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SPECTRUM #5/2016

Vivre en itinérance

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UNILEBEN<br />

Ein Berliner in Freiburg<br />

Bist du, wie viele deiner Kommilitonen, aus einem kleinen Dorf in die Stadt Freiburg gezogen? Nicht so<br />

Damian Correa, der aus dem grossen Berlin stammt und nun hier an der Uni studiert. Wie lebt es sich<br />

so als Berliner unter Schweizern? Spectrum hat sich mit ihm über Schweizerdeutsch, teure Bustickets<br />

und andere Kulturschocks unterhalten. VALENTINA BERCHTOLD<br />

Ist Schweizerdeutsch ein Problem für<br />

dich?<br />

Ja, das geht gar nicht. Die Schweizer reden<br />

sehr schnell. Die Walliser verstehe<br />

ich überhaupt nicht. Ausserdem scheint<br />

es für alle Schweizer unheimlich unangenehm<br />

und schwierig zu sein, Hochdeutsch<br />

zu reden. Ich will jeden so sein<br />

lassen, wie er möchte, aber muss dann<br />

doch wieder sagen: Ich versteh’s einfach<br />

nicht!<br />

Wie hast du die WG-Suche in Freiburg<br />

erlebt?<br />

Das war krass und superschwer. Ich habe<br />

um die dreissig WGs angeschrieben.<br />

WG-Interviews finde ich furchtbar unangenehm.<br />

Du musst dich selbst inszenieren.<br />

Aber ich habe bei meiner jetzigen<br />

WG gemerkt, dass es einfach passt, das<br />

war superschön.<br />

Ein Berliner in Freiburg. Wie kommt’s?<br />

Ganz einfach: Meine Freundin wohnt<br />

im Kanton Luzern, und ich wollte in ihrer<br />

Nähe sein. Es war eine Katastrophe,<br />

immer zwischen Berlin und der Zentralschweiz<br />

hin- und herzufahren.<br />

Du studierst im ersten Semester. Was<br />

hat dich dazu bewogen, gerade in<br />

Freiburg zu studieren?<br />

Man darf ja in Beziehungen nicht sagen,<br />

dass man nur für die Person an einen bestimmten<br />

Ort zieht. Ich wollte Psychologie<br />

studieren, was in Deutschland nur mit<br />

sehr guten Noten möglich ist. Und meine<br />

waren gut, aber nicht sehr gut. Also habe<br />

ich mich für Freiburg entschieden, hier<br />

geht das nämlich auch mit einem durchschnittlichen<br />

Abitur. Die Verlierer aus<br />

Deutschland! (lacht) Nach einer Woche<br />

habe ich Psychologie ins Nebenfach geschoben<br />

und studiere nun Soziologie im<br />

Hauptfach.<br />

Was ist anders in der Soziologie?<br />

Vor allem sind da mehr Schweizer. Nichts<br />

gegen Schweizer, aber ich verstehe die<br />

Sprache einfach nicht!<br />

Unternimmst du aktiv irgendetwas<br />

dafür, dass du die Sprache besser verstehst?<br />

Nein, ich will mir auf jeden Fall mein<br />

Hochdeutsch erhalten, und deswegen<br />

würde ich auch nie in einen Schweizerdeutschkurs<br />

gehen. Ich versuche schon,<br />

mich zu integrieren, aber ich mag Schweizerdeutsch<br />

nicht. Im Studiengang Psychologie<br />

gibt es auch echt solche Blöcke,<br />

die Deutschen chillen miteinander und<br />

die Schweizer chillen miteinander.<br />

Die Sprachbarriere ist also auch eine<br />

kulturelle Barriere?<br />

Ja, absolut. Ich habe immer gehört, dass<br />

in Soziologie die coolsten Studierenden<br />

sind. Und da sind bestimmt auch richtig<br />

viele coole Leute, aber ich verstehe die<br />

einfach nicht! Ich versuche, mit denen zu<br />

reden, aber wenn da gleichzeitig sechzig<br />

Leute stehen, mit denen sie Schweizerdeutsch<br />

reden können, dann wollen sie<br />

sich halt nicht mit einem unterhalten, mit<br />

dem die Verständigung schwieriger ist.<br />

Wie geht es denn mit dem Französisch?<br />

Ich kann ganz schlecht Französisch, aber<br />

ich rede es ganz viel, man muss es halt<br />

versuchen. Ich war ein Jahr in Ghana, da<br />

war ich Französischlehrer. Aber ich glaube,<br />

die Kinder waren danach schlechter<br />

als davor (lacht). Ich bin halb Chilene und<br />

versuche deshalb immer, alles vom Spanisch<br />

abzuleiten und Brücken zu bauen,<br />

aber es gibt viele falsche Freunde.<br />

Hast du schon viel von der Stadt gesehen?<br />

Die Neustadt ist das Hässlichste, was<br />

ich jemals in der Schweiz gesehen habe!<br />

(lacht) Ich dachte, Freiburg sei bestimmt<br />

ein ganz malerischer Ort, und dann stieg<br />

ich aus dem Zug – überall diese grauen,<br />

hässlichen Platten. Aber die Altstadt ist<br />

wirklich schön.<br />

Wie kommen dir die Preise so vor?<br />

Schrecklich. Ich gehe immer zu Aldi. Meine<br />

Mitbewohnerin meinte mal: „Wenn du<br />

links bist, dann kannst du nur zu Coop<br />

oder Migros!“ Aber wenn du links bist,<br />

bist du oft auch einfach arm. Ich fahre<br />

auch immer Fahrrad, ein Einzelticket für<br />

den Bus kostet umgerechnet zwei Euro –<br />

in Berlin auch, aber Berlin hat das grösste<br />

Nahverkehrsnetz der Welt! Zwei Euro<br />

sind ein Mittagessen.<br />

Hast du Heimweh?<br />

Eigentlich nicht. Aber ich merke manchmal<br />

schon, wie ich plötzlich Glücksgefühle<br />

kriege, wenn ich Hochdeutsch<br />

rede, und jemand mich versteht und auch<br />

Hochdeutsch mit mir redet. Oder wenn<br />

ich in Bern bin, und da ein deutscher ICE<br />

steht. Und dann fährt er auch noch nach<br />

Berlin, das ist manchmal echt gemein.<br />

© Foto : Valentina Berchtold<br />

8 5/<strong>2016</strong>

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