Gott ist rund - Kirchenblatt
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Thema<br />
RETO STAMPFLI<br />
Die tobende Menge im Kolosseum zu Rom hätte wohl<br />
wie ein Kindergeburtstag gewirkt, wenn man sie mit<br />
einem prallgefüllten Fussballstadion bei einem WM-Final<br />
ver gleichen würde. Für die Niederlage von Waterloo<br />
findet man unter Umständen eine Erklärung; das Ausscheiden<br />
der französischen Elf 2002 in der Vor<strong>rund</strong>e<br />
<strong>ist</strong> jedoch unerklärlich.<br />
Die humane Form des modernen Fuss -<br />
balls lässt noch heute unscharfe Spuren<br />
an das grausame Spiel der Azteken mit<br />
den Schädeln hingerichteter Feinde erkennen.<br />
Fussball <strong>ist</strong> schon lange kein<br />
Vergnügen mehr. Für die einen <strong>ist</strong> Fussball<br />
eine Religion, für andere eine gefährliche<br />
Ersatzreligion, für die Dritten einfach<br />
ein lukratives Geschäft.<br />
Als der SSC Neapel 1987 italienischer Meis -<br />
ter wurde, trugen die heissblütigen Anhänger<br />
des Vereins in einem «enthusias -<br />
tischen Delirium» nicht Madonnen sondern<br />
«Maradonnen» in den schmalen<br />
Gassen umher. Nicht dem Schutzpatron<br />
Reto Stampfli<br />
geboren am 22. Juli 1969, wuchs in Etziken SO<br />
auf. Er besuchte die Kantonsschule in Solothurn<br />
und studierte Philosophie, German<strong>ist</strong>ik und<br />
Theologie in Bern, St. Andrews und Fribourg.<br />
2001 dissertierte er über den französischen<br />
Philosophen Maurice Merleau-Ponty.<br />
Er arbeitet als Kantonsschullehrer und Autor.<br />
Zudem <strong>ist</strong> er Chefredaktor unseres <strong>Kirchenblatt</strong>s.<br />
4 KIRCHENBLATT 14 2010<br />
<strong>Gott</strong> <strong>ist</strong> <strong>rund</strong><br />
San Gennaro, sondern einem exzentrischen<br />
argentinischen Ballkünstler hatten<br />
sie es zu verdanken, dass das Licht der<br />
süd italienischen Stadt wenigstens einmal<br />
heller strahlte als das der reichen Metropolen<br />
im Norden. Ähnliche Beispiele gibt<br />
es zuhauf: So wurde 1954 der Finalsieg<br />
der deutschen Elf über eine favorisierte<br />
ungarische Auswahl, das sogenannte<br />
«Wun der von Bern», wie ein «Opferfest»<br />
gefeiert. Eine gebeutelte Nation feierte<br />
ihre «Auferstehung». Für viele <strong>ist</strong> der<br />
Fuss ball mehr als nur ein Spiel von 90 Minuten,<br />
er <strong>ist</strong> Religion. Im Anschluss an religionssoziologische<br />
Untersuchungen von<br />
Emile Durkheim kann durchaus die Auffassung<br />
vertreten werden, dass der Fuss -<br />
ball ein Äquivalent für religiöse Bewegungen<br />
darstellt. Eine faszinierende Annäherung<br />
findet da statt: Auf den Rängen<br />
und dem Rasen sind viele Parallelen<br />
zu einer katholisch geprägten Frömmigkeit<br />
und zu Ritualen auszumachen.<br />
Fussball-Tempel<br />
Das Fussballspiel scheint, im wahrsten<br />
Sinne des Wortes, die sozialen und emotionalen<br />
Orte der Religion zu besetzen.<br />
Das Stadion <strong>ist</strong> eine Kultstätte der Postmoderne<br />
und wird gern als «Fussball-<br />
Tempel» bezeichnet, der die Massen anzieht.<br />
Veritable «Pilgerreisen» finden dahin<br />
statt. Die Fussball-Sprache <strong>ist</strong> geprägt<br />
von religiös-kirchlichen Vokabeln: Ball -<br />
zauberer wie Lionel Messi gelten als «Fuss -<br />
ballgötter». Spieler werden in das Kader<br />
«berufen», ein erfolgreicher Torschuss <strong>ist</strong><br />
ein «sakraler Akt». Das Fan-Magazin des<br />
FC Schalke 04 heisst «Schalke Unser». Die<br />
Berner Young Boys warben in der Saison<br />
2008/2009 mit dem Slogan «Glaube an<br />
YB». In alle Bereiche fliessen religiöse Rituale<br />
und Symbole in die Fankultur ein.<br />
Die Bandbreite reicht von der «Kutte» als<br />
liturgische Kleidung bis zum «Hausaltar»,<br />
wo Devotionalien aufbewahrt werden.<br />
Lieder werden weihevoll intoniert: «Wenn<br />
du durch Stürme gehst, halte deinen<br />
Kopf hoch oben und fürchte dich nicht<br />
vor der Dunkelheit. Und du wirst niemals<br />
alleine gehen!», singen die Anhänger des<br />
FC Liverpool. Kaum zufällig erinnert das<br />
Lied an Jesaja, Kapitel 43.<br />
Zu Gast in Afrika<br />
2010 findet das erste Mal eine Fussball -<br />
WM in Afrika statt. Gekickt wird zwar auf<br />
dem schwarzen Kontinent überall, ständig<br />
und mit allem was irgendwie dazu<br />
taugt, doch der organisierte Fussball<br />
konnte sich erst in den vergangenen<br />
zwanzig Jahren herauskr<strong>ist</strong>allisieren.<br />
Fuss ball <strong>ist</strong> ein wichtiger Zeitvertreib, vorallem<br />
für die untersten Gesellschaftsschichten.<br />
So war die Freude schier grenzenlos,<br />
als Südafrika 2004 zum Austragungsort<br />
erkoren wurde. Der damalige<br />
Staatspräsident Nelson Mandela und Bischof<br />
Desmond Tutu sprachen von einer<br />
Chance für einen ganzen Kontinent.<br />
Viele Kritiker, vor allem aus Europa und<br />
Amerika, trauten es den Afrikanern nicht