <strong>de</strong>n 68ern verehrt? Als<br />
„Schwarzer Gandhi“ bewies King eindrucksvoll,<br />
dass man durch friedlichen Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>stand<br />
politische Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen erreichen kann. Ob<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Busboykott <strong>von</strong> Montgomery o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
berühmte Marsch nach Washington: Kings<br />
Aktionen stärkten nicht nur das Selbstbewusstsein<br />
<strong>von</strong> Millionen Schwarzen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />
beeinflussten auch die stu<strong>de</strong>ntische Protestkultur.<br />
Und heute? Fest steht: Ohne King hätte Präsi<strong>de</strong>ntschaftskandidat Barack Obama wohl niemals eine Chance, ins Weiße Haus<br />
einzuziehen. Erst Jahrzehnte später erkannte Amerikas Obrigkeit die h<strong>ist</strong>orische Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Bürgerrechtlers an. Pikant: Sein<br />
Tod wur<strong>de</strong> nie vollständig aufgeklärt.
mythos68 | April 2008 international<br />
Als <strong><strong>de</strong>r</strong> junge Politaktiv<strong>ist</strong> Jacob<br />
Ludvigsen im September 1971<br />
<strong>de</strong>n Fre<strong>ist</strong>aat Chr<strong>ist</strong>iania auf einem<br />
verlassenen Kasernengelän<strong>de</strong> im<br />
Kopenhagener Hafen ausrief, war<br />
die stu<strong>de</strong>ntische Protestbewegung<br />
auch in Dänemark bereits in vollem<br />
Gange. Im April 1968 hatten rund<br />
100 Psychologiestu<strong>de</strong>nten <strong>Teil</strong>e <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Kopenhagener Universität besetzt, um<br />
gegen die hierarchischen Strukturen<br />
innerhalb <strong>de</strong>s Hochschulsystems zu<br />
protestieren. Dem Stu<strong>de</strong>nten Finn<br />
Ejnar Madsen gelang es gar, während<br />
<strong>de</strong>s jährlichen Universitätsfests<br />
das Rednerpult zu erobern und in<br />
Anwesenheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Königsfamilie eine<br />
flammen<strong>de</strong> Re<strong>de</strong> gegen die Klassengesellschaft<br />
zu halten.<br />
So gesehen kann auch in Dänemark<br />
das Jahr 1968 als Geburtsstun<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Stu<strong>de</strong>ntenbewegung gesehen wer<strong>de</strong>n,<br />
die zeitgleich in <strong>de</strong>n USA und in<br />
großen <strong>Teil</strong>en Europas eine ganze<br />
Generation politisierte. Dennoch<br />
wird in Dänemark nur selten <strong>von</strong> „<strong>de</strong>n<br />
68ern“ gesprochen. Ein Grund dafür<br />
mag sein, dass die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Ereignisse <strong>de</strong>s dänischen „Jugendaufruhrs“,<br />
wie die Bewegung in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
dänischen Sprache zume<strong>ist</strong> bezeichnet<br />
wird, einige Jahre später stattfan<strong>de</strong>n.<br />
Stark vom Woodstock-Ge<strong>ist</strong> inspiriert<br />
zogen im Sommer 1970 tausen<strong>de</strong><br />
vor allem aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Hauptstadt stammen<strong>de</strong><br />
junge Leute nach Thy, einem<br />
entlegenen Landstrich im nördlichen<br />
Jütland, um das erste dänische Rockfestival<br />
zu besuchen. Viele blieben,<br />
lebten fortan eine Art Kommunenleben<br />
in <strong><strong>de</strong>r</strong> freien Natur und huldigten<br />
<strong>de</strong>m einfachen Lebensstil und <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
freien Sexualmoral.<br />
Das be<strong>de</strong>utendste Ereignis innerhalb<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> dänischen Bewegung <strong>ist</strong><br />
jedoch die Besetzung <strong><strong>de</strong>r</strong> Kopenhagener<br />
„Bådmandsstræ<strong>de</strong>s Kaserne“ im<br />
DIE ZWEITE REVOLTE AM ÖRESUND<br />
Ausgang <strong>de</strong>s „Fre<strong>ist</strong>aat Chr<strong>ist</strong>iania“: Autonomes Gebiet mit eigenen Regeln<br />
September 1971, die bis heute weit<br />
über die Grenzen Dänemarks hinaus<br />
unter <strong>de</strong>m Namen „Fre<strong>ist</strong>aat Chr<strong>ist</strong>iania“<br />
bekannt <strong>ist</strong>. Die Chr<strong>ist</strong>ianiter, wie<br />
sich die Bewohner <strong>de</strong>s Areals nennen,<br />
betrachten ihren Fre<strong>ist</strong>aat als ein autonomes<br />
Gebiet mit eigenen Regeln und<br />
Gesetzen. Obwohl das Gelän<strong>de</strong> immer<br />
noch <strong>de</strong>m Staat Dänemark gehört,<br />
wur<strong>de</strong> das bunte Treiben in <strong>de</strong>m<br />
naturschön gelegenen Alternatividyll<br />
<strong>von</strong> offizieller Seite rund 30 Jahre lang<br />
toleriert. Die Bewohner errichteten<br />
eigene Häuser, die seither Architekten<br />
aus aller Welt inspiriert haben.<br />
Werkstätten, Lokale und Geschäfte<br />
wur<strong>de</strong>n eröffnet. Weltweite berühmt<br />
<strong>ist</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Fre<strong>ist</strong>aat nicht zuletzt <strong>de</strong>swegen,<br />
weil bis vor kurzem <strong><strong>de</strong>r</strong> Verkauf <strong>von</strong><br />
Cannabis auf <strong>de</strong>m Gelän<strong>de</strong> toleriert<br />
wur<strong>de</strong>. Chr<strong>ist</strong>iania gilt als eine <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
beliebtesten Tourismusattraktionen<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> dänischen Hauptstadt und hat<br />
maßgeblich dazu beigetragen, dass<br />
Dänemark über Jahrzehnte hinweg in<br />
weiten <strong>Teil</strong>en <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt als beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s<br />
liberales Land wahrgenommen wur<strong>de</strong>.<br />
Und auch manch ein Kopenhagener,<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> sich nicht unbedingt zur linken<br />
Szene zählen wür<strong>de</strong>, genießt insgeheim<br />
Spaziergänge auf <strong>de</strong>m naturbelassenen<br />
Uferareal inmitten <strong><strong>de</strong>r</strong> Großstadt.<br />
37 Jahre nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Besetzung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Kaserne <strong>ist</strong> es nicht mehr vorrangig<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> liberale Umgang mit alternativen<br />
Freiräumen wie Chr<strong>ist</strong>iania, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
das <strong>Bild</strong> vom politischen Dänemark<br />
prägt. Brennen<strong>de</strong> Dänenflaggen<br />
und Botschaften in <strong>de</strong>n arabischen<br />
Län<strong><strong>de</strong>r</strong>n haben sich in <strong>de</strong>n Vor<strong><strong>de</strong>r</strong>grund<br />
gedrängt. Doch es wäre zu<br />
kurz gegriffen, diese Geschehnisse<br />
lediglich als Protest gegen die provokanten<br />
Mohammed-Karikaturen<br />
einer dänischen Tageszeitung zu<br />
interpretieren. Die politische Kultur<br />
<strong>de</strong>s einst liberalen Musterlan<strong>de</strong>s im<br />
Nor<strong>de</strong>n befin<strong>de</strong>t sich spätestens seit<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Parlamentswahl <strong>von</strong> 2001 im<br />
radikalen Wan<strong>de</strong>l.<br />
Nur wenige Monate nach seiner<br />
Wahl blies Min<strong>ist</strong>erpräsi<strong>de</strong>nt An<strong><strong>de</strong>r</strong>s<br />
Fogh Rasmussen, <strong>de</strong>ssen rechtsliberalkonservative<br />
Min<strong><strong>de</strong>r</strong>heitsregierung<br />
sich seither auf die Stimmen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
rechtspopul<strong>ist</strong>ischen Dänischen Volkspartei<br />
stützt, zum Kulturkampf. Damit<br />
<strong>ist</strong> nicht nur die Auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung<br />
mit <strong><strong>de</strong>r</strong> muslimischen Min<strong><strong>de</strong>r</strong>heit<br />
im Land gemeint, die sich nach Verabschiedung<br />
<strong>de</strong>s europaweit restriktivsten<br />
Zuwan<strong><strong>de</strong>r</strong>ungsgesetzes sowie<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Etablierung immer härterer und<br />
zuweilen offen rass<strong>ist</strong>ischer Debatten<br />
in <strong>Teil</strong>en zunehmend radikal gebärt.<br />
Vielmehr bemüht sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Regierungschef<br />
<strong>de</strong>s über Jahrzehnte hinweg sozial<strong>de</strong>mokratisch<br />
geprägten Dänemarks,<br />
die seiner Ansicht nach linkslastige<br />
<strong>Bild</strong>ungselite zu einer grundsätzlichen<br />
Werte<strong>de</strong>batte herauszufor<strong><strong>de</strong>r</strong>n.<br />
Ein Freiraum wie Chr<strong>ist</strong>iania fin<strong>de</strong>t<br />
keinen Platz im Kulturverständnis<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Rechtsregierung. Durch intensive<br />
Razzien wur<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> laxen Drogenpolitik<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Chr<strong>ist</strong>ianiter ein Riegel<br />
vorgeschoben. Auch die Ex<strong>ist</strong>enzberechtigung<br />
<strong>de</strong>s gesamten Projekts<br />
wur<strong>de</strong> immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> in Frage gestellt.<br />
Bald schon wer<strong>de</strong>n die ersten Häuser<br />
auf <strong>de</strong>m besetzten Kasernengelän<strong>de</strong><br />
neuen Appartements mit Meeresblick<br />
weichen.<br />
In einer Linie mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Chr<strong>ist</strong>iania-<br />
Politik <strong><strong>de</strong>r</strong> dänischen Regierung<br />
steht <strong><strong>de</strong>r</strong> Abriss <strong>de</strong>s Kopenhagener<br />
Jugendzentrums „Ungdomshuset“ vor<br />
gut einem Jahr. Wie Chr<strong>ist</strong>iania war<br />
auch das „Ungdomshuset“ eine <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Institutionen linker Alternativkultur<br />
in Dänemark. Auch in <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen<br />
Nachrichten wur<strong>de</strong> ausführlich über<br />
die manchmal gewalttätigen Proteste<br />
im Zusammenhang mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Räu-<br />
mung berichtet. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Tat lieferten<br />
sich junge Leute aus <strong><strong>de</strong>r</strong> autonomen<br />
Szene mehrere Tage in Folge Straßenschlachten<br />
mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Polizei. Was<br />
angesichts <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Bild</strong>er <strong>von</strong> brennen<strong>de</strong>n<br />
Autos und zerschmetterten Schaufenstern<br />
zume<strong>ist</strong> übersehen wur<strong>de</strong>, waren<br />
die vielen friedlich <strong>de</strong>monstrieren<strong>de</strong>n<br />
Menschen, die in jenen Tagen ihrer<br />
Unzufrie<strong>de</strong>nheit nicht nur mit <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Räumung, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n mit <strong><strong>de</strong>r</strong> gesamten<br />
politischen Situation zum Ausdruck<br />
brachten. Der Abriss <strong>de</strong>s „Ungdomshuset“<br />
<strong>ist</strong> somit lediglich als Auslöser,<br />
nicht jedoch als Ursache für das Aufkeimen<br />
dieser neuen Jugendbewegung<br />
zu bewerten.<br />
Es wird vermutet, dass die gewalttätigen<br />
Ausschreitungen im Zuge <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Räumung manchem dänischen Innenpolitiker<br />
nicht ungelegen kamen.<br />
Auf diese Weise war es möglich, die<br />
Demonstranten als chaotische Krawallmacher<br />
abzustempeln, <strong><strong>de</strong>r</strong>er man<br />
schnell Herr wer<strong>de</strong>n musste. Doch<br />
die friedlichen Proteste dauerten an.<br />
So sah man auch in <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n<br />
Wochen 15-jährige Jugendliche Seit<br />
an Seit mit ihren Eltern für mehr<br />
kommunale Mitbestimmung und<br />
kulturelle Freiräume <strong>de</strong>monstrieren.<br />
Ein gutes Jahr nach <strong>de</strong>n Demonstrationen<br />
für das „Ungdomshuset“ <strong>ist</strong><br />
festzustellen, dass die dänische Jugend,<br />
wie schon einmal vor 40 Jahren, politisiert<br />
<strong>ist</strong>. Nach sieben Jahren nationalkonservativer<br />
Kulturpolitik scheint<br />
es, als sähen viele junge Leute <strong>de</strong>n<br />
liberalen Zeitge<strong>ist</strong>, für <strong>de</strong>n ihre Eltern<br />
in <strong>de</strong>n Jahren nach 1968 auf die Straße<br />
gingen, in Gefahr. Viele sind offenbar<br />
bereit, die damals erstrittenen Werte<br />
zu verteidigen. Die oftmals beklagte<br />
Politikverdrossenheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Jugend <strong>ist</strong><br />
zumin<strong>de</strong>st in Dänemark zu einem<br />
Kapitel in <strong>de</strong>n Geschichtsbüchern<br />
gewor<strong>de</strong>n.<br />
15<br />
In seiner Neujahrsansprache vom Jahr 2002 kündigte <strong><strong>de</strong>r</strong> neu<br />
gewählte dänische Min<strong>ist</strong>erpräsi<strong>de</strong>nt An<strong><strong>de</strong>r</strong>s Fogh Rasmussen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
aus seiner Sicht „linken Meinungstyrannei“ <strong>de</strong>n Kampf an. Doch<br />
längst nicht alle Dänen sind mit <strong>de</strong>m neokonservativen Kurs <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Rechtsregierung einverstan<strong>de</strong>n. Spätestens seit <strong>de</strong>m Abriss <strong>de</strong>s<br />
alternativen Jugendzentrums „Ungdomshuset“ in Kopenhagen<br />
vor gut einem Jahr formiert sich eine neue kritische Jugendbewegung.<br />
Die jungen Leute verteidigen Normen und Werte, die<br />
ihre Eltern in <strong>de</strong>n Jahren nach 1968 erstritten haben.<br />
Von Ebbe Volquardsen
16<br />
international<br />
ALLONS ENFANTS DE LA PATRIE!<br />
Von Franziska Deregoski<br />
Die politisch orientierten Stu<strong>de</strong>nten<br />
Frankreichs gehörten nicht zu jenen,<br />
die eine sexuelle Revolution planten.<br />
Ihr erklärtes Ziel war, die Menschen<br />
dieses Lan<strong>de</strong>s <strong>von</strong> <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
„revision<strong>ist</strong>ischen Führer“ loszureißen,<br />
ihnen die Augen zu öffnen. Die Revision<strong>ist</strong>en,<br />
das waren die Vertreter <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Kommun<strong>ist</strong>ischen Partei Frankreichs<br />
unter Wal<strong>de</strong>ck Rochet, die <strong>de</strong>m Kurs<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Regierung folgten; in <strong>de</strong>n Augen<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Stu<strong>de</strong>nten unglaubwürdige Verrä-<br />
ikonen |<br />
Ho Chi Minh<br />
(1890 – 1969)<br />
„Nichts <strong>ist</strong> kostbarer als<br />
Unabhängigkeit und Freiheit.“<br />
ter, die die Lehren Marx, Lenins und<br />
Mao Zedongs vernachlässigten.<br />
Der erste Schritt zur Verwirklichung<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Ziele <strong><strong>de</strong>r</strong> Stu<strong>de</strong>nten war<br />
die Gründung <strong><strong>de</strong>r</strong> Kommun<strong>ist</strong>ischen<br />
Marx<strong>ist</strong>isch-Lenin<strong>ist</strong>ischen Partei<br />
Frankreichs (FCML). Wie in <strong><strong>de</strong>r</strong> proletarischen<br />
Kulturrevolution Chinas<br />
wollten die marx<strong>ist</strong>isch-lenin<strong>ist</strong>ischen<br />
Stu<strong>de</strong>nten im Gegensatz zu Frankreichs<br />
alteingesessenen Kommun<strong>ist</strong>en<br />
durch Generalstreiks eine Diktatur <strong>de</strong>s<br />
DER VIETNAMESISCHE VOLKSHELD<br />
Proletariats errichten. Zwei Parteien<br />
gleicher politischer Orientierung also,<br />
die ihr Dogma vom „Kommunismus“<br />
jedoch sehr verschie<strong>de</strong>n auslegten.<br />
Am 11. März 1968 stan<strong>de</strong>n die<br />
Revolutionäre auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Rue Gay-Lussac<br />
im Quartier Latin und blickten auf<br />
das, was <strong>von</strong> <strong>de</strong>n Kämpfen <strong><strong>de</strong>r</strong> vergangenen<br />
Nacht noch übrig war. In<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> „Nacht <strong><strong>de</strong>r</strong> Barrika<strong>de</strong>n“ hatten<br />
sie <strong>de</strong>m Staat die Stirn geboten, bis<br />
die Ordnungshüter sie mit Tränengas<br />
Wer war er? Aus einfachen Verhältnissen stammend, erkannte <strong><strong>de</strong>r</strong> junge Ho Chi<br />
früh die Ungerechtigkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> französischen Kolonialbesatzung Vietnams. Auf<br />
seiner mehrjährigen Weltreise studierte er an <strong><strong>de</strong>r</strong> Moskauer Universität und<br />
lernte französische Sozial<strong>ist</strong>en kennen, die ihn mit <strong>de</strong>n Schriften <strong>von</strong> Marx<br />
und Lenin vertraut machten. Als eifriger Jungrevolutionär zurückgekehrt,<br />
grün<strong>de</strong>te Minh 1930 die Kommun<strong>ist</strong>ische Partei Vietnams und zog mit <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
ländlichen Bevölkerung in <strong>de</strong>n bewaffneten Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>stand. 1945 wur<strong>de</strong> Nordvietnam<br />
unabhängig, und <strong><strong>de</strong>r</strong> Freiheitsheld blieb bis zu seinem Tod Präsi<strong>de</strong>nt.<br />
mythos68 | April 2008<br />
zurückdrängten. Einige <strong>von</strong> ihnen<br />
wur<strong>de</strong>n verhaftet, viele verletzt. Auf<br />
Dauer, propagierten sie, wird die Herrschaft<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> „kapital<strong>ist</strong>ischen Monopolbourgeoisie“<br />
durch <strong>de</strong>n Ansturm <strong>de</strong>s<br />
Volkes hinweggefegt wer<strong>de</strong>n. Sowohl<br />
Stu<strong>de</strong>nten als auch Arbeiter wollten<br />
weiterkämpfen, um Frankreich eine<br />
zweite Revolution zu bringen.<br />
Warum wur<strong>de</strong> er <strong>von</strong> <strong>de</strong>n 68ern verehrt? Ho Chi<br />
Minh war <strong><strong>de</strong>r</strong> Prototyp Che Guevaras – nur<br />
ohne Zigarren und Barett. Der vietnamesische<br />
Revolutionär etablierte als erster <strong>de</strong>n<br />
Kommunismus außerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> Sowjetunion.<br />
Sein politisches Hauptziel: Der konsequente<br />
Kampf gegen westlichen Kapitalismus, Kolonialismus<br />
und Vietnams <strong>Teil</strong>ung.<br />
Und heute? In seiner asiatischen Heimat wird <strong><strong>de</strong>r</strong> einstige „Vater <strong><strong>de</strong>r</strong> Nation“ – <strong><strong>de</strong>r</strong> selbst jedoch nie Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> hatte – immer noch<br />
wie ein Heiliger verehrt. Aber in Europa? Fast in <strong><strong>de</strong>r</strong> Be<strong>de</strong>utungslosigkeit verschwun<strong>de</strong>n. Für eine posthume Karriere als Vermarktungssymbol<br />
fehlte <strong>de</strong>m Mann mit <strong>de</strong>m markanten Kinnbart wohl einfach <strong><strong>de</strong>r</strong> jugendliche Charme.<br />
Fotograf<br />
Kameramann<br />
Redakteur<br />
Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ator<br />
Journal<strong>ist</strong><br />
Medienmacher .<br />
www.jugendpresse.<strong>de</strong>
mythos68 | April 2008 theoretisch<br />
„Das Kapital“ <strong>von</strong> Karl Marx, Herbert<br />
Marcuses „Der eindimensionale<br />
Mensch“ o<strong><strong>de</strong>r</strong> Wilhelm Reichs „Die<br />
Funktion <strong>de</strong>s Orgasmus“ – stapelweise<br />
türmten sich diese und an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Bücher<br />
in <strong>de</strong>n Zimmern <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er. Die Seiten<br />
sind abgegriffen und haben unzählige<br />
Eselsohren. Bis tief in die Nacht<br />
diskutierten die Studieren<strong>de</strong>n in<br />
Lesezirkeln. So je<strong>de</strong>nfalls will es das<br />
gängige Klischee.<br />
„Bücher spielten für das Selbstverständnis<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Bewegung eine zentrale<br />
Rolle“, sagt über diese Zeit auch <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Sozialphilosoph Oskar Negt. Gemeinsam<br />
mit <strong>de</strong>m Politikwissenschaftler<br />
Heinrich Oberreuter sollte er am 13.<br />
März über das theoretische Selbstverständnis<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> 68er diskutieren. Die<br />
Veranstaltung unter <strong>de</strong>m Titel „Am<br />
En<strong>de</strong> nur Praxis?“ fand im Rahmen<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Ausstellung „68 – Brennpunkt<br />
Berlin“ <strong><strong>de</strong>r</strong> Bun<strong>de</strong>szentrale für politische<br />
<strong>Bild</strong>ung im Amerika Haus<br />
statt. Um Berlin aber geht es an<br />
diesem Abend wenig. Und auch die<br />
Theorie hat es, angesichts manch weit<br />
ausholen<strong><strong>de</strong>r</strong> Schil<strong><strong>de</strong>r</strong>ung Oberreuters,<br />
seinerzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />
am Geschw<strong>ist</strong>er-Scholl-Institut<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Universität München, manches<br />
Mal schwer, sich zu behaupten. Auch<br />
Negt, <strong><strong>de</strong>r</strong> damals Ass<strong>ist</strong>ent <strong>von</strong> Jürgen<br />
Habermas in Frankfurt/Main war,<br />
zeigt sich als erinnerungsreicher Zeitzeuge.<br />
Eine kontroverse Diskussion<br />
zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n mag aber nicht<br />
so recht in Gang kommen.<br />
Dennoch erfährt mensch einiges<br />
über das „Selbstverständnis <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er“.<br />
Schnell wird klar, dass dieses Selbstverständnis<br />
nicht vor <strong>de</strong>n gut gefüllten<br />
Sitzreihen <strong><strong>de</strong>r</strong> Bühne Halt macht. Im<br />
Gegenteil: Einleitend stellt <strong><strong>de</strong>r</strong> Journal<strong>ist</strong><br />
Stefan Reinecke, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n Abend<br />
mo<strong><strong>de</strong>r</strong>iert, Themen und Bücher <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
68er vor. Er nennt Schlagworte wie<br />
Kritische Theorie, Demokratisierung<br />
und Feminismus. Das Publikum<br />
protestiert sogleich ungefragt: „Was<br />
<strong>ist</strong> mit Ernst Bloch?“, „Schon mal<br />
was <strong>von</strong> Karl Marx gehört?“ Die<br />
ANZEIGE_FLUTER_MÄRZ08 28.03.2008 15:04 Uhr Seite 1<br />
Zwischenrufer, alle älteren Semesters,<br />
scheinen sich um einige Aspekte ihrer<br />
ganz persönlichen Lektüre <strong>von</strong> damals<br />
betrogen zu fühlen. Sehr biografisch<br />
geprägt sind auch die nächsten Wortmeldungen<br />
aus <strong>de</strong>m Publikum.<br />
„Worin aber besteht die Aktualität<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> theoretischen Vor<strong>de</strong>nker <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Bewegung?“ Stefan Reinecke versucht<br />
noch einmal, die Diskussion auf <strong>de</strong>m<br />
Podium in Gang zu bringen. Oskar<br />
Negt fällt sogleich sein eigenes Buch<br />
„Öffentlichkeit und Erfahrung“ ein,<br />
das ja wohl nicht ohne Grund eben erst<br />
ins Französische übersetzt wor<strong>de</strong>n sei.<br />
Darüber hinaus seien Marx’ Thesen<br />
aktueller <strong>de</strong>nn je: „Zum ersten Mal in<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte haben wir heute einen<br />
funktionieren<strong>de</strong>n Kapitalismus, so wie<br />
Marx ihn beschrieben hat.“ Oberreuter<br />
pflichtet <strong>de</strong>m bei und spricht<br />
mit Sorge über die zunehmen<strong>de</strong><br />
Ökonomisierung aller Lebensbereiche.<br />
„Entfremdung“ und „Eindimensionalität“,<br />
das sind für Negt und Oberreuter<br />
keine verstaubten Vokabeln.<br />
Es sind Symptome, wie sie in unserer<br />
heutigen, vermeintlich plural<strong>ist</strong>ischen,<br />
Gesellschaft auftreten. So verstan<strong>de</strong>n<br />
tritt Theorie als alltägliche Praxis auf,<br />
als „Kritik mit <strong>de</strong>m Glauben an Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung“,<br />
so Negt.<br />
Etwa als die Praxis eines Publikums,<br />
das sein Re<strong><strong>de</strong>r</strong>echt einfor<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Und<br />
dies umso lauter, als <strong><strong>de</strong>r</strong> Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ator<br />
um knappe Fragen bittet. „Warum<br />
wird das Publikum zum Fragesteller<br />
<strong>de</strong>gradiert?“ – „Ist es nicht journal<strong>ist</strong>ische<br />
Bequemlichkeit, sich nur mit<br />
<strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen Kontext zu beschäftigen?“<br />
Und „warum sind es immer<br />
nur die Männer“, die ihre Stimmen<br />
zum Thema erheben? Das „nur“ im<br />
Veranstaltungstitel kann getrost ersetzt<br />
wer<strong>de</strong>n: Am En<strong>de</strong> auch Praxis.<br />
„Es gab die Theorie genauso wenig<br />
wie die 68er“, so Oberreuter. Dass die<br />
Experten zu 68 nicht nur auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Bühne<br />
zu suchen sind und sich die Theorien<br />
über <strong>de</strong>n Köpfen vieler verstreuten, das<br />
zeigte <strong><strong>de</strong>r</strong> Abend allemal.<br />
17<br />
AM ENDE AUCH PRAxIS<br />
Was ein Diskussionsabend über das Selbstverständnis <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er lehrt. Von Urszula Wozniak und Josephine Ziegler<br />
fluter.<strong>de</strong><br />
Das Jugendmagazin „fluter“<br />
erscheint vier Mal im Jahr. Das<br />
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täglich neue Beiträge<br />
und Diskussionen, wöchentlich<br />
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18<br />
NACH DEM ENDE DER UTOPIE<br />
Der Sozialphilosoph Herbert Marcuse war für<br />
die <strong>de</strong>utsche und die amerikanische Stu<strong>de</strong>ntenbewegung<br />
<strong>von</strong> zentraler Be<strong>de</strong>utung. 40 Jahre<br />
nach 68 <strong>ist</strong> seine Warnung vor <strong>de</strong>m „eindimensionalen<br />
Menschen“ immer noch aktuell – und<br />
weitgehend vergessen.<br />
Von Franziska Langner, Janna Schlen<strong><strong>de</strong>r</strong>,<br />
Urszula Wozniak<br />
ikonen |<br />
theoretisch<br />
40 Jahre später:<br />
Eindimensionaler Mensch o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
gelungene Befreiung?<br />
Die Sozialforscher <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
„Frankfurter Schule“<br />
„Die rastlose Selbstzerstörung<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Aufklärung<br />
zwingt das Denken dazu,<br />
sich auch die letzte<br />
Arglosigkeit gegenüber<br />
<strong>de</strong>n Gewohnheiten und<br />
Richtungen <strong>de</strong>s Zeitge<strong>ist</strong>es<br />
zu verbieten.“<br />
(Theodor W. Ad)<br />
2008. Pia <strong>ist</strong> aufgeregt, ihr <strong>ist</strong><br />
schlecht. An <strong>de</strong>n Schläfen spürt sie<br />
ein heißes Kribbeln. Sie studiert<br />
Politikwissenschaft an <strong><strong>de</strong>r</strong> Freien Universität<br />
Berlin und steht kurz vor ihrer<br />
Zwischenprüfung. Eigentlich hätte sie<br />
sich damit lieber noch Zeit gelassen,<br />
aber auf diese Weise <strong>ist</strong> sie schneller als<br />
viele ihrer Kommilitonen – und unter<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Regelstudienzeit.<br />
Mehr le<strong>ist</strong>en müssen, um mehr<br />
erreichen zu können. Ein Mantra, das<br />
heutzutage nicht nur Pia antreibt, während<br />
sie zielstrebig auf das Schwarze<br />
Brett zusteuert, um sich durch das<br />
Dickicht <strong><strong>de</strong>r</strong> Praktikumsangebote zu<br />
kämpfen.<br />
Die Anfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen möglicher<br />
Arbeitgeber sind vielfältig: Praktika,<br />
Fremdsprachenkenntnisse, Auslandserfahrung.<br />
Pia möchte als nächstes nach<br />
Shanghai. „Dann stehen mir wirklich<br />
alle Türen offen“, meint sie. In <strong>de</strong>n<br />
hohen Ansprüchen dieser Tage sieht<br />
sie Möglichkeiten.<br />
„Sie können je<strong>de</strong> Farbe haben,<br />
solange es schwarz <strong>ist</strong>“, hat Henry Ford<br />
einmal gesagt. Für <strong>de</strong>n Philosophen<br />
Herbert Marcuse war dieser Satz<br />
Ausdruck seiner Theorie vom „eindimensionalen<br />
Menschen“, <strong><strong>de</strong>r</strong> glaubt,<br />
alles haben zu können, am En<strong>de</strong> aber<br />
nur an die Gesellschaft angepasst lebt.<br />
Hätte Pia gut 40 Jahre früher an <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
FU studiert, wäre sie Herbert Marcuse<br />
vielleicht begegnet.<br />
DIE CHEFIDEOLOGEN<br />
Wer waren sie? Als „Frankfurter Schule“ wird <strong><strong>de</strong>r</strong> intellektuelle<br />
Kreis <strong>von</strong> Soziologen und Philosophen bezeichnet,<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> sich kritisch mit <strong>de</strong>n Missstän<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen<br />
Industriegesellschaft auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzte. Zu <strong>de</strong>n einflussreichsten<br />
und bekanntesten Vertretern gehörten Max<br />
Horkheimer (1895 – 1973), Herbert Marcuse (1898 –<br />
1979), Theodor W. Adorno (1903 – 1969) und Jürgen<br />
Habermas (*1929). Der Name geht zurück auf <strong>de</strong>n geografischen<br />
Ursprung <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaftskritiker, das Institut<br />
für Sozialforschung in Frankfurt. Kern ihrer Forschungen<br />
war die Auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung mit I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>s Marxismus in<br />
Bezug auf die verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ten gesellschaftlichen Verhältnisse.<br />
Als Hauptwerke <strong><strong>de</strong>r</strong> Frankfurter Schule gelten „Dialektik<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Aufklärung“, „Der eindimensionale Mensch“ und<br />
„Minima Moralia“.<br />
Und heute? Inzwischen gehören die Texte <strong>von</strong> Marcuse und Co. zum Standardrepertoire <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaftswissenschaften.<br />
Doch gibt es ein greifbares Erbe? Wohl, dass nachfolgen<strong>de</strong> Generationen immer aufs Neue ihr soziales<br />
Umfeld kritisch betrachten und hinterfragen.<br />
So wie Luise, die an einem warmen<br />
Julitag im Jahr 1967 im brechendvollen<br />
Hörsaal sitzt. Auch sie <strong>ist</strong><br />
aufgeregt, aber schlecht <strong>ist</strong> ihr nicht.<br />
Wochenlang hat sie zusammen mit<br />
<strong>de</strong>m Sozial<strong>ist</strong>ischen Deutschen Stu<strong>de</strong>ntenbund<br />
SDS Flyer gedruckt, über<br />
Nächte hinweg an Fragen und Formulierungen<br />
gefeilt. Auch Luise will<br />
etwas erreichen, aber nicht innerhalb<br />
<strong>de</strong>s Systems, in <strong>de</strong>m sie lebt. Sie will<br />
es verän<strong><strong>de</strong>r</strong>n.<br />
Endlich, nach langer Vorbereitung,<br />
betritt Marcuse das Podium. Vier<br />
Aben<strong>de</strong> in Folge spricht er zu und<br />
mit <strong>de</strong>n Stu<strong>de</strong>nten. Über die Utopie,<br />
die eigene Gesellschaft grundlegend<br />
verän<strong><strong>de</strong>r</strong>n zu können, über die Unfähigkeit,<br />
Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen umzusetzen.<br />
Er wird nicht mü<strong>de</strong>, die Stu<strong>de</strong>nten zu<br />
ermuntern, selbst ihre Beiträge zu le<strong>ist</strong>en,<br />
und er diskutiert mit ihnen seine<br />
Theorien. „Wogegen <strong>ist</strong> die Stu<strong>de</strong>ntenopposition<br />
gerichtet?“, fragt Marcuse,<br />
da wir doch scheinbar in einem<br />
freien, <strong>de</strong>mokratischen Land leben.<br />
Gegen die herrschen<strong>de</strong>n Institutionen,<br />
durch <strong><strong>de</strong>r</strong>en Interessen unsere wahren<br />
Bedürfnisse unterdrückt wer<strong>de</strong>n, antwortet<br />
er im selben Atemzug. Aber<br />
an<strong><strong>de</strong>r</strong>s als viele radikalere Denker sieht<br />
er einen <strong>Teil</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Schuld bei jenen, die<br />
sich freiwillig unterdrücken lassen.<br />
Mehr als alles an<strong><strong>de</strong>r</strong>e predigt Marcuse<br />
die Vernunft. Luise <strong>ist</strong> fasziniert <strong>von</strong><br />
seinen Worten. Hun<strong><strong>de</strong>r</strong>te Male hat<br />
mythos68 | April 2008<br />
sie seinen Aufsatz Repressive Toleranz<br />
gelesen und stimmt mit ihm überein,<br />
dass wir allzu bereitwillig an die Freiheit<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Entscheidung glauben, ohne<br />
zu hinterfragen, ob es diese wirklich<br />
gibt.<br />
Herbert Marcuse spielte für Luise<br />
und die Stu<strong>de</strong>ntenbewegung <strong><strong>de</strong>r</strong> 60er<br />
eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle. Er wünschte<br />
sich eine Welt, in <strong><strong>de</strong>r</strong> Technik und<br />
Kunst, Arbeit und Spiel miteinan<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
einhergehen, stellt Freu<strong>de</strong> und Glück<br />
über die Angst vor Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen.<br />
Aber er weiß auch, wie angenehm und<br />
sicher es scheint, die bestehen<strong>de</strong> Gesellschaft<br />
nicht zu hinterfragen.<br />
Pia hat heute, 40 Jahre später, <strong>von</strong><br />
Marcuse noch nie etwas gehört. Sie<br />
glaubt, alle Freiheiten zu haben, um<br />
ihre Zukunftswünsche zu verwirklichen.<br />
Wie tausend an<strong><strong>de</strong>r</strong>e nimmt sie<br />
unbezahlte Praktika, verschulte und<br />
verwirtschaftlichte Studiengänge als<br />
selbstverständlich hin, als Notwendigkeit,<br />
<strong>de</strong>n späteren Traumjob zu<br />
bekommen. Für Pia wären Luises<br />
Vorstellungen und ihre Wünsche<br />
nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong><strong>de</strong>r</strong> eigenen<br />
Gesellschaft utopisch. Das waren sie<br />
für Marcuse und Luise auch. Aber<br />
Herbert Marcuse war sich sicher, dass<br />
man aufhören muss, tiefgreifen<strong>de</strong><br />
gesellschaftliche Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen als<br />
Utopie zu bezeichnen. Nur mit einem<br />
solchen „En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Utopie“ bestand für<br />
ihn die Möglichkeit zum Wan<strong>de</strong>l.<br />
Warum wur<strong>de</strong>n sie <strong>von</strong> <strong>de</strong>n 68ern verehrt? Straßenkrawalle<br />
zu führen und Uni-Rektorate zu<br />
besetzen war das eine – klare Vorstellungen<br />
einer besseren Welt zu vertreten und zu<br />
diskutieren etwas an<strong><strong>de</strong>r</strong>es. In <strong>de</strong>n Essays und<br />
Vorträgen <strong><strong>de</strong>r</strong> Sozialforscher erkannte die<br />
Stu<strong>de</strong>ntenbewegung <strong>von</strong> 68, wo<strong>von</strong> sich die<br />
Gesellschaft befreien müsse: Kapitalismus,<br />
Naturbeherrschung, autoritäre Strukturen.<br />
Auf vielen Vortragsreisen ermutigten sie die<br />
Stu<strong>de</strong>nten dazu, die Umgestaltung ihrer<br />
Lebenswelt selbst in die Hand zu nehmen.<br />
Die Theorien <strong><strong>de</strong>r</strong> Frankfurter Schule hatten<br />
entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Einfluss auf <strong>de</strong>n SDS und die<br />
APO. So vermerkte Rudi Dutschke einmal in<br />
seinem Tagebuch: „Unsere Strömung ohne ihn<br />
[Marcuse] – wer kann es sich ganz <strong>de</strong>nken?<br />
Ging uns bei Ernst Bloch ähnlich, bei<strong>de</strong> aber<br />
wer<strong>de</strong>n unsere Generation nie verlassen.“
mythos68 | April 2008 universitär<br />
Freie Universität, Stu<strong>de</strong>ntenprotest – ohne die Hochschulen wäre<br />
68 nicht <strong>de</strong>nkbar gewesen. Und heute? Wir begeben uns auf<br />
Spurensuche an die Quelle <strong><strong>de</strong>r</strong> Stu<strong>de</strong>ntenbewegung, zum Otto-<br />
Suhr-Institut. Von Josephine Ziegler<br />
Der erste Takt verwirrt die Stu<strong>de</strong>nten<br />
noch. Verdis Requiem erhebt<br />
sich pathetisch und erfüllt <strong>de</strong>n Hörsaal.<br />
Vielleicht haben sie Ton Steine Scherben<br />
erwartet, gewiss keine Klassik.<br />
Feierlich tritt eine kleine Prozession<br />
ins Blickfeld. Wür<strong>de</strong>voll schauen die<br />
jungen Frauen und Männer drein,<br />
sie tragen schwarze Anzüge und<br />
Blazer, ihr Haar <strong>ist</strong> geschniegelt. Als<br />
die Musik verstummt, beginnt ihr<br />
Anführer zur Vollversammlung zu<br />
sprechen. Er betont, wie gut sich die<br />
Freie Universität Berlin (FU) unter<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Führung ihres Präsi<strong>de</strong>nten Dieter<br />
Lenzen entwickelt hat. In einer Grafik<br />
<strong>ist</strong> zu sehen, wie die Eliteför<strong><strong>de</strong>r</strong>ung<br />
noch weitergehen soll: die Anzahl <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Stu<strong>de</strong>nten auf Dauer min<strong><strong>de</strong>r</strong>n, <strong>de</strong>n<br />
nie<strong><strong>de</strong>r</strong>en Bachelor nur noch an <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Humboldt-Uni abnehmen. Die Stu<strong>de</strong>nten<br />
lachen. Sie verstehen die Ironie<br />
<strong>de</strong>s Dieter-Lenzen-Fanclubs, <strong><strong>de</strong>r</strong> hier<br />
auftritt. Aber die Essenz seiner Worte<br />
<strong>ist</strong> bitterernst.<br />
Die Konzepte <strong>de</strong>s Präsidiums sind<br />
es, gegen die sich dieser Aktionstag an<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> FU im Januar 2008 richtet: verschärfte<br />
Zulassungsbedingungen, Le<strong>ist</strong>ungsdruck<br />
und Fächerzwang durch<br />
Bachelor und Master, Schließung <strong>von</strong><br />
Instituten, auslaufen<strong>de</strong> Studiengänge,<br />
Wegrationalisieren <strong>von</strong> Büchermassen.<br />
Die Stu<strong>de</strong>nten begehren gegen die<br />
fortschreiten<strong>de</strong> Verwirtschaftlichung<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Uni auf. „Tu nichts Unnützes“,<br />
„Denk an <strong>de</strong>inen Lebenslauf“, „Schalte<br />
<strong>de</strong>ine Konkurrenz aus“ – so geben<br />
Aufkleber überall auf <strong>de</strong>m Campus<br />
in Dahlem <strong>de</strong>m Unmut <strong><strong>de</strong>r</strong> Studis<br />
Ausdruck. Sie wollen weiter selbstbestimmt<br />
und nicht an einer „Denkfabrik“<br />
studieren, die Nachschub für<br />
die Wirtschaft liefert. Die Reformen<br />
gehen für sie in die falsche Richtung.<br />
Es sind zu viele, die zu schnell und<br />
ohne Mitbestimmung <strong><strong>de</strong>r</strong> rund 30.000<br />
Stu<strong>de</strong>nten vorangetrieben wer<strong>de</strong>n.<br />
Schon beim Protest <strong><strong>de</strong>r</strong> FU-Stu<strong>de</strong>nten<br />
seit 1967 spielten Reformen<br />
eine Rolle. In ihren Augen war es<br />
längst überfällig, die Strukturen und<br />
Konventionen zu erneuern. „Was das<br />
Ganze zu einer Bewegung machte,<br />
waren die Reaktionen <strong><strong>de</strong>r</strong>er, die wir das<br />
Establishment nannten“, erinnert sich<br />
Bodo Zeuner, emeritierter Professor<br />
<strong>de</strong>s Otto-Suhr-Instituts für Politikwissenschaft<br />
(OSI), damals Ass<strong>ist</strong>ent. Kritische<br />
Vorträge an <strong><strong>de</strong>r</strong> FU verhin<strong><strong>de</strong>r</strong>te<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> damalige Hochschulrektor Herbert<br />
Lüers, und die Polizei reagierte nicht<br />
nur bei Demos über, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch,<br />
als sie massenhaft Stu<strong>de</strong>nten aus <strong>de</strong>m<br />
Henry-Ford-Bau trug, um das erste<br />
Sit-in Deutschlands aufzulösen.<br />
Lichtdurchflutet steht <strong><strong>de</strong>r</strong> 50er-<br />
Jahre Bau in <strong><strong>de</strong>r</strong> Wintersonne 2008.<br />
Vier Männer fallen auf. Sie stehen in<br />
und vor <strong>de</strong>m Bau, drehen ab und an<br />
eine Run<strong>de</strong>. „Zivilpoliz<strong>ist</strong>en“ munkelt<br />
man in <strong><strong>de</strong>r</strong> Fachschaftsinitiative<br />
<strong>de</strong>s OSI. Ganz in <strong><strong>de</strong>r</strong> Nähe trifft sie<br />
die letzten Vorbereitungen für <strong>de</strong>n<br />
Aktionstag. Etwa hun<strong><strong>de</strong>r</strong>t bunte Luftballons<br />
hängen unter <strong><strong>de</strong>r</strong> niedrigen<br />
Decke im Roten Café, einer besetzten<br />
und alternativ bewirtschafteten Villa.<br />
Die Ballons sollen im Henry-Ford-<br />
Bau steigen. Doch wie reinkommen?<br />
Zwei Eingänge sind abgeschlossen, die<br />
an<strong><strong>de</strong>r</strong>en scheinen bewacht. Drei junge<br />
Männer erklären sich zum Ablenkungsmanöver<br />
bereit. Vermummt<br />
rennen sie los. Mit gerunzelter Stirn<br />
schaut ein vermeintlicher Zivilpoliz<strong>ist</strong><br />
ihnen nach. Die Szene hat nichts<br />
Kriminelles mehr, als kurz darauf die<br />
bunten Ballons in <strong><strong>de</strong>r</strong> Morgensonne<br />
steigen. Harmlos und fröhlich hängen<br />
sie unter <strong><strong>de</strong>r</strong> hohen Decke zwischen<br />
<strong>de</strong>n <strong>Bild</strong>ern berühmter FUler, darunter<br />
Rudi Dutschke. Ernst blickt er auf die<br />
Papierstu<strong>de</strong>nten, die, an je<strong>de</strong>m Ballon<br />
erhängt, dann doch <strong>de</strong>n Protest in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Spaßaktion entlarven.<br />
Me<strong>ist</strong> sind es die Politikstu<strong>de</strong>nten,<br />
die aktiv wer<strong>de</strong>n. Auch die Wahlbeteiligung<br />
zum Studieren<strong>de</strong>nparlament<br />
(StuPa) <strong>ist</strong> am Fachbereich überdurchschnittlich<br />
hoch. Insgesamt liegt sie an<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> FU nur bei 11 Prozent, und das seit<br />
Jahren. „Die Resignation in Bezug auf<br />
die Frage, ob man durch eigenes Han<strong>de</strong>ln<br />
überhaupt etwas verän<strong><strong>de</strong>r</strong>n kann,<br />
<strong>ist</strong> wohl gestiegen“, sagt Bodo Zeuner.<br />
In <strong><strong>de</strong>r</strong> Tat gehen die Mitbestimmungsrechte<br />
<strong>de</strong>s StuPa heute gegen null.<br />
Dabei <strong>ist</strong> es das letzte Rudiment <strong>de</strong>s<br />
Mo<strong>de</strong>lls Gruppenuniversität.<br />
Als 1968 das OSI aus Protest gegen<br />
die Notstandsgesetze besetzt war,<br />
nutzten alle Beteiligten, <strong>von</strong> <strong>de</strong>n<br />
Stu<strong>de</strong>nten bis zum Institutsrektor, die<br />
Situation, um die „verknöcherten Universitätsstrukturen“<br />
zu reformieren.<br />
Weitreichen<strong>de</strong> Mitbestimmungsrechte<br />
für Stu<strong>de</strong>nten wur<strong>de</strong>n erkämpft. Das<br />
Mo<strong>de</strong>ll diente als Vorbild für das<br />
neue Hochschulgesetz <strong>von</strong> 1969,<br />
<strong>ist</strong> heute aber wie<strong><strong>de</strong>r</strong> weitgehend<br />
abgeschafft. Die Tradition, in <strong><strong>de</strong>r</strong> die<br />
FU steht – 1948 <strong>von</strong> Stu<strong>de</strong>nten aus<br />
Protest gegen die <strong>von</strong> <strong>de</strong>n Sowjets<br />
indoktrinierte Hochschullehre <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
heutigen Humboldt-Universität ins<br />
Leben gerufen – sie scheint nicht mehr<br />
präsent zu sein.<br />
Ist die neue Stu<strong>de</strong>ntengeneration<br />
wirklich so unpolitisch? Viele wollen<br />
sich nicht einer politischer Richtung<br />
zuordnen lassen. Parteipräferenzen<br />
sind ihnen zu dogmatisch. Zeuner<br />
kritisiert: „Wenn sich Stu<strong>de</strong>nten<br />
engagieren, dann häufig für sehr isolierte<br />
Ziele, die nicht in gesamtgesellschaftliche<br />
Programmatik eingebettet<br />
wer<strong>de</strong>n.“ Die etwa 300 anwesen<strong>de</strong>n<br />
Stu<strong>de</strong>nten in <strong><strong>de</strong>r</strong> Vollversammlung<br />
2008 beschließen, das Sommersemester<br />
zum Protestsemester zu erklären.<br />
Ein Rahmen <strong>ist</strong> damit gesteckt. Nun<br />
<strong>ist</strong> es an <strong>de</strong>n Stu<strong>de</strong>nten, sich auf ihr<br />
Erbe zu besinnen.<br />
„Standpunkt beziehen“<br />
„Je<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>ist</strong> politisch“<br />
„Das soziale Leben“<br />
Lea, 21, Gesellschafts-<br />
und Wirtschaftskommunikation,<br />
Dres<strong>de</strong>n<br />
In meinen Augen <strong>ist</strong> auch<br />
jemand politisch, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich<br />
interessiert und seinen<br />
Standpunkt bezieht. Man<br />
muss nicht in irgen<strong>de</strong>inem<br />
Ortsverband tätig sein.<br />
Chr<strong>ist</strong>opher, 29, BWL,<br />
Berlin<br />
Je<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>ist</strong> politisch. Trotz<strong>de</strong>m<br />
versuche ich, mich<br />
rauszuhalten. Man weiß<br />
nie, was für Auswirkungen<br />
das hat, was man<br />
tut. Aber an<strong><strong>de</strong>r</strong>e nutzen<br />
dieses Machtvakuum aus.<br />
Tillmann, 22, Mathematik<br />
und Psychologie, Berlin<br />
Sachen, die das persönliche<br />
Leben betreffen,<br />
wie das soziale Leben<br />
in meinem Gegend. Ich<br />
wür<strong>de</strong> mir wünschen, daß<br />
ich da besser Einfluss<br />
nehmen könnte.<br />
19<br />
KEIN NACHSCHUB AUS<br />
DER DENKFABRIK<br />
fruchtfleisch |<br />
Was <strong>ist</strong> politisch?<br />
B<strong>ist</strong> du politisch?<br />
„Im Konsens regeln“<br />
Nina, 20, Medizin,<br />
Marburg<br />
Politisch <strong>ist</strong> alles, was die<br />
Gesellschaft betrifft. Die<br />
Art und Weise, wie man<br />
mit Problemen umgeht,<br />
sie im Konsens zu regeln<br />
und das in <strong>de</strong>n öffentlichen<br />
Raum zu tragen.<br />
„Ich bewege einiges“<br />
Dennis, 21, studiert<br />
Medizin in Langenfeld<br />
Auf je<strong>de</strong>n Fall! Ich bin<br />
zwar nicht parteipolitisch,<br />
aber ich organisier mich<br />
in <strong><strong>de</strong>r</strong> Fachschaft. Dort<br />
bewege ich einiges. Auch<br />
in <strong><strong>de</strong>r</strong> Schule war ich<br />
schon aktiv gewesen.<br />
Welche Themen sind dir wichtig?<br />
„Steuern, Geld, Bafög“<br />
Gerald, 23, Chemie,<br />
Storkow<br />
Natürlich in erster Linie<br />
die Themen, die mich<br />
selber betreffen. Die Uni,<br />
weil ick nun mal Stu<strong>de</strong>nt<br />
bin. Und die Themen, die<br />
meine Zukunft betreffen:<br />
Steuern, Geld, Bafög.
20<br />
universitär<br />
DIE MENSAFALLE ODER BIST DU POLITISCH?<br />
Ist <strong><strong>de</strong>r</strong> heutige Stu<strong>de</strong>nt zwar politisch<br />
interessiert, jedoch politisch nicht<br />
aktiv? Die gesammelten Gedanken<br />
und Befindlichkeiten <strong><strong>de</strong>r</strong> Befragten<br />
wollen wir, Berliner Stu<strong>de</strong>nten <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Europäischen Ethnologie, in einem<br />
kurzen Film präsentieren, <strong><strong>de</strong>r</strong> im<br />
Rahmen unseres Studienprojektes<br />
„Mythos 1968“ entsteht. Dort diskutieren<br />
wir seit einigen Monaten<br />
die verschie<strong>de</strong>nsten Blickwinkel auf<br />
die Zeit <strong><strong>de</strong>r</strong> großen Stu<strong>de</strong>ntenrevolte<br />
und lernen auch, dass damals nur<br />
eine kleine Min<strong><strong>de</strong>r</strong>heit <strong><strong>de</strong>r</strong> Stu<strong>de</strong>nten<br />
wirklich politisch engagiert war. Die<br />
damaligen Ereignisse jähren sich nun<br />
zum 40. Mal.<br />
Wir zählen erneut die Namen auf<br />
unserer L<strong>ist</strong>e. Es fehlen immer noch<br />
drei. Insgesamt 15 Stu<strong>de</strong>nten möchten<br />
wir heute für unsere Umfrage<br />
gewinnen. Die me<strong>ist</strong>en Stu<strong>de</strong>nten<br />
machen einen großen Bogen um uns.<br />
Wir fragen „Was <strong>ist</strong> politisch?“ und<br />
dann: „B<strong>ist</strong> Du politisch?“ Die junge<br />
Stu<strong>de</strong>ntin mit <strong>de</strong>n langen offenen<br />
Haaren hat nun einen leicht gequälten<br />
Gesichtsausdruck. Hätte sie bloß nicht<br />
<strong>de</strong>n Blick erwi<strong><strong>de</strong>r</strong>t und wäre wie all die<br />
an<strong><strong>de</strong>r</strong>en schnell an <strong><strong>de</strong>r</strong> Kamera vorbei-<br />
Im kommen<strong>de</strong>n Mai veranstalten die Hochschulgruppen<br />
<strong>de</strong>s neuen SDS – jetzt mit <strong>de</strong>m<br />
Namen „Sozial<strong>ist</strong>isch-<strong>de</strong>mokratischer Studieren<strong>de</strong>nverband“<br />
– einen Kongress in Berlin<br />
unter <strong>de</strong>m Motto „40 Jahre 1968 – Die letzte<br />
Schlacht gewinnen wir“. Wollt ihr zu <strong>de</strong>n Straßenkämpfen<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Sechziger zurückkehren?<br />
Auf <strong>de</strong>m Kongress wollen wir<br />
uns eingehend mit <strong>de</strong>m Phänomen<br />
1968 befassen, das mehr war als nur<br />
eine Revolte <strong>von</strong> Studieren<strong>de</strong>n. In<br />
dieser Zeit wur<strong>de</strong>n weltweit antikapital<strong>ist</strong>ische<br />
und antiimperial<strong>ist</strong>ische<br />
Kämpfe ausgetragen: Pariser Mai,<br />
Prager Frühling, Vietnam. Natürlich<br />
spielt für uns auch die <strong>de</strong>utsche Studieren<strong>de</strong>nbewegung<br />
eine wichtige Rolle.<br />
Von Konservativen wird ihr heute die<br />
Verrohung <strong>von</strong> Werten und Sitten<br />
gehuscht. Doch sie besinnt sich, sagt,<br />
sie sei politisch interessiert, informiere<br />
sich über das politische Geschehen.<br />
Selbst engagiert, nein, das sei sie nicht.<br />
Eine Antwort, die wir während <strong>de</strong>s<br />
Drehs noch oft hören wer<strong>de</strong>n.<br />
Was aber interessiert die Stu<strong>de</strong>nten<br />
heute, welche Vorbil<strong><strong>de</strong>r</strong> haben sie, für<br />
welche Themen können sie sich bege<strong>ist</strong>ern?<br />
Wir wollen es wissen und so<br />
stehen wir eine Woche später erneut<br />
ausgerüstet mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Kamera und<br />
einem ermuntern<strong>de</strong>n Lächeln mitten<br />
im Strom <strong><strong>de</strong>r</strong> Stu<strong>de</strong>nten, die es zur<br />
Mittagszeit in die Mensa zieht.<br />
Diesmal sind wir an die Freie Universität<br />
gefahren, En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> sechziger<br />
Jahre einer <strong><strong>de</strong>r</strong> Hauptschauplätze<br />
<strong>de</strong>s stu<strong>de</strong>ntischen Aufbegehrens.<br />
Wir haben aus <strong>de</strong>n letzten Umfragen<br />
gelernt. Geduldig bleiben, lieber<br />
Einzelne statt Gruppen ansprechen,<br />
nicht sofort die Kamera präsentieren.<br />
Trotz<strong>de</strong>m ergreift sie uns wie<strong><strong>de</strong>r</strong>, die<br />
„Angst <strong>de</strong>s Forschers vor <strong>de</strong>m Feld“.<br />
Zu<strong>de</strong>m haben wir Be<strong>de</strong>nken, die<br />
Stu<strong>de</strong>nten mit <strong>de</strong>m Thema Politik<br />
abzuschrecken. Zugegeben, unsere<br />
Fragen sind unbequem, sie rühren<br />
am Selbstverständnis und for<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />
„MIT BLOßEM PFLEGEN VON IKONEN KOMMEN WIR NICHT WEITER“<br />
Der Kern <strong><strong>de</strong>r</strong> Protestbewegung <strong>von</strong> 68 konzentrierte sich im Sozial<strong>ist</strong>ischen Deutschen Stu<strong>de</strong>ntenbund (SDS) – bis dieser sich 1970 auflöste. 2007<br />
grün<strong>de</strong>ten Linkspartei-Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n Hochschulverband „Die Linke.SDS“. Ein nostalgischer Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>belebungsversuch? Parallelen seien erkennbar, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Rahmen aber habe sich verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t, so Georg Frankl <strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Berliner SDS-Gruppe im Interview. Von Tino Höfert<br />
vorgeworfen, an<strong><strong>de</strong>r</strong>e beanspruchen die<br />
Vollendung <strong>von</strong> 1968 mit <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Bild</strong>ung<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> rot-grünen Bun<strong>de</strong>sregierung für<br />
sich. Wir lehnen bei<strong>de</strong> Interpretationen<br />
ab und wollen nirgendwohin<br />
zurückkehren. Wir wollen herausfin<strong>de</strong>n,<br />
wie die erfolgreichste <strong>de</strong>utsche<br />
Studieren<strong>de</strong>nbewegung entstand und<br />
scheiterte und was wir im Kampf<br />
gegen Kapitalismus und für Frie<strong>de</strong>n<br />
heute daraus lernen können.<br />
Wollt ihr mit diesem Kampf also an die Tradition<br />
<strong>de</strong>s SDS <strong>von</strong> damals anknüpfen?<br />
Klar. Aber <strong><strong>de</strong>r</strong> Rahmen, in <strong>de</strong>m wir<br />
heute han<strong>de</strong>ln, hat sich stark verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t.<br />
Im Gegensatz zu <strong>de</strong>n Sechziger<br />
Jahren sind wir heute in einer Phase<br />
wirtschaftlicher Instabilität, welche<br />
die gesellschaftlichen Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>sprüche<br />
zuspitzt: Wohlstand für wenige,<br />
Armut für viele.<br />
Auch die Hochschulen haben sich<br />
verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t – heute kämpfen wir gegen<br />
<strong>de</strong>n Elitewahn, gegen jegliche Form<br />
<strong>von</strong> Studiengebühren und gegen die<br />
zu hohe Arbeitsbelastung, weil all dies<br />
nicht im Sinne <strong><strong>de</strong>r</strong> großen Mehrheit<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Studieren<strong>de</strong>n <strong>ist</strong>. Dazu setzen wir<br />
uns unter an<strong><strong>de</strong>r</strong>em für eine Demokratisierung<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Hochschulen, für<br />
einen freien Masterzugang und für<br />
die Stärkung <strong><strong>de</strong>r</strong> kritischen Wissenschaften<br />
ein.<br />
Große inhaltliche Differenzen zum<br />
damaligen SDS sehe ich nicht, jedoch<br />
müssen wir <strong>de</strong>n verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ten Rahmen<br />
auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Suche nach Antworten und<br />
Strategien berücksichtigen.<br />
mythos68 | April 2008<br />
„Politik? Nee, ich bin Naturwissenschaftler!“ „Macht doch nichts!“,<br />
rufen wir <strong>de</strong>m da<strong>von</strong>eilen<strong>de</strong>n Stu<strong>de</strong>nten hinterher. Doch da <strong>ist</strong> er<br />
auch schon in <strong><strong>de</strong>r</strong> Menge verschwun<strong>de</strong>n, die hungrig in die Mensa<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Humboldt-Universität strömt.<br />
Von Susanne Hauer, Michael Sacher, Chr<strong>ist</strong>ine Wehner<br />
eine persönliche Positionierung ein.<br />
Was be<strong>de</strong>utet es, politisch zu sein?<br />
Es <strong>ist</strong> wie bei so vielen Gedanken<br />
und Gefühlen, die man im Stillen<br />
in sich trägt – kommt es darauf an<br />
sie konkret zu <strong>de</strong>finieren, gerät man<br />
schnell in Schwierigkeiten, sucht nach<br />
geeigneten Worten. Manchmal gibt<br />
es die nicht, zumal vor einer Kamera.<br />
Um so mehr freuen wir uns, wenn sich<br />
die Stu<strong>de</strong>nten ganz offen auf unsere<br />
Fragen einlassen und ihr politisches<br />
Denken und Han<strong>de</strong>ln im Alltag<br />
beschreiben. Bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Frage nach persönlichen<br />
Vorbil<strong><strong>de</strong>r</strong>n nennen viele ihre<br />
eigene Großmutter lieber als bekannte<br />
Gesellschaftsverän<strong><strong>de</strong>r</strong>er.<br />
Ob das vor 40 Jahren auch so gewesen<br />
wäre? Am wichtigsten scheint es<br />
<strong>de</strong>n Stu<strong>de</strong>nten jedoch, die eigene Individualität<br />
zu wahren und nieman<strong>de</strong>m<br />
nachzueifern. Mit fast je<strong><strong>de</strong>r</strong> Antwort<br />
kommen auch wir wie<strong><strong>de</strong>r</strong> ins Grübeln,<br />
erfahren neue Sichtweisen auf Politik<br />
und Beweggrün<strong>de</strong>, sich politisch zu<br />
engagieren o<strong><strong>de</strong>r</strong> nicht.<br />
Ist je<strong><strong>de</strong>r</strong> politisch? Es <strong>ist</strong> schwer,<br />
Haltungen zu Dingen zu entwickeln.<br />
Einige Stu<strong>de</strong>nten haben eine politische<br />
Meinung, nennen Missstän<strong>de</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Gesellschaft. An<strong><strong>de</strong>r</strong>e wen<strong>de</strong>n sich<br />
bewusst <strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Politik ab, sehen für<br />
sich keinen Raum, politisch aktiv zu<br />
wer<strong>de</strong>n. Die Fragen erwischen manche<br />
eiskalt, sie kommen ins Grübeln. Und<br />
wie<strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>e scheinen sich noch<br />
lange mit unseren Fragen zu beschäftigen.<br />
Im Laufe <strong>de</strong>s Drehtages an <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
FU kommt ein Stu<strong>de</strong>nt noch zweimal<br />
zu uns und möchte noch etwas in<br />
die Kamera sagen. Er wirkt froh, ja<br />
fast erleichtert, dass wir ihm unsere<br />
Fragen gestellt haben. Auch wir haben<br />
das Gefühl, dass einen die Fragen,<br />
einmal gestellt, nicht so schnell wie<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
loslassen.<br />
Die Drehtermine sind vorbei, als<br />
nächstes kommt <strong><strong>de</strong>r</strong> schwierige Prozess<br />
<strong>de</strong>s Filmschnei<strong>de</strong>ns. Trotz <strong><strong>de</strong>r</strong> vielen<br />
unterschiedlichen Antworten zeichnet<br />
sich doch eine Ten<strong>de</strong>nz unter <strong>de</strong>n<br />
befragten Stu<strong>de</strong>nten ab: Politisches<br />
Engagement manifestiert sich bei <strong>de</strong>n<br />
me<strong>ist</strong>en als eine „aktive Passivität“,<br />
so lässt es sich vielleicht am besten<br />
beschreiben.<br />
Ein Berliner Geschichtsstu<strong>de</strong>nt <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Humboldt-Universität drückt es so<br />
aus: „Ich bin passiver Beobachter, das<br />
aber sehr viel“.<br />
Die Vi<strong>de</strong>odokumentation <strong><strong>de</strong>r</strong> Umfrage:<br />
www.netzeitung.<strong>de</strong>/spezial/mythos68<br />
Neue Herausfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen schreien nach neuen<br />
Vorbil<strong><strong>de</strong>r</strong>n. Präsentiert uns „Die Linke.SDS“<br />
bald einen neuen Rudi Dutschke?<br />
Der SDS <strong>von</strong> 68 betrachtete die<br />
Hochschulen als <strong>Teil</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft,<br />
<strong>de</strong>n man nur verän<strong><strong>de</strong>r</strong>n kann, wenn<br />
man die ganze Gesellschaft verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t.<br />
Der Kampf für Demokratie sowie<br />
gegen Krieg und Kapitalismus <strong>ist</strong><br />
damals wie heute ein Kampf auch für<br />
die Freiheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Wissenschaft. Rudi<br />
Dutschke war hier ein be<strong>de</strong>uten<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Protagon<strong>ist</strong>, und vielleicht können<br />
wir einiges <strong>von</strong> ihm lernen, aber mit<br />
bloßem Pflegen <strong>von</strong> Ikonen kommen<br />
wir sicher nicht weiter.
mythos68 | April 2008 universitär<br />
„BURN, WARE-HOUSE, BURN!“<br />
Die Frankfurter Kaufhausbrandstiftungen im April 1968 markieren <strong>de</strong>n Beginn <strong>de</strong>s RAF-Kampfes gegen das System BRD. Doch wo kam dieser radikale I<strong>de</strong>alismus her?<br />
Liegen die Wurzeln <strong>de</strong>s linken Terrorismus in <strong><strong>de</strong>r</strong> Protestkultur <strong>von</strong> 68? Wie aus Stu<strong>de</strong>nten Staatsfein<strong>de</strong> wur<strong>de</strong>n: Eine Spurensuche.<br />
Es <strong>ist</strong> die Nacht vom 2. auf <strong>de</strong>n 3.<br />
April 1968. Kurz nach Mitternacht<br />
mel<strong>de</strong>t ein Unbekannter <strong><strong>de</strong>r</strong> Deutschen<br />
Presseagentur in Frankfurt am<br />
Main: „Gleich brennt’s bei Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
und im Kaufhof. Es <strong>ist</strong> ein politischer<br />
Racheakt.“ Minuten nach diesem<br />
Anruf fressen sich die Feuerflammen<br />
bereits lichterloh durch das Mobiliar<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> besagten Einkaufspaläste in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Mainmetropole. Die angerückte Feuerwehr<br />
hat die Brän<strong>de</strong> zwar schnell<br />
unter Kontrolle, doch durch die<br />
eingeschalteten Sprinkler überfluten<br />
tausen<strong>de</strong> Liter Löschwasser die Kaufhausetagen.<br />
Der Sachscha<strong>de</strong>n beträgt<br />
fast 700.000 Mark. Schnell steht<br />
fest: Es han<strong>de</strong>lt sich um Brandstiftung.<br />
Insgesamt drei kleine Bomben<br />
– zusammengebastelt aus Benzin,<br />
Weckern und Tesafilm – wur<strong>de</strong>n zuvor<br />
in Schränken versteckt und lösten<br />
um 24 Uhr die Feuer aus. Nur zwei<br />
Tage später wer<strong>de</strong>n vier Verdächtige<br />
festgenommen: Allesamt Mitte 20<br />
und mit Kontakten zur Stu<strong>de</strong>ntenbewegung.<br />
Unter ihnen sind auch zwei<br />
Personen, die Jahre später die <strong>de</strong>utsche<br />
Geschichte entschei<strong>de</strong>nd mitprägen<br />
sollten. Ihre Namen: Andreas Baa<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
und Gudrun Ensslin, die Mitbegrün<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Roten Armee Fraktion.<br />
Ein Brandanschlag auf Einkaufspaläste<br />
– war das die Antwort auf<br />
gesellschaftliche Repressionen und<br />
Polizeigewalt? Auf die bürgerliche<br />
Spießigkeit, <strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> sich so zahlreiche<br />
Jugendliche und Studieren<strong>de</strong><br />
Mao Zedong<br />
(1893 – 1976)<br />
„Alles, was <strong><strong>de</strong>r</strong> Feind bekämpft,<br />
müssen wir unterstützen. Alles,<br />
was <strong><strong>de</strong>r</strong> Feind unterstützt,<br />
müssen wir bekämpfen.“<br />
abgrenzen wollten? Klar <strong>ist</strong>: Nach<br />
<strong>de</strong>m tödlichen Polizeischuss auf<br />
Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967<br />
radikalisierten sich die Stu<strong>de</strong>ntenvereinigungen<br />
in Berlin, Frankfurt,<br />
München und an<strong><strong>de</strong>r</strong>en <strong>de</strong>utschen<br />
Städten immer mehr. Die Aktionen<br />
wur<strong>de</strong>n zunehmend provokanter, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Ton härter. Und so wur<strong>de</strong> auch diskutiert,<br />
ob man „Gewalt gegen Sachen“<br />
als legitimes Mittel <strong>de</strong>s politischen<br />
Protests anerkennen könne. Andreas<br />
Baa<strong><strong>de</strong>r</strong>, 24, und die Pfarrerstochter<br />
Gudrun Ensslin, 28 und German<strong>ist</strong>ikstu<strong>de</strong>ntin<br />
an <strong><strong>de</strong>r</strong> FU Berlin,<br />
bekommen all diese Entwicklungen<br />
mit. Ob <strong><strong>de</strong>r</strong> Vietnamkongress o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Demos für mehr Mitbestimmung:<br />
Bei<strong>de</strong> waren sie dabei. Zu dieser Zeit<br />
hatte Ensslin auch erste Kontakte zu<br />
Rudi Dutschke und an<strong><strong>de</strong>r</strong>en SDS-<br />
Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong>n geknüpft. Baa<strong><strong>de</strong>r</strong> war<br />
weniger als typischer Linker, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />
vielmehr als draufgängerischer Macho<br />
bekannt. Die Härte <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>utschen<br />
Staatsordnung bekam <strong><strong>de</strong>r</strong> gebürtige<br />
Münchner früh zu spüren: Im Juni<br />
1962 kam es bei <strong>de</strong>n Schwabinger<br />
Krawallen zu harten Auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzungen<br />
zwischen Polizei und Jugendlichen.<br />
Anneliese Baa<strong><strong>de</strong>r</strong> erinnert sich<br />
an <strong>de</strong>n Kommentar ihres Sohnes:<br />
„Weißt du, Mutter: In einem Staat,<br />
wo Polizei mit Gummiknüppeln gegen<br />
singen<strong>de</strong> junge Leute vorgeht, da <strong>ist</strong><br />
etwas nicht in Ordnung.“<br />
Anfang 1968 sind Andreas Baa<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
und Gudrun Ensslin schon länger ein<br />
DER MäCHTIGE MAOIST<br />
Paar. Ihr gemeinsamer Hass auf das<br />
Establishment vereint sich in <strong>de</strong>m<br />
Eifer, etwas zu verän<strong><strong>de</strong>r</strong>n. Nur: Die<br />
bisherigen Protestaktionen waren<br />
für sie nicht genug. Durch bloßes<br />
Diskutieren könne keine Revolution<br />
ausgelöst wer<strong>de</strong>n, <strong><strong>de</strong>r</strong> SDS wäre schon<br />
längst „zu einem lahmen Verein abgesackt“.<br />
Der Schritt in die Illegalität<br />
also als logische Konsequenz?<br />
Bereits im Mai 1967 brannte ein<br />
Kaufhaus – allerdings nicht in Frankfurt<br />
o<strong><strong>de</strong>r</strong> Berlin, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n in Brüssel.<br />
Bei <strong>de</strong>m Feuer im „A l´Innovation“<br />
starben mehr als 200 Menschen. Als<br />
Reaktion auf die Katastrophe gestaltete<br />
die Berliner Kommune 1 um Werner<br />
Langhans ein Flugblatt. Die Toten<br />
wur<strong>de</strong>n zwar bedauert, doch an<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits<br />
verglich man ihr Leid mit <strong>de</strong>m<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Napalmopfer im Vietnam: „Ein<br />
brennen<strong>de</strong>s Kaufhaus mit brennen<strong>de</strong>n<br />
Menschen vermittelte zum ersten Mal<br />
in einer europäischen Großstadt jenes<br />
kn<strong>ist</strong>ern<strong>de</strong> Vietnamgefühl, das wir in<br />
Berlin bislang noch missen müssen.“<br />
Noch <strong>de</strong>utlicher wur<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Ton im<br />
Flugblatt Nr. 2: „Wenn es irgendwo<br />
brennt in <strong><strong>de</strong>r</strong> nächsten Zeit, [...]<br />
seid bitte nicht überrascht. Brüssel<br />
hat uns die einzige Antwort darauf<br />
gegeben: Burn, ware-house, burn!“<br />
Waren diese Worte die Legitimation<br />
für Gewalt gegen Sachen, um Brandbomben<br />
in <strong>de</strong>utsche Kaufhäuser zu<br />
legen? Dass Baa<strong><strong>de</strong>r</strong> und Ensslin das<br />
Flugblatt gelesen haben, erscheint<br />
<strong>de</strong>nkbar. Inwieweit es sie jedoch bei<br />
Wer war er? Als ländlicher Guerillaführer befreite Mao China <strong>von</strong> jahrzehntelanger<br />
Besatzung. Nach <strong><strong>de</strong>r</strong> erfolgreichen Revolution gegen die national-<strong>de</strong>mokratische<br />
Regierung proklamierte Mao 1949 die Volksrepublik China. Als Staatsoberhaupt<br />
und Chef <strong><strong>de</strong>r</strong> Kommun<strong>ist</strong>ischen Partei bestimmte er fast 30 Jahre lang die<br />
Politik <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s, seine autoritäre Herrschaftsform ging als „Maoismus“ in die<br />
Geschichte ein. Im Rahmen seiner Kulturrevolution wur<strong>de</strong> ganz China umgewälzt,<br />
reaktionäre Kräfte zerschlagen und jegliche Kunst zensiert.<br />
Und heute? Maos Ge<strong>ist</strong> beeinflusst die politischen Geschicke <strong><strong>de</strong>r</strong> wirtschaftlich<br />
aufstreben<strong>de</strong>n Volksrepublik immer noch stark. So wären die diesjährigen<br />
Olympischen Spiele in Peking und ihre bombastische Inszenierung wohl ganz<br />
nach <strong>de</strong>m Geschmack <strong>de</strong>s Machthabers gewesen.<br />
ihrer eigenen Aktion beeinflusst hat,<br />
<strong>ist</strong> rein spekulativ.<br />
Im späteren Prozess – <strong><strong>de</strong>r</strong> sich<br />
mit munteren Angeklagten und<br />
dutzen<strong>de</strong>n Sympathisanten eher zu<br />
einem „Justizhappening“ entwickelt<br />
– unterstreicht Gudrun Ensslin <strong>de</strong>n<br />
politischen Hintergrund <strong><strong>de</strong>r</strong> Tat: „Ich<br />
interessiere mich nicht für ein paar<br />
verbrannte Schaumstoffmatratzen,<br />
ich re<strong>de</strong> <strong>von</strong> verbrannten Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />
in Vietnam.“ Das Urteil: Drei Jahre<br />
Zuchthaus. Nach acht Monaten Haft<br />
kommen die Angeklagten auf freien<br />
Fuß, da <strong><strong>de</strong>r</strong>en Anwalt, <strong><strong>de</strong>r</strong> späterer<br />
Holocaust-Leugner Horst Mahler,<br />
Revision eingelegt hat.<br />
Diese <strong>ist</strong> noch nicht entschie<strong>de</strong>n,<br />
da befin<strong>de</strong>n sich Ensslin und Baa<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
schon auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Flucht, Richtung Paris.<br />
Sie tauchen unter. Nur ein knappes<br />
Jahr später, im Sommer 1970, lässt<br />
sich das Paar zusammen mit an<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />
späteren RAF-Begrün<strong><strong>de</strong>r</strong>n in einem<br />
jordanischen Camp militärisch ausbil<strong>de</strong>n.<br />
Der Beginn einer neuen I<strong>de</strong>ologie:<br />
Von nun an sollten keine Bomben<br />
mehr auf Kaufhäuser geworfen wer<strong>de</strong>n<br />
– son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auf Menschen.<br />
Weiterführen<strong>de</strong> Lektüre im Programm <strong><strong>de</strong>r</strong> bpb:<br />
Anne Siemens: Für die RAF war er das System, für<br />
mich <strong><strong>de</strong>r</strong> Vater. Bereitstellungspauschale €4,00.<br />
Bestellnummer 1651.<br />
ikonen |<br />
Warum wur<strong>de</strong> er <strong>von</strong> <strong>de</strong>n 68ern verehrt?<br />
Für Mao konnte <strong><strong>de</strong>r</strong> Kapitalismus<br />
nur durch eine Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong>de</strong>s<br />
Menschen überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n.<br />
Seine „Mao-Bibel“ war für viele<br />
linke Stu<strong>de</strong>nten revolutionäre<br />
Pflichtlektüre. Dass infolge seiner<br />
politischen „Säuberungskampagnen“<br />
und seines diktatorischen<br />
Machtstrebens mehr als 30 Millionen<br />
Chinesen <strong>de</strong>n Tod fan<strong>de</strong>n,<br />
wur<strong>de</strong> dabei me<strong>ist</strong>ens kritiklos<br />
übersehen.<br />
21<br />
Von Tino Höfert
22<br />
gegenwärtig<br />
Erst waren es nur einige wenige,<br />
und sie hatten eine Vision. Spirituelle<br />
Werte, wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Glaube an Frie<strong>de</strong>n,<br />
Liebe und absolute individuelle Freiheit,<br />
fan<strong>de</strong>n über junge Leute mit<br />
Blumen im Haar plötzlich <strong>de</strong>n Weg<br />
in eine wohlstandsorientierte und<br />
vor Sicherheits<strong>de</strong>nken blin<strong>de</strong> Gesellschaft.<br />
Die sogenannten Hippies<br />
propagierten ein <strong>von</strong> bürgerlichen<br />
Tabus befreites Leben. Gemeinsam<br />
mit <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er-Bewegung war ihnen<br />
das Auflehnen gegen die bürgerlichspießigen<br />
Strukturen. Im Vergleich zu<br />
ihren revolutionsorientierten Altersgenossen<br />
dominierten dabei stärker individual<strong>ist</strong>ische<br />
Selbstverwirklichung<br />
als gesellschaftspolitische Konzepte.<br />
Gemeinsam hatten Hippies und 68er<br />
<strong>de</strong>nnoch viel. Die Jugend suchte sich<br />
selbst in <strong><strong>de</strong>r</strong> Bewusstseinserweiterung<br />
und ihr Glück in <strong><strong>de</strong>r</strong> freien Liebe. Und<br />
wie das eben <strong>ist</strong> mit Menschen, die<br />
1968. 1988. 2008.<br />
Irgendwie verrückt. Alle feiern 68.<br />
Genau 40 Jahre danach, und das,<br />
obwohl richtige Jubiläen erst nach 50<br />
Jahren begangen wer<strong>de</strong>n. Und wie sehr<br />
68 heroisiert wird! „Unser Kampf“ tönt<br />
da beispielsweise <strong><strong>de</strong>r</strong> damals 21-jährige<br />
Götz Aly <strong>von</strong> <strong>de</strong>n Bestsellerl<strong>ist</strong>en – die<br />
Titel-Anlehnung an „Mein Kampf“<br />
<strong>von</strong> 1924 <strong>ist</strong> bewusst unglücklich<br />
gewählt. Sicher, das war schon was:<br />
„Unser erfolgreicher Kampf“ gegen<br />
<strong>de</strong>n Vietnamkrieg, <strong>de</strong>n Schah <strong>von</strong><br />
Persien, gegen Spießbürgerlichkeit,<br />
Altnazis, BILD und sexuelle Verklemmtheit.<br />
Scha<strong>de</strong> nur, dass es <strong>Bild</strong><br />
immer noch so meinungsmanipulativ<br />
wie damals gibt. Und auch Spießbürgerlichkeit<br />
<strong>ist</strong>, sogar unter Alt-68ern,<br />
nicht ausgestorben. Von Alt- sowie<br />
Neunazis ganz zu schweigen.<br />
Irgendwo muss aber ein Sinn liegen,<br />
dass so viele Medien <strong><strong>de</strong>r</strong>zeit einem<br />
Hype erliegen, eine Generation zu<br />
feiern, die justamente das Pensionsalter<br />
<strong>de</strong>n Mut haben, neue Wege zu gehen,<br />
sie ziehen an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Menschen gera<strong>de</strong>zu<br />
magisch an. Wenn eine Bewegung <strong>de</strong>n<br />
Hedonismus zum Lebensinhalt erklärt<br />
und sexuelle Tabus zu einem Tabu,<br />
dann muss sie nicht lange warten,<br />
bis sie Zulauf fin<strong>de</strong>t. Denn wer sehnt<br />
sich nicht – damals wie heute – nach<br />
einem Leben ohne Begrenzung und<br />
Druck, nach Selbstverwirklichung<br />
und persönlicher Akzeptanz? So wird<br />
aus einem überschaubaren sozialen<br />
Experiment schon nach kurzer Zeit<br />
eine Massenbewegung.<br />
Doch schon zeigt sich die Kehrseite<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Medaille: Traumtänzer und<br />
Drogensüchtige wan<strong>de</strong>ln in bunten<br />
Gewän<strong><strong>de</strong>r</strong>n durch die Städte. Der<br />
Aufruf zu mehr Solidarität und gegenseitiger<br />
Unterstützung mutiert zur<br />
plumpen Ausre<strong>de</strong>, um die mangeln<strong>de</strong><br />
Bereitschaft, sich selbst produktiv in<br />
die Gemeinschaft einzubringen, zu<br />
erreicht. Das muss man diesen Alten<br />
lassen: ihre Selbstvermarktung <strong>ist</strong> hemmungslos.<br />
Welche an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Generation<br />
danach hat ähnliches vollbracht?<br />
Rechnen wir nach. Als am 11.<br />
April 1968 in Berlin die drei fatalen<br />
Schüsse auf Rudi Dutschke abgegeben<br />
wur<strong>de</strong>n, war <strong><strong>de</strong>r</strong> 1940 geborene<br />
Stu<strong>de</strong>ntenführer gera<strong>de</strong> 28 Jahre alt<br />
und die, die ihm in Hörsälen und auf<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Straße folgten, so zwischen 17<br />
und 30. Und wer regierte die Straße<br />
20 Jahre später, also 1988 in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
„next generation“? Richtig: keiner.<br />
O<strong><strong>de</strong>r</strong> doch: Zumin<strong>de</strong>st im Osten<br />
war die Bürgerrechtsbewegung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
DDR gera<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>m Weg, mal eben<br />
die friedliche Revolution 89 zu vollbringen,<br />
aber im Westen interessierte<br />
das nachhaltig wenig. Dort gab ein<br />
an<strong><strong>de</strong>r</strong>er ab dieser Zeit <strong>de</strong>n Ton auf<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Straße an: Matthias Roeingh.<br />
Der damals 29-Jährige wuchs aus<br />
<strong>de</strong>m Nichts zum Straßenkämpfer für<br />
mythos68 | April 2008<br />
WENN SUBKULTUR ZUM MAINSTREAM WIRD<br />
40 Jahre nach 68 <strong>ist</strong> die Subkultur in <strong><strong>de</strong>r</strong> Masse aufgegangen.<br />
Aus einem überschaubaren sozialen Experiment wird eine<br />
Massenbewegung. Viele <strong><strong>de</strong>r</strong> damaligen I<strong>de</strong>ale scheinen verloren<br />
Trotz<strong>de</strong>m gibt’s ein fettes Dankeschön an 68.<br />
Von Sybille Pfeffer<br />
vertuschen. Was die Visionäre zuvor<br />
noch in letzter Konsequenz versuchen<br />
umzusetzen, verkommt immer mehr<br />
zu einem oberflächlichen Medienspektakel<br />
unreifer Teenager. Die Musikindustrie<br />
nutzt ihre Chance und nutzt<br />
professionelle Marketinginstrumente<br />
und ausgeklügelte PR-Strategien,<br />
um die Idole <strong><strong>de</strong>r</strong> Generation noch<br />
gewinnbringen<strong><strong>de</strong>r</strong> zu vermarkten. So<br />
<strong>ist</strong> anzunehmen, dass es nicht immer<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Ausdruck innerer Überzeugung<br />
<strong>ist</strong>, wie sich die Bands und Lie<strong><strong>de</strong>r</strong>macher<br />
präsentierten. Es <strong>ist</strong> oftmals<br />
nichts an<strong><strong>de</strong>r</strong>es als knallhartes Marketing<br />
– o<strong><strong>de</strong>r</strong> Corporate I<strong>de</strong>ntity, wie<br />
wir heute sagen – mit <strong>de</strong>m einzigen<br />
Ziel, die Verkaufszahlen noch weiter<br />
zu steigern.<br />
Am 6. Oktober 1967 – also schon<br />
zwei Jahre vor <strong>de</strong>m legendären Woodstock-Festival<br />
– wur<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Hippie und<br />
seine Kultur in einem riesigen Sarg<br />
symbolisch zu Grabe getragen. Der<br />
festliche Umzug durch Haight-Ashbury<br />
in San Francisco, <strong><strong>de</strong>r</strong> Keimzelle<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Flower-Power-Subkultur, war ein<br />
Auflehnen gegen ihre immer stärkere<br />
Kommerzialisierung und Fehlinterpretation.<br />
Who‘s next? Ein Zwischenruf. Von Holger Kulick<br />
alle, die 1960 und später das Licht<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Welt erblickten. Er führte im Juli<br />
1989 als „Dr. Motte“ getarnt die erste<br />
„Lovepara<strong>de</strong>“ über <strong>de</strong>n Ku‘damm.<br />
Zunächst nur mit 150 Techno-<br />
Getreuen, später mit zwei Millionen.<br />
Seine „Tanzbewegung“ applaudierte<br />
je<strong>de</strong>s Jahr <strong>de</strong>n abgehobenen Re<strong>de</strong>n<br />
ihres Gurus, <strong><strong>de</strong>r</strong> zu Füßen <strong><strong>de</strong>r</strong> Berliner<br />
Siegessäule ernsthaft „Frie<strong>de</strong>, Freu<strong>de</strong>,<br />
Eierkuchen“ postulierte und nebenher<br />
<strong>de</strong>m Demonstrationsrecht ein neues<br />
Gesicht verlieh: Seine markenrechtlich<br />
geschützte Kommerz-“Lovepara<strong>de</strong>“<br />
wur<strong>de</strong> als politische Demonstration<br />
anerkannt. Durch wen? Wahrscheinlich<br />
Alt-68er, die als Jur<strong>ist</strong>en in <strong>de</strong>n<br />
zuständigen Institutionen saßen.<br />
Aber Roeingh und sein Ruhm sind<br />
trotz<strong>de</strong>m verpufft, und die Alt-68er<br />
können umso stolzer zeigen: „Ätsch,<br />
wir sind immer noch da!“ Doch: for<br />
what? Denn was <strong>ist</strong> heute? Stellt sich<br />
<strong>de</strong>nen 40 Jahre später niemand ent-<br />
Fatal<strong>ist</strong>en mögen behaupten, das<br />
alternative Lebensmo<strong>de</strong>ll <strong><strong>de</strong>r</strong> 68er-<br />
Generation sei gescheitert und in<br />
einer Welt <strong><strong>de</strong>r</strong> freien Marktwirtschaft<br />
schlicht nicht praktikabel. Im neuen<br />
Jahrtausend fin<strong>de</strong>n wir uns in einer<br />
globalen Gesellschaft wie<strong><strong>de</strong>r</strong>, die sich<br />
mehr <strong>de</strong>nn je an <strong>de</strong>n Maximen <strong>de</strong>s<br />
Profits ausrichtet, sinnlose Kriege führt<br />
und vor sozialer Ungleichheit strotzt.<br />
Vielleicht <strong>ist</strong> ein Zusammenleben in<br />
Frie<strong>de</strong>n und Solidarität tatsächlich<br />
(noch) nicht massentauglich.<br />
Doch mitunter haben wir es dieser<br />
Generation <strong>von</strong> Visionären zu verdanken,<br />
dass wir heute als einzelne<br />
Individuen die Wahl haben, wie wir<br />
in dieser kapital<strong>ist</strong>ischen Welt leben<br />
wollen. Ob mono- o<strong><strong>de</strong>r</strong> polygam, lesbisch,<br />
schwul, mit Fetisch o<strong><strong>de</strong>r</strong> ohne,<br />
meditierend, betend, athe<strong>ist</strong>isch: Die<br />
Allgemeinheit <strong>ist</strong> toleranter gewor<strong>de</strong>n,<br />
offener, vielleicht sogar menschlicher.<br />
Gescheitert o<strong><strong>de</strong>r</strong> nicht, eines steht<br />
je<strong>de</strong>nfalls fest: Die Blumenkin<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
haben <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Horizont<br />
erweitert. Und dafür haben sie ein<br />
dickes fettes Dankeschön verdient!<br />
gegen und setzt überfällige Impulse<br />
für die kommen<strong>de</strong> Zeit? Wo <strong>ist</strong> anno<br />
2008 die eigene Generation versteckt?<br />
Genießt sie ganz einfach nur jene<br />
Freiheit, die 68er für sie eroberten?<br />
Und wenn ja, wie füllt sie diese<br />
aus? Mit Komasaufen, freundlichen<br />
G8-Besuchen, Konsumterror und<br />
Endlos-Chatten im Netz? Ein Lichtblick<br />
verspricht das Jugendfestival<br />
Berlin 08 zu wer<strong>de</strong>n. Mehrere Tausend<br />
junger Leute treffen sich ein Wochenen<strong>de</strong><br />
lang in <strong><strong>de</strong>r</strong> Berliner Wuhlhei<strong>de</strong>,<br />
um über Politik und Gesellschaft<br />
zu diskutieren. Wer weiß: Vielleicht<br />
treten sie eine neue Jugendbewegung<br />
in Gang. Denn es <strong>ist</strong> nicht mehr 1968.<br />
Es <strong>ist</strong> 2008. Es <strong>ist</strong> an <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit.<br />
Ausführliche Informationen über Berlin 08 unter<br />
http://www.du-machst.<strong>de</strong>/berlin08
mythos68 | April 2008 Glossar<br />
APO – Außerparlamentarische Opposition<br />
Bezeichnung für die antiautoritäre Protestbewegung, die in <strong><strong>de</strong>r</strong> Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland Mitte bis En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> 60er<br />
Jahre Jahre vor allem <strong>von</strong> Stu<strong>de</strong>nten und Jugendlichen getragen wur<strong>de</strong> und die versuchte, (neue radikale) politische<br />
Vorstellungen und gesellschaftliche Reformen (z.T. mittels provokativer Protestaktionen) durchzusetzen bzw. restriktive<br />
Maßnahmen zu verhin<strong><strong>de</strong>r</strong>n (z.B. Notstandsgesetzgebung). Vergleichbare Protestbewegungen gab es in an<strong><strong>de</strong>r</strong>en westlichen<br />
Län<strong><strong>de</strong>r</strong>n. Die APO wur<strong>de</strong> durch die Schwäche <strong><strong>de</strong>r</strong> parlamentarischen Opposition nach 1966 zu einer wichtigen<br />
politischen Kraft und verlor nach En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Großen Koalition (1969) rasch an politischer Be<strong>de</strong>utung.<br />
Quelle: Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon 4., aktual. Aufl. Bonn: Dietz 2006.<br />
Gruppe 47<br />
Die Gruppe 47 war eine <strong>von</strong> Hans Werner Richter 1947 gegrün<strong>de</strong>te Vereinigung <strong>von</strong> Autoren und Literaturkritikern.<br />
Sie strebten in ihrem literarischen Schreiben eine Reinigung <strong><strong>de</strong>r</strong> durch <strong>de</strong>n Nationalsozialismus verseuchten Sprache an<br />
und wollten zu neuen, real<strong>ist</strong>ischen und betont nüchternen Beschreibungskategorien gelangen. Bei <strong>de</strong>n regelmäßigen<br />
Herbsttreffen <strong><strong>de</strong>r</strong> Gruppe lasen die me<strong>ist</strong>en be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n Schriftsteller <strong><strong>de</strong>r</strong> Bun<strong>de</strong>srepublik ihre Manuskripte vor und<br />
stellten sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Kritik <strong>de</strong>s Kreises. Seit 1950 wur<strong>de</strong> in unregelmäßigen Abstän<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> „Preis <strong><strong>de</strong>r</strong> Gruppe 47“ vergeben.<br />
Die Treffen, auf <strong>de</strong>nen auch wichtige Verleger anwesend waren, wur<strong>de</strong>n zur tonangeben<strong>de</strong>n Literaturmesse. Den For<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen<br />
nach einem klaren politischen Standpunkt, wie er in <strong>de</strong>n 60er Jahren <strong>von</strong> jüngeren Schriftstellern vertreten<br />
wur<strong>de</strong>, konnte die Gruppe 47 nicht mehr entsprechen. Das letzte öffentliche Treffen fand 1967 statt.<br />
Quelle: Axel Schildt: Rebellion und Reform. Die Bun<strong>de</strong>srepublik <strong><strong>de</strong>r</strong> Sechzigerjahre, Bonn 2005.<br />
Aus <strong><strong>de</strong>r</strong> bpb-Reihe „Zeitbil<strong><strong>de</strong>r</strong>“.<br />
Notstandsgesetze<br />
Die sogenannten Notstandsgesetze gehen zurück auf eine For<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong><strong>de</strong>r</strong> Alliierten nach <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Zweiten<br />
Weltkriegs, die ihre dort stationierten Truppen geschützt sehen wollten. Diese gesetzlichen Vorbehalte wur<strong>de</strong>n im Besatzungsstatut<br />
<strong>von</strong> 1949 und im Deutschlandvertrag <strong>von</strong> 1952 geregelt, bis die Bun<strong>de</strong>srepublik 1955 ihre volle staatliche<br />
Souveränität erhielt. Das Grundgesetz hatte ursprünglich mit Rücksicht auf die schlechten Erfahrungen aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Weimarer Republik nur wenige und lückenhafte Bestimmungen enthalten, auf <strong><strong>de</strong>r</strong>en Grundlage die staatlichen Organe<br />
Notstandssituationen – Unruhen, Spannungen etc. – begegnen konnten. Heftige Auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzungen entwickelten<br />
sich in <strong>de</strong>n 60er Jahren vor allem <strong>de</strong>shalb, weil unter Fe<strong><strong>de</strong>r</strong>führung <strong>de</strong>s Innenmin<strong>ist</strong>eriums – zunächst – geheime<br />
Pläne („Schubla<strong>de</strong>ngesetze“) entwickelt wur<strong>de</strong>n. Danach sollte im Verteidigungsfall, im „Spannungsfall“, beim inneren<br />
Notstand und im Katastrophenfall die gesetzgeben<strong>de</strong> Gewalt auf die Bun<strong>de</strong>sregierung übergehen. Die sozial<strong>de</strong>mokratische<br />
Opposition im Bun<strong>de</strong>stag hatte die Notstandsgesetze <strong>de</strong>shalb strikt abgelehnt. In <strong>de</strong>n Verhandlungen zur <strong>Bild</strong>ung<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Großen Koalition wur<strong>de</strong> dagegen vereinbart, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Bun<strong>de</strong>stag in einem Rumpfparlament <strong>von</strong> 33 Abgeordneten<br />
gemäß seiner politischen Zusammensetzung als Kontrollorgan vorzusehen sei. Das Notstandsgesetz wur<strong>de</strong> als 17.<br />
Gesetz zur än<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong>de</strong>s Grundgesetzes am 24. Juni 1968 mit <strong>de</strong>n Stimmen <strong><strong>de</strong>r</strong> Parteien <strong><strong>de</strong>r</strong> Großen Koalition gegen<br />
einige Abweichler aus <strong>de</strong>n Reihen <strong><strong>de</strong>r</strong> SPD und gegen die Stimmen <strong><strong>de</strong>r</strong> FDP-Fraktion mit <strong><strong>de</strong>r</strong> notwendigen Zweidrittel-<br />
Mehrheit verabschie<strong>de</strong>t.<br />
Quelle: Axel Schildt: Rebellion und Reform. Die Bun<strong>de</strong>srepublik <strong><strong>de</strong>r</strong> Sechzigerjahre, Bonn 2005.<br />
Aus <strong><strong>de</strong>r</strong> bpb-Reihe „Zeitbil<strong><strong>de</strong>r</strong>“.<br />
Prager Frühling<br />
Dieser Begriff kennzeichnet <strong>de</strong>n Versuch <strong><strong>de</strong>r</strong> neuen Parteiführung <strong><strong>de</strong>r</strong> tschechoslowakischen Kommun<strong>ist</strong>en unter Alexan<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Dubcek <strong>von</strong> Januar bis August 1968, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu verwirklichen, d.h., unter<br />
Vorbehalt <strong><strong>de</strong>r</strong> „führen<strong>de</strong>n Rolle <strong><strong>de</strong>r</strong> Partei“ bürgerliche Freiheiten (Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit usw.) zu realisieren.<br />
Die Sowjetunion betrachtete <strong>de</strong>n Prager Frühling jedoch als eine Gefahr für die Einheitlichkeit <strong>de</strong>s Ostblocks. Auch<br />
die Einheitspartei <strong><strong>de</strong>r</strong> DDR, die SED, griff <strong>de</strong>n Kurs <strong><strong>de</strong>r</strong> neuen tschechoslowakischen Parteiführung als konterrevolutionär<br />
und frie<strong>de</strong>nsgefähr<strong>de</strong>nd an. Durch <strong>de</strong>n Einmarsch <strong>von</strong> Truppen <strong><strong>de</strong>r</strong> Sowjetunion und weiterer Staaten <strong>de</strong>s Warschauer<br />
Pakts (Truppen <strong><strong>de</strong>r</strong> Nationalen Volksarmee <strong><strong>de</strong>r</strong> DDR überschritten die Grenze nicht) am 20./21. August 1968 wur<strong>de</strong> das<br />
Reformexperiment gewaltsam been<strong>de</strong>t.<br />
Quelle: Axel Schildt: Rebellion und Reform. Die Bun<strong>de</strong>srepublik <strong><strong>de</strong>r</strong> Sechzigerjahre, Bonn 2005.<br />
Aus <strong><strong>de</strong>r</strong> bpb-Reihe „Zeitbil<strong><strong>de</strong>r</strong>“.<br />
Weiterführen<strong>de</strong> Lektüre im Programm <strong><strong>de</strong>r</strong> bpb<br />
zu bestellen unter www.bpb.<strong>de</strong>/shop<br />
Norbert Frei: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest<br />
(Mitte April 2008)<br />
Bestellnummer: 1699 Bereitstellungspauschale: 4,00 €<br />
Bernd Greiner: Krieg ohne Fronten – Die USA in<br />
Vietnam (2007)<br />
Bestellnummer: 1648 Bereitstellungspauschale: 6,00 €<br />
Götz Aly: Unser Kampf. 1968 – Ein irritierter Blick<br />
zurück (Mai 2008)<br />
Bestellnummer: 1696 Bereitstellungspauschale: 4,00 €<br />
Peter Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong>: Rebellion und Wahn. Mein 68 –<br />
Eine autobiographische Erzählung (2008)<br />
Bestellnummer: 1701 Bereitstellungspauschale: 4,00 €<br />
Weitere Informationen unter: www.bpb.<strong>de</strong>/1968<br />
Axel Schildt: Zeitbil<strong><strong>de</strong>r</strong>: Rebellion und Reform –<br />
Die Bun<strong>de</strong>srepublik <strong><strong>de</strong>r</strong> Sechzigerjahre (2005)<br />
Bestellnummer: 3962 Bereitstellungspauschale: 2,00 €<br />
Stefan Wolle: Zeitbil<strong><strong>de</strong>r</strong>: Aufbruch in die Stagnation –<br />
Die DDR in <strong>de</strong>n Sechzigerjahren (2005)<br />
Bestellnummer: 3961 Bereitstellungspauschale: 2,00 €<br />
Stefan Wolle: Die heile Welt <strong><strong>de</strong>r</strong> Diktatur (1999)<br />
Bestellnummer: 1349 Bereitstellungspauschale: 2,00 €<br />
Aus Politik und Zeitgeschichte 14-15/2008: 1968<br />
Bestellnummer 7814<br />
Aus Politik und Zeitgeschichte 20/08: Prager Frühling<br />
Bestellnummer 7820 (Mitte Mai 2008)<br />
Der Sozial<strong>ist</strong>ische Deutsche Stu<strong>de</strong>ntenbund (SDS)<br />
23<br />
wur<strong>de</strong> nach <strong>de</strong>m Zweiten Weltkrieg als Stu<strong>de</strong>ntenorganisation <strong><strong>de</strong>r</strong> SPD gegrün<strong>de</strong>t. Zahlreiche spätere Parteifunktionäre,<br />
etwa Helmut Schmidt, begannen ihre politische Karriere im SDS. Nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Verabschiedung <strong>de</strong>s sozial<strong>de</strong>mokratischen<br />
Go<strong>de</strong>sberger Programms 1959 begann sich <strong><strong>de</strong>r</strong> SDS – im schroffen Gegensatz zur SPD – immer weiter nach<br />
links zu wen<strong>de</strong>n, woraufhin die SPD ihren Stu<strong>de</strong>ntenverband ausschloss. In <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Jahren wur<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> SDS<br />
zum Sammelbecken verschie<strong>de</strong>ner linker Strömungen, die jeweils die relativ kleinen Gruppen <strong><strong>de</strong>r</strong> Universitätsstädte<br />
dominierten: Vertreter einer sozial<strong>ist</strong>ischen Neuen Linken zwischen Sozial<strong>de</strong>mokratie und Kommunismus, Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> illegalen Kommun<strong>ist</strong>ischen Partei und zunehmend Anhänger einer antiautoritären Bewegung, die nicht mehr im<br />
Proletariat, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n in gesellschaftlichen Randgruppen, etwa <strong>de</strong>n noch nicht ins „System“ integrierten Stu<strong>de</strong>nten, das<br />
Subjekt revolutionärer Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen erblickten. Vor allem die zuletzt genannte antiautoritäre Strömung wur<strong>de</strong> zum<br />
Kern <strong><strong>de</strong>r</strong> spektakulären Jugendproteste, die das letzte Drittel <strong><strong>de</strong>r</strong> 60er Jahre prägten, obwohl sie wohl nur etwa die<br />
Hälfte <strong><strong>de</strong>r</strong> wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um 2 000 bis maximal 4 000 Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s SDS stellte.<br />
Quelle: Axel Schildt: Rebellion und Reform. Die Bun<strong>de</strong>srepublik <strong><strong>de</strong>r</strong> Sechzigerjahre, Bonn 2005.<br />
Aus <strong><strong>de</strong>r</strong> bpb-Reihe „Zeitbil<strong><strong>de</strong>r</strong>“.<br />
„Spiegel“-Affäre<br />
Die als „Spiegel“-Affäre bekannte Episo<strong>de</strong> war in Wirklichkeit eine Strauß-Affäre. Am 10. Oktober 1962 analysierte<br />
ein „Spiegel“-Artikel unter <strong>de</strong>m Titel „Bedingt abwehrbereit“ das NATO-Stabsmanöver „Fallex 61“. Er kam zu <strong>de</strong>m<br />
Schluß, daß die Verteidigung <strong><strong>de</strong>r</strong> Bun<strong>de</strong>srepublik im Falle eines Angriffs <strong>de</strong>s Warschauer Pakts keineswegs gesichert sei<br />
und daß das Konzept <strong>de</strong>s vorbeugen<strong>de</strong>n Schlages <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n eher gefähr<strong>de</strong>te als sicherte.<br />
In <strong><strong>de</strong>r</strong> Nacht vom 26. zum 27. Oktober 1962, achtzehn Tage nach <strong>de</strong>m Erscheinen <strong>de</strong>s Artikels, wur<strong>de</strong>n die Redaktionsräume<br />
<strong>de</strong>s „Spiegel“ in Hamburg, die „Spiegel“-Redaktion in Bonn und mehrere Privatwohnungen im Hamburg <strong>von</strong><br />
Beamten <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>skriminalamtes und <strong><strong>de</strong>r</strong> Hamburger Polizei durchsucht. Der eigentlich zuständige Bun<strong>de</strong>sjustizmin<strong>ist</strong>er<br />
Wolfgang Stammberger (FDP) wur<strong>de</strong> ebenso wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Hamburger Innensenator Helmut Schmidt (SPD) gar nicht<br />
o<strong><strong>de</strong>r</strong> erst verspätet informiert. Die Verhaftung <strong>de</strong>s Artikelschreibers Conrad Ahlers während seines Urlaubs in Spanien<br />
hatte – wie sich später herausstellte – Verteidigungsmin<strong>ist</strong>er Strauß unter Umgehung <strong>de</strong>s Auswärtigen Amtes über <strong>de</strong>n<br />
Militärattaché an <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>utschen Botschaft in Madrid veranlasst.<br />
Der „Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein, <strong><strong>de</strong>r</strong> Ver<br />
lagsdirektor und mehrere leiten<strong>de</strong> Redakteure wur<strong>de</strong>n verhaftet. Angeordnet hatte diese Maßnahmen die Bun<strong>de</strong>sanwaltschaft<br />
in Karlsruhe, nach<strong>de</strong>m ein <strong>von</strong> ihr angefor<strong><strong>de</strong>r</strong>tes Gutachten <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverteidigungsmin<strong>ist</strong>eriums am<br />
19. Oktober zu <strong>de</strong>m Ergebnis gekommen war, daß <strong><strong>de</strong>r</strong> „Spiegel“-Artikel „Bedingt abwehrbereit“ geheimzuhalten<strong>de</strong><br />
Tatsachen veröffentlicht habe, die er durch Verrat <strong>von</strong> Angehörigen <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sverteidigungsmin<strong>ist</strong>eriums erhalten<br />
habe. Die Begründungen für die Haftbefehle lauteten auf Tatverdacht <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>sverrats, <strong><strong>de</strong>r</strong> lan<strong>de</strong>sverräterischen<br />
Fälschung und <strong><strong>de</strong>r</strong> aktiven Bestechung.<br />
Die „Spiegel“-Affäre führte zu einer Regierungskrise: Die FDP-Fraktion for<strong><strong>de</strong>r</strong>te wie die SPD <strong>de</strong>n Rücktritt <strong>von</strong> Verteidigungsmin<strong>ist</strong>er<br />
Strauß und zog ihre fünf Min<strong>ist</strong>er aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Regierung zurück. Bun<strong>de</strong>skanzler Konrad A<strong>de</strong>nauer bil<strong>de</strong>te<br />
am 14. Dezember ein neues Kabinett, <strong>de</strong>m Strauß nicht mehr angehörte, und kündigte seinen Rücktritt für <strong>de</strong>n Herbst<br />
1963 an. Darüber hinaus hatte die „Spiegel“-Krise weitreichen<strong>de</strong> Folgen für die politische Kultur <strong><strong>de</strong>r</strong> Bun<strong>de</strong>srepublik<br />
Deutschland.<br />
Quelle: Informationen zur politischen <strong>Bild</strong>ung: Zeiten <strong>de</strong>s Wan<strong>de</strong>ls (Heft 258)<br />
Vietnamkrieg<br />
Die 68er: Ausstellung in Frankfurt<br />
Nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Nie<strong><strong>de</strong>r</strong>lage <strong><strong>de</strong>r</strong> französischen Truppen gegen die kommun<strong>ist</strong>isch geführte Unabhängigkeitsbewegung in<br />
Vietnam 1954 verfestigte sich die Trennung <strong>de</strong>s ehemals französischen Kolonialbesitzes in zwei Staaten: <strong>de</strong>n kommun<strong>ist</strong>ischen<br />
Nor<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>n bald <strong>von</strong> korrupten Diktatoren geführten Sü<strong>de</strong>n. Amerikanische Truppen engagierten sich<br />
zunehmend in Südvietnam. Sie wollten die dort im Untergrund kämpfen<strong>de</strong>n Vietcong-Rebellen bekämpfen, die sich<br />
für eine Vereinigung mit <strong>de</strong>m kommun<strong>ist</strong>ischen Nor<strong>de</strong>n aussprachen und <strong>von</strong> diesem unterstützt wur<strong>de</strong>n. Mitte <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
60er traten die USA auch offiziell in <strong>de</strong>n Krieg ein und suchten eine Entscheidung durch ein Flächenbombar<strong>de</strong>ment<br />
Nordvietnams. Auch im Sü<strong>de</strong>n setzten die US-Truppen die Strategie großflächiger Entlaubung <strong>von</strong> Dschungelgebieten<br />
ein, um <strong>de</strong>m Vietcong sein Operationsfeld zu nehmen. Dennoch dominierten diese seit einer großen Offensive 1968<br />
das Kriegsgeschehen. Der grausam geführte Krieg gilt als erster Fernsehkrieg <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte. Seine <strong>Bild</strong>er ließen<br />
in <strong>de</strong>n USA auch angesichts <strong>von</strong> 40.000 eigenen Opfern selbst eine mächtige Antikriegsbewegung entstehen. Der<br />
Vietnamkrieg galt für die jugendliche Protestbewegung in <strong><strong>de</strong>r</strong> gesamten westlichen Welt als Beweis für <strong>de</strong>n Verrat aller<br />
humanitären I<strong>de</strong>ale durch die westlichen Kriegsparteien.<br />
Quelle: Axel Schildt: Rebellion und Reform. Die Bun<strong>de</strong>srepublik <strong><strong>de</strong>r</strong> Sechzigerjahre, Bonn 2005.<br />
Aus <strong><strong>de</strong>r</strong> bpb-Reihe „Zeitbil<strong><strong>de</strong>r</strong>“.<br />
Das Jahr steht als Chiffre für die Stu<strong>de</strong>ntenproteste in <strong><strong>de</strong>r</strong> zweiten Hälfte <strong><strong>de</strong>r</strong> 60er Jahre Jahre, für ihre Vorgeschichte und ihre lange<br />
Wirkung bis heute. Es markiert eine <strong><strong>de</strong>r</strong> nachhaltigsten Zäsuren <strong><strong>de</strong>r</strong> Nachkriegsgeschichte. Frankfurt am Main war neben Berlin <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
wichtigste Schauplatz <strong><strong>de</strong>r</strong> Revolte in Deutschland. 2008 fin<strong>de</strong>t in Frankfurt eine umfassen<strong>de</strong> Ausstellung zum Thema statt – eingebettet in<br />
einen vielseitigen Veranstaltungssommer zu 1968. Die Ausstellung <strong>ist</strong> als groß angelegtes Erinnerungspanorama multimedial aufgebaut.<br />
Präsentiert wer<strong>de</strong>n auf 700 qm ca. 700 Originaldokumente wie Flugblätter, Zeitschriften, Transparente, o<strong><strong>de</strong>r</strong> Wandzeitungen, Fotografien,<br />
Alltagsobjekte, Ton- und Vi<strong>de</strong>oaufnahmen, Musikbeispiele sowie Interviews mit Protagon<strong>ist</strong>en.<br />
„Die 68er“ fin<strong>de</strong>t im H<strong>ist</strong>orischen Museum, Saalgasse 19, Frankfurt am Main statt. Die Ausstellung <strong>ist</strong> geöffnet vom 1. Mai bis 31. August<br />
2008, Dienstag bis Sonntag <strong>von</strong> 10 bis 18 Uhr, Mittwoch <strong>von</strong> 10 bis 21 Uhr. Der Eintritt beträgt 6 Euro (ermäßigt 3 Euro). Führung nach<br />
Anmeldung möglich. Weitere Informationen unter www.die-68er.<strong>de</strong>.
24<br />
gegenwärtig<br />
SCHAUMSCHLäGER ODER BOMBENLEGER?<br />
WAS HEUTIGE MEDIEN BEWEGT.<br />
Medien und 68. Vielschichtig <strong>ist</strong> diese nunmehr 40 Jahre andauern<strong>de</strong> Beziehung<br />
schon immer gewesen. Von Sandra Bieler<br />
Während die BILD-Zeitung kein<br />
gutes Haar an Dutschke & Co. ließ,<br />
setzten die jungen Rebellen kurzerhand<br />
auf eine Gegenöffentlichkeit.<br />
Prächtig verstan<strong>de</strong>n sie es, sich in<br />
Szene zu setzen. Eine <strong><strong>de</strong>r</strong> berühmtesten<br />
Fotografien <strong>von</strong> damals: Ein <strong>Bild</strong>, auf<br />
<strong>de</strong>m die Kommunar<strong>de</strong>n nackt an einer<br />
Wand posieren.<br />
Auch heute noch ziert dieses <strong>Bild</strong><br />
zahlreiche Medien. Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t allerdings<br />
hat sich das Ausmaß an Öffentlichkeit,<br />
das die 68er heute genießen.<br />
In einem scheint man sich einig zu<br />
sein: Wer zum 40jährigen Jubiläum<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Jugendrevolte hip sein will, bringt<br />
die 68er auf <strong>de</strong>n Titel. Sie begegneten<br />
uns in informativ-ironischen<br />
Artikelserien beim SPIEGEL o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
<strong>de</strong>tailreichen Son<strong><strong>de</strong>r</strong>ausgaben in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
ZEIT. Mit aufreizen<strong>de</strong>n Fotokollagen<br />
will <strong><strong>de</strong>r</strong> Stern die Sinne reizen, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Fernsehsen<strong><strong>de</strong>r</strong> ARTE versucht dasselbe<br />
mit seinem musikreichen ´Summer of<br />
Love`. Unter <strong>de</strong>n Top Ten <strong>de</strong>s medialen<br />
Schlagabtauschs: freie Liebe, die<br />
heutige Be<strong>de</strong>utung <strong>von</strong> 68 und die<br />
Gewaltfrage.<br />
Für die einen <strong>ist</strong> die Erinnerung an<br />
die 68er und ihre Ziele sehr unbequem,<br />
für die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en einfach ein Quotenfänger<br />
mit Vorführeffekt. Angesichts <strong>de</strong>s<br />
medialen 68er-Overkills sind außergewöhnliche<br />
I<strong>de</strong>en willkommen. So<br />
lässt <strong><strong>de</strong>r</strong> SPIEGEL beispielsweise die<br />
ergrauten Kommune-1-Bewohner<br />
auf einem Friedhof zusammentreffen.<br />
Einer <strong>von</strong> ihnen, bemerkt <strong><strong>de</strong>r</strong> Autor<br />
dabei süffisant, sehe heute so aus „wie<br />
einer jener Rentner, die er 40 Jahre<br />
zuvor auf <strong>de</strong>m Ku´damm erschreckt<br />
hat“. Ironie und D<strong>ist</strong>anz – das <strong>ist</strong> die<br />
Antwort <strong><strong>de</strong>r</strong> ehemaligen Stimme <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
kritischen Gegenöffentlichkeit beim<br />
Rückblick ins eigene Antlitz. Die<br />
Frage nach <strong>de</strong>m Erreichten <strong>ist</strong> eben<br />
umstritten. Ein „Weltereignis“, das<br />
muss die noch junge WELT ONLINE<br />
feststellen, war 1968 allemal. Im selben<br />
Atemzug schreibt das digitale Medium:<br />
„Wer mag sie noch hören, die Veteranenerinnerungen?<br />
Sie sind so langweilig<br />
wie an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Leute Träume.“<br />
Nicht alle Medien <strong>de</strong>nken so. Für<br />
viele sind Zeitzeugen das Fenster in die<br />
Vergangenheit. Mit <strong><strong>de</strong>r</strong>en Hilfe sollen<br />
68 und spätere Phänomene wie <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
RAF-Terrorismus verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n.<br />
Denn wer 68 reflektiert, kommt um<br />
die heikle Gewaltfrage nicht herum.<br />
„Die Debatte über die Gewalt gegen<br />
Sachen begab sich auf einen Weg, an<br />
<strong>de</strong>ssen En<strong>de</strong> die Billigung <strong>de</strong>s Terrors<br />
stand“, vermutet die ZEIT. Scheint<br />
dieses Argument noch verständlich,<br />
so führt es <strong><strong>de</strong>r</strong> H<strong>ist</strong>oriker Götz Aly ad<br />
absurdum. In <strong><strong>de</strong>r</strong> FRANKFURTER<br />
RUNDSCHAU betitelt er als „Väter<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> 68er“ Nazis wie Goebbels und<br />
sieht Gemeinsames in „Propagandatechnik“<br />
und Kritik am konservativen<br />
Uniwesen.<br />
Die Berichterstattung über 68 wird<br />
auch zur Auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Medien mit sich selbst. Nach einem<br />
Schlagzeilen-Ping-Pong im <strong>de</strong>utschen<br />
Zeitungs-Dickicht färbte die FR das<br />
Verquere wie<strong><strong>de</strong>r</strong> schön: Aly „geht die<br />
Sache sportlich an“, als „knackige Polemik“.<br />
Dank Web 2.0 diskutieren die<br />
Leser online <strong><strong>de</strong>r</strong>weil fleißig mit. 2008<br />
funktioniert Medien<strong>de</strong>mokratie, 1968<br />
hätte das wohl niemand für möglich<br />
gehalten.<br />
mythos68 | April 2008<br />
Egal ob verherrlichend o<strong><strong>de</strong>r</strong> kritisch,<br />
objektiv berichtend o<strong><strong>de</strong>r</strong> popul<strong>ist</strong>isch:<br />
Der Medienrummel um 68<br />
<strong>ist</strong> in vollem Gange. Wer sich <strong>de</strong>m<br />
ganzen entziehen will, hat nur eine<br />
Möglichkeit: BILD lesen. Der flammen<strong>de</strong><br />
Revolutionsgegner <strong>von</strong> einst<br />
<strong>ist</strong> erstaunlich ruhig gewor<strong>de</strong>n. Mit<br />
keiner Zeile würdigt die Boulevardzeitung<br />
dieses Jubiläum. Was übrig<br />
bleibt, sind gewohnt platte Titel wie<br />
„Bumsen statt Bomben“ o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Traum <strong>von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> „romantischen Revoluzzerin<br />
zum Verknallen“. Warum das<br />
so <strong>ist</strong>, verrät uns ein Blick in die BER-<br />
LINER MORGENPOST: Es <strong>ist</strong> eben<br />
immer noch einfacher über „Hippies,<br />
Haschisch, Happenings und natürlich<br />
Flower-Power!“ zu schreiben als über<br />
„diesen ewigen 68er-M<strong>ist</strong>“.<br />
Weiterführen<strong>de</strong> Lektüre im Programm <strong><strong>de</strong>r</strong> bpb:<br />
Martin Klimke/ Joachim Scharloth (Hrsg.): 1968.<br />
Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Stu<strong>de</strong>ntenbewegung (2007). Bereitstellungspauschale<br />
4,00 €. Bestellnr. 1697