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Zum stadtfest: - Gießener Allgemeine

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Brad Shaw schreibt exklusiv Kolumnen<br />

für den streifzug. Normalerweise veröffentlicht<br />

der Journalist sie im Netz auf<br />

www.bradsticks.com. Sein Blog befasst<br />

sich mit Lifestyle, Fashion, Musik, Promis<br />

und Kultur – und immer wieder mit<br />

der Suche nach Mr. und Mrs. Right.<br />

Ich kannte sein Fertighaus mit Garten bereits von<br />

Facebook; sein getuntes Auto überholt mich auf<br />

dem Weg zur Arbeit täglich auf halber Stecke;<br />

seine Frau konnte ich noch nie leiden. Schon<br />

damals nicht. 1992, als wir die Fahrt im Schulbus<br />

regelmäßig mit mäßig guten Gesprächen gemeinsam<br />

hinter uns brachten. So mäßigte ich mein<br />

inneres Verlangen, ihm gelangweilt einen Drink<br />

über die Hose zu kippen, und sagte einfach, was<br />

man auf Stadtfesten so sagt: »Was machst du so?«<br />

Im Jahr 2012 wissen wir alles. Speziell über Menschen,<br />

die wir seit der letzten Sandkastenprügelei<br />

im Kindergarten nicht mehr gesehen haben, die<br />

uns allerdings versehentlich in einem sozialen<br />

Netzwerk als Freund hinzugefügt haben. Normalerweise<br />

gibt es der Flut aus Lebensereignissen von<br />

Leuten aus einem vorherigen Leben auch nicht<br />

viel mehr hinzuzufügen als ein freundliches »Gefällt<br />

mir!«, zumindest bis wir die harten Fakten von<br />

sonnigen Gemütern hart aber herzlich und vor<br />

allem persönlich serviert bekommt. Beispielsweise<br />

auf einem Stadtfest, jenem El Dorado für Menschen,<br />

die ihren Geltungsdrang nur ungern bis<br />

zum nächsten Klassentreffen in fünf Jahren mäßigen<br />

können oder wollen.<br />

Im wörtlichen Sinne nüchtern betrachtet haben<br />

Stadtfeste trotzdem etwas von improvisierten Klassentreffen<br />

bei billigen Getränken, wenn wir zu Hits<br />

aus alten Zeiten anstoßen, die im Regelfall von aufgekratzten<br />

Cover-Bands dargeboten werden. Wer<br />

glaubt, dass die Bande jugendlicher Verzweiflung<br />

sich so einfach trennen lässt, wird eines Besseren<br />

belehrt: An jeder Frittenbude treffen wir Würstchen,<br />

die uns bereits auf den Unterstufenpartys in<br />

der Schulturnhalle auf den Senkel gegangen sind.<br />

Noch häufiger treffen wir aber jene, die irgendwann<br />

weggezogen sind, um etwas zu werden oder<br />

etwas zu sein. Etwas Besseres, versteht sich. Und<br />

wir treffen jene, die zwar noch immer nur 500 m<br />

Mittelstufen-<br />

Liebe<br />

Luftlinie weit von uns entfernt wohnen, denen wir<br />

aber nie im Supermarkt begegnen – und meistens<br />

glücklich damit sind. Tritt der Ernstfall zwischen<br />

Bierbänken und Stadtsparkasse schließlich ein,<br />

schlucken wir die Fritten und stellen uns den<br />

Würstchen. Denn im Gegensatz zum Supermarkt<br />

gilt das schnell improvisierte Gespräch mit der<br />

Frau hinter der Wursttheke auf einem Stadtfest niemals<br />

als Ausrede, die überflüssigen Unterhaltung<br />

zu umgehen. Reden ist Silber, wer schweigt, der<br />

schmollt. Deshalb setzten wir auf Stadtfesten unser<br />

schönstes Lächeln auf, gehen strahlend auf ehemalige<br />

Kindergartenfreunde, Schulfreunde oder<br />

Ex-Freunde zu und sprechen unrühmlich drei berühmte<br />

Sätze, auf die folgende drei Eigenschaften<br />

zutreffen: erwünscht, erprobt, ermüdend.<br />

1.) Wie geht’s dir so? 2.) Was machst du so? Und:<br />

3.) Wir sehen uns – spätestens auf dem nächsten<br />

Stadtfest!<br />

Die Antworten sind zumeist so klar wie Kloßbrühe,<br />

nur leider nicht so nahrhaft. <strong>Zum</strong>indest nicht für<br />

das eigene Ego, das sich angesichts der Pommes<br />

im Hals fast der Bulimie ergeben will. Denn natürlich<br />

geht es den ehemaligen Kindergartenfreunden,<br />

Schulfreunden und vor allem den Ex-Freunden<br />

unglaublich gut. Natürlich klettern sie zwischen<br />

Hausanbau, Spritztour mit der Frau und Urlaub auf<br />

der Yacht unaufhaltsam die Karriereleiter hoch.<br />

»Mehr kann ich dir ja vielleicht demnächst berichten.<br />

Bestimmt schon auf dem nächsten Stadtfest,<br />

hoffe ich!«<br />

Statt Feststimmung ist dann erstmal Frustsaufen angesagt,<br />

weshalb Stadtfeste sich üblicherweise bester<br />

Umsätze erfreuen. Denn hat sich das Gespräch<br />

erst gesetzt, finden wir uns mit dem Ärger der eigenen<br />

Existenz konfrontiert.<br />

Ich kam nicht umhin mich zu fragen: Wenn nur<br />

die Harten in das Fertighaus mit Garten kommen,<br />

brAD ShAwS kOLuMNE<br />

sind wir einfach zu lasch? Die Antwort ist meist<br />

sonnenklar, sobald wir die Extraportion Sonne abziehen.<br />

Die holen sich durchschnittliche Festbesucher<br />

außerhalb der Stadtfeste im Solarium, um<br />

über alle Schatten hinwegzutäuschen, die sich<br />

unter Markisen an Garteneingängen von Fertighäusern<br />

zusammenbrauen. Denn wir sind ihre Spiegel<br />

wie sie unsere sind. Und diese Spiegel zeigen nicht<br />

unbedingt nur das Schönste im ganzen Land.<br />

Natürlich ist das Haus auf Raten gekauft, das Auto<br />

geleast und die Frau bereits dreimal mit einem<br />

ehemaligem Kindergartenfreund, Schulfreund oder<br />

im schlimmsten Fall mit ihrem Ex-Freund durchgebrannt<br />

– in diesem Jahr. Weil es uns zu süß gespritztem<br />

Apfelwein besonders leichtfällt, die Notlügen<br />

der anderen mit einem freundlichen »Gefällt<br />

mir!« zu beantworten, belassen wir es dabei.<br />

Die ehemaligen Kindergartenfreunde, Schulfreunde<br />

und manchmal auch Ex-Freunde beantworten<br />

unsere Notlügen dann gleichermaßen mit dem<br />

gönnerhaften »Gefällt mir!«. Ist auch völlig in Ordnung<br />

so. Wer schenkt seinem Gegenüber im Web-<br />

2.0-Zeitalter schon gern reinen Wein ein?<br />

Heute ist sowieso alles gephotoshoppt, getuned<br />

und als Konzentrat erhältlich, selbst Apfelaroma.<br />

Kennen wir auch von Weihnachtsmärkten nicht<br />

anders. Hauptsache heiß und glühend – wie unser<br />

Unterstufenschwarm vor 20 Jahren. Der ist nämlich<br />

auch auf dem Stadtfest unterwegs – von der<br />

Ehe gezeichnet, von den Kindern genervt und<br />

gegebenenfalls mit doppelter Körperfülle nach<br />

täglichem Frustsaufen plus Frustfressen.<br />

Endlich ergibt es Sinn, auf Stadtfesten unterwegs<br />

zu sein. Wir sind nicht nur da, um uns gegenseitig<br />

aus unseren Märchenbüchern vorzulesen. Eigentlich<br />

sind wir da, um den einen Schwarm zu sehen,<br />

der uns auf der Unterstufenparty in der Schulturnhalle<br />

nicht in die Arme geschlossen, sondern im<br />

Gerätelager eingesperrt hatte, bis uns der aufgekratzte<br />

Putztrupp fand.<br />

Wir gehen strahlend auf ihn zu und sprechen lieblich<br />

die drei nur scheinbar lüsternen Lügen aus, auf<br />

die folgende drei Eigenschaften zutreffen: halbherzig,<br />

heuchlerisch, hämisch.<br />

1.) Wow, siehst du gut aus! 2.) Wie machst du das<br />

nur? 3.) Wir können uns ja mal wiedersehen, vielleicht<br />

auf einen Kaffee? Spätestens beim nächsten<br />

Stadtfest!<br />

Während wir noch höflich sprechen, denken wir<br />

heilfroh: »<strong>Zum</strong> Glück ist dieser Kelch an mir vorbeigegangen.«<br />

Belassen wir es dabei – bis zum<br />

nächsten Stadtfest!<br />

Brad Shaw<br />

8/2012 streifzug 13

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