SPECTRUM #2/2017

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DIE ANDERE Halbleere Gläser, Vollpfosten und andere Probleme Nichts ist schlimmer, als Zeit mit Dauernörglern und Miesepetern zu verbringen. Positive Menschen hingegen erfreuen sich grosser Beliebtheit und stecken die Mitmenschen an. Ein Selbstversuch als „Sonnenschein“ erweist sich als Kampf gegen dunkle Wolken verschiedenster Art. CAROLE MARTY Wer kennt sie schon nicht? Die klischeehafte Metapher vom halbvollen oder halbleeren Glas. Mein Glas ist meistens halbvoll, falls ich es mit meiner tollpatschigen Art nicht schon längst umgestossen habe. Aber selbst bei einem solchen Missgeschick freue ich mich darüber, dass sich Wasser und keine Cola auf dem Tischtuch ausbreitet. Mein Blutzuckerspiegel übrigens auch. Trotz meiner eher optimistischen Art habe auch ich mit negativen Gedanken zu kämpfen. Deshalb wollte ich während mehreren Tagen testen, ob es möglich ist, nur das Gute zu sehen und diese negativen Gedanken auszublenden. Das Experiment beginnt am Montagmorgen. Dieser Wochentag wird von vielen mit Entsetzen erwartet. Heute freue ich mich darüber, dass ich nicht schon am Sonntagabend die Reise nach Freiburg antreten musste. Die Zugfahrt stellt meine positive Einstellung auf eine harte Probe. In den Wintermonaten führt der Zug meistens vom sonnigen Wallis in den Nebel der „Üsserschwiz“. Leider fällt mir beim besten Willen nicht ein, was abgesehen von Christian Grey an grau attraktiv sein soll. Wider Erwarten scheint beim Verlassen des Tunnels jedoch die Sonne. Das hat wohl kaum etwas mit meiner positiven Energie zu tun. Falls doch, lieber Petrus, könnten wir uns einmal treffen. Ich bin die Blondine mit dem (noch) fröhlichen Lächeln auf dem Gesicht. Die erste Lektion beginnt. Ich sitze im Vorlesungssaal und spüre förmlich, wie die stickige Luft meinen positiven Lebensgeistern den Kampf ansagt. Aber anstatt Trübsal zu blasen, lausche ich gebannt den Ausführungen der Dozentin und versuche meinen Wissensdurst zu stillen. Satt bin ich nach der Vorlesung allerdings nicht und gönne mir einen Snack und einen leckeren Cappuccino. Leider schmeckt dieser aber bei Weitem nicht so gut wie das italienische Pendant während meines Austauschs in Mailand im vergangenen Semester. Aber ich soll ja positiv denken. Die Vorzüge Friburgs gegenüber Mailand sind schnell gefunden. Auch in der Modemetropole herrschte nicht immer eitel Sonnenschein. Der beste italienische Kaffee schmeckt nur halb so gut, wenn man ihn später auf einem unbequemen Stehklo loswerden muss (habe ich schon erwähnt, dass es mir an Gleichgewicht mangelt?). Im Vergleich damit wirken die veralteten Toiletten der Miséricorde beinahe luxuriös. Bereits am Donnerstagnachmittag kann ich nach Hause fahren. Wenn das kein Grund zur Freude ist. Dieser tut nicht einmal mein Sitznachbar Abbruch, der sich gemäss dem Urteil meines Geruchsorgans seit längerem keine Dusche mehr gegönnt hat. Aber – think positive – lieber ein Duschverweigerer als ein sich in One Million-badender Macho (man beachte das zweite Nomen des Titels). Am Abend findet der legendäre „Gätsch“ statt. Der erste Grund für ein wenig Optimismus lässt nicht lange auf sich warten: Entgegen dem Namen der Walliser Fasnacht befindet sich dieses Jahr kein Schlamm am Boden und das Wetter spielt mit. Beim Anblick von 15-jährigen Mädchen, die sturzbesoffen umhertaumeln fällt es mir dann aber doch äusserst schwer, meiner positiven Einstellung treu zu bleiben. Einmal mehr wird mir bewusst, dass ich in meinem absolut nüchternen Zustand eine echte Sensation bin. Sich die eigene Besonderheit einzubilden, trägt angeblich zu einer positiveren Einstellung bei. Freitagmorgen, der Tag nach der Fasnacht. Obwohl ich hundemüde bin, kann ich mich damit trösten, dass mein einziger Kater unsere Katze ist. Ich könnte den Tag also sinnvoll nutzen und eine universitäre Aufgabe erledigen. Oder sollte ich mich vielleicht doch lieber unter die Bettdecke kuscheln und mich meinem Schönheitsschlaf (wer hat eigentlich diesen seltsamen Mythos erfunden? Klingt trotzdem vielversprechend) widmen? Gute Nacht. Nein, stopp. Nach einer Woche Selbsttest habe ich genug vom Adjektiv „gut“. Schluss mit all den positiven Gedanken. Heute wünsche ich mir für einmal einen Albtraum. Wenn ich dann schreiend erwache (dieses lautstarke, hohe Gekreische wurde von besorgten Nachbarn bereits mit tierischen Lauten verwechselt) bin ich froh, in mein Leben zurückzukehren. Manchmal reicht, wie es eine Band treffend ausgedrückt hat, perfekt unperfekt eben aus. © Illustration: Clarisse Aeschlimann 2/<strong>2017</strong> 29
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