Broschüre als PDF - Migrationsrat Berlin-Brandenburg eV
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illige Abgrenzungspolitik nach „unten“ und<br />
für die neoliberale Selbstdisziplinierung eines<br />
grün-akademischen Wähler_innenmilieus. Es<br />
wurde keinesfalls der Verfassungs-Monokulturalismus<br />
radikaldemokratisch in Frage gestellt.<br />
In den grünnahen selbstverwalteten Kindergärten<br />
oder Stadtteilzentren gab es zwar gut<br />
gemeinte Versuche, bei denen aber Mültikültüralizm<br />
mit dem Mültilinguizm und einer sanften<br />
Kanaken-Quote verwechselt wurde, wobei die<br />
Geschäftsführer_innen biodeutsch blieben. Die<br />
neokonservative Allianz von Renegat_innen,<br />
Neolaizist_innen und Altrassist_innen attackierte<br />
jedoch schon immer eine ideologische<br />
Leiche. Lange bevor das Konzept von den Rechten<br />
im Sinne des „Ende der Toleranz“–Slogans<br />
<strong>als</strong> tot deklariert wurde, war es von den Grünen<br />
selbst auf dem Weg ihrer Regierungsbeteiligung<br />
verlassen worden – wie der Pazifismus<br />
übrigens auch. Eine Leiche zu verteidigen ist<br />
keine gute Idee. Man agiert schlichtweg im Gelände<br />
des Feindes.<br />
Es gibt allerdings einen Markt der billigen Sozial-<br />
kritik, in dem Politiker_innen und Journalist_innen<br />
hauptberuflich zuhause sind. In diesem<br />
Markt reicht es, „Multi-Kulti“ auszusprechen,<br />
um eine endlose Verkettung von Vorstellungen<br />
der „gefährlichen Differenz“ zu aktualisieren.<br />
Die Profiteur_innen davon sind eindeutig europaweit<br />
die populistischen Neorechten. Der<br />
Anti-„Multi-Kulti“-Revanchismus steht für eine<br />
affektive Infrastruktur der postpolitischen Mobilisierung<br />
städtischer Eliten jenseits des etablierten<br />
Parteienspektrums. Ihr Einsatz ist die<br />
Reprivatisierung des Städtischen und die Re-<br />
hierarchisierung der Bildungspolitik. Die Kanak-Renegat_innen<br />
finden in diesem Projekt<br />
ihren Platz, in dem sie einen Teil der migrantischen<br />
Mittelschicht dafür anwerben.<br />
Die Bilder der „gefährlichen Differenz“ wurden<br />
im Herbst 2010 medial breit vermittelt,<br />
<strong>als</strong> der sozialdemokrat sarrazin unterstützt<br />
durch springer-Presse und Spiegel sein Buch<br />
„Deutschland schafft sich ab“ veröffentlichte.<br />
er verband in seinen Ausführungen zum<br />
wirtschaftlichen und kulturellen Abstieg des<br />
standortes und Hochkultur-staates Deutschland<br />
altbekannten genetischen Rassismus<br />
mit einem „neo-Rassismus“, der darauf abzielt,<br />
„kultur“ festzuschreiben, zu homogenisieren<br />
und die der kultur zugeschriebenen<br />
Personen zu determinieren. seine nicht-wiederholungswürdigen<br />
Aussagen aktualisierten<br />
die Hintergrundfolie, an der sich dann die<br />
multi-kulti-ist-gescheitert-Ausrufer_innen wie<br />
seehofer orientieren konnten. Dennoch zeigt<br />
die „sarrazindebatte“ meiner meinung nach,<br />
insbesondere die entgegnungen auf sarrazin<br />
im medien-mainstream, dass das neoliberale<br />
leistungspostulat eine zunehmend wichtigere<br />
Rolle spielt bei der marginalisierung von<br />
menschen. – Gleichzeitig scheint Biologismus<br />
<strong>als</strong> Argumentationsgrundlage zunehmend zu<br />
verblassen. Gemeinsam mit marianne Pieper<br />
sprichst du in diesem Zusammenhang vom<br />
„postliberalen Rassismus“. Was meint ihr damit?<br />
Der Rassismus eines Sarrazins ist ein Rassismus<br />
der radikalisierten Suburbia-Mittelschicht,<br />
die ihre Hegemonie jenseits des Parteienspektrums<br />
sucht und organisiert. Ihr Markenzeichen<br />
sind urbane Bildungspanik, autoritärer<br />
Sozialrevanchismus zur Disziplinierung metropolitaner<br />
Devianz und postpolitischer Tabubruch<br />
mittels antimuslimischer Rhetorik. Es ist<br />
wieder Etienne Balibar, der uns auf eine sehr<br />
wachsame Art vor der Rückkehr des Konzeptes<br />
der „Rasse“ warnt. Balibar lieferte Anfang der<br />
neunziger Jahre mit seinem zusammen mit Emmanuel<br />
Wallerstein geschriebenen Buch „Rasse,<br />
Klasse, Nation“ eine brillante Analyse des<br />
„differentiellen Rassismus“.<br />
Mit dem Begriff des „postliberalen Rassismus“<br />
versuche ich im Anschluss an Balibar die Krise<br />
des „differentiellen Rassismus“ weiter zu<br />
denken. Der „differentielle Rassismus“ war<br />
ein Rassismus, der die Unvereinbarkeit kultureller<br />
Differenzen propagierte und faktisch zur<br />
sozialen Immobilität mittels staatsbürgerlicher<br />
Exklusion von Migrant_innen führte. Der „post-<br />
liberale Rassismus“ skandalisiert vielmehr den<br />
Verfassungspatriotismus der neuen Deutschen<br />
und adressiert de facto die mögliche Umkehrung<br />
ihrer Staatsangehörigkeit.<br />
Rassismus modernisiert sich in neuen Formen,<br />
die nicht nur an der kulturellen Differenz festzumachen<br />
sind, auch wenn das immer noch<br />
so dargestellt wird. Es ist nicht eine religiöse<br />
Differenz, die bei der politischen Thematisierung<br />
von Burqa, Niqab oder Kopftuch aufgetan<br />
wird, sondern eine kriminalisierende Differenz<br />
des terroristischen Generalverdachtes, die an<br />
dem Zeichen einer religiösen Differenz einer<br />
migrantischen oder postnationalen Gruppe<br />
festgemacht wird und auf diese Weise ihre<br />
sonst unangreifbaren Niederlassungsrechte<br />
in Deutschland und in Europa in Frage stellt.<br />
In dem „postliberalen Rassismus“ sehe ich<br />
dabei die Produktivität eines antimuslimischen<br />
Rassismus, der darin besteht, die aus<br />
der Einwanderungsgeschichte resultierenden<br />
Niederlassungsrechte postnationaler Subjekte<br />
einzuschränken, in dem sie z.B. mit der Praxis<br />
des generellen Terrorismusverdachtes flankiert<br />
werden (wie die großartige Arbeit von Werner<br />
Schiffauer „Postislam“ u.a. zur skandalösen<br />
Institutionalisierung der Überwachung und<br />
Disziplinierung von Migrant_innen am Beispiel<br />
islamischer Organisationen in Deutschlands<br />
deutlich zeigt). Die Legitimationskrise des Neoliberalismus<br />
betrifft <strong>als</strong>o auch die buchstäblichen<br />
Grenzen liberaler Politiken der postnationalen<br />
Staatsbürgerschaft. Diese illiberalen<br />
Grenzziehungspolitiken („reversible citizenship“)<br />
sind zugleich <strong>als</strong> postliberale Grenzen<br />
der Demokratie zu verstehen.<br />
Durch den souveränitätsverlust des staates<br />
im Zeitalter der Globalisierung sind die Grenzziehungen<br />
zwischen der „Wir-“ und der „sie-<br />
Gruppe“ immer weniger an staatsgrenzen<br />
auszumachen. Das Innen und Außen, Zentrum<br />
und Peripherie, scheinen nicht mehr klar<br />
konturiert. um es herunterzubrechen: Welche<br />
funktion nimmt die stadt im „postliberalen<br />
Rassismus“ ein? nehmen wir <strong>Berlin</strong>: Auf der<br />
10 Jahre ReachOut | Rückblicke und Perspektiven auf Rassismus<br />
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