DIPLOMARBEIT - Universität Wien
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1.1. Kurzpräsentation des gewählten Primärtextes, Charlotte. Roman einer Kellnerin<br />
Das Setting des für diese Diplomarbeit gewählten [Primär]Textes ist die Stadt<br />
München, beschrieben werden orgiastische, anarchische und sehr derbe Szenen 31 .<br />
Um hiervon einen ersten Eindruck zu geben, wird an diesem Ort das<br />
Einstiegstableau des Romanfragmentes fast vollständig wiedergegeben:<br />
„…der Fasching war aus, die Starkbiersaison begann, München flaggte zum Nationalfeiertag<br />
und es gab zwei Wochen hindurch täglich fünf- bis sechstausend Betrunkene. Die<br />
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Straßenbahnen konnten nicht weiterfahren, weil sich die Leute auf den Schienen auszogen, es<br />
wurden im ganzen zweiundzwanzig Leute erstochen […], drei erschossen, einer hat sich selbst<br />
erschossen aus lauter Gemütlichkeit. Die Leute standen von den Tischen nicht mehr auf, kotzen<br />
daneben hin […] Drei Frauen und neun Männer wurden vergewaltigt und<br />
siebzehntausendzweiundzwanzig Ehen gebrochen und ungefähr dasselbe fast gebrochen […]<br />
Der eine wollte sich einen Mantel holen, sah aber, daß er gestohlen war, sprang auf den Tisch<br />
und schrie: »Damit ihr seht, wie ich mir das zu Herzen nehme, erschieß ich mich«, und zog<br />
einen Revolver und erschoß sich. Fiel tot über den Tisch, an dem sein Bruder saß, der sagte<br />
nur: »Is dös aba a Witz, jetzt derschieaast [sic] si der wegn an Mantl«. Das Blut rann mit dem<br />
Bier zusammen und die Ordner schafften die Leiche aus dem Saale. Es war sehr gemütlich.“ 32<br />
Horváth geht sofort dazu über, die Handlung historisch einzubetten [Nennung von<br />
historischen Persönlichkeiten und Ereignissen: Bismarck, Paul Preuß (s. Textstelle<br />
unten und Fußnote 112, S. 125), Erster Weltkrieg etc.] und schließlich wird<br />
Charlottens Geburt fast schon unvermittelt angesprochen:<br />
„Als Charlotte geboren wurde, war es Nacht, so eine richtige kleinbürgerlich-romantische Nacht<br />
und Spätherbst. In den nahen Alpen ist es still geworden, die Luft stand unheimlich klar, und<br />
abends zog ein zarter Nebel über die schwarzen Teiche und den Wald.<br />
31 Hier lässt sich ein Beitrag aus der neueren Horváth-Forschung anführen, der Feste in Texten<br />
Horváths in einen literarhistorischen Rahmen positioniert und mit kulturhistorischen Phänomenen<br />
korrelieren lässt [etwa Canettis Abhandlung Masse und Macht]: Schmidt-Dengler, Wendelin: Von der<br />
Unfähigkeit zu feiern. Verpatzte Feste bei Horváth und seinen Zeitgenossen. In: Ohne Nostalgie. Zur<br />
österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit. <strong>Wien</strong> et al: Böhlau 2002, S. 111-123. Der Text<br />
Charlotte nun, der in dieser DA im Zentrum steht wird bei Schmidt-Dengler leider nicht berücksichtigt,<br />
wobei man das oben beschriebene „Feiern“ - durch den Suizid und andere Grausamkeiten gestört -<br />
durchaus als gescheitert bezeichnen kann. Feste können bei Horváth auch viele andere<br />
Aggregatszustände aufweisen.<br />
32 Der Text wird an dieser Stelle [Punkt 1.1.] nach der im Handel erhältlichen Lese- bzw.<br />
Werkausgabe zitiert: S. Horváth [Anm. 24], S. 23-33, hier S.23. Um nebenbei zu unterstreichen, wie<br />
wirkungsvoll und suggestiv die soeben zitierte Textpassage ist, sei darauf hingewiesen, dass anhand<br />
dieses Textausschnittes auch das Verlagsmarketing vollzogen wird – der Textausschnitt aus Charlotte<br />
findet sich auch auf der U4 des Suhrkamp-Taschenbuches.