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Redebeitarg von Dr. Gisela Penteker - Yek Kom

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Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

INHALT<br />

2 Vorwort<br />

Veranstalter<br />

3 Das Programm<br />

4 Eröffnungsrede <strong>von</strong> Ahmet Çelik (YEK-KOM e.V. Vorsitzender)<br />

5 - 6 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> Osman Baydemir (Oberbürgermeister <strong>von</strong> Diyarbakir)<br />

6 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> Walter Momper, (Präsident de Abgeordnetenhaus <strong>von</strong> Berlin)<br />

7 - 9 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> Prof. dr. Birgit Ammann (Sozailwissenschaftlerin, Fachhochschule Postdam)<br />

10 - 12 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> Mehmet Şahin (Dialog Kreis)<br />

13 - 15 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> Prof. <strong>Dr</strong>. Norman Peach (MdB, Linksfraktion)<br />

16 - 18 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> <strong>Dr</strong>. Zaradachet Hajo (Vorsitzender des Kurdischen P.E.N.)<br />

19 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> Hamide Akbayir (CENI- Kurdisches Frauenbüro für Frieden)<br />

20 - 22 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> <strong>Dr</strong>. <strong>Gisela</strong> <strong>Penteker</strong> (Flüchtlingsrat Niedersachsen und IPPNW)<br />

23 - 25 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> Yüksel Koç (YEK-KOM e.V. Stellv. Vorsitzender)<br />

26 - 28 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> <strong>Dr</strong>. Rolf Gössner (Vizepräsident der Int. Liga für Menschenrechte)<br />

29 - 31 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> Monika Morres (AZADÎ e.V.,Rechtshilfefonds für KurdInnen in Deutschland)<br />

32 - 34 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> Mehmet Ataç (Dipl. Sozialarbeiter)<br />

35 - 36 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> Prof. <strong>Dr</strong>. Andreas Buro (Dialog-Kreis)<br />

37 - 38 Schlußwort, Murat Çakır (Rosa Luxemburg Stiftung)<br />

39 Resolution<br />

Herausgegeben <strong>von</strong><br />

YEK-KOM e.V., Föderation kurdischer Vereine in Deutschland<br />

Graf-Adolf-Str. 70a, 40210 Düsseldorf<br />

Redaktion: <strong>Yek</strong>-<strong>Kom</strong><br />

Layout: <strong>Yek</strong>-<strong>Kom</strong><br />

Titelbild: <strong>Yek</strong>-<strong>Kom</strong><br />

<strong>Dr</strong>uckerei: Steingass Offsetdruck,Köln<br />

November 2009<br />

-1-


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

-2-<br />

Kurden in Deutschland<br />

Geschichte, Gegenwart, Perspektiven für Gleichstellung<br />

VORWORT<br />

Nach fast 50-jähriger Migration lebt inzwischen etwa eine Million KurdInnen in<br />

Deutschland. Sie sind als Arbeitsimmigranten und Akademiker aus der Türkei, dem Iran,<br />

Irak und aus Syrien gekommen oder mussten ihre Heimat als Flüchtlinge verlassen. Etwa<br />

ein <strong>Dr</strong>ittel hat inzwischen die Staatsbürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland erworben.<br />

Die offizielle Politik in Deutschland sortiert die seit Jahrzehnten hier lebenden KurdInnen<br />

immer noch nach den Herkunftsstaaten und Farben ihrer Pässe. Die Kurden als zahlenmäßig<br />

zweitstärkste Migrantengruppe sind bis heute den anderen in Deutschland lebenden<br />

Migrantengruppen nicht gleichgestellt.<br />

Die politischen und sozialen Ereignisse in der Bundesrepublik Deutschland werden<br />

aufmerksam und mit großem Interesse verfolgt, denn viele der hier lebenden KurdInnen<br />

haben Deutschland zu ihrem zweiten Heimatland erklärt. Insbesondere begreifen sich kurdische<br />

Jugendliche in erster Linie als Deutsche.<br />

Dennoch möchten die KurdInnen ihre eigene Sprache und Kultur bewahren und sich in<br />

ihrer jetzigen Umgebung politisch, kulturell und gesellschaftlich artikulieren. Mit weit über<br />

100 Vereinen zählen sie in Deutschland zu den bestorganisierten Migrantengruppen. Der<br />

Radius kurdischer Selbsthilfeorganisationen erreicht weit über fünfzigtausend Menschen.<br />

Mit dieser Konferenz möchten wir die Situation der kurdischen MigrantInnen thematisieren,<br />

ihre Erwartungen erörtern und Perspektiven für die zukünftige Arbeit erarbeiten<br />

und darstellen.<br />

Veranstalter/innen:<br />

> Flüchtlingsrat Berlin<br />

> IPPNW, Flüchtlingsrat Niedersachsen<br />

> Europäischer Friedensrat Türkei/Kurdistan<br />

> <strong>Yek</strong>-<strong>Kom</strong>,Föderation der kurdischen Vereine in Deutschland e.V.<br />

> Giyasettin Sayan,Mitglied des Abgeordnetenhauses Berlin<br />

> Internationale Liga für Menschenrechte<br />

> Deutsch – Arabischer Dachverband in Deutschland- DAD- e.V.<br />

> Rosa-Luxemburg-Stifung


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

9.30 Eröffnung und Begrüßung durch die Veranstalter Grußworte <strong>von</strong><br />

- Walter Momper (Präsident des Abgeordnetenhauses <strong>von</strong> Berlin)<br />

- Osman Baydemir (Oberbürgermeister <strong>von</strong> Diyarbakir in der Türkei)<br />

10.15 Kurdische Migration in Deutschland: Geschichte und Gegenwart:<br />

- Mehmet Şahin (Dialog-Kreis)<br />

- Prof. <strong>Dr</strong>. Birgit Ammann (Sozialwissenschaftlerin, Fachhochschule Potsdam)<br />

Nachfragen und Diskussion<br />

11.00 Kaffeepause<br />

11.15 Problemfelder der Integration<br />

- Auswirkungen der Beziehungen zw. Deutschland und der Türkei auf d. Integration<br />

der Kurden in Deutschland:<br />

Prof. <strong>Dr</strong>. Norman (PaechMitglied der Linksfraktion im Deutschen Bundestag)<br />

11.45 Bestandsaufnahme und Vorschläge für die Gleichstellung der Kurden mit anderen Migrantengruppen<br />

- Muttersprachlicher Unterricht und kulturelle Entfaltung:<br />

<strong>Dr</strong>. Zaradachet Hajo (Vorsitzender des Kurdischen P.E.N.)<br />

- Beratung und Betreuung: Juline Nitsche (Sozialpädagogin, Potsdam)<br />

- Frauen- und Jugendarbeit: Hamide Akbayir (Vertreterin <strong>von</strong><br />

CENÎ- Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V. ,Düsseldorf)<br />

- Flüchtlinge: <strong>Dr</strong>. <strong>Gisela</strong> <strong>Penteker</strong> (Flüchtlingsrat Niedersachsen und IPPNW)<br />

- Selbsthilfeorganisationen: Yüksel Koç (Stellvertretender Vorsitzender der YEK-KOM)<br />

Nachfragen und Diskussion<br />

13.45 Mittagspause<br />

14.30 Das PKK-Verbot und seine Auswirkung auf die politische Integration der Kurden:<br />

<strong>Dr</strong>. Rolf Gössner (Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte),<br />

Monika Morres (AZADÎ e.V., Rechtshilfefonds für Kurd_innen in Deutschland, Düsseldorf),<br />

Mehmet Ataç (Dipl.-Sozialarbeiter)<br />

Moderation: Rechtsanwalt Dündar Kelloğlu (Hannover)<br />

Nachfragen und Diskussion<br />

16.00 Kaffeepause<br />

16.15 Eckpfeiler für eine Integrationspolitik für Kurden in Deutschland / Zusammenfassung und Perspektiven:<br />

Prof. <strong>Dr</strong>. Andreas Buro (Dialog-Kreis e.V.)<br />

Prof. <strong>Dr</strong>. Wolfgang <strong>Dr</strong>eßen (Politikwissenschaftler, Fachhochschule Düsseldorf)<br />

Moderation: Murat Çakır (Sprecher des Europäischen Friedensrates Türkei/Kurdistan)<br />

18.00 Ende der Konferenz<br />

Kurden in Deutschland<br />

Geschichte, Gegenwart, Perspektiven für Gleichstellung<br />

9. September 2009<br />

Abgeordnetenhaus Berlin, Raum 376<br />

Niederkirchnerstr. 5, 10111 Berlin<br />

Veranstalter/innen:<br />

Flüchtlingsrat Berlin, IPPNW, Flüchtlingsrat Niedersachsen, Europäischer Friedensrat Türkei/Kurdistan, <strong>Yek</strong>-<strong>Kom</strong><br />

(Föderation der kurdischen Vereine in Deutschland e.V.), Giyasettin Sayan (Mitglied des Abgeordnetenhauses Berlin), Int.<br />

Liga für Menschenrechte, Deutsch – Arabischer Dachverband in Deutschland- DAD- e.V., Rosa-Luxemburg-Stifung<br />

-3-


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

Sehr geehrter Präsident, sehr geehrter<br />

Oberbürgermeister,<br />

ich begrüße Sie recht herzlich und heiße Sie willkommen!<br />

Vielen Dank, dass Sie sich für diese Konferenz Zeit genommen<br />

haben.<br />

Wir bedanken uns bei allen Veranstaltern, die diese<br />

Konferenz gemeinsam mit uns organisiert haben, bei den<br />

Unterstützern und bei allen Freundinnen und Freunden,<br />

die sich aktiv an den Vorbereitungen beteiligt haben. Wir<br />

sind den RednerInnen Prof. <strong>Dr</strong>. Norman Paech, Prof. <strong>Dr</strong>.<br />

Birgit Ammann, <strong>Dr</strong>. Zaradachet Hajo, <strong>Dr</strong>. Rolf Gössner,<br />

Monika Morres, Hamide Akbayir für Ihre Beiträge und<br />

Reden sowie allen Gästen zu Dank verpflichtet.<br />

Meine Damen und Herren, wir freuen uns<br />

sehr über das breite Spektrum der<br />

TeilnehmerInnen aus über 40 verschiedenen<br />

Organisationen, darunter<br />

VertreterInnen aus dem kirchlichen<br />

Bereich, den Gewerkschaften sowie<br />

Integrations- und MigrantInneneinrichtungen.<br />

Erfreulich, unter den Gästen auch<br />

Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft<br />

und Kunst, aus allen Teilen Kurdistans und<br />

so zahlreich Frauen und Studierende aus<br />

Kurdistan zu sehen.<br />

Wir sind sicher, dass alle Vorträge,<br />

Vorschläge, Diskussionen und Kritiken<br />

geeignete Perspektiven für die<br />

Kurdenfrage aufzeigen werden. Wir verste-<br />

hen sie als außerordentliche Unterstützung unserer politischen<br />

und kulturellen Arbeit.<br />

Bevor wir zu den einzelnen Vorträgen kommen, möchte<br />

ich mit Ihrer Erlaubnis kurz einige Worte über YEK-KOM<br />

sagen: YEK-KOM wurde 1994 gegründet und beherbergt<br />

als eine der größten MigrantInnenorganisationen, 67<br />

Vereine in Deutschland. Zu unseren Mitgliedern und<br />

Unterstützern zählen über 25.000 Selbstständige,<br />

Tausende ArbeitnehmerInnen, SchülerInnen,<br />

AkademikerInnen und kurdische MigrantInnen aus den<br />

verschiedensten Berufsfeldern. In den vergangenen 15<br />

Jahren hat sich YEK-KOM unter dem Großteil der in<br />

Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden, die sich aus<br />

allen vier Teilen <strong>von</strong> Kurdistan zusammengefunden haben,<br />

als wichtige Vertreterin und Sprecherin ihrer Interessen<br />

etabliert.<br />

Seit ihrer Gründung hat sich YEK-KOM unter anderem das<br />

Ziel gesetzt, die Lebensphilosophie der kurdischen<br />

Gesellschaft in Einklang mit der der deutschen<br />

Gesellschaft zu bringen. Auf der einen Seite gilt es dabei,<br />

ihr die sozio-kulturelle und politische Situation der Kurden<br />

näher zu bringen und auf der anderen Seite die<br />

<strong>Kom</strong>munikation zwischen den Völkern zu fördern und eine<br />

kulturelle Brücke zu schaffen.<br />

Die Realität zeigt, dass uns in der Erfüllung dieser Mission<br />

noch ein weiter Weg bevorsteht und wir bis heute nur<br />

-4-<br />

Eröffnungsredebeitrag / Begrüßung <strong>von</strong> Ahmet CELIK<br />

Ahmet Celik,<br />

Vorsitzender der YEK-KOM e.V.<br />

bedingt erfolgreich waren. Die Ursache für die bestehenden<br />

Probleme ist in erster Linie bei den kurdischen<br />

Organisationen zu suchen, doch liegen gravierende Fehler<br />

auch bei den regierungsbildenden Parteien, die eine kriminalisierende<br />

und eher negative Haltung gegenüber den<br />

KurdInnen und ihren Institutionen einnehmen. Experten<br />

und verschiedene Organisationen sind sich einig: Statt einseitig<br />

Integration zu fordern, muss Deutschland eine<br />

solche auch fördern. Wir Kurdinnen und Kurden sind uns<br />

durchaus bestehender Schwierigkeiten bewusst und<br />

möchten den heutigen Tag als einen Neuanfang betrachten<br />

für eine aktive Bekämpfung dieser Probleme und um<br />

die Schließung vorhandener Lücken bemüht sein.<br />

Während wir in Deutschland über die<br />

herrschende Diskriminierung diskutieren,<br />

sind bis heute Kurdinnen und Kurden in<br />

ihrem eigenen Land, auf ihrem Boden, den<br />

sie seit Jahrhunderten bewohnen, einer<br />

unbarmherzigen Unterdrückung und<br />

Verfolgung ausgesetzt. Das ist die Ursache,<br />

weshalb wir zu Hunderttausenden nach<br />

Deutschland bzw. Europa flüchten mussten.<br />

Doch unsere Sehnsucht nach Demokratie<br />

und Frieden hat sich auch hier nicht erfüllt.<br />

Die Benachteiligungen, die uns in unserem<br />

eigenen Land widerfahren sind, finden wir<br />

auch in den Ländern, in denen wir Schutz<br />

gesucht haben.<br />

Wir benötigen sowohl die Hilfe <strong>von</strong> Euch,<br />

liebe Freundinnen und Freunde, als auch die Hilfe aller<br />

demokratischen Kräfte und Organisationen in Europa, um<br />

diese Hürden zu überwinden. Genauso wie wir uns mit<br />

allen unterdrückten Völkern dieser Welt solidarisieren,<br />

erachten wir es als die menschliche und demokratische<br />

Pflicht eines Jeden, diese Bestrebungen zu unterstützen.<br />

In der gleichen Weise, wie wir die Gesetze und die freiheitlich<br />

demokratische Grundordnung in diesem Land<br />

achten, streben wir nach den gleichen Rechten, die<br />

anderen Migrantengruppen zuerkannt werden. Danach ist<br />

die Akzeptanz der kurdischen Identität für eine erfolgreiche<br />

Integration <strong>von</strong> essenzieller Bedeutung.<br />

Es ist unabdingbar, dass das Recht auf freie<br />

Meinungsäußerung, welches sowohl durch das<br />

Grundgesetz als auch durch die Europäische<br />

Menschenrechtskonvention geschützt ist, auch den kurdischen<br />

Politikern bei ihrer Arbeit zugestanden wird. Sie<br />

müssen im Vergleich zu anderen Politikern über die gleichen<br />

Chancen und Rechte verfügen, um ihr Volk auf gleicher<br />

Augenhöhe vertreten zu können. Das wiederum ist<br />

nur möglich, wenn die bestehenden Verbote gegen politische<br />

Einrichtungen der Kurdinnen und Kurden aufgehoben<br />

werden.<br />

In diesem Sinne, danke ich Ihnen vielmals für Ihre Geduld<br />

und Aufmerksamkeit und wünsche uns allen eine erfolgreiche<br />

Konferenz. Vielen Dank.


Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Intellektuelle,<br />

Wissenschaftler und Gäste,<br />

ich möchte mich heute sehr bedanken, dass ich heute hier<br />

sein kann und zur kurdischen Identität, zu den Kurden und<br />

zu unserer Thematik sprechen kann. Ich freue mich sehr,<br />

dass ich auch über meine Arbeit berichten kann und<br />

erläutern, was die Kurden auch hier beschäftigt.<br />

Herr Präsident, ich möchte mich sehr<br />

für ihre freundlichen Worte und Ihre<br />

Gastfreundschaft besonders<br />

bedanken. Die Stadt, aus der ich<br />

komme, hat eine 7000 Jahre alte<br />

Vergangenheit. Sie ist eine wunderbare<br />

Stadt mit einem hohen kulturellen<br />

Wert. Die Mauer, die die Stadt<br />

umzingelt, wurde vor 1000 Jahren <strong>von</strong><br />

Juden, Moslems, Christen und Jeziden<br />

gebaut. Ich finde, dass eine kulturelle<br />

und sprachliche Vielfalt den<br />

Grundstein bilden für jede fortschrittliche<br />

Entwicklung. Leider ist es so,<br />

dass in dieser größten Stadt im Nahen<br />

Osten mit dieser einstigen großen<br />

Vielfalt in Bezug auf Sprache, Ethnien,<br />

Religionen und Identitäten, Menschen<br />

gezwungen wurden, diese Heimat zu<br />

verlassen. Verwurzelung ist leider das<br />

Osman Baydemir<br />

Ergebnis einer Politik, die dort das Land beherrscht. Es ist<br />

nicht lange her, da lebten vor 100 Jahren in Amed Juden,<br />

Süryanis, Kerdanis und Christen. Heute sind große Teile<br />

dieser Bevölkerung dort nicht mehr sesshaft, weil man sie<br />

vertrieben hat.<br />

Wenn wir heute die Frage stellen, wer vor diesem<br />

Hintergrund verloren hat, kann ich einfach nur sagen: Wir,<br />

die dort geblieben sind, wir haben verloren. Weil Vielfalt,<br />

Frieden und Fortschritt in dem Staat verschwunden sind<br />

und wir allein geblieben sind. Eines der ältesten Völker im<br />

Nahen Osten sind Kurden. Leider ist es so, dass aufgrund<br />

<strong>von</strong> Verleugnung und Vernichtung der kurdischen Identität<br />

das Volk seit Jahrhunderten Massakern und<br />

Unterdrückung ausgesetzt wurde. Und trotzdem:<br />

Das Volk lebt immer noch dort und ist ein Teil der Türkei.<br />

Sehr geehrter Herr Präsident, ich bin sehr glücklich, dass<br />

ich in Kreuzberg und Neu-Kölln unterwegs sein konnte und<br />

Menschen aus Kamislo, Avsin, Mahabad und Amed getroffen<br />

habe und dass die Grenzen, die dort befestigt wurden,<br />

hier in Europa aufgehoben sind. Hier gibt es keine Verbote<br />

und das macht mich wirklich sehr glücklich. Wir haben<br />

nicht so viel Erfahrung wie sie hier, aber ich stelle fest, dass<br />

Redebeitrag <strong>von</strong> Osman Baydemir<br />

Oberbürgermeister <strong>von</strong> Diyarbakir<br />

Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

die Kurden auch in Europa ein Problem haben, nämlich,<br />

dass sie nicht mit ihrer eigenen Identität anerkannt werden,<br />

sondern je nach Staatsangehörigkeit als Araber,<br />

Perser oder Türken. Das bedeutet, dass auch hier ein<br />

Kurde nicht als Kurde existiert.<br />

Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Ich glaube an<br />

die Geschwisterlichkeit der Völker. Aber das darf nicht<br />

bedeuten, dass Kurden mit ihrer Sprache und Kultur in<br />

Vergessenheit geraten. Ich möchte,<br />

dass alle Völker friedlich zusammen<br />

leben.<br />

Wenn die Identität der Kurden<br />

anerkannt wird, dann wird auch eine<br />

psychische und physische Mauer<br />

gesprengt. Für eine friedliche Lösung<br />

soll das ein riesiger Schritt sein. Wenn<br />

diese Mauer gefallen ist, wird es<br />

Frieden geben, so wie beim Mauerfall<br />

<strong>von</strong> Berlin. Für die Psyche eines jeden<br />

Kurden, gleichgültig aus welchen<br />

Teilen Kurdistans er kommt, ist die<br />

Anerkennung der Identität<br />

lebenswichtig. Das sollte Europa wissen.<br />

Diese Hürde gar nicht erst<br />

aufzubauen, wäre die beste und wünschenswerte<br />

Methode.<br />

Ich glaube <strong>von</strong> Herzen, wenn in Deutschland, in Berlin die<br />

Kurden ihre Muttersprache sprechen können und kurdisch<br />

als Bildungssprache anerkannt wird, dass es<br />

Radiosendungen in kurdischer Sprache gibt,i dass bei<br />

Ämtern Leute eingestellt werden, die die kurdische<br />

Sprache beherrschen, dann kann ich mir vorstellen, dass<br />

sich die Kurden als Teil <strong>von</strong> Berlin oder Deutschland fühlen<br />

und dass sie sich integrieren werden. Ich glaube, dass<br />

eines der großen Probleme im 21. Jahrhundert die<br />

Migration ist.<br />

Wir müssen als Realität ins Auge fassen, dass emigrierende<br />

Menschen keine Rückkehr vorsehen, dass vielleicht<br />

ein Prozent <strong>von</strong> ihnen in ihre Länder zurückkehren<br />

oder vielleicht ein Tausendstel da<strong>von</strong>, und wenn das so ist,<br />

muss sich um das Problem grundsätzlich gekümmert werden.<br />

Bei uns in Amed haben wir in dieser Hinsicht reichliche<br />

Erfahrung. 60 <strong>von</strong> 100 Personen sind Binnenmigranten,<br />

d.h. wir haben ein Problem in der Stadt und das muss<br />

gelöst werden. Wir müssen dafür sorgen, dass diese<br />

Menschen ein Teil <strong>von</strong> Amed werden und das müssen wir<br />

schaffen. Wir haben eine Grundlage dafür geschaffen,<br />

dass diejenigen, die dort in der Migration sind, vor Ort<br />

-5-


einen Verein gründen und sich an der Arbeit im Stadtrat<br />

beteiligen können und dass sie sich selbst organisieren.<br />

Ihnen wird die Möglichkeit gegeben, sich zu artikulieren,<br />

um einen Standpunkt zu erreichen. Sie sollen einen Teil<br />

unserer Stadt darstellen, Verantwortung übernehmen<br />

statt sich als Fremde zu empfinden.<br />

Mit Zufriedenheit kann ich sagen, dass man vor dieser<br />

Organisierung der Migranten keine Angst haben soll. Im<br />

Gegenteil: Diese Menschen tragen dazu bei, dass sich die<br />

Stadt stabilisiert und sie ein Teil unseres Lebens werden.<br />

Ich möchte den Blick noch auf ein anderes Thema lenken.<br />

Nachdem ich Oberbürgermeister geworden bin, pflege ich<br />

bei allen Feierlichkeiten und wichtigen Festtagen auch<br />

Einladungen an alle anderen Bürgermeister und<br />

<strong>Kom</strong>munalvertretungen in der Türkei zu verschicken.<br />

2006 und 2007 habe ich auf Kurdisch und Englisch "Ein<br />

frohes neues Jahr" gewünscht. Nach einer Weile<br />

reagierten viele Abgeordnete und Governeure. Sie<br />

schrieben, weil Sie ihre Grußbotschaft in Kurdisch<br />

geschickt haben, akzeptieren wir sie nicht. Meine<br />

Berater waren dann aufgeregt, und sagten, wir sollten<br />

künftig keine Botschaften dieser Art mehr verschicken.<br />

Ich widersprach und wir versandten weiter<br />

unsere Briefe. Irgendwann haben Staatsanwälte und<br />

andere Persönlichkeiten, auch offizielle Stellen,<br />

meine Grußbotschaften erwidert. Ich habe gesagt,<br />

das ist eine Veränderung in der Gerechtigkeit. Aber<br />

leider war es so, dass die Staatsanwaltschaft in<br />

Diyarbakir nach einem Monat ein<br />

Ermittlungsverfahren gegen mich eingeleitet hat und<br />

ich zur Rechenschaft gezogen wurde.<br />

Ich habe dann bei der Staatsanwaltschaft gesagt: Wie<br />

kann es sein, dass im 21. Jahrhundert eine Sprache<br />

verboten wird? Dann sagte er, die Sprache ist doch<br />

nicht verboten, aber Sie haben ja auf Kurdisch<br />

geschrieben "Frohes Neues Jahr" ; deswegen haben<br />

wir das Verfahren eröffnet.<br />

Ich erwiderte: Letztes Jahr habe ich Ihnen die<br />

Grußbotschaft auf Englisch geschickt, da haben Sie<br />

kein Verfahren eingeleitet. Dann sagte er: Naja, das<br />

war ja auch englisch. Nachdem ich meine Aussage<br />

beendet hatte, habe ich ihn gefragt, ob er sich die<br />

Internetseite des Justizministeriums manchmal<br />

anschaut. Er bejahte und meinte, dass es dort auch<br />

eine Kolumne <strong>von</strong> ihm gebe. Ich fragte ihn nach der<br />

Adresse dieser Internetseite. Er erwiderte:<br />

www.adaletbakanligi.org.<br />

Ich sagte: Sie schreiben dort jeden Tag dreimal, was<br />

ich geschrieben habe. Ich hab das aber nur einmal<br />

geschrieben. Was also ist die Gerechtigkeit?<br />

-6-<br />

Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

Er reagierte: Also, Herr Oberbürgermeister, ich kann<br />

gegen Sie nichts machen, gegen Sie komme ich nicht<br />

an. Doch, antwortete ich, gegen mich kommen Sie an,<br />

nicht aber gegen die Gerechtigkeit.<br />

Wegen der Verleugnungspolitik müssen heute etwa 1<br />

Million Kurden in Europa leben. Sie wollen ihre<br />

Rechte wie alle anderen Menschen und setzen auf die<br />

Philosophie eines Rechtssystem, das auf<br />

Gleichberechtigung und Gerechtigkeit basiert. Wird<br />

die Identität der Kurdinnen und Kurden anerkannt,<br />

wird das eine Gewähr dafür bieten, dass wir dafür<br />

Sorge tragen werden, dass die Verbindung zwischen<br />

Nahem Osten und Deutschland bzw. Europa so<br />

hergestellt wird, dass vielfältige Handlungs- und<br />

<strong>Kom</strong>munikationswege eingeschlagen und die kulturelle<br />

Ebene belebt werden können. Ich denke,<br />

Voraussetzung hierfür wäre die Anerkennung der kurdischen<br />

Identität.<br />

Ich bedanke mich bei allen Organisationen, bei dem<br />

Vorbereitungskomitee und bedanke mich für die<br />

Gastfreundschaft, die mir entgegengebracht worden<br />

ist und danke für die Einladung und die Möglichkeit,<br />

hier zu sprechen. Zu allerletzt möchte ich sagen:<br />

Roj Bas, Guten Tag Europa.<br />

----o----<br />

Redebeitrag <strong>von</strong> Walter Momper, Präsident<br />

des Abgeordnetenhauses <strong>von</strong> Berlin<br />

Herzlich willkommen. Ich<br />

habe die bunte Liste der<br />

verschiedenen<br />

Organisationen gesehen,<br />

die im kurdischen Bereich<br />

tätig sind oder kurdische<br />

Menschen hier im Lande<br />

organisieren, und finde das<br />

hoch anerkennenswert. Ich<br />

möchte Ihnen sagen, dass<br />

sie hier zusammengekommen<br />

sind, um eine so ambitionierte<br />

und <strong>von</strong> den<br />

Themen her breit<br />

gefächerte Konferenz zu machen. Ich wünsche Ihnen<br />

allen viel Erfolg und möchte mich auch noch einmal beim<br />

Bürgermeister <strong>von</strong> Diyarbakir dafür bedanken, dass er<br />

heute hier im Hause zu Gast ist. Also: viel Erfolg, gute<br />

Beratung, einen guten Tag und gute Ergebnisse bei der<br />

politischen und kulturellen Arbeit, die sie sich vorgenommen<br />

haben.<br />

Dankeschön!


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

Kurdische Migration in Deutschland: Geschichte und Gegenwart<br />

Redebeitrag <strong>von</strong> Prof. <strong>Dr</strong>. Birgit Ammann,Sozialwissenschaftlerin, Fachhochschule Potsdam<br />

Ich darf Sie auch noch mal ganz herzlich begrüßen. Ich<br />

habe jetzt die nicht ganz leichte Aufgabe, nach der Rede<br />

<strong>von</strong> Oberbürgermeister Baydemir, die mir sehr aus der<br />

Seele gesprochen hat, etwas zu sagen, was eher informatorisch<br />

sein wird.<br />

Ich möchte mich in Anbetracht des vor uns liegenden langen<br />

Tages und der vielen interessanten und wichtigen<br />

Details beschränken auf eine möglichst kurze Erläuterung.<br />

Was ich versuchen möchte darzustellen, ist lediglich<br />

gedacht als Grundinformation für diejenigen <strong>von</strong> Ihnen,<br />

die vielleicht nicht ganz hundertprozentig vertraut sind mit<br />

den Hintergründen der kurdischen Zuwanderung. Sie<br />

haben ja gehört, gelesen, mehrfach vernommen,<br />

dass in Deutschland <strong>von</strong> einer kurdischen<br />

Bevölkerung <strong>von</strong> bis zu einer Million<br />

ausgegangen wird. Zu Zahlen äußere ich mich<br />

sehr ungern, weil - wie wir alle wissen -, die<br />

Ermittlung der Außengren-zen des<br />

Kurdischseins manchmal ziemlich schwierig<br />

ist. Das hat Gründe. Ich muss auch ganz<br />

ehrlich sagen: mir erscheint es häufig so, dass<br />

mit der Konstruktion einer möglichst großen<br />

Anzahl kurdischer Zuwanderinnen und<br />

Zuwanderer die Hoffnung verbunden ist,<br />

anerkannt zu werden. Ich stehe da auf dem<br />

Standpunkt: man muss nicht eine große Gruppe sein, um<br />

respektvoll und unter Wahrung der Menschenrechte<br />

anständig und gut behandelt zu werden. Also: Auch wenn<br />

nur 8.000 Kurden hier leben würden, wäre es<br />

angemessen, sie und ihre Identität anzuerkennen und sie<br />

respektvoll zu behandeln.<br />

Prof. <strong>Dr</strong>. Birgit Ammann<br />

Jetzt ist die Frage: wie ist es denn überhaupt dazu gekommen,<br />

dass sich Kurden hier angesiedelt haben? Es begann<br />

bereits vor 100 Jahren; da gab es eine sehr kleine, aber<br />

interessante Gruppe <strong>von</strong> kurdischen Männern, die in<br />

Europa, also auch in Deutschland, lebten. Sie sind insofern<br />

so interessant, weil sie sich gegen die damalige Norm,<br />

nicht über ihre unterschiedlichen Staatsangehörigkeiten,<br />

sondern über ihr Kurdischsein definierten. Das war<br />

ungewöhnlich. Sie hatten Stimmen, ihre Spuren sind zu<br />

finden, wenn man genau recherchiert:<br />

z.B. in Zeitungen und in verschiedenen Publikationen.<br />

Dieses sich, über das Kurdischsein definieren und äußern<br />

hat sich später sehr entscheidend verändert, in dem es zu<br />

Zeiten verschwand. Sie haben das in den Vorreden schon<br />

gehört.<br />

In den fünfziger Jahren wurde es zunächst deutlicher. Wir<br />

haben es da mit einer etwas größeren Gruppe kurdischer<br />

Studenten zu tun. Sie waren immer noch erst wenige hundert,<br />

aber die haben sich ethnopolitisch nicht nur<br />

artikuliert, sondern auch organisiert. Sie haben die erste<br />

große Vereinigung gebildet, aus der sich mit der Zeit verschiedene<br />

parallel existierende Gruppen ergaben. Wir hatten<br />

inzwischen also einen politischen Ausdruck auf einer<br />

ethnischen, nämlich der kurdischen Basis. Das war im<br />

Vergleich zur späteren Situation wirklich bemerkenswert,<br />

weil es doch viele Hindernisse gab - aufseiten der<br />

Herkunftsstaaten ebenso wie in Europa, der Zielregion<br />

selbst. Diese Bewegung war damals sehr stark bestimmt<br />

durch die Nationalbewegung im kurdischen Teil des Irak.<br />

Nun sind wir uns aber alle darüber im Klaren, dass über 80<br />

Prozent der deutschen Kurden aus der Türkei stammt. Wie<br />

kam es also zu dieser Situation?<br />

Ab Mitte der fünfziger Jahre hat die<br />

Bundesrepublik - ich würde fast schon sagen,<br />

verzweifelt – versucht, Arbeitskräfte anzuwerben<br />

und es hat sich so ergeben, dass ein sehr großer<br />

Teil dieser Arbeitskräfte, die man einlud und bat<br />

hierher zu kommen, aus der Türkei zuwanderte.<br />

Um das etwas salopp zu formulieren, ist es<br />

passiert, dass sozusagen unbemerkt auch sehr<br />

viele Kurden zuwanderten. Unbemerkt deshalb,<br />

weil - das muss man einfach sehen -es damals<br />

nicht eine kurdische Identität in dem Sinne wie<br />

heute gab, und zwar weder in der Türkei noch in<br />

Deutschland. Ethnische Unterschiede wurden kaum thematisiert<br />

und kamen kaum an die Oberfläche. Man muss<br />

erwähnen, dass viele Kurdinnen und Kurden sich damals,<br />

zumindest nach außen hin nicht, öffentlich und dezidiert<br />

als Kurden bezeichnet haben. Bevor jetzt großer Protest<br />

kommt, möchte ich gerne erklären wie das kam, warum<br />

das so passiert ist. Es ist gerade für die junge kurdische<br />

Generation wichtig zu verstehen, um nachvollziehen zu<br />

können, was sich da in den letzten Jahren und Jahrzehnten<br />

Enormes entwickelt hat.<br />

Die Zuwanderer kamen damals aus einem Land, in dem<br />

ihre Sprache verboten war. Wir haben das alle oft gehört.<br />

Was es aber wirklich heißt, die Muttersprache, häufig die<br />

einzige Sprache, die jemand beherrscht, unter Androhung<br />

und Einsatz <strong>von</strong> Gewalt verboten zu bekommen, das ist<br />

für die Entwicklung jedes einzelnen Menschen sehr sehr<br />

bedeutsam. Wir haben <strong>von</strong> Herrn Baydemir gerade sehr<br />

eindringlich gehört, wie die Sprachproblematik sich heute<br />

noch darstellt. Ich möchte ein Detail noch einmal herausstellen:<br />

selbst heute, wo sich die Dinge öffnen und<br />

lockern, wird in der Türkei über drei Buchstaben diskutiert,<br />

über drei Konsonanten, die die kurdische Sprache verwendet,<br />

die türkische jedoch nicht und die daher als verboten<br />

gelten. Es wird tatsächlich diskutiert über das „W“, das „X“<br />

und das „Q“. Herr Baydemir hat uns die Geschichte<br />

erläutert, deren Details im Zuge der Übersetzung ein<br />

-7-


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

wenig untergingen. Er argumentierte dort, dass ja das<br />

Internet, das bekanntlich weltweite Netz (worldwide web)<br />

mit den Buchstaben www bezeichnet wird – auch in der<br />

Türkei. Es ist für mich unfasslich, dass bezüglich der<br />

Verwendung <strong>von</strong> drei Buchstaben Gerichtsverfahren<br />

anhängig sind – ähnlich wie bezüglich der Verwendung<br />

<strong>von</strong> drei Farben, die auf der ganzen Welt für<br />

Verkehrsampelanlagen verwendet werden. Aber das ist<br />

eine andere Geschichte.<br />

Dies nur noch einmal, um zu untermauern, was es heißt,<br />

aus einem Land zu stammen, in dem meine Sprache verboten<br />

ist. Wir haben gehört, dass die Kurden – ebenso wie<br />

andere Gruppen - gute Gründe hatten, bezüglich ihrer historischen<br />

Vergangenheit und ihrer kulturellen Traditionen<br />

ein gutes Selbstbewusstsein zu entwickeln.<br />

Dieses Selbstbewusstsein war in der Türkei jedoch weitgehend<br />

zerstört worden. Wir haben schon, bevor das<br />

Osmanische Reich zusammenbrach, beobachten können,<br />

dass sich eine Form <strong>von</strong> ganz besonders rigidem<br />

Nationalismus entwickelte. Mit Gründung der türkischen<br />

Republik wurde diese Form - der so genannte Kemalismus<br />

– zur Staatsdoktrin erhoben. Kemalismus bezeichnet die<br />

Gesamtheit der Ideen und Prinzipien Mustafa Kemal<br />

Atatürks, der sich den Namen Atatürk (Vater der Türken)<br />

übrigens selbst gegeben hat. Dass das liebende Volk ihn<br />

Atatürk getauft habe, wurde im Zuge der<br />

Geschichtsklitterung bewusst in die Welt gesetzt. Der<br />

Kemalismus ist die Gründungsideologie der Türkei; der<br />

Fairness halber möchte ich sagen, dass ich hier und heute<br />

die Darstellung reduziere und nur auf die negativen<br />

Aspekte fokussiere. Kemalismus zielte und zielt im Prinzip<br />

bis heute auf die Formung eines ausschließlich<br />

türkischsprachigen (sunnitischen) Volkes ab und schreckte<br />

selbst vor der Planung und Umsetzung des Völkermordes<br />

nicht zurück. Die am meisten betroffenen Opfer waren<br />

zweifelsohne die Armenier, jedoch waren auch andere<br />

eingesessene Minderheiten wie Griechen, Juden, Assyrer<br />

und eben vor allem Kurden <strong>von</strong> Vertreibungen,<br />

Deportationen und physischer Vernichtung im großen Stil<br />

nicht verschont.<br />

Die Kurden haben sich natürlich gewehrt dagegen, es hat<br />

Aufstände gegeben. Die letzten Aufstände, die wir vor der<br />

Auswanderung erlebt haben, fanden 1938 in Dersim statt,<br />

heute türkisch Tunceli genannt. Die Leute, die angeworben<br />

wurden nach Deutschland, haben diese Aufstände<br />

höchstens noch als Kinder erlebt. In der Erinnerung der<br />

Älteren waren diese Geschehnisse präsent, aber die<br />

Älteren sind nicht nach Deutschland gegangen, weil eben<br />

nur junge Leute angeworben wurden. Die Aufstände sind<br />

sehr gewaltsam niedergeschlagen worden, die Leute<br />

waren traumatisiert.<br />

So wurde das Selbstbewusstsein, auch die ethnische<br />

Selbstwahrnehmung, praktisch ausgelöscht<br />

beziehungsweise verdrängt in die unmittelbare<br />

-8-<br />

Kleinfamilie. Das bedeutet, es herrschte ein Klima der<br />

Verängstigung, der Mutlosigkeit und der Passivität. Die<br />

jungen Leute, die zuwanderten, hatten das Trauma ihrer<br />

Eltern und ihrer Großeltern zum Teil verinnerlicht, aber sie<br />

hatten nicht mehr die Möglichkeit, auf ein positives kurdisches<br />

Selbstbewusstsein zurückzugreifen. In der Zeit<br />

wurde Schulpflicht eingeführt, was ja sicherlich nicht<br />

schlecht ist, aber in der Schulerziehung herrschte ein sehr<br />

türkisch-nationales, nationalistisches Regime, welches<br />

jeden Versuch, ethnische oder auch nur sprachliche<br />

Unterschiede zu thematisieren, durch schwere körperliche<br />

Züchtigung und andere gewaltsame Mittel unterband. Das<br />

Sprechen der einzigen erlernten Sprache wurde aus den<br />

Kindern herausgeprügelt – ein Schock nicht nur für Fünf-,<br />

Sechs- oder Siebenjährige.<br />

Sie können sich auch vorstellen, dass Überlebende der<br />

Aufstände versucht haben, ihre Kinder vor den Folgen zu<br />

schützen, indem sie natürlich nicht gesagt haben „geh’ in<br />

die Schule und sprich kurdisch, sag’ dass du kurdisch und<br />

nicht türkisch bist“. Lehrer haben die Kinder zur<br />

Denunzierung angehaltem und <strong>von</strong> ihnen erwartet, dass<br />

sie der Schule melden, wenn zu Hause kurdisch<br />

gesprochen wurde oder sich anderweitig kurdisch<br />

geäußert wurde.<br />

Also, Sie können sich vorstellen, dass die Generation, die<br />

als Erste zuwanderte - und das ist der größte Teil, der jetzt<br />

hier lebenden kurdischen Bevölkerung - eigentlich nicht<br />

die Möglichkeit hatte, ein kurdisches Selbstbewusstsein zu<br />

haben und zu entwickeln.<br />

Vielleicht ein kleiner Abschweif:<br />

Der Wunsch nach Deutschland und auch in andere<br />

europäische Länder zu wandern, die ja alle intensiv anwarben,<br />

ist zu verstehen. Dass es einfach um die Verbesserung<br />

schwieriger Lebensbedingungen ging, muss, glaube ich,<br />

nicht ausgeführt werden. Das Motiv ist sehr leicht nachvollziehbar.<br />

Wir haben vorhin gehört, dass schlechte<br />

Lebensbedingungen teilweise in direktem Zusammenhang<br />

mit Kurdischsein standen. Mit anderen Worten: Es war<br />

kein Zufall, dass in den kurdischen Regionen die<br />

Lebensbedingungen besonders schlecht waren. In Varto<br />

und Bingöl z.B. gab es zu der Zeit schwere Erdbeben, die zu<br />

Bedingungen geführt haben, <strong>von</strong> denen ich heute sagen<br />

würde: wäre dort eine türkisch-sprachige sunnitische<br />

Bevölkerung ansässig gewesen, wäre es ihr wahrscheinlich<br />

besser gegangen. Man hätte sie mehr und besser unterstützt<br />

nach der Katastrophe. So wurde teilweise gesagt:<br />

„geht doch nach Deutschland“ – mit dem Hintergedanken<br />

„dann sind wir euch los“. Aus diesem Gebiet kamen also<br />

ganz besonders viele Zuwanderer, insbesondere nach<br />

Berlin. Aus Varto und Bingöl haben wir hier sehr viele kurdische<br />

Familien.<br />

Vielleicht ganz kurz weiter in der Geschichte der<br />

Arbeitsmigration: Zu Beginn der 70er Jahre begann man<br />

die Anwerbung zu stoppen, so dass die Möglichkeit des<br />

relativ einfachen Zuzugs nicht mehr gegeben war. Seither


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

gibt es im Grunde genommen nur noch zwei<br />

Möglichkeiten: die eine ist das, was Familiennachzug<br />

genannt wird und meist Heiratsmigration bedeutet (junge<br />

Männer und junge Frauen ziehen als Brautleute nach<br />

Deutschland) oder eben die Asylantragstellung. Beides<br />

wird umfänglich wahrgenommen, das ist nachvollziehbar.<br />

Man muss sagen, dass die Auswanderungsmotive überlappen;<br />

es kommen wirtschaftliche Not, politische<br />

Verfolgung, Familienbande und anderes mehr zusammen.<br />

Es gibt also viele Gründe, die die Wanderung ausmachten<br />

und ausmachen. Die Militärputsche <strong>von</strong> 1960, 1970 und<br />

1980 haben sich sehr stark ausgewirkt:<br />

Die Asylbewerberzahlen sind in die Höhe geschossen und<br />

Kurden, die überlegt haben, eventuell noch einmal zurückzuwandern,<br />

haben diese Absichten dann aufgegeben und<br />

im Gegenteil versucht, ihre Familien nachzuholen und sie<br />

praktisch vor den Gegebenheiten zu retten.<br />

Wichtig ist noch, dass das Zusammenkommen <strong>von</strong> Kurden<br />

aus der Türkei und Kurden aus anderen Staaten, wo die<br />

Bedingungen etwas anders waren, wo zum Teil die<br />

Möglichkeit, das ethnische Selbstbewusstsein und die<br />

Sprache zu erhalten besser war, dass dieses<br />

Zusammenkommen natürlich sehr fruchtbar war und ist.<br />

Auch das hat Bürgermeister Baydemir angesprochen. Was<br />

ihn fasziniert, fasziniert auch mich bis heute genauso wie<br />

vor 25 Jahren, als ich Kurden kennen gelernt habe:<br />

Menschen aus verschiedenen Staaten, die sich in ihrer<br />

zum Teil verbotenen Sprache austauschten und sowohl<br />

diese Sprache als auch ihr Selbstbewusstsein wieder<br />

belebt haben; die <strong>von</strong> den Gemeinsamkeiten und<br />

Unterschieden kolossal profitiert haben und in der<br />

Diaspora, also in Deutschland und den anderen Ländern,<br />

eine eigene, neue und sehr facettenreiche Identität<br />

gebildet haben. Dieses Zusammenspiel hat natürlich dazu<br />

geführt, und war einer <strong>von</strong> vielen Impulsen dafür, dass die<br />

Zuwanderer aus Türkisch-Kurdistan ihre Identität schnell<br />

verändert haben. Ich spreche in erster Linie <strong>von</strong> diesem<br />

einen Impuls - die anderen wichtigen Faktoren überlasse<br />

ich meinen Nachrednern.<br />

Ich möchte diese Entwicklung eine beispielhafte<br />

Ethnisierung im positiven Sinne nennen. Es gibt keine<br />

Gruppe unter den Zuwanderern, die in den wenigen<br />

Jahrzehnten einen derartigen Wandel ihrer ethnischen<br />

Identität und ihres Bewusstseins, ihrer<br />

Selbstwahrnehmung durchlaufen haben, die mit der kurdischen<br />

Entwicklung vergleichbar wäre. Das macht das<br />

Ganze so spannend und eben auch diese sehr interessante<br />

Grundlage aus, auf der wir heute auf dieser Konferenz<br />

arbeiten und diskutieren können. Auf die gesamtgesellschaftliche<br />

Integration muss sich eine solche<br />

Entwicklung übrigens keinesfalls bremsend auswirken.<br />

Wie es aber aussieht mit der Möglichkeit teilzuhaben an<br />

dieser Gesellschaft, anerkannt zu werden und sich selbst<br />

mit der ganz individuellen Identität einzubringen, das ist<br />

ein ungeklärter Punkt.<br />

Ich möchte zum Ende noch sagen, das ich nicht in allen<br />

Punkten einverstanden bin, was die Ausgangsargumente<br />

der Veranstaltenden sind, deshalb bin ich besonders interessiert<br />

an der Diskussion, was die Details der Anerkennung<br />

anbelangt. Ich finde die Frage wichtig, was Kurdinnen und<br />

Kurden selbst tun sollten, neben dem, was die Politik und<br />

was die Gesellschaft tun sollte. Ich bedanke mich sehr für<br />

Ihre Aufmerksamkeit und bitte Memo Şahin zu<br />

übernehmen.<br />

-9-


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

Wann die ersten Kurden nach<br />

Europa gekommen sind, ist nicht<br />

geklärt. Man weiß auch nicht, wie<br />

viele Kurden mit den Osmanen<br />

vor den Toren Wiens standen und<br />

wie viele <strong>von</strong> ihnen wiederum<br />

sich wo niedergelassen haben.<br />

Aber es geht auch nicht darum,<br />

die "Spuren" der ersten Kurden zu<br />

finden. Die Auswanderung der<br />

Memo Şahin/Dialog Kreis<br />

Kurden in Richtung Deutschland<br />

begann vor etwa 50 Jahren und<br />

geht auch heute noch weiter.<br />

Bis zum Jahr 1973 kamen Frauen und Männer als<br />

Arbeitnehmer nach Deutschland. Sie ließen Familie,<br />

Kinder und alles, was sie besaßen, in der Heimat zurück<br />

und stiegen mit einem Koffer in der Hand in Berlin,<br />

München und Frankfurt aus.<br />

Die Menschen, die bis dahin außer ihren Dörfern und<br />

kleinen Städten nichts kannten, haben in Großstädten eine<br />

neue Welt betreten. In der ersten Periode der<br />

Einwanderung waren es mehrheitlich alewitische Kurden.<br />

Das lag daran, dass der türkische Staat, der sein<br />

Fundament auf das Türkentum und den Islam gesetzt<br />

hatte, diese Menschen als Tumoren ansah, die weggehörten.<br />

Denn sie waren sowohl Kurden als auch Alewiten.<br />

Wie wir wissen, hat Deutschland seine Tore für ausländische<br />

Arbeitnehmer im Jahr 1973 geschlossen. Danach konnten<br />

die Kurden nicht mehr als Arbeitnehmer nach<br />

Deutschland kommen. Aber der Weg für die<br />

Familienzusammenführung war offen. Nunmehr hatten<br />

die Kurden, die „ein paar Jahre arbeiten und danach in ihre<br />

Heimat zurückkehren wollten“, ihre Koffer in Deutschland<br />

richtig ausgepackt und ihren Traum, in ihre Heimat zurückzukehren,<br />

aufgegeben. Frauen und Männer holten ihre<br />

Familien nach. Man kann diese Zeit als die 2. Periode der<br />

Auswanderung der Kurden betrachten.<br />

Die 3. Periode der Auswanderung hat Ende der 1970er<br />

Jahre angefangen und mit der faschistischen Militärjunta<br />

in der Türkei im Jahre 1980 eine neue Dimension erreicht.<br />

Nachdem die Dörfer in Nord-Kurdistan in den Jahren 1980<br />

bis Mitte 1990 <strong>von</strong> Menschen entvölkert und zerstört wurden,<br />

haben sich jedes Jahr ca. 20-30 Tausend Kurden aus<br />

den Provinzen Amed/ Diyarbakir, Riha/Urfa,<br />

Mêrdin/Mardin und anderen Provinzen auf den Weg nach<br />

Deutschland gemacht. Von 1980 bis 2009 sind über<br />

350.000 Kurden wegen des geführten schmutzigen Krieges<br />

des türkischen Staates geflüchtet und nach Deutschland<br />

gekommen.<br />

Mit der Zunahme der Repressionen in Syrien, Irak und Iran<br />

kamen auch in den 80er und 90er Jahren Zehntausende<br />

Kurden nach Deutschland und leben hier als Flüchtlinge.<br />

Heutzutage sind sie in Deutschland nicht nur<br />

-10-<br />

Redebeitrag <strong>von</strong> Memo Şahin<br />

Arbeitnehmer und Flüchtlinge. Gleichzeitig haben<br />

Zehntausende junge KurdInnen die Hochschulen<br />

absolviert und sind Ärzte, Ökonomen oder Ingenieure<br />

geworden.<br />

Als die Kurden nach Deutschland kamen, waren sie nicht<br />

nur ohne Kinder und Sprache, sie waren auch ohne<br />

Fürsorge. Sie hatten weder eine Organisation, noch einen<br />

Ort, wo sie hingehen, sich begegnen und ihre Sehnsucht<br />

austauschen konnten. Dann haben sie in den 1970er<br />

Jahren angefangen, sich zusammenzuschließen.<br />

Arbeitervereine hat es in der Bundesrepublik Deutschland<br />

seit 1970 gegeben. Bis Ende der 70er Jahre waren es etwa<br />

10 Vereine der Kurden im ganzen Bundesgebiet. In den<br />

80er Jahren hat sich die Zahl der Vereine jeder politischen<br />

Couleur auf etwa 50 erhöht. Und die 90er Jahren waren<br />

auch bei der Organisierung der Kurden eine Blütezeit: Zur<br />

Jahrtausendwende gab es über 100 kurdische Vereine in<br />

der Bundesrepublik Deutschland.<br />

„KOMKAR - Verband der Vereine aus Kurdistan" war die<br />

erste kurdische Föderation in Deutschland. Sie wurde <strong>von</strong><br />

acht kurdischen Vereinen am 13. Januar 1979 in Frankfurt<br />

gegründet. KOMKAR hat bis vor 10 Jahren eine große Rolle<br />

sowohl bei der Organisierung der kurdischen<br />

MigrantInnen, als auch bei den Solidaritätsaktionen zur<br />

Unterstützung der kurdischen Bewegung in Kurdistan<br />

gespielt. Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit, Förderung der<br />

kurdischen Kultur und Sprache sowie die Herausgabe <strong>von</strong><br />

Publikationen waren seine Stärken.<br />

Mit der Zunahme der Aktivitäten der PKK in der Heimat<br />

nahm auch ihre Anhängerschaft in Europa zu. Bis Anfang<br />

der 80er Jahre gab es vereinzelte Vereine im gesamten<br />

Bundesgebiet ohne nennenswertes Gewicht. Heute zählt<br />

"YEK-KOM - Föderation kurdischer Vereine in<br />

Deutschland" mit Sitz in Düsseldorf über 60<br />

Mitgliedsvereine. Sie wurde, nachdem der Vorgänger<br />

FEYKA Kurdistan im November 1993 vom<br />

Bundesinnenministerium verboten worden war, am 27.<br />

März 1994 als neuer Dachverband gegründet.<br />

Außer diesen beiden Verbänden wurde eine Reihe anderer<br />

Vereine aus unterschiedlichen politischen Strömungen<br />

gegründet, zum Beispiel KKDK und KOC-KAR. In der jüngeren<br />

Vergangenheit haben auch<br />

Studierendenorganisationen wie der KSSE (Verein<br />

Kurdischer Studenten in Europa) und die AKSA<br />

(Vereinigung der Studenten Kurdistans im Ausland)<br />

existiert.<br />

Der türkische Nationale Sicherheitsrat (MGK) gab im<br />

Sommer 2000 die Zahl der in Europa tätigen "separatistischen<br />

Vereine und Institutionen" mit 441 an. (Hürriyet,<br />

24.08.2000)<br />

Die genannten kurdischen Verbände und Vereine haben in<br />

den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts eine


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

erfolgreiche Arbeit geleistet. Einerseits organisierten sie<br />

die kurdischen Arbeiter und Studenten in ihren Reihen,<br />

führten Protestmärsche gegen die Unterdrückungspolitik<br />

der die Kurden verleugnenden Staaten Türkei, Iran, Irak<br />

und Syrien durch, andererseits leisteten sie eine effektive<br />

Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit in der Bundesrepublik<br />

Deutschland.<br />

Dank dieser Arbeit konnten z.B. Waffenlieferungen in die<br />

Türkei zeitweise gestoppt, Tourismusboykotts organisiert,<br />

Abschiebestopps durchgesetzt werden. Außer der FDP<br />

mussten die Bundestagsfraktionen <strong>von</strong> SPD, Grünen und<br />

CDU/CSU Arbeitsgruppen zu Kurden einrichten.<br />

Interfraktionelle Bundestagsdelegationen besuchten die<br />

Türkei und Kurdistan, um Menschenrechtsverletzungen an<br />

Ort und Stelle zu untersuchen. Interfraktionelle<br />

Bundestagentschließungen zu unterschiedlichen Themen<br />

und Problemfeldern wurden verabschiedet. Anfang der<br />

80er Jahren wurde sogar die Mitgliedschaft der Türkei im<br />

Europarat eingefroren.<br />

An jedem Ort, an dem die Türkei offiziell erschien, haben<br />

Kurden Protestkundgebungen und Mahnwachen organisiert.<br />

Nachdem aber die Anhänger der PKK im Juni und<br />

Oktober 1993 im Bundesgebiet gewaltsame Aktionen<br />

durchgeführt und Autobahnen blockiert haben, folgte eine<br />

Abkehr der Unterstützung durch die bundesrepublikanische<br />

Öffentlichkeit.<br />

Obwohl sich der Vorsitzende der PKK, Abdullah Öcalan,<br />

wegen der begangenen Fehler bei dem Gesandten der<br />

Bundesregierung, Heinrich Lummer, im Oktober 1995 und<br />

im März 1996 öffentlich entschuldigt hat, verfolgt die<br />

Bundesrepublik die Funktionäre und Anhänger der PKK im<br />

Bundesgebiet ununterbrochen - auch im Jahre 2009 - und<br />

bricht somit die getroffene Vereinbarung.<br />

Da fast alle kurdischen Verbände und Vereine parteipolitisch<br />

gebunden waren, d.h. als legale Arme der im<br />

Untergrund tätigen politischen Parteien agierten, gerieten<br />

viele <strong>von</strong> ihnen mit der Zunahme der Anhängerschaft der<br />

PKK in die Bedeutungslosigkeit. Viele aktive Kader und<br />

Mitglieder haben sich <strong>von</strong> ihren Organisationen getrennt<br />

und sich zurückgezogen.<br />

Da der Kampf des kurdischen Volkes für Frieden und<br />

Freiheit noch andauert und die Probleme der kurdischen<br />

Migranten in Deutschland noch nicht gelöst sind, müssen<br />

andere Formen der Organisierung gefunden und die<br />

bestehenden Kräfte gebündelt werden. Die unterschiedlichen<br />

Strömungen müssen zumindest im Ausland<br />

versuchen, eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame<br />

Linie zu finden, um mit einer Stimme zu agieren und<br />

produktiv zu arbeiten.<br />

Da Kurden seit einem halben Jahrhundert hier leben und<br />

mehrheitlich auch in Zukunft hier bleiben werden, muss<br />

ein Dachverband oder eine Interessenvertretung für<br />

Kurden entstehen, um der Aufgaben der Zeit Herr zu wer-<br />

den. Als Modelle könnten der griechische Dachverband<br />

OEK, die spanischen Elternvereine, der Zentralrat der<br />

Armenier in Deutschland, der Zentralrat der Juden usw.<br />

dienen, wo Menschen unterschiedlicher politischer<br />

Strömungen Platz finden, um sich zu artikulieren.<br />

Außerdem ist es an der Zeit, gesamtkurdisch zu denken,<br />

über die teilenden nationalen Grenzen hinweg. In den<br />

neuen kurdischen Selbsthilfevereinen müssen Kurden aus<br />

allen vier Teilen Kurdistans Möglichkeiten finden, sich zu<br />

organisieren und mit einer Stimme für die Lösung ihrer<br />

Probleme einzutreten.<br />

Aufgeklärte Kurden sollten sich folgende Fragen stellen,<br />

um daraus Aufgaben und Ziele für die Zukunft zu<br />

entwickeln:<br />

Obwohl in Deutschland seit Jahrzehnten etwa 1 Million<br />

Kurden leben und ein beachtlicher Teil eingebürgert ist,<br />

warum<br />

•sind Kurden immer noch nicht mit den anderen<br />

Migrantengruppen gleichgestellt?<br />

•werden sie immer noch nach ihren Passfarben dividiert<br />

und zu den Türken, Persern und Arabern gezählt?<br />

•können sie keine Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit leisten<br />

und haben kein Gewicht in der Bundes-, Landes- und<br />

<strong>Kom</strong>munalpolitik?<br />

•können sie keine effektive Solidaritätsarbeit Richtung<br />

Heimat organisieren?<br />

Man könnte die Auflistung detailliert fortführen. Aus all<br />

den oben aufgeführten Gründen ergibt sich<br />

Handlungsbedarf, über neue Organisationsformen<br />

nachzudenken und dementsprechend zu handeln. Die Zeit<br />

ist überreif für eine gesamtkurdische<br />

Interessenvertretung, für eine bessere Integration der<br />

Kurden und für eine mit Taten erfüllte Solidaritätsarbeit<br />

<strong>von</strong> Deutschland aus.<br />

Über die Form der Zusammenarbeit und Bündelung der<br />

vorhandenen Kräfte und Möglichkeiten können unabhängig<br />

<strong>von</strong>einander unterschiedliche Modelle gefunden<br />

werden. Ich werde mich hier auf zwei Möglichkeiten der<br />

Zusammenarbeit konzentrieren.<br />

Zum Ersten:<br />

Ein Pilotprojekt auf kommunaler Ebene<br />

Mittlerweile leben in vielen Großstädten wie Berlin,<br />

Hamburg, Köln und München Zehntausende Kurden aus<br />

vier Teilen Kurdistans.<br />

Nehmen wir als Beispiel die Metropole Köln: In Köln leben<br />

nach Angaben der Stadtverwaltung etwa 65.000<br />

Menschen aus der Türkei. Hinzu kommen die in den vergangenen<br />

Jahren eingebürgerten ca. 30.000 Kurden und<br />

Türken. Die Kurden aus dem Iran, Irak und Syrien dürfen<br />

nicht vergessen und müssen dazu gezählt werden.<br />

Deswegen ist es nicht übertrieben, <strong>von</strong> etwa 40.000 bis<br />

50.000 Kurden in Köln zu sprechen.<br />

In den 80er und 90er Jahren hatten Kurden in Köln<br />

mehrere parteipolitisch gebundene Vereine gehabt. Sie<br />

-11-


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

organisierten kurdische MigrantInnen und Flüchtlinge in<br />

ihren Reihen, feierten Feste wie „Newroz“ mit Tausenden<br />

<strong>von</strong> Menschen, führten Protestveranstaltungen gegen die<br />

Gewaltherrschaften im Orient durch, brachten Publikationen<br />

heraus und leisteten Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit.<br />

Zusammengefasst kann man sagen, dass sie eine gute, nützliche<br />

und wichtige Arbeit geleistet haben.<br />

Heute aber haben wir eine große Leere, deren Gründe oben<br />

kurz aufgeführt worden sind. Zurzeit gibt es lediglich einen<br />

Mitgliedsverein <strong>von</strong> <strong>Yek</strong>-<strong>Kom</strong>, der sich weder mit den hiesigen<br />

noch mit den Problemen bezüglich der Heimat<br />

beschäftigt.<br />

Hunderte und Tausende <strong>von</strong> kurdischen ehemaligen<br />

Aktivisten haben heute in dem Sinne keine polische Heimat<br />

mehr. Sie haben sich <strong>von</strong> ihren Organisationen getrennt und<br />

suchen nach neuen Wegen. Durch eine neue Organisation,<br />

die parteipolitisch unabhängig und offen ist, breite Teile der<br />

kurdischen Migranten und Flüchtlinge in ihren Reihen zu<br />

organisieren, könnten neue Horizonte für Kurden entwickelt<br />

werden.<br />

Um diesen zustand zu überwinden muss als erstes eine<br />

Initiativgruppe entstehen, die mit allen politischen<br />

Strömungen aus den vier Teilen Kurdistans Kontakt aufnimmt,<br />

um sie <strong>von</strong> der Notwendigkeit einer gesamtkurdischen<br />

Interessenvertretung in Köln zu überzeugen. Dies ist eine<br />

schwierige Arbeit, die viel Geduld und Geschicklichkeit<br />

erfordert.<br />

Als zweites muss diese Initiativgruppe Gespräche mit ehemaligen<br />

Akteuren, die sich <strong>von</strong> ihren politischen Organisationen<br />

getrennt haben, mit Akademikern, Unternehmern, Arbeitern,<br />

Studenten usw. führen, um die Bereitschaft dieser Kreise<br />

auszuloten.<br />

Wenn in den ersten zwei Punkten ein Konsens gefunden<br />

wird, kann man mit Formalien zur Gründung eines neuen<br />

Vereins oder einer Begegnungsstätte beginnen. Er kann z.B.<br />

„Nûwar-Begegnungsstätte für Kurden in Köln“ heißen. Nûwar<br />

bedeutet „Neue Heimat“.<br />

Diese neuen Begegnungsstätten sollen wie ein städtisch<br />

gefördertes Bürgerzentrum arbeiten und dessen Aufgaben<br />

wahrnehmen. Hierzu zählen u.a.: Sozialberatung,<br />

Hausaufgabenhilfe, Erziehungskurse für Eltern, Jugend- und<br />

Kinderarbeit, Aktivitäten für Frauen, Motivation der<br />

Jugendlichen zur Schule und Ausbildung, Öffentlichkeits- und<br />

Lobbyarbeit, Alphabetisierungs- und Deutschkurse sowie<br />

Integrationsarbeit. Dazu kommen kulturelle Veranstaltungen,<br />

Seminare und politische Aufklärungsarbeit.<br />

Längerfristige Ziele können die Errichtung zweisprachiger -<br />

Deutsch und Kurdisch- Kindergärten wie z.B. bei den<br />

Italienern, Altenheimen, Dokumentationszentren und lokaler<br />

Archive sein. Studienreisen nach Kurdistan, die Beschaffung<br />

<strong>von</strong> Stipendien für kurdische Studenten, die Etablierung<br />

eines Deutsch-Kurdischen Freundschafts-preises für<br />

deutsche Unterstützer der kurdischen Sache, die Einrichtung<br />

eines Sozialfonds für die kurdischen Binnenflüchtlinge und<br />

Armen in Kurdistan müssen auch zu den langfristigen Zielen<br />

der Begegnungsstätte zählen.<br />

-12-<br />

Dieses Pilotprojekt könnte auch für andere Metropolen<br />

Deutschlands als Modell dienen.<br />

Zum Zweiten:<br />

Eine bundesweite Interessenvertretung der Kurden -<br />

Rat der Kurden in Deutschland<br />

Wünschenswert wäre es, wenn alle kurdischen Verbände und<br />

Vereine in Deutschland zusammenkommen könnten.<br />

Unabhängig da<strong>von</strong> können aber andere Formen der<br />

Zusammenarbeit gefunden werden.<br />

Es könnte z.B. ein Rat der Kurden in Deutschland gegründet<br />

werden. In diesem Rat, dessen Ziele und Vorhaben vorher<br />

klar definiert werden müssen, kann <strong>von</strong> allen eingetragenen<br />

lokalen Vereinen jeweils ein/e Vertreter/in Platz finden.<br />

Zusätzlich sollten auch nach einer festgelegten Quote, z.B.<br />

Eindrittel (1/3) Akademiker, Künstler und Intellektuelle die<br />

Möglichkeit haben, mitzuwirken.<br />

Dieser Rat der Kurden mit 99 Mitgliedern oder mehr kann die<br />

Interessen der Kurden in Deutschland nach Außen vertreten<br />

und Öffentlichkeits- sowie Lobbyarbeit betreiben.<br />

Ein Gremium bestehend z.B. aus 11 oder 15 Personen kann<br />

als Geschäftsführung dienen und ein gut funktionierendes<br />

Sekretariat, das professionell und fachlich besetzt ist, die<br />

tägliche Arbeit in enger Zusammenarbeit mit der<br />

Geschäftsführung durchführen.<br />

Die kurdischen politischen Strömungen, die in der Türkei und<br />

Kurdistan in Menschenrechtsvereinen (IHD), in<br />

Gewerkschaften wie KESK und Egitim-Sen mit türkischen<br />

Gruppen zusammenarbeiten, müssen dies auch hier in<br />

Deutschland versuchen, zu verwirklichen.<br />

Um vom Leben nicht bestraft zu werden, müssen wir heute<br />

beginnen, ein solches Projekt in die Tat umzusetzen.<br />

Außerdem dürfen wir nicht vergessen: Auch wenn Kurdistan<br />

befreit wird, werden nur wenige für immer zurückkehren. Die<br />

überwiegende Mehrheit der Kurden wird hier in Deutschland<br />

bleiben. Auch wenn 500 Jahre vergehen, wird es in<br />

Deutschland Spuren der kurdischen Kultur geben.<br />

Auch die Suche und die Diskussionen unter den politisch<br />

heimatlos gewordenen KurdInnen ist als Chance zu betrachten,<br />

um ein solches Vorhaben zu verwirklichen.<br />

Nur durch hartnäckige Arbeit und die Vision einer gesamtkurdischen<br />

Interessenvertretung der Kurden für Politik und<br />

gesellschaftliches Leben in Deutschland, wird das<br />

Engagement der Kurden erhöht und Mitmachinteresse bei<br />

ihnen geweckt.<br />

Wenn die Kurden Menschen aus allen Teilen Kurdistans unter<br />

einem Dach zusammenbringen, in unseren Vereinen und<br />

Organisationen in allen kurdischen Dialekten, wie Kurmanci,<br />

Zazaki und Sorani gesprochen werden und Alte, Frauen,<br />

Männer, Jugendliche und Kinder sich zusammenfinden würden,<br />

könnte eine starke Lobby für die Kurden und Kurdistan<br />

entstehen. Sie könnten Erfolge verbuchen und für die neuen<br />

Generationen eine gute Arbeit hinterlassen. In diesem<br />

Zusammenhang würden alle deutschen Organisationen die<br />

Kurden nicht außer Acht lassen und in jedem ihrer Schritte<br />

die kurdische Lobby beachten.


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

Auswirkungender Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei<br />

auf die Integration der Kurden in Deutschland<br />

Professor <strong>Dr</strong>. Norman Paech, Mitglied des Bundestages – Linksfraktion<br />

Meine Damen und Herren, herzlichen Dank, dass Sie mich<br />

eingeladen haben, heute hier zu sein. Ich freue mich ganz<br />

besonders, Osman Baydemir hier zu sehen, <strong>von</strong> dem ich in<br />

den letzten Wochen und Monaten immer Zweifel hatte,<br />

ob er noch im Bürgermeisteramt oder schon im Gefängnis<br />

sitzt. Ich bin froh darüber, dass dieser Mann, der eine so<br />

große Bedeutung für die kurdische Bevölkerung und für<br />

die kurdische Identität hat, hier unter uns ist. Herzlich<br />

willkommen, ich freue mich sehr.<br />

Ich werde Ihnen nicht viel Neues erzählen<br />

können. Alles was ich zu sagen habe, das<br />

werden Sie schon wissen. Das einzige,<br />

was vielleicht für Sie interessant sein könnte,<br />

ist, eine Stimme aus dem Bundestag<br />

über die Probleme der Integration und<br />

das Zusammenleben mit der kurdischen<br />

Bevölkerung hier zu hören. Aber wie Sie<br />

wissen, auch dies ist nur eine Stimme,<br />

und es ist nicht die Stimme der Mehrheit.<br />

Wenn Sie mich bitten, in einem Satz<br />

zusammenzufassen, wie der Stand der<br />

Integration der Kurden ist, so würde ich<br />

sagen: Die Situation der kurdischen<br />

Bevölkerung in Deutschland pendelt nach<br />

wie vor zwischen Integration und Diskriminierung, auch<br />

nach Jahrzehnten. Hier leben fast 1 Million Kurden, ein<br />

<strong>Dr</strong>ittel dieser Kurdinnen und Kurden haben die deutsche<br />

Staatsangehörigkeit - gegenüber Türken und anderen<br />

Migrantengruppen eine sehr hohe Prozentzahl. Das hängt<br />

wohl auch mit ihrer unglücklichen Geschichte in der Türkei<br />

und den anderen Ländern, aus denen sie zum Teil<br />

geflüchtet und dann hierher gekommen sind, zusammen.<br />

Vielen hier lebenden Kurdinnen und Kurden ist die<br />

Einbürgerung trotz der vielfältigen Hürden gelungen.<br />

Darüber will ich nicht weiter reden.<br />

Ich möchte jedoch etwas zur Diskriminierung sagen, die im<br />

Wesentlichen ein Problem der Selbstbestimmung des kurdischen<br />

Volkes ist, wie es Osman Baydemir auch angesprochen<br />

hat. Es geht um die Anerkennung der kurdischen<br />

Identität; die so heftig erkämpft werden musste und<br />

immer noch erkämpft werden muss, vor allem in der<br />

Türkei. Dieses Problem reicht jedoch herüber bis in unsere<br />

Gesellschaft und ist sehr aktuell. Ich möchte das an zwei<br />

Hauptproblemen verdeutlichen.<br />

Die Kurdinnen und Kurden sind als eigenständige ethnische<br />

Gruppe in Deutschland immer noch nicht anerkannt.<br />

Sie werden entweder als Türken, als Syrer oder Perser<br />

angesehen, aber nicht als Kurdinnen und Kurden. Daraus<br />

Prof. <strong>Dr</strong>. Norman Paech<br />

folgen sehr praktische Grenzen der Integration. Es gibt<br />

keine Beratungs- und Betreuungsmöglichkeiten in kurdischer<br />

Sprache, es gibt keine Möglichkeiten des ergänzenden<br />

Unterrichts an den Schulen in kurdischer Sprache, weil<br />

auch in Deutschland die kurdische Sprache nicht gelehrt<br />

wird. Und das bedeutet, dass das, was in der Türkei nicht<br />

möglich ist, nämlich die kurdische Identität zu leben, die<br />

kurdische Sprache in allen Bereichen, auch politisch und<br />

nicht nur privat, in den Schulen, an den<br />

Universitäten sprechen zu können, auch in<br />

Deutschland nicht möglich ist - bis hin zu<br />

den kurdischen Namen, die bis heute nur<br />

mit viel Mühe durchgesetzt werden können.<br />

Das hängt mit einem zweiten Problem<br />

zusammen, welches ich gerade in meiner<br />

engeren Umgebung ausgesprochen<br />

störend empfinde. Wenn bei uns das<br />

Problem der Kurden angesprochen wird,<br />

kommt sofort die Assoziation mit der PKK<br />

und dann ist die Assoziation mit Terror<br />

nicht weit. Dieses ist leider ein Faktum<br />

unserer Geschichte, welches in weite<br />

Bereiche unserer Gesellschaft, auch unter den<br />

Intellektuellen, hineinreicht. Seit 1993 ist die PKK verboten,<br />

die politische Betätigung eines großen Teils der<br />

kurdischen Bevölkerung ist damit auch in Deutschland<br />

sehr eingeschränkt worden. Es war die Zeit, in der ich zum<br />

ersten Mal mit dem Problem der Kurdinnen und Kurden in<br />

Kontakt gekommen bin.<br />

Ich war damals beim Bundesverwaltungsgericht juristischer<br />

Gutachter der kurdischen Beschwerdeführer gegen das<br />

Betätigungsverbot der PKK. Leider ist das<br />

Bundesverwaltungsgericht meinen Argumenten nicht<br />

gefolgt, sondern hat das Verbot bestätigt, welches bis<br />

heute weiterbesteht. Dieser permanente Terrorverdacht<br />

hat zu einer weit gehenden Kriminalisierung aller hier<br />

lebenden Kurdinnen und Kurden geführt, zu einer Vielzahl<br />

<strong>von</strong> Gerichtsverfahren, und er hat die<br />

Einbürgerungsverfahren sehr viel schwieriger gemacht als<br />

bei anderen Migrantengruppen. Zudem gab es z.B. im<br />

Jahre 2007/2008 insgesamt über 4.500 Widerrufsfälle in<br />

Asylverfahren, bei denen es eine 75 %ige Erfolgsquote<br />

gab, d.h. die Widerrufe der Asylverfahren haben in 75 %<br />

damit geendet, dass Kurdinnen und Kurden in die Türkei<br />

zurück mussten. Zur Begründung wurde auf die<br />

Ausweitung der Minderheitenrechte in der Türkei verwiesen,<br />

insbesondere auf jenes sogenannte Reformpaket<br />

-13-


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

aus dem Jahre 2002, jene Gesetzesreform, die Null-<br />

Toleranz gegen Folter versprach und die Abschaffung der<br />

Staatssicherheitsgerichte verfügte.<br />

In Deutschland werden diese vermeintlichen Reformen als<br />

Erfolge im Kampf um die Gleichberechtigung und das<br />

Selbstbestimmungsrecht der Kurdinnen und Kurden<br />

gefeiert, aber es sind eben doch nur Gesetze, und die zentrale<br />

Frage ist, wie weit sie bisher verwirklicht wurden.<br />

Wenn man sich die Berichte <strong>von</strong> Amnesty International,<br />

<strong>von</strong> Human Rights Watch, vom IHD und <strong>von</strong> anderen<br />

unabhängigen Organisationen ansieht, dann weiß man,<br />

wie es um die Durchsetzung dieser Reformen in der Türkei<br />

tatsächlich steht.<br />

Eine Erklärung dafür, dass auch in Deutschland die<br />

Integration noch mit soviel Diskriminierung der Kurdinnen<br />

und Kurden verbunden ist, sind zweifellos die engen<br />

Beziehungen, die die deutschen Regierungen und die<br />

deutsche Wirtschaft immer mit der Türkei gehabt haben.<br />

Die deutsche Politik folgt weitgehend der türkischen<br />

offiziellen Politik, und hat in der Kurdenfrage nur sehr<br />

wenig eigene Positionen entwickelt und der türkischen<br />

Politik Widerstand entgegengesetzt. Das Verhältnis ist<br />

allerdings sehr ambivalent; es ist bekannt, dass sich seit<br />

den Diskussionen um den Beitritt zur EU die Haltung auch<br />

innerhalb Deutschlands außerordentlich differenziert hat.<br />

Es gibt zwar keine klare Absage an den EU-Beitritt, es gibt<br />

aber auch keine eindeutige Befürwortung. Wir wissen,<br />

dass die CDU/CSU sehr starke Ablehnungsreflexe hat. Nur<br />

nebenbei bemerkt: deutsche Regierungen hatten nie<br />

Schwierigkeiten, wenn es um die Kooperation mit den<br />

Militärdiktaturen in der Türkei ging und auch die Nato<br />

hatte keine Probleme, die Türkei in ihren Rahmen zu integrieren.<br />

Die Menschenrechte spielten keine Rolle, es<br />

spielte auch die kurdische Frage nie eine Rolle. Das einzig<br />

Relevante war die strategische Option, die man seinerzeit<br />

mit der Türkei gegenüber der Sowjetunion und dem ölreichen<br />

Mittleren Osten verfolgte. Und das ist wohl auch<br />

heute noch so.<br />

Gerade heute hat Cem Özdemir, der Parteivorsitzende der<br />

Grünen, laut einem Zeitungsbericht gesagt, dass die Türkei<br />

aufgrund der schlechten Menschenrechtslage noch nicht<br />

reif für die EU sei. Das ist wahrscheinlich richtig, da es<br />

noch eines längeren Prozesses zur Verbesserung der<br />

Menschenrechte bedarf. Doch darum geht es der<br />

offiziellen Politik in Europa gar nicht in erster Linie. Wenn<br />

man sich die Diskussion genauer ansieht, so ist die Frage<br />

des EU- Beitritts schon länger eine strittige Frage, bei der<br />

es um andere, sehr viel wichtigere Fragen geht: um die<br />

geostrategische Position, die die Türkei für uns nicht nur<br />

im Rahmen der NATO, sondern auch in der EU einnimmt.<br />

Ich möchte das mit drei Zitaten deutlich machen. Schon<br />

2004 hat der Sozialdemokrat Michel Rochard, der im<br />

Auswärtigen Ausschuss des Europaparlaments sitzt, sehr<br />

deutlich das Problem in einem kurzen Satz auf den Punkt<br />

gebracht: „Lassen Sie uns nicht soviel <strong>von</strong><br />

Menschenrechten reden, lassen Sie uns über das reden,<br />

-14-<br />

um was es geht, um Geopolitik“; und auch Günter<br />

Verheugen [SPD; Vizepräsident der Europäischen<br />

<strong>Kom</strong>mission], hat es sehr deutlich gesagt: „Der Beitritt der<br />

Türkei würde Europa, ob Europa das will oder nicht, zu<br />

einem weltpolitischen Akteur ersten Ranges machen, wir<br />

müssten bis dahin in der Lage sein, eine gemeinsame<br />

Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln, die diesen<br />

Namen auch verdient.“ Von Menschenrechten ist da nicht<br />

die Rede. Auch die EU-<strong>Kom</strong>mission hat sehr deutlich<br />

gesagt, worum es bei der Frage des Beitritts und des<br />

Verhältnisses der europäischen Staaten, nicht nur<br />

Deutschlands, zur Türkei geht. Um den EU-Beitritt der<br />

Türkei plausibel zu machen, hat die <strong>Kom</strong>mission ein<br />

Arbeitspapier entwickelt, in dem zu lesen ist: „Die Türkei<br />

ist ein strategisch wichtiges Land. Der Beitritt der Türkei<br />

würde der EU helfen, die Energieversorgungsrouten besser<br />

zu sichern. Im Hinblick auf Zentralasien könnte die<br />

Türkei den politischen Einfluss in dieser Region kanalisieren<br />

helfen. Die Türkei hätte bei der Sicherung der<br />

Energieversorgung einer erweiterten EU eine wichtige<br />

Rolle zu spielen, da vor ihren Grenzen die energiereichsten<br />

Regionen der Erde liegen.<br />

Der türkische Beitritt könnte helfen, den Zugang zu diesen<br />

Ressourcen und ihre sichere Verbringung in den EU<br />

Binnenmarkt zu gewährleisten.“ Und dann kommt auch<br />

noch das, was historisch seit langem eine zentrale Rolle in<br />

dem Verhältnis Deutschlands zur Türkei spielt - nämlich<br />

die militärpolitische Option. Dazu heißt es weiter in dem<br />

Arbeitspapier: „Dank ihrer hohen Militärausgaben und<br />

ihres großen Streitkräftekontingents ist die Türkei in der<br />

Lage, einen bedeutenden Beitrag zur Sicherheit und<br />

Verteidigung der EU zu leisten.“<br />

Darum geht es! Die Beziehungen zur Türkei sind alt und<br />

lang und sehr erfolgreich; und sie begannen im<br />

Wesentlichen mit einer militärpolitischen Kooperation.<br />

Nur ganz kurz zur Erinnerung: Schon 1882 kam eine<br />

Anfrage aus dem Osmanischen Reich, <strong>von</strong> Sultan<br />

Abdulhamid II, nach militärischer Beratung. Darauf wurde<br />

der deutsche General Otto Kehler vom preußischen<br />

Offizier Graf <strong>von</strong> Moltke in den Stab des türkischen<br />

Militärs als Berater entsandt. Damit begann auch der erste<br />

Kontakt meiner Familie - dieses nur nebenbei - mit dem<br />

Osmanischen Reich. Ein Vorfahre meiner Familie war zur<br />

osmanischen Zeit als Arzt in Istanbul tätig. Als er<br />

schließlich nach Berlin zurückkehrte, bekam er zum<br />

Abschied einen Orden, dessen Inschrift er in Berlin entziffern<br />

ließ. Auf dem Orden stand: „Tod allen Christen-<br />

Hunden“.<br />

Seitdem hat sich die Situation zweifellos verändert, nur<br />

eines nicht: Die militärpolitischen und auch die<br />

Rüstungsbeziehung sind nach wie vor der Kern der<br />

Beziehung zwischen Deutschland und der Türkei. Das sind<br />

- ich habe das einmal durchgesehen - Beträge zwischen<br />

100 Millionen und über 350 Millionen Euro pro Jahr. Es<br />

geht um Kampfhaubitzen, Logistik und das sind 298


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

Exemplare des Leopard II. Das heißt. Es gibt eine ausgesprochen<br />

erfolgreiche militärische Kooperation, die<br />

sowohl den Ausbildungsbereich wie den Bereich der<br />

Panzer und der technischen Ausrüstung umfasst. Das ist<br />

das Erste.<br />

Das Zweite ist die wirtschaftliche Kooperation, dazu<br />

brauche ich ihnen nicht viel zu sagen. Auch sie ist außerordentlich<br />

erfolgreich. Deutschland ist der größte<br />

Handelspartner der Türkei; und zwar nicht nur im klassischen<br />

Bereich <strong>von</strong> Maschinen, der Zulieferindustrien,<br />

Dienstleistung oder des Tourismus, sondern bis hinein in<br />

die Textilindustrie, und vor allem jetzt die Logistik-,<br />

Transport- und Umwelttechnik. Weit über 2.000<br />

Unternehmen produzieren in der Türkei, haben dort ihre<br />

Standorte, dort werden die Produkte hergestellt und das<br />

ist eine ungeheuer enge Klammer. Wie lange hat es<br />

gedauert, bis endlich auch die deutsche Regierung Distanz<br />

zum Ilisu-Staudamm gezeigt hat! Das war ein langer<br />

Kampf, bei dem erst eine außerordentlich gute<br />

Zusammenarbeit zwischen den<br />

Nichtregierungsorganisationen in Hasankeyf und<br />

deutschen Nichtregierungsorganisationen dazu geführt<br />

hat, dass dieses Projekt nun, zumindest vorläufig, scheitern<br />

musste.<br />

Mit einem Satz: Wir haben militärpolitisch und wirtschaftspolitisch<br />

die engsten Verbindungen zur Türkei und darin<br />

liegt begründet, dass wir auch politisch mit den<br />

Problemen in der Türkei konfrontiert werden. Das ist zwar<br />

auch die unzureichende Menschenrechtslage, im<br />

Wesentlichen ist das aber die kurdische Frage, mit der wir<br />

uns auseinanderzusetzen haben. Unsere Regierungen<br />

haben immer nur sehr vorsichtige Kritik an der Türkei im<br />

Rahmen der EU geübt, z.B. zu Folter usw., die es ja leider<br />

immer noch gibt. Sie müssen das mit den Reaktionen vergleichen,<br />

wenn hier zu den Uiguren oder zu den<br />

Tschetschenen Stellung genommen wird. Da ist die Kritik<br />

sehr viel deutlicher als im Fall der Türkei, und das, obwohl<br />

die Türkei regelmäßig vom Europäischen Gerichtshof für<br />

Menschenrechte wegen grober Verstöße gegen die<br />

Europäische Menschenrechtscharta verurteilt wird. Es gibt<br />

zudem eine enge deutsch-türkische Zusammenarbeit im<br />

Bereich der inneren Sicherheit. Ich erinnere sie nur an das<br />

Jahr 2003/2004, als der damalige Innenminister Otto<br />

Schily mit der Türkei ein Abkommen über die<br />

Zusammenarbeit zur Bekämpfung <strong>von</strong> Straftaten <strong>von</strong><br />

erheblicher Bedeutung, insbesondere Terrorismus und<br />

organisierte Kriminalität, abschloss. Im selben Jahr wurde<br />

dann einerseits Metin Kaplan abgeschoben, andererseits<br />

stufte der Bundesgerichtshof – bis in die obersten Gerichte<br />

reichte diese Politik – die Führungsebene der PKK als kriminelle<br />

Vereinigung ein. Sie bilden bis heute die Grundlage<br />

für die Diskriminierung politischer Tätigkeiten und politischer<br />

Organisationen in diesem Land.<br />

Bevor ich schließe will ich doch kurz fragen, was daraus<br />

folgt, vor allem für unsere politische Arbeit. Es gibt eine<br />

große türkische national gesinnte Lobby. Es gibt einen sehr<br />

starken Einfluss türkischer Kräfte auf die deutsche<br />

Regierung, um insbesondere die kurdische Frage nicht<br />

anders zu behandeln, als sie in der Türkei aktuell behandelt<br />

wird. Demgegenüber bin ich der Überzeugung, dass<br />

wir diese Politik ändern müssen - und das ist es auch, was<br />

wir immer wieder fordern. Ich will sie auf zwei zentrale<br />

Forderungen begrenzen.<br />

Die erste ist, dass Kurdinnen und Kurden als eine eigenständige<br />

Migrantengruppe anerkannt werden müssen.<br />

Wenn es möglich ist, dass die kurdische Identität voll<br />

anerkannt wird, dann werden viele Folgeprojekte entstehen<br />

können, viele Diskriminierungen aufgehoben werden<br />

und eine Gleichstellung mit anderen Migrantengruppen<br />

möglich werden. Das, was Herr Momper als Ziel vollständiger<br />

Integration angesprochen hat, hat zur<br />

Voraussetzung, dass die Kurdinnen und Kurden als selbstständige<br />

Migrantengruppe anerkannt werden. Aber nicht<br />

nur das. Eine zweite Forderung möchte ich anfügen. Ich<br />

bin der Überzeugung, dass das Betätigungsverbot der PKK<br />

aufgehoben werden muss.<br />

Ich weiß, dass es auch in diesem Kreis sehr viele unterschiedliche<br />

Positionen zur PKK gibt. Man darf aber ihre<br />

Bedeutung bei der Identitätsfindung des kurdischen<br />

Volkes und bei den vergangenen Kämpfen nicht vernachlässigen<br />

und unterschätzen. Sie ist ein politischer Faktor,<br />

der nicht hinter Gefängnismauern abgeschlossen und<br />

nicht illegalisiert werden darf. Und dann will ich eine dritte<br />

Forderung hinzufügen:<br />

Es ist eine Unmöglichkeit, einen Mann wie Öcalan hinter<br />

Gitter zu bringen, zu isolieren und <strong>von</strong> einem Prozess<br />

auszuschließen, zu dem er soviel beigetragen hat - nämlich<br />

die Demokratisierung der Türkei mit voranzubringen. Er<br />

ist nach wie vor eine wichtige und zentrale Person, die für<br />

die Lösung der kurdischen Frage <strong>von</strong> großer Bedeutung ist,<br />

zur Lösung einer Frage, in der es um das demokratische<br />

und friedliche Zusammenleben des türkischen Volkes und<br />

des kurdischen Volkes und aller anderen ethnischen und<br />

kulturellen Gruppen in der Türkei und auch hier in<br />

Deutschland geht.<br />

-15-


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

Bestandsaufnahme und Vorschläge für die Gleichstellung<br />

der Kurden mit anderen Migrantengruppen<br />

<strong>Dr</strong>. Zaradachet Hajo, Vorsitzender des Kurdischen P.E.N<br />

Ich freue mich sehr über das Zustandekommen dieser<br />

Konferenz, sie ist in ihrer Zielsetzung längst überfällig. Im<br />

Interesse <strong>von</strong> einer Million hier in Deutschland lebenden<br />

Kurden würde ich es sehr begrüßen, wenn die hier diskutierten<br />

Themen und Ergebnisse auch endlich in die<br />

deutsche Politik einfließen und umgesetzt werden würden.<br />

Das Kurdische PEN-Zentrum, dessen Vorsitzender ich seit<br />

einigen Jahren bin, ist ein wichtiges Rad im kurdischen<br />

Kulturbetrieb, zumal es auch international tätig ist. Es<br />

sieht sich sowohl als Diskussionsforum für die in der<br />

Heimat lebenden Kurden als auch für diejenigen, die im<br />

Exil leben. Da viele unserer Mitglieder in<br />

Deutschland zu Hause sind, so wie ich selbst<br />

auch seit langer Zeit, ist uns die<br />

Verbindung zur deutschen Kultur und<br />

Literatur besonders wichtig. So pflegen wir<br />

ausgezeichnete Verbindungen zu<br />

deutschen Literaten, die diesen<br />

Kulturaustausch ebenfalls sehr schätzen.<br />

Ein solches Verhältnis wünsche ich mir auch<br />

für meine Landsleute, die hier teilweise seit<br />

sehr langer Zeit leben, aber immer noch<br />

nicht hier angekommen sind. Und das nicht<br />

nur zu ihrem Schaden, sondern auch insbesondere<br />

zum Schaden dieses Landes. Das<br />

liegt nicht nur an den sehr spät erfolgten<br />

Integrationsmaßnahmen der deutschen<br />

Regierung, sondern auch insbesondere<br />

daran, dass man speziell die kurdische<br />

Minderheit in Deutschland in ihren kulturellen<br />

Bedürfnissen nicht anerkennt. Es ist sehr wichtig,<br />

dass seit 2005 Integrationskurse zur Erlernung der<br />

deutschen Sprache und andere integrative Maßnahmen<br />

mit großem Erfolg durchgeführt werden, aber mindestens<br />

genau so wichtig ist es, dass man die <strong>Kom</strong>petenzen, die<br />

Einwanderer mitbringen, zu schätzen lernt. Diese<br />

<strong>Kom</strong>petenzen sind natürlich die erlernten Berufe und<br />

Fähigkeiten, aber auch Sprache und Kultur des<br />

Herkunftslandes.<br />

Sprache ist nicht nur Ausdruck <strong>von</strong> Kultur und Heimat, sie<br />

ist das entscheidende Merkmal für die Definition der eigenen<br />

Identität, denn sie ist der Schlüssel zu all dem, was wir<br />

unter Kultur verstehen. Sie ist der wichtigste Teil der individuellen,<br />

regionalen, ethnischen und nationalen Identität<br />

und als solche nicht nur maßgeblich für das Überleben<br />

eines Volkes, sondern prägend für die persönliche<br />

Entwicklung eines Menschen. Ohne sprachliche<br />

<strong>Kom</strong>petenz in der Muttersprache ist man <strong>von</strong> der<br />

Erfahrung seiner eigenen Kultur abgeschlossen und in<br />

seiner persönlichen Entwicklung massiv behindert.<br />

-16-<br />

Insofern dient der muttersprachliche Unterricht der emotionalen,<br />

gesellschaftlichen und kognitiven Entwicklung<br />

eines Kindes, kurz gesagt, dem Kindwohl, das in dieser<br />

Gesellschaft ein wichtiger Wert ist bzw. sein sollte.<br />

Im Vergleich zu anderen in Deutschland lebenden<br />

Migrantengruppen kommt bei den Kurden erschwerend<br />

hinzu, dass sie auch in den Staaten, aus denen sie nach<br />

Deutschland immigrierten, ihrer kulturellen Rechte<br />

beraubt waren. Viele Kurden und Kurdinnen können<br />

weder in der Heimat noch im Exil <strong>von</strong> ihrer Sprache<br />

Gebrauch machen, ohne dabei massiven Repressalien<br />

oder einer politischen Ignoranz ihrer sprachlichen<br />

Bedürfnisse ausgesetzt zu sein. Die meisten<br />

der etwa 40 Millionen Kurden,<br />

aufgeteilt auf die 4 Staaten, die Kurdistan<br />

besetzt halten, Türkei, Iran, Irak und<br />

Syrien, im europäischen Exil oder in einigen<br />

Staaten der ehemaligen<br />

Sowjetunion lebend, haben nicht die<br />

Möglichkeit, in ihrer Muttersprache<br />

Lesen und Schreiben zu lernen. Es gibt<br />

keinen kurdischen Schulunterricht in der<br />

Türkei, Syrien oder im Iran – nur im Irak<br />

in der föderalen Region Kurdistan.<br />

Jeder <strong>von</strong> Ihnen kann sich vorstellen,<br />

dass es extrem demotivierend ist, wenn<br />

man im Aufnahme- bzw. Schutzland<br />

Deutschland dieselbe Situation vorfindet:<br />

Auch hier wird die eigene<br />

Muttersprache und damit auch die<br />

Kultur, der man angehört, nicht wertgeschätzt, sondern<br />

wenn überhaupt die Sprache des (Unterdrücker)Staates,<br />

beispielsweise Türkisch, Persisch oder Arabisch. Lassen<br />

Sie mich in Bezug auf die kulturelle Entfaltung und den<br />

muttersprachlichen Unterricht der kurdischen Minderheit<br />

in Deutschland eine kurze Bestandsaufnahme machen.<br />

<strong>Dr</strong>. Zaradachet Hajo<br />

Zunächst einmal zum Thema der Entwicklung und Pflege<br />

der kurdischen Kultur in Deutschland:<br />

Es ist festzustellen, dass sie weder in der Vergangenheit<br />

noch aktuell eine wesentliche staatliche Unterstützung<br />

erfahren hat, nicht durch den deutschen Staat und schon<br />

gar nicht durch die Staaten, aus denen Kurden stammen.<br />

Alles, was hier an kulturellen Aktivitäten stattfindet,<br />

geschieht durch die zahlreichen in Deutschland vertretenen<br />

kurdischen Vereine und genießt zum überwiegenden<br />

Teil keine staatliche Unterstützung. Orientiert man sich an<br />

Kultursubventionen für Theater, Literatur, Musik etc. in<br />

Deutschland bzw. für deutsche Sprache und Kultur im<br />

Ausland, müsste das kulturelle Erbe der hier lebenden


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

Kurden schon unrettbar verloren sein.<br />

Dass es das bisher nicht ist, liegt zum einen an der großen<br />

Wertschätzung, die insbesondere Literatur und Musik in<br />

der kurdischen Gesellschaft genießt und die in vielen<br />

Familien durch Feste und Feierlichkeiten mit mündlich<br />

überlieferten Geschichten, Gedichten und Lieder gelebt<br />

wird, und zum anderen am großen Engagement der hier in<br />

Deutschland tätigen kurdischen Kulturvereine. Die Rolle<br />

der Staaten, aus denen die Kurden stammen, die in<br />

Deutschland leben, ist hinsichtlich der Kulturförderung<br />

eher negativ zu sehen als dass sie in irgendeiner Weise<br />

unterstützend wirken würden.<br />

Die meisten hier lebenden Kurden stammen aus der<br />

Türkei. Zwar gibt es zahlreiche türkische Kulturvereine in<br />

Deutschland, die aber absolut kein Interesse an der kurdischen<br />

Kultur und Sprache haben. Im Gegenteil: Viele<br />

dieser türkischen Organisationen sind entweder religiös<br />

oder extrem nationalistisch ausgerichtet wie beispielsweise<br />

der Türkische Kulturverein in Köln, der <strong>von</strong> den<br />

ultra-rechten „Grauen Wölfen“ dominiert wird. Diese<br />

Vereine behindern kurdische Kulturaktivitäten in<br />

Deutschland massiv. Das geht <strong>von</strong> Störungen der Internet-<br />

Seiten kurdischer Vereine über Beschimpfungen und<br />

Schmähungen bis zu Handgreiflichkeiten und politische<br />

Interventionen. Das haben wir als Kurdisches PEN-<br />

Zentrum bereits mehrfach erlebt, zuletzt auf der<br />

Frankfurter Buchmesse gegen unseren dort vertretenen<br />

Stand, als türkische Nationalisten versuchten, handgreiflich<br />

gegen unsere Mitglieder vorzugehen.<br />

Auch türkische Konsulate versuchen regelmäßig, kurdische<br />

Aktivitäten in Schule und Gesellschaft zu verhindern<br />

und in vielen Fällen gelingt es ihnen auch, weil sie über<br />

weitreichende Verbindungen in der deutschen<br />

Gesellschaft verfügen.<br />

Selbst wenn es für die Kurden in der Türkei künftig erhebliche<br />

Verbesserungen hinsichtlich Sprache und Kultur<br />

geben sollte, sehe ich ein türkisches Kulturinstitut, das<br />

allen Ethnien, Sprachen und Kulturen gerecht wird, die in<br />

der Türkei beheimatet sind, noch in weiter Ferne. Die<br />

Tendenz ist eher so, dass der türkische Staat sich offiziell<br />

in Sachen Kultur in Deutschland zurückhält und die<br />

zumeist sehr einseitig nationalistisch ausgerichteten<br />

Kulturvereine gewähren lässt bzw. unterstützt: Eine insgesamt<br />

nicht sehr hoffnungsfrohe Perspektive.<br />

Nun zum muttersprachlichen Unterricht Kurdisch:<br />

Wie Sie vielleicht wissen werden, war ich selbst aktiv an<br />

der Entwicklung des muttersprachlichen Unterrichts<br />

Kurdisch in Bremen beteiligt, dem ersten Bundesland, das<br />

diesen Unterricht 1993 zugelassen hat. Zuvor gab es in<br />

Deutschland überwiegend eine Haltung, die auf die<br />

Beschlüsse der Kultusministerkonferenz aus dem Jahre<br />

1976 zurückzuführen war: Ausländische Kinder sollten in<br />

den Schulen sowohl in Deutsch als auch in der Sprache des<br />

Herkunftsstaates unterrichtet werden. Teilweise wurden<br />

zu diesem Zweck auch bilaterale Abkommen mit den jeweiligen<br />

Konsulaten geschlossen.<br />

Ausschlaggebend für diesen Beschluss waren ausschließlich<br />

staatliche Interessen: Einerseits die<br />

Eingliederung der Kinder in die deutsche Gesellschaft<br />

durch Deutschunterricht, andererseits die Unterrichtung<br />

der Sprache des Herkunftsstaates, um die<br />

„Rückkehrfähigkeit“ der Kinder beizubehalten. Die<br />

Interessen der Migranten wurden dabei nicht berücksichtigt.<br />

Insbesondere bei kurdischen Kindern kam es zu<br />

Fehleinschätzungen mit fatalen Folgen. Die kurdische<br />

Muttersprache der Kinder spielte keine Rolle, sie war, da<br />

keine Staatssprache, eine sogenannte „Nichtsprache“.<br />

Für die kurdischen Kinder, die mit der neuen Situation in<br />

Deutschland ohnehin überfordert waren, bedeutete das,<br />

dass sie noch eine völlig fremde Sprache, Türkisch lernen<br />

sollten, die sie bisher nur ansatzweise oder gar nicht<br />

beherrschten und die auch nicht ihr Lebensgefühl und ihr<br />

Kulturverständnis ausdrückte. Die Leistungen im Türkisch-<br />

Unterricht waren dann auch oft entsprechend schlecht<br />

und es wurde eine negative Schulprognose abgegeben.<br />

Das Ergebnis war, dass selbst sehr intelligente Kinder in die<br />

Förderschule bzw. Hauptschule empfohlen wurden. Da die<br />

Eltern meistens nicht in der Lage waren, Widerstand zu<br />

leisten, war der schulische Misserfolg programmiert.<br />

Auch die Inhalte des Unterrichts wurden nicht <strong>von</strong> den<br />

deutschen Schulbehörden, sondern <strong>von</strong> den Konsulaten<br />

vorgegeben. Dass die damals getroffene Auswahl der<br />

türkischen Konsulate für kurdische Kinder eher nicht<br />

förderlich war, muss ich nicht näher ausführen. Viele<br />

Familien, die vor der Unterdrückung staatlicher türkischer<br />

Stellen geflohen, ja möglicherweise durch staatliche Übergriffe<br />

traumatisiert waren, sahen sich in ihrem Schutzland<br />

wieder <strong>von</strong> der türkischen Staatsmacht in der schulischen<br />

Förderung ihrer Kinder bestimmt. Eine wirklich fatale<br />

Situation und ein politischer Zynismus, wenn man<br />

bedenkt, dass die Praxis ihrer Unterdrücker - die ausschließliche<br />

Geltung und Unterrichtung der türkischen<br />

Sprache - im Exil fortgesetzt wird. Vertrauen in die<br />

Aufnahmegesellschaft wird so nicht gefördert.<br />

Diese Situation führte dazu, dass ab 1980 <strong>von</strong> zahlreichen<br />

kurdischen Vereinen ein muttersprachlicher Unterricht<br />

Kurdisch gefordert wurde. Allerdings fand erst in den 90er<br />

Jahren ein Umdenken in dieser Sache statt:<br />

Man stellte fest, dass sich die Kinder trotz der erhofften<br />

„Rückkehrfähigkeit“ <strong>von</strong> den Werten und Normen des<br />

Herkunftsstaates entfernt hatten und gleichwohl nicht in<br />

dem Wertesystem der Bundesrepublik Deutschland<br />

angekommen waren. Viele Migrantenkinder hatten massive<br />

Lern- und Sozialisationsprobleme. Erst durch ein<br />

Memorandum, in dem sich alle Migrantengruppen unter<br />

dem Dach der Bundesarbeitsgemeinschaft der<br />

-17-


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

Immigrantenverbände (BAGIV) zu Wort gemeldet hatten,<br />

entstand zumindest in einigen Bundesländern ein<br />

Umdenken.<br />

Durch das besondere Engagement <strong>von</strong> Frau Y<strong>von</strong>ne Müller<br />

begann in Bremen als erstem Bundesland im Februar 1993<br />

an zwei Schulen der muttersprachliche Unterricht<br />

Kurdisch-MU. Es folgten 1994 Hamburg, 1995<br />

Niedersachsen und 1996 NRW. Zurzeit sieht die Situation<br />

so aus:<br />

In Bremen sind nach wie vor zwei Lehrer beschäftigt, die<br />

insgesamt ca. 200 Schüler unterrichten. In Hamburg ist die<br />

personelle Situation etwas besser, Auf vier Lehrer kommen<br />

etwa 130 Schüler. In den Flächenländern NRW sind acht<br />

Lehrer für ca. 490 kurdische Schüler angestellt und in<br />

Niedersachsen unterrichtet die gleiche Anzahl an Lehrern,<br />

ebenfalls acht, 560 Schüler. Erwähnen möchte ich noch,<br />

dass in Hessen ein Lehrer an einer einzigen Schule 20<br />

Schüler unterrichtet. In allen anderen Bundesländern gibt<br />

es keinen muttersprachlichen Unterricht für kurdische<br />

Kinder.<br />

Das ist, da werden Sie mir Recht geben, im Hinblick auf die<br />

Zahl an schulpflichtigen Kindern mit kurdischem<br />

Migrationshintergrund nur der Tropfen auf den bekannten<br />

heißen Stein.<br />

Ziel des MUK war und ist, die Schüler zur <strong>Kom</strong>munikation<br />

innerhalb der eigenen ethnischen Gruppe zu befähigen,<br />

ihnen, was aus meiner Sicht noch wichtiger ist, den Zugang<br />

zur eigenen Kultur und auch zur weiteren Entwicklung im<br />

Heimatland zu ermöglichen und sie die ihre nationalen<br />

Eigenschaften im Vergleich zur deutschen Kultur und<br />

Gesellschaft verstehen zu lassen.<br />

Der muttersprachliche Unterricht Kurdisch ist dort, wo er<br />

praktiziert wird, erfolgreich, trotz der Tatsache, dass er nur<br />

in den regional unterschiedlichen kurdischen Dialekten<br />

erfolgen kann, gleichwohl leider, wie die genannten<br />

Zahlen belegen, in Deutschland kein Erfolgsmodell.<br />

Bedenkt man, dass vom Beginn des MUK in Bremen 1993<br />

jetzt 16 Jahre liegen, kann die Umsetzung nicht zufriedenstellen.<br />

In manchen Bundesländern fehlt der politische<br />

Wille, obwohl immer deutlicher wird, dass Jugendliche mit<br />

Migrationshintergrund generell und kurdische Jugendliche<br />

nicht nur in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt - im<br />

Vergleich zu deutschen Jugendlichen - die klaren Verlierer<br />

sind, sondern sich auch zunehmend <strong>von</strong> den Werten und<br />

Grundsätzen der deutschen Gesellschaft abwenden. Es ist<br />

ein politisches Zeichen der Nichtachtung <strong>von</strong> Sprache und<br />

Kultur einer Million kurdischstämmiger Bürger in<br />

Deutschland, wenn nicht weitergehende Maßnahmen zur<br />

Förderung <strong>von</strong> Sprache und Kultur der Kurden getroffen<br />

werden.<br />

Meinen Vortrag beenden möchte ich mit der Feststellung,<br />

dass auch für die Erforschung der kurdischen Sprache bish-<br />

-18-<br />

er nicht viel getan wurde: Nach wie vor gibt es in<br />

Deutschland keinen Lehrstuhl für Kurdologie, obwohl die<br />

Kurden nach den Arabern, Türken und Persern das viertgrößte<br />

Volk im Nahen Osten sind und die kurdische<br />

Sprache <strong>von</strong> der zweitgrößten Minderheit in Deutschland<br />

gesprochen wird. Auch das ist eine Fortsetzung dessen,<br />

was in den Besatzerstaaten Kurdistans an der<br />

Tagesordnung ist. Es wird keine wissenschaftliche<br />

Erforschung der kurdischen Sprache zugelassen, weder an<br />

Universitäten noch an Instituten.<br />

Traurige Tatsache ist, dass es zu Ende des 19.<br />

Jahrhunderts, als vielen Kurden Europa fast völlig<br />

unbekannt war, man sich in Europa weit intensiver mit der<br />

kurdischen Sprache auseinander gesetzt hat als heutzutage.<br />

Ich möchte auf den Beginn meiner Ausführungen zurückkommen:<br />

Diese Konferenz ist sehr wichtig und ich hoffe<br />

sehr, dass im Zeichen eines endlich begonnenen interkulturellen<br />

Dialoges der kurdischen Kultur und Sprache, die<br />

auch in Deutschland zu Hause ist, endlich mehr<br />

Aufmerksamkeit geschenkt wird.<br />

Ich bedanke mich bei den Veranstaltern für die geleistete<br />

Arbeit als auch bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

Die Diskussionen über die<br />

Migrationspolitik in<br />

Bundesrepublik Deutschland<br />

haben heute eine andere<br />

Dimension als vor 20 Jahren. Sie<br />

bewegt sich zwischen Öffnung und<br />

Abwehr. Erst Mitte 70er Jahre<br />

begann die Auseinandersetzung<br />

um die soziale Integration der hier<br />

lebenden Migrantinnen und<br />

Hamide Akbayir<br />

Migranten. Die Politik hat endlich<br />

verstanden, dass Deutschland ein<br />

Einwanderungsland ist und Integration ein langfristiger<br />

Prozess ist. Staat und Parteien haben sogar die Pflicht,<br />

diesen Prozess aus dem Alltagshandeln ins öffentliche<br />

Bewusstsein zu tragen. Die Integration erfordert nämlich<br />

eine Interaktion zwischen der Aufnahmegesellschaft und<br />

den MigrantInnen.<br />

Obwohl für die meisten MigrantInnen Deutschland zum<br />

realen Mittelpunkt geworden ist, lässt die Frage der<br />

sozialen Partizipation noch zu wünschen übrig. Mit der<br />

Debatte um das Staatsangehörigkeitsrecht bekam die<br />

Integrationspolitik einen neuen Aspekt. Sie führte zum<br />

Anstieg der Einbürgerungszahlen, vor allem der Kurdinnen<br />

und Kurden.<br />

Wie bekannt, stellen Kurdinnen und Kurden mit ca<br />

800.000 Menschen die zweitgrößte Zuwanderungsgruppe<br />

in Deutschland dar. Anders als die anderen<br />

MigrantInnengruppen, haben sie mehrfache<br />

Migrationsgründe - Krieg, Unterdrückung und Zerstörung<br />

<strong>von</strong> Dörfern und Umwelt sind einige da<strong>von</strong>. Vor allem<br />

Frauen und Kinder sind hier<strong>von</strong> betroffen. Die spezifischen<br />

Fluchtursachen der Frauen werden immer noch nicht<br />

anerkannt.<br />

Die Integration der kurdischen Frauen kann im<br />

Zusammenhang mit der aktuellen Migrations- und<br />

Integrationpolitik behandelt werden. Integration ist ein<br />

komplexes Zusammenspiel politischer, sozialer und kultureller<br />

<strong>Kom</strong>ponenten. Häufig aber ist die Debatte<br />

hierüber einseitig ausgerichtet. Der Fokus liegt zu sehr auf<br />

der Religion – dem Islam - und der besonderen Stellung<br />

der Frauen im Kontext des Integrationsprozesses. Dies<br />

beeinflusst auch die Situation der kurdischen Frauen. Ihre<br />

Migrationsgründe, Lebenssituation und ihre Perspektiven<br />

sind vielfältig. Sie werden in der Öffentlichkeit häufig nicht<br />

wahrgenommen oder pauschal Kategorien wie “Islam,<br />

Ehrenmorde, Zwangsverheiratung“ zugeordnet.<br />

Es ist ein schwieriges Kapitel, über die Integration <strong>von</strong><br />

Menschen mit Migrationshintergrund, insbesondere die<br />

<strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> Hamide Akbayir<br />

Hamide Akbayir, CENÎ - Kurdisches Frauenbüro für Frieden, Düsseldorf<br />

der kurdischen Frauen zu diskutieren. Es bedarf einer<br />

intensiven Auseinandersetzung mit der Lebensweise kurdischer<br />

Frauen, um ihre Integrationsprobleme zu verstehen.<br />

Die patriarchalischen Systeme haben stark dazu<br />

beigetragen, dass sich die Kurdinnen in allen<br />

Lebensbereichen nicht entwickeln konnten. Ein großer Teil<br />

dieser Frauen lebt auch in Deutschland. Deshalb müssen<br />

wir ihren Lebensalltag näher beleuchten und ihrer<br />

Positionierung in Bezug auf Tradition, Emanzipation und<br />

Integration nachgehen. Gibt man ihnen ausreichend<br />

Gelegenheit, sich mit ihrer Identätit darzustellen und<br />

bringt ihnen Interesse und Verständnis entgegen, können<br />

sie sich öffnen und integrieren.<br />

Kurdinnen und Kurden sind seit Jahrhunderten Opfer <strong>von</strong><br />

Kriegen, nationalistischen und rückständigen Systemen<br />

gewesen. Ihre Identität wird bis heute geleugnet. Auch in<br />

Deutschland muss diese Frage auf breiter Ebene diskutiert<br />

werden. Die herrschende Politik in Deutschland<br />

gegenüber den Kurdinnen und Kurden erschwert auch die<br />

Integration der kurdischen Frauen, weil sie sich als ein Teil<br />

dieser Politik verstehen. Aus diesem Grund muss das auch<br />

im Zusammenhang mit den Repressionen gegen die<br />

Kurdinnen und Kurden insgesamt behandelt werden. Die<br />

Frau sieht nämlich ihre eigene Integration in der Lösung<br />

der kurdischen Frage, auch in Deutschland. Integration<br />

beginnt mit Anerkennung, Chancengleichheit und<br />

Dialogbereitschaft. Solange die Möglichkeiten der<br />

Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben<br />

nicht gewährleistet sind, können wir nicht <strong>von</strong> einer echten<br />

Integration der MigrantInnen, der Kurdinnen,<br />

sprechen.<br />

Der Begriff Integration ist kein fester Begriff, er muss je<br />

nach den Lebensumständen insbesondere für die kurdischen<br />

Frauen immer wieder neu definiert werden.<br />

-19-


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

Guten Tag. Ich bin <strong>Gisela</strong> <strong>Penteker</strong>,<br />

Landärztin in Niedersachsen. Ich<br />

engagiere mich bei der IPPNW, den<br />

„Internationalen Ärzten zur<br />

Verhütung des Atomkrieges, Ärzte<br />

in sozialer Verantwortung“ und bin<br />

dort verantwortlich für die<br />

Arbeitsgruppe Deutschland-Türkei-<br />

Kurdistan. Außerdem gehöre ich<br />

zum Vorstand des<br />

Niedersächsischen Flüchtlingsrats.<br />

Seit 1995 fahre ich jedes Jahr mit einer Delegation <strong>von</strong><br />

Ärztinnen und Ärzten und Flüchtlingsunterstützern in den<br />

Südosten der Türkei, wo wir kontinuierliche Kontakte zu<br />

Kollegen, zu Menschenrechtlern, Gewerkschaftern,<br />

Anwälten und <strong>Kom</strong>munalpolitikern aufgebaut haben. Ich<br />

habe in den vergangenen Jahren viele kurdische<br />

Flüchtlinge aus der Türkei und einige aus Syrien und dem<br />

Irak kennen gelernt. Sie kommen in meine Praxis, oft ohne<br />

Anmeldung und <strong>von</strong> weit her, weil sie wissen, dass ich in<br />

ihrer Heimat war, weil sie glauben, dass sie mir nicht alles<br />

noch mal erklären müssen Sie breiten ihre<br />

Leidensgeschichte vor mir aus und es berührt mich immer<br />

wieder sehr, wie es sie erleichtert, mit jemandem zu<br />

sprechen, der weiß, wo<strong>von</strong> sie reden, der ihre Geschichte<br />

nicht in Zweifel zieht. Wegen dieser Erfahrung ist es mir<br />

auch wichtig, jedes Jahr wieder Menschen nach Kurdistan<br />

mitzunehmen, die hier mit Flüchtlingen arbeiten.<br />

Als ich 1982 an der Niederelbe meine Praxis eröffnete,<br />

kamen manchmal junge türkische Erntehelfer mit kleinen<br />

Verletzungen, die offensichtlich nicht gemeldet und nicht<br />

versichert waren. Später lernte ich, dass es Kurden waren,<br />

deren Familien ihre jungen Männer seit Jahren auf die<br />

Obsthöfe schickten. Dort konnten sie Geld verdienen, entgingen<br />

dem Militärdienst in der Türkei und auch dem<br />

Freiheitskampf in den Bergen. Sie gingen und kamen, je<br />

nach Arbeitsanfall. Als die Grenzen immer mehr<br />

abgeschottet wurden, mussten sie sich verschulden, um<br />

nach Deutschland zu kommen, und dann viele Jahre<br />

bleiben, ohne ihre Familien zu sehen. Später stellten<br />

einige einen Asylantrag in Hamburg oder Bremen, arbeiteten<br />

aber weiter illegal auf den Höfen. Es gab viele Razzien<br />

und Abschiebungen. Wenn sie jetzt in die Praxis kamen,<br />

standen oft Stresserkrankungen wie Magenbeschwerden<br />

und Kopfschmerzen im Vordergrund.<br />

Nach unseren Reisen habe ich immer versucht, den Leuten<br />

in meiner Gemeinde <strong>von</strong> unseren Erfahrungen zu berichten.<br />

Nachdrücklich in Erinnerung geblieben ist mir ein<br />

<strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> <strong>Dr</strong>. <strong>Gisela</strong> <strong>Penteker</strong><br />

<strong>Dr</strong>. <strong>Gisela</strong> <strong>Penteker</strong>, Flüchtlingsrat Niedersachen und IPPNW<br />

<strong>Dr</strong>. G. <strong>Penteker</strong><br />

-20-<br />

Abend bei unserem Frauenkreis: Das Stichwort Kurden<br />

war bei ihnen fest verbunden mit Terror und <strong>Dr</strong>ogen und<br />

dass wir unsere Kinder vor diesen Leuten schützen<br />

müssten. Die höflichen und bescheidenen türkischen<br />

Jungs auf den Obsthöfen brachten sie damit nicht in<br />

Zusammenhang.<br />

Die Türkei ist länger in der NATO als die Bundesrepublik,<br />

die Türkei ist eines unserer beliebtesten Urlaubsländer, die<br />

Türkei strebt in die EU. Trotzdem waren auch in den ersten<br />

vier Monaten dieses Jahres Flüchtlinge aus der Türkei die<br />

viertstärkste Gruppe hinter Irak, Afghanistan und Vietnam.<br />

Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und<br />

Flüchtlinge haben <strong>von</strong> Januar bis April dieses Jahres 482<br />

Flüchtlinge aus der Türkei einen Asylantrag gestellt. Die<br />

Zahlen steigen in diesem Jahr wieder. Die Statistik zeigt<br />

nicht, ob es sich um Türken oder Kurden handelt. Man<br />

kann aber da<strong>von</strong> ausgehen, dass es in der Mehrzahl<br />

Kurden sind, die vor der wieder zunehmenden Repression<br />

im Südosten fliehen Es sind junge Kurden, die keine<br />

Möglichkeit haben, den Militärdienst zu verweigern, es<br />

sind Familien, die in der Türkei keine Zukunft für sich und<br />

ihre Kinder sehen.<br />

Ihre Aussichten, hier als Flüchtlinge anerkannt zu werden,<br />

sind schlecht. Sie werden in Lager eingewiesen, in denen<br />

sie oft jahrelang bleiben. Sie bekommen keine<br />

Aufenthaltserlaubnis, sie sind lediglich geduldet, weil sie<br />

aus irgendeinem Grund nicht abgeschoben werden können.<br />

Duldung heißt:<br />

Leben im Lager auf engem Raum mit verzweifelten<br />

Menschen aus vielen verschiedenen Ländern, heißt<br />

Arbeitsverbot, Residenzpflicht, eingeschränkte Leistungen<br />

mit Gutscheinen statt Bargeld und Gesundheitsversorgung<br />

nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, heißt Ausschluss<br />

<strong>von</strong> Sprachkursen und anderen Integrationsleistungen.<br />

Von den vielen traurigen Schicksalen, die mir begegnet<br />

sind, erzähle ich Ihnen zwei, die m.E. besonders typisch<br />

sind.<br />

Vor etwa sieben Jahren kam eine 18jährige kurdische Frau<br />

in unsere Praxis.<br />

Sie suchte Hilfe bei meiner Kollegin, die als<br />

Psychotherapeutin arbeitet. Sie erzählte, dass sie vor 10<br />

Jahren mit ihrer Mutter und vier jüngeren Geschwistern<br />

aus der Gegend <strong>von</strong> Mardin mit einem Schlepper nach<br />

Deutschland gekommen seien. Er hätte sie in<br />

Bremerhaven auf dem Bahnhof ohne Pässe und ohne Geld<br />

verlassen, wo sie dann bald <strong>von</strong> der Polizei aufgegriffen<br />

worden seien. Die Polizei hätte sie verhört und dazu einen<br />

türkischen Dolmetscher zugezogen, der sie erst


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

beschimpft und dann ihre Angaben zum Teil verfälscht<br />

weitergegeben hätte. Das hätten sie zu diesem Zeitpunkt<br />

natürlich nicht bemerkt. Bei ihrer Anhörung vor dem<br />

Bundesamt und im weiteren Verfahren seien ihnen aber<br />

diese falschen Angaben immer wieder vorgehalten worden<br />

als Beweis für ihre mangelnde Glaubwürdigkeit. Der<br />

Vater sei erst später wieder zur Familie gestoßen.<br />

Die Mutter war schon in der Türkei psychisch erkrankt,<br />

hatte bereits einen Selbstmordversuch hinter sich. Sie<br />

könne die Familie und die Kinder nicht versorgen, inzwischen<br />

seien noch drei Kinder geboren worden. Der Vater sei<br />

selten zu Hause. Alle Last läge auf ihren Schultern als<br />

ältester Tochter. Sie begleite die Mutter zu den Ärzten als<br />

Übersetzerin, sie erledige die Behördengänge, sie habe<br />

eine Arbeit in der Fischfabrik angenommen, um die<br />

Familie <strong>von</strong> öffentlichen Geldern unabhängig zu machen.<br />

Trotzdem versuche sie, ihre Schule zu schaffen. Sie sei jetzt<br />

auf dem Gymnasium kurz vor dem Abitur und am Ende<br />

ihrer Kräfte.<br />

Die Mutter habe auch in Deutschland öfter versucht, sich<br />

das Leben zu nehmen. Zweimal sei sie in einer Klinik gewesen.<br />

Dort habe aber niemand mit ihr gesprochen. Man<br />

habe sie nur mit Medikamenten ruhig gestellt. Auch die<br />

Behandlung beim Nervenarzt sei sehr unbefriedigend. Die<br />

Mutter sei in so einem schlechten Zustand und gehe nicht<br />

aus dem Haus, so dass sie auch nach 10 Jahren noch kaum<br />

Deutsch gelernt hätte. Eine Dolmetscherin für kurdisch<br />

zahle die Krankenkasse nicht. Ständig kämen Briefe <strong>von</strong><br />

der Ausländerbehörde, die der Familie die Abschiebung<br />

androhten. Die älteren Brüder seien völlig entmutigt, hätten<br />

die Schule aufgegeben und lungerten auf der Strasse<br />

herum.<br />

Es gelang uns dann, die Mutter zu „Refugio“ in Bremen zu<br />

vermitteln, wo sie auch weiter in Behandlung ist. Ihre<br />

schwere psychische Erkrankung wurde als<br />

Abschiebehindernis anerkannt und verschaffte der Familie<br />

eine Aufenthaltserlaubnis. Die Tochter hat inzwischen ihr<br />

Studium abgeschlossen. Bei ihr ist es immer noch nicht<br />

sicher, ob sie bleiben kann. Die anderen Kinder gehen in<br />

die Schule, die beiden älteren Brüder machen eine<br />

Ausbildung. Die Mutter besucht einen Integrationskurs<br />

und die Lehrerin erzählte mir vor ein paar Tagen, dass sie<br />

gute Fortschritte macht und schon einfache eigene Texte<br />

lesen und schreiben kann.<br />

Mein zweites Beispiel ist die Geschichte eines jetzt<br />

vierzigjährigen Mannes aus Bitlis, der in einem sehr desolaten<br />

Zustand, paranoid psychotisch, vor meiner Tür stand.<br />

Nach und nach erfuhr ich seine Geschichte. Er war wegen<br />

politischer Tätigkeit in Bitlis ins Visier der Sicherheitskräfte<br />

geraten, setzte sich nach Istanbul ab, wo er unter einem<br />

anderen Namen ein Geschäft eröffnete und sich eine<br />

Existenz aufbaute. Eines Nachts wurde das Geschäft überfallen<br />

und zerstört. Er floh nach Rumänien, wo er<br />

wiederum eine Existenz aufbaute, bis der türkische<br />

Geheimdienst ihn anwerben wollte, seine kurdischen<br />

Freunde in Rumänien auszuspähen. Seine Weigerung<br />

führte dazu, dass er unter Betrugsverdacht inhaftiert und,<br />

weil er bei der rumänischen Polizei Freunde hatte, in die<br />

Türkei abgeschoben wurde. Dort lebte er wieder unter<br />

falschem Namen, bis sich die Gelegenheit bot, nach<br />

Deutschland zu fliehen.<br />

Sein Asylantrag wurde abgelehnt. Wegen seiner psychischen<br />

Erkrankung war er bei „Accept“ in Hamburg in<br />

Behandlung, bis das Zentrum <strong>von</strong> der Stadt geschlossen<br />

wurde. Die vorliegenden Gutachten reichten aus, ihm aufgrund<br />

des krankheitsbedingten Abschiebungshindernisses<br />

eine Aufenthaltserlaubnis zu verschaffen. Er musste dazu<br />

allerdings seinen türkischen Pass beim Konsulat beantragen.<br />

Das kränkte ihn sehr. Er war nur mühsam dazu zu<br />

überreden und auch nur, als ich versprach, ihn zu begleiten.<br />

Kaum hatte er seine Aufenthaltserlaubnis, drängte er<br />

darauf, seine alten Eltern in Bitlis zu besuchen. Jetzt<br />

träumt er da<strong>von</strong>, doch noch eine Familie zu gründen und<br />

sucht nach einem Weg, eine passende Frau nach<br />

Deutschland zu holen. Eine junge Frau zu heiraten, die in<br />

Deutschland aufgewachsen ist, kann er sich nicht<br />

vorstellen.<br />

Bei unserer Arbeit mit Flüchtlingen haben wir uns viel mit<br />

Psychotrauma beschäftigt. Flüchtlinge erleiden viele<br />

Traumata durch Verfolgung in der Heimat, durch die<br />

Erlebnisse auf der Flucht und weiter im Asylverfahren.<br />

Viele überstehen das erstaunlich gut, andere (etwa 30%)<br />

werden psychisch krank. Sie leiden unter PTSD, der posttraumatischen<br />

Belastungsstörung, werden depressiv, psychotisch,<br />

entwickeln psychosomatische Krankheiten oder<br />

Suchterkrankungen. Sie sind gestört in ihren sozialen<br />

Beziehungen, Partner und Kinder leiden. Traumatisierte<br />

Flüchtlinge können im Asylverfahren ihr<br />

Verfolgungsschicksal oft nicht widerspruchsfrei vortragen.<br />

Die Verdrängung der schmerzhaften Erlebnisse gehört<br />

zum Krankheitsbild und ist überlebenswichtig.<br />

Die psychische Erkrankung wird als Makel empfunden und<br />

häufig erst angesprochen, wenn die Abschiebung unmittelbar<br />

droht und die Krankheit als Abschiebungshindernis<br />

geltend gemacht wird. Dabei sollte eine Behandlung<br />

möglichst früh beginnen, um Folgeschäden für die<br />

Patienten und ihre Familien zu vermeiden. Wichtige<br />

Voraussetzung für die Therapie ist Sicherheit, ist eine gute<br />

soziale Einbindung und ist vor allem die Anerkennung des<br />

erlittenen Unrechts. Menschen, die in der Türkei wegen<br />

ihrer kurdischen Identität verfolgt wurden, werden auch<br />

hier als Türken behandelt oder als Terroristen. Ihre<br />

Verfolgungsgeschichte wird nicht anerkannt. Der Status<br />

der Duldung lässt ihnen keine eigenen Entscheidungen,<br />

keine Spielräume.<br />

Zusammenfassend möchte ich ein paar Punkte herausgreifen,<br />

die natürlich nicht nur für kurdische Flüchtlinge<br />

aus der Türkei gelten, sondern z.B. auch für Tibeter und<br />

-21-


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

Uiguren aus China oder Tschetschenen aus Russland:<br />

Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen, weil sie unterdrückt<br />

werden, weil sie sich dem Assimilierungsdruck<br />

nicht beugen wollen, sollten als politisch Verfolgte nach<br />

unserem Grundgesetz Asyl bekommen. Sie sollten in ihrer<br />

kulturellen und ethnischen Eigenständigkeit anerkannt<br />

und entsprechend behandelt werden. Sie sollten entscheiden<br />

können, ob und ggf. wann sie in die Heimat zurückkehren<br />

können. Dazu gehört aber auch, dass sie die<br />

Verbindung in die Heimat aufrechterhalten können, dass<br />

man ihnen Reisen mit garantiertem Rückkehrrecht<br />

ermöglicht, dass man ihnen z.B. ermöglicht, alte, gebrechliche<br />

Eltern zu versorgen oder auch nach Deutschland zu<br />

holen.<br />

Es gibt viele Flüchtlinge, die ihre Kinder bei den Großeltern<br />

zurück lassen, weil die Flucht zu gefährlich ist. Wenn sie in<br />

Deutschland bleiben, müssen sie diese Kinder nachholen<br />

können. Vor der Asylanerkennung und während der jahrelangen<br />

Duldung sind Flüchtlinge aus unserer Gesellschaft<br />

ausgeschlossen. Integration kann man aber nicht nach<br />

Belieben an- und ausschalten. Sie beginnt am ersten Tag<br />

und sie besteht aus dem Wissen um die eigene Kultur und<br />

der Neugier auf die Kultur des Gastlandes. Flüchtlinge, die<br />

nur Ablehnung und Ausgrenzung erleben, schotten sich<br />

ab, bleiben unter sich.<br />

Flüchtlinge kommen oft als junge Menschen, als junge<br />

Familien. Sie sollten nicht gezwungen werden, ihre besten<br />

Jahre mit bürokratischen, ordnungspolitischen<br />

Auseinandersetzungen zu vertun. Alles, was sie hier lernen,<br />

was sie hier erreichen, hilft ihnen auch dann, wenn<br />

sie im Endeffekt nicht bleiben können und es entlastet<br />

unsere Gesellschaft <strong>von</strong> unnötigen sozialen Leistungen.<br />

Wenn wir uns in unseren Gemeinden umschauen, gibt es<br />

ganz viele kurdische Menschen, die gut integriert sind.<br />

Selbst in unseren Dörfern gibt es kaum einen<br />

Fußballverein ohne kurdische Spitzenspieler. Wir wissen es<br />

nur oft gar nicht.<br />

Was mich immer wieder fasziniert und auch motiviert,<br />

diese Arbeit weiter zu machen, ist die große Kraft und das<br />

Durchhaltevermögen vieler kurdischer Flüchtlinge und<br />

auch der kurdischen Freunde in der Türkei. Wir können es<br />

uns gar nicht leisten, auf diese Kraft zu verzichten. Wir sollten<br />

ihre Eigenständigkeit respektieren und sie mit offenen<br />

Herzen aufnehmen in unsere Gesellschaft.<br />

-22-


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

Yüksel Koç, Stellv. Vorsitzender der YEK-KOM<br />

Liebe Freundinnen und Freunde,<br />

Verehrte Damen und Herren,<br />

sehr geehrte Gäste,<br />

mit dieser Konferenz möchten wir die Situation der kurdischen<br />

MigrantInnen thematisieren, ihre Erwartungen<br />

erörtern und Perspektiven für die Zukunft erarbeiten und<br />

darstellen. Bevor ich auf die Situation der kurdischen<br />

Vereine und Organisationen komme, möchte ich kurz<br />

einige Anmerkungen machen:<br />

In Deutschland existiert seit 1965 ein Ausländergesetz,<br />

welches für alle Menschen gilt, die in Deutschland leben<br />

und nicht deutsche Staatsbürger sind. Seit dem 1. Januar<br />

2005 heißt die Neuregelung des Ausländerrechts<br />

Zuwanderungsgesetz. Durch diese Neubenennung hat sich<br />

die Bundesrepublik Deutschland erstmals als<br />

Zuwanderungsland bezeichnet. Ziel dabei war unter<br />

anderem, eine vereinfachte Anpassung der Zuwanderer zu<br />

ermöglichen und die Integration zu erleichtern. Das ist die<br />

offizielle Erklärung. In Wirklichkeit wurde das<br />

Ausländergesetz verschärft und der Aufenthalt für<br />

Flüchtlinge - ungeachtet dessen, ob sie als solche anerkannt<br />

sind oder nicht - erschwert. Was bedeutet das für über<br />

eine Million KurdInnen in Deutschland? Die Antwort, so<br />

tragisch sie auch ist: Es gibt schlichtweg kein<br />

Zuwanderungsgesetz für diese Menschen, stattdessen gibt<br />

es eine Politik der Kriminalisierung und Ausgrenzung.<br />

Die Menschen haben <strong>von</strong> Natur aus individuelle<br />

Fähigkeiten und Fertigkeiten. Man kann <strong>von</strong> einer<br />

Regierung natürlich nicht erwarten, dass sie für jeden<br />

Einzelnen ein eigenes Zuwanderungsgesetz gestaltet.<br />

Doch sollte man dies durchaus für die verschiedenen<br />

Ethnien und die verschiedenen Völker erwarten können.<br />

Denn jede einzelne Volksgruppe hat unterschiedliche<br />

Erwartungen und Bedürfnisse, die beachtet werden<br />

müssen. Wenn man diese Menschen erfolgreich integrieren<br />

möchte, ist es eine selbstverständliche<br />

Grundvoraussetzung, dass dabei Unterschiede<br />

Redebeitrag <strong>von</strong> Yüksel Koç<br />

einkalkuliert und Gemeinsamkeiten verbunden werden.<br />

Bei genauerer Betrachtung erkennen wir, dass genauso<br />

wie die KurdInnen auch zum Beispiel TamilInnen und<br />

andere staatenlose Völker, die ihre wahre Identität nicht<br />

nachweisen können, im Vergleich zu anderen<br />

Zuwanderern mit tiefgreifenderen Problemen zu kämpfen<br />

haben.<br />

Die KurdInnen zählen zu den ältesten Völkern der Welt. Sie<br />

sind mit ihrer reichen Geschichte und Kultur nach<br />

Deutschland gekommen und haben im Vergleich zu<br />

anderen Migrantengruppen tiefgreifendere, kompliziertere<br />

Probleme, die heute immer noch einer Lösung harren.<br />

Eines der grundlegenden Probleme der kurdischen<br />

Bevölkerung liegt darin, dass sie sich nicht richtig<br />

artikulieren können, sie daher <strong>von</strong> der Öffentlichkeit<br />

missverstanden werden und dieses<br />

<strong>Kom</strong>munikationsproblem die Basis für alle weiteren<br />

Probleme bildet.<br />

Die wirtschaftlichen, politischen und militärischen<br />

Interessen der Bundesrepublik und der Länder, die das<br />

kurdische Volk unterdrücken, sind neben den zusammen<br />

entwickelten strategischen und taktischen Beziehungen<br />

die Hauptgründe für die Probleme der Kurdinnen und<br />

Kurden in Deutschland. Für die Bundesrepublik wurde die<br />

kurdische Frage schon immer auf die eigenen Interessen<br />

begrenzt und als innenpolitisches bzw. Sicherheitsproblem<br />

betrachtet und der Öffentlichkeit als solches vermittelt.<br />

Die Folge da<strong>von</strong> ist eine Kriminalisierung, die dem kurdischen<br />

Volk weder eine Möglichkeit zur Selbstdarstellung,<br />

noch eine Artikulation auf politischer oder ziviler Ebene<br />

bietet. Die Bundesrepublik hat hier vieles nachzuholen<br />

und muss die Kurden mit ihrer Vielfalt, Kultur und Sprache,<br />

ihren Werten und Normen, die schlussendlich ihre<br />

Identität ausmachen, anerkennen.<br />

Zur Bildungssituation möchte ich folgendes sagen:<br />

Die kurdischen Schülerinnen und Schüler sind neben den<br />

generellen Migrantenproblemen zusätzlich mit speziellen<br />

Schwierigkeiten konfrontiert. So bekam ein Schüler der 10.<br />

Klasse wegen des Zeichnens <strong>von</strong> kurdischen Symbolen<br />

Probleme mit seinem Lehrer. Der zeigte ihn bei der Polizei<br />

an, woraufhin die Familie des Jungen eine Anzeige bekam<br />

und der Schüler die Schule verlassen musste. Kurdische<br />

Kinder sind durch solche und ähnliche Vorfälle in Schulen<br />

einer Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt. Das<br />

Bildungssystem in den einzelnen Bundesländern ist sehr<br />

unterschiedlich und stellt für kurdische Familien eine<br />

besondere Herausforderung dar. Anstatt ihre positiven<br />

Fähigkeiten, wie ihre multikulturelle Eigenschaft oder ihre<br />

Mehrsprachigkeit zu fördern, werden die Kinder in sogenannte<br />

Förderschulen geschickt. Dieser Umstand wird teilweise<br />

auch noch <strong>von</strong> ausländerfeindlich geprägten<br />

-23-


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

Lehrkräften negativ beeinflusst. Da keine Beratung auf<br />

Kurdisch angeboten wird, akzeptieren die Eltern<br />

unwissentlich diese Ausgrenzung und unterschreiben die<br />

Formulare für die Förderschulen. Die gravierenden Folgen<br />

für die einzelnen Bildungswege werden ihnen erst<br />

bewusst, wenn es schon zu spät ist. Eine erfolgreiche<br />

Schülerin der fünften Klasse mit einem Notendurchschnitt<br />

<strong>von</strong> 2 wurde regelrecht in die Förderschule abgeschoben.<br />

Dem Vater des Kindes wird erklärt, dass sein Kind in der<br />

jetzigen Schule nicht erfolgreich sein würde und eine<br />

Förderschule für das Kind besser wäre. Der Vater unterschrieb<br />

den Antrag. Es gibt unzählige solcher Beispiele,<br />

wie kurdische Kinder im Bildungssystem benachteiligt<br />

werden.<br />

Zum Thema Ausbildung will ich folgendes bemerken:<br />

Meine Damen und Herren, es gibt Länder auf dieser Welt,<br />

die ihren Akademikern und Fachleuten keine Arbeit in<br />

ihrer Branche bieten können. Solche Menschen werden<br />

gezwungen, alle möglichen Arbeiten anzunehmen und<br />

damit auszukommen. Man möchte annehmen, dass das in<br />

Deutschland nicht der Fall ist. Ein großer Irrtum! Kurdische<br />

Akademiker und Personen, die eine abgeschlossene<br />

Ausbildung nachweisen können, werden durch falsche<br />

oder ungenügende Beratung ausgegrenzt und<br />

benachteiligt. So kann ein Zahnmediziner aus Dersim<br />

seinen Beruf aus diesem Grund nicht ausüben und er<br />

fährt seine Patienten im Taxi, statt sie zu behandeln.<br />

Bevor ich zur Situation der kurdischen Vereine in<br />

Deutschland komme, möchte ich kurz YEK-KOM vorstellen:<br />

YEK-KOM gehört als Föderation kurdischer Vereine in<br />

Deutschland über 60 Mitgliedsvereinen zu den bestorganisierten<br />

Föderationen und vertritt einen maßgeblichen Teil<br />

der kurdischen Bevölkerung in der Bundesrepublik.<br />

KurdInnen organisieren sich in den Vereinen und versuchen<br />

mit kulturellen Veranstaltungen,<br />

Frauenberatungen und Jugendarbeit einerseits ihre<br />

eigene Identität zu bewahren und andererseits sich mit<br />

den aufgezeigten Problemen auseinanderzusetzen. In<br />

diesen Vereinen werden unterschiedliche Seminare und<br />

Kurse für muttersprachlichen Unterricht, Nachhilfe und<br />

Deutschunterricht angeboten. Obwohl die meisten dieser<br />

eingetragenen Vereine einen gemeinnützigen Status<br />

besitzen, bekommen sie in sehr begrenztem Rahmen<br />

staatliche Unterstützung. Während andere<br />

Migrantenvereine entweder durch den deutschen Staat<br />

oder <strong>von</strong> ihren eigenen Herkunftsländern unterstützt werden,<br />

finanzieren sich kurdische Vereine durch<br />

Mitgliedsbeiträge beziehungsweise deren ehrenamtliche<br />

Arbeit. Anstatt dass diese wichtige ehrenamtliche Arbeit<br />

durch den Staat belohnt wird, sind die Vereinsvorstände<br />

und Mitglieder zusätzlicher Kriminalisierung und<br />

Repression ausgesetzt.<br />

-24-<br />

Wie die Kurdinnen und Kurden in Deutschland organisiert<br />

sind:<br />

Das Versammlungs- und Organisationsrecht ist in Artikel 5<br />

und Artikel 8 des deutschen Grundgesetzes und in Artikel<br />

11 des Europäischen Menschenrechtsabkommens verankert.<br />

Jeder hat das Recht, seine Gedanken frei zu äußern<br />

und zu veröffentlichen beziehungsweise zu verbreiten. Die<br />

KurdInnen nutzen diese elementaren Rechte als Basis für<br />

ihre Demonstrationen und öffentlichen Arbeiten. Dennoch<br />

werden Strafverfahren gegen sie eröffnet und ihr Handeln<br />

verurteilt. So werden bei Protestveranstaltungen gegen<br />

die Bedingungen der Isolationshaft <strong>von</strong> Herrn Abdullah<br />

Öcalan die Informationsblätter, welche aus den<br />

Veröffentlichungen seiner Anwälte bestehen, mit der<br />

Begründung beschlagnahmt, dass sie Propaganda beinhalten<br />

würden. Außerdem wird einem Kurden, der eine<br />

Demonstration angemeldet hat, kein politischer Schutz<br />

gewährt. Damit werden der Artikel 16a, welcher Schutz<br />

vor politischer Verfolgung gewährt, und der Artikel 5 verletzt.<br />

Weiter werden unsere Mitglieder aufgrund <strong>von</strong><br />

Symbolen, die sie tragen oder zeigen, und der Slogans, die<br />

sie rufen, zu hohen Geldstrafen verurteilt. So wurde ein<br />

6jähriger kurdischer Junge zur Polizei zitiert, weil er eine<br />

KCK-Fahne in der Hand gehalten hatte. Eine 63jährige Frau<br />

wurde zu vier Monaten Haft verurteilt und der Ausruf “Bijî<br />

Serok Apo“ (Es lebe der Vorsitzende Apo) wird mit einer<br />

Geldstrafe <strong>von</strong> 1.500 Euro belegt.<br />

Die Erfüllung der Voraussetzungen für die<br />

Staatsbürgerschaft, die Gesetze, welche im Jahre 1986 im<br />

Europarat anerkannt und in Deutschland am 28. Juli 1986<br />

ins Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen wurden, werden<br />

den KurdInnen, welche Mitglieder oder Leiter der<br />

kurdischen Vereine sind, verweigert. Obwohl die Vereine<br />

doch nach dem deutschen Vereinsgesetz gegründet wurden.<br />

Diese Vereine sind diejenigen, die die Einwanderer in<br />

ihren sozialen, kulturellen, Integrations-, Bildungs-,<br />

Sprach- und weiteren Fragen ehrenamtlich unterstützen.<br />

Die Vereine sind es, die ohne Fördermittel durch ihre<br />

Arbeit den Einwanderern die Integration erleichtern.<br />

Zugleich erhalten die Arbeiterwohlfahrt oder<br />

Volkshochschulen Millionen an Fördermitteln für solche<br />

Zwecke.<br />

Die Mehrheit der KurdInnen ist aufgrund <strong>von</strong> Krieg und<br />

Verfolgung nach Deutschland geflüchtet. Aber auch hier<br />

werden sie nicht als KurdInnen anerkannt. Auch hier gelten<br />

sie als TürkInnen, AraberInnen oder als PerserInnen.<br />

Wie all die anderen Minderheiten wollen auch die<br />

KurdInnen mit ihrer eigenen Identität anerkannt werden.<br />

Die Vereine erhalten ihre Kraft durch ihre Mitglieder und<br />

die Menschen, die sie ansprechen. Deren Ziele sind unter<br />

anderem die Erhöhung ihrer Mitgliederzahlen und die<br />

Gewinnung <strong>von</strong> fähigen und kompetenten Personen für<br />

ihre Vorstände. Doch müssen wir erleben, dass die<br />

Vorstände und Vereinsmitglieder geheimdienstlich


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

beobachtet oder ihre Einbürgerung wegen der Arbeit verweigert<br />

werden. Wie in der Türkei versuchen deutsche<br />

Behörden, die Menschen zum Unterzeichnen <strong>von</strong> "Reue-<br />

Erklärungen" zu zwingen. Oft wird den Menschen eine<br />

Einbürgerung nur unter der Bedingung zugesagt, wenn sie<br />

das Vereinshaus nicht wieder betreten. Oder man verlangt<br />

<strong>von</strong> den Leuten eine schriftliche Kündigung des<br />

Vereinshauses, um die Staatsangehörigkeit zu bekommen.<br />

Und weiter: Polizisten stehen vor den Vereinen,<br />

fotografieren die Besucher, um sie zu registrieren.<br />

Die deutschen Behörden stellen den meisten ausländischen<br />

Vereinen Fördergelder zur Verfügung, damit diese<br />

die Migranten bei ihren sozialen, Bildungs- und sprachlichen<br />

Fragen unterstützen können. In den<br />

Integrationsräten <strong>von</strong> Städten oder <strong>Kom</strong>munen werden<br />

Vereine mit nur 10 oder 15 Mitgliedern aufgenommen,<br />

während unsere Vereine, obwohl sie teilweise hunderte<br />

Mitglieder haben, nicht akzeptiert werden. In Löhne gab<br />

es beispielsweise den Fall, dass das kurdische Vereinshaus<br />

den Bürgermeister eingeladen hat. Aber nachdem der<br />

Bürgermeister den Innenminister des Landes über den<br />

Verein befragt hat, wurde ihm empfohlen, das kurdische<br />

Vereinshaus nicht zu besuchen.<br />

Obwohl wir Kurden die Migrationsgruppe sind, die sich am<br />

besten integriert hat, werden unsere Veranstaltungen<br />

trotz wiederholter Einladungen <strong>von</strong> Behörden und<br />

Politikern nicht besucht.<br />

So haben wir unter anderem Bundeskanzlerin Merkel, die<br />

Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, Bundes- und<br />

Landtagsmitglieder sowie verschiedene MinisterInnen eingeladen.<br />

Sie alle haben unsere Einladungen mit der<br />

Begründung, terminlich verhindert zu sein, abgelehnt.<br />

Dabei hätten wir trotz unserer unserer Sorgen gerne über<br />

Lösungswege mit ihnen diskutiert.<br />

Wir in Deutschland lebenden KurdInnen werden dennoch<br />

unser Streben nach der eigenen Identität fortführen. Wir<br />

glauben fest daran, dass wir vor allem mit den anderen<br />

Migrantenvereinen und den deutschen Organisationen<br />

erfolgreich sein werden.<br />

Als YEK-KOM appellieren wir an alle Behörden und an die<br />

Bundesregierung:<br />

„Wir sind bereit, alle Aufgaben, die uns auf diesem Weg<br />

erwarten und die in unserer Verantwortung liegen, zu<br />

erfüllen.“<br />

Wir erwarten aber auch, dass uns die Politik bei den<br />

Fragen der kurdischen MigrantInnen (Integration,<br />

Bildung, Ausbildung, Sprache etc.) unterstützt und<br />

informiert, damit wir gemeinsam wirken können. Die<br />

Probleme der MigrantInnen lassen sich nicht einseitig bzw.<br />

alleine lösen, die Behörden aber auch nicht. Das kann nur<br />

durch Zusammenarbeit geschehen. Durch gemeinsame<br />

Projekte können diese komplexen Probleme überwunden<br />

werden.<br />

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!<br />

-25-


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

Zur Lösung der kurdischen Frage in der Türkei sind auch<br />

EU und Bundesrepublik gefordert.<br />

In die verhärteten Fronten rund um die kurdische Frage ist<br />

in letzter Zeit endlich Bewegung gekommen – und zwar<br />

sowohl <strong>von</strong> Seiten des türkischen Staates als auch <strong>von</strong><br />

Seiten kurdischer Organisationen und Parteien. Bei aller<br />

Widersprüchlichkeit der Entwicklung in der Türkei lassen<br />

die aktuellen Zeichen auf eine Lösung des größten<br />

gesellschaftlichen Problems der Türkei hoffen –<br />

Rückschlagsrisiko natürlich inbegriffen.<br />

Noch ist keineswegs klar, wie eine stabile Lösung aussehen<br />

könnte, die gerecht und demokratisch legitimiert ist. Doch<br />

angesichts der Tatsache, dass sich hier<br />

Gestaltungsspielräume eröffnen, muss alle Befürworter<br />

eines EU-Beitritts der Türkei die merkwürdige<br />

Zurückhaltung und Untätigkeit der Europäischen Union<br />

erstaunen. Schließlich sind und bleiben die kurdische<br />

Frage, überhaupt die Stellung der Minderheiten sowie die<br />

Menschenrechtsentwicklung in der Türkei die<br />

Schlüsselprobleme eines EU-Bei¬tritts.<br />

Vordringliche Aufgabe der EU sollte sein, die Kurdische<br />

Arbeiterpartei PKK und ihre Folgeorganisationen aus der<br />

rechtsstaatswidrigen EU-Terrorliste zu streichen, um den<br />

Weg für eine friedliche Lösung freizumachen. Denn an den<br />

Verhandlungen in der Türkei und mit der EU müssen auch<br />

kurdische Organisationen und Parteien beteiligt werden,<br />

wenn eine ernsthafte demokratische Lösung gefunden<br />

werden soll. Neben der prokurdischen DTP, die im<br />

türkischen Parlament vertreten ist, muss unter anderem<br />

auch die noch verbotene PKK eingebunden werden, denn<br />

ohne sie wird es kaum Frieden geben.<br />

Dies gilt umso mehr, als die PKK noch nie so deutliche<br />

Signale ausgesendet hat, wie kürzlich, als ihr amtierender<br />

Chef angekündigt hat, im Zuge eines ernsthaften<br />

-26-<br />

Das PKK- Betätigungsverbot<br />

und seine Auswirkungen auf die politische Integration der Kurden<br />

<strong>Dr</strong>. Rolf Gössner, Vizepräsident der<br />

Internationalen Liga für Menschenrechte<br />

Friedensprozesses die Waffen niederzulegen und die<br />

Türkei nicht spalten zu wollen. Die inzwischen vorgelegten<br />

Vorschläge <strong>von</strong> Abdullah Öcalan sollten insoweit noch ausgewertet<br />

werden.<br />

Und auch die Bundesrepublik trägt in diesem Prozess eine<br />

besondere Verantwortung:<br />

Mit ihrem hohen Anteil sowohl türkischer Bewohner als<br />

auch kurdischer Migranten ist gerade Deutschland<br />

gefordert, zur Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts<br />

politische Initiativen zu ergreifen und den offenen und kritischen<br />

Dialog mit der kurdischen Seite zu fördern – und<br />

zwar ohne Stigmatisierung, Kriminalisierung und<br />

Ausgrenzung, wie sie sich in zahlreichen<br />

Repressionsmaßnahmen manifestieren, die die<br />

Integration vieler Kurden be- und verhindern. Dazu müsste<br />

auch das Verbot der PKK hierzulande gekippt werden –<br />

weil dieses letztlich auch die (gewalt-)freie politische<br />

Betätigung <strong>von</strong> Kurden kriminalisiert.<br />

1. Bundesrepublik: Aufhebung des PKK-Verbots<br />

Das 1993 erlassene Betätigungsverbot für die PKK und<br />

auch für andere kurdische (Nachfolge- und Umfeld-<br />

)Organisationen hat viel Unheil gestiftet. Es besteht bis<br />

heute fort, ohne zeitliche Limitierung - trotz Auflösung der<br />

PKK 2002 und Gründung des Kongresses für Frieden und<br />

Demokratie in Kurdistan (Kadek), trotz Weiterentwicklung<br />

des friedenspolitischen Kurses durch Kongra-gel. Dieses<br />

Verbot hat zu Kri¬minalisierung und Diskriminierung <strong>von</strong><br />

Tausenden <strong>von</strong> Kurdinnen und Kurden geführt, die<br />

pauschal zu Gewalttätern und „Terroristen“ gestempelt,<br />

als Sicherheitsrisiken stigmatisiert und damit letztlich zu<br />

innenpolitischen Feinden erklärt wurden.<br />

Die Kriminalisierung der hier lebenden kurdischen<br />

Bevölkerung hatte zeitweise eine dramatische Dimension<br />

erreicht: Für Kurden, die aus der Türkei vor Verfolgung und<br />

Folter hierher geflohen waren, war es besonders in den<br />

1990er Jahren fast unmöglich, <strong>von</strong> ihren elementaren<br />

Menschenrechten ohne Angst Gebrauch zu machen.<br />

Durch das Betätigungsverbot werden die Grundrechte der<br />

Organisations- und Versammlungsfreiheit, der Meinungsund<br />

Pressefreiheit massiv einge¬schränkt.<br />

Demonstrationsverbote und Razzien, Durchsuchungen<br />

<strong>von</strong> Privatwohnungen und Vereinen, Beschlagnahmen und<br />

Festnahmen waren und sind immer wieder an der<br />

Tagesordnung. Unzählige Ermittlungsverfahren wurden<br />

eingeleitet und werden immer noch geführt - früher nach<br />

dem Terrorismusparagraphen 129a Strafgesetzbuch, seit<br />

1998 nach § 129 (kriminelle Vereinigung). Zahlreiche<br />

Kurden sind nicht etwa nur wegen gewalttätiger Aktionen,<br />

– das auch -, sondern wegen bloßer Mitgliedschaft,


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

Unterstützung oder Werbung für eine solche Vereinigung<br />

verurteilt worden und damit auch wegen friedlicher<br />

Proteste und gewaltfreier politischer Betätigung.<br />

Wie immer man zur PKK, ihren Folgeorganisationen und<br />

ihren früher zeitweise gewalttätigen Aktivitäten stehen<br />

mag: Mit solchen Verboten werden jedenfalls keine<br />

Probleme gelöst, sondern weitere produziert. Längst ist<br />

das Betätigungsverbot zum Anachronismus geworden und<br />

muss schon deshalb schnellstmöglich aufgehoben werden,<br />

zumal sich die PKK und Folgeorganisationen zu einer<br />

friedlichen Lösung der Kurden-Frage bekannt haben und<br />

im anstehenden Friedensprozess eine nicht zu unterschätzende<br />

Rolle spielen können.<br />

2. EU: Streichung <strong>von</strong> der Terrorliste<br />

Auf dieser EU-Terrorliste sind Einzelpersonen und<br />

Organisationen aufgeführt, die als „terroristisch“ gelten.<br />

Seit 2002 finden sich darauf u.a. die linksgerichtete<br />

türkische DHKP-C, die kurdische PKK und ihre<br />

Nachfolgeorganisationen Kadek und Kongra-gel wie auch<br />

die iranische Widerstandsgruppe der Volksmujahedin –<br />

obwohl letztgenannte Organisationen seit Jahren keine<br />

Gewalttaten in Europa verüben. Mit den<br />

Folgeorganisationen der PKK sind auch Organisationen auf<br />

die Liste geraten, die zumindest in Europa für eine<br />

friedliche Lösung der kurdischen Frage streiten.<br />

Die EU scheint mit der Aufnahme der PKK in die Terrorliste<br />

dem <strong>Dr</strong>ängen des EU-Beitrittskandidaten und NATO-<br />

Partners Türkei nachgegeben zu haben, der sich nach wie<br />

vor gravierender Menschenrechtsverletzungen schuldig<br />

macht.<br />

Gerade durch diese Listung fühlte sich der türkische Staat<br />

lange Zeit legitimiert, mit militärischen Operationen gegen<br />

Kurden und ihre Organisationen vorzugehen und die zivile<br />

Lösung der Kurdenfrage zu torpedieren. Damit ließ sich die<br />

EU für diese Art <strong>von</strong> Kurdenpolitik instrumentalisieren, mit<br />

der Folge, dass Abertausende <strong>von</strong> Kurden in Europa zu<br />

„Terrorhelfern“ wurden.<br />

Die Listung in der Terrorliste hat für die betroffenen<br />

Gruppen und Personen existentielle Folgen: Sie sind quasi<br />

vogelfrei, werden politisch geächtet, wirtschaftlich ruiniert<br />

und sozial isoliert. Das gesamte Vermögen wird eingefroren,<br />

alle Konten und Kreditkarten werden gesperrt,<br />

Barmittel beschlagnahmt, Arbeits- und Geschäftsverträge<br />

faktisch aufgehoben; weder Arbeitsentgelt noch staatliche<br />

Sozialleistungen dürfen ausbezahlt werden; hinzu kommen<br />

Passentzug und Ausreisesperre sowie<br />

Überwachungs- und Fahndungsmaßnahmen.<br />

Alle EU-Staaten, alle Banken, Geschäftspartner und<br />

Arbeitgeber, letztlich alle EU-Bürger sind rechtlich<br />

verpflichtet, die drastischen Sanktionen gegen die<br />

Betroffenen durchzusetzen, anderenfalls machen sie sich<br />

strafbar. Mit Verweis auf die Terrorliste werden<br />

Wohnungsdurchsuchungen, Beschlagnahmen oder<br />

Festnahmen begründet. Zu den Fernwirkungen zählen die<br />

Verweigerung <strong>von</strong> Einbürgerungen und<br />

Asyl¬anerkennungen sowie der Widerruf des Asylstatus.<br />

Die Terrorliste wird <strong>von</strong> einem geheim tagenden Gremium<br />

des Ministerrates erstellt. Die Entscheidungen erfolgen im<br />

Konsens, wobei die für eine Listung vorgebrachten<br />

Verdachtsmomente zumeist auf dubiosen<br />

Geheimdienstinformationen einzelner Mitglieds¬staaten<br />

beruhen. Eine unabhängige Beurteilung der Fälle auf<br />

Grundlage gesicherter Beweise findet nicht statt. Diese<br />

Datensammlung ist weder demokratisch legitimiert noch<br />

unterliegt sie einer demokratischen Kontrolle. Rechtliches<br />

Gehör gegen das amtliche Terrorstigma ist den<br />

Betroffenen lange Zeit nicht gewährt worden.<br />

Die EU greift mit ihrer Terrorliste im „Kampf gegen den<br />

Terror“ gewissermaßen selbst zu einem Terrorinstrument<br />

aus dem Arsenal des sogenannten Feindstrafrechts – eines<br />

menschenrechtswidrigen Sonderrechts gegen angebliche<br />

„Staatsfeinde“, die praktisch rechtlos gestellt und<br />

gesellschaftlich ausgegrenzt werden. Ihre drakonische<br />

Bestrafung erfolgt vorsorglich und wird im rechtsfreien<br />

Raum exekutiert – ohne Gesetz, ohne fairen Prozess, ohne<br />

Beweise, ohne Urteil und ohne Rechtsschutz.<br />

Trotz der systematischen Entrechtung der Gelisteten sind<br />

beim Gericht der Europäischen Gemeinschaft Klagen <strong>von</strong><br />

Betroffenen eingegangen.<br />

Und es gibt inzwischen Urteile, mit denen die Aufnahme<br />

bestimmter Personen und Organisationen auf die<br />

Terrorliste und das Einfrieren ihrer Gelder für rechtswidrig<br />

und nichtig erklärt wurden. Ihr Anspruch auf rechtliches<br />

Gehör und effektive Verteidigung, so die Richter, sei grob<br />

missachtet worden.<br />

So ist mittlerweile die Aufnahme der iranischen<br />

Volksmodjahedin, der kurdischen PKK/Kadek und der<br />

niederländischen Stiftung Al-Aqsa in die EU-Terrorliste<br />

ebenso für rechtswidrig und nichtig erklärt worden wie die<br />

des philippinischen Professors Jose Maria Sison. Zwar sind<br />

die Betroffenen inzwischen pro forma benachrichtigt und<br />

angehört worden, doch konkrete Abhilfe geschaffen<br />

wurde – mit Ausnahme der Volksmodjahedin (Anfang<br />

2009 aus der Liste gestrichen) - nicht:<br />

Weder wurden sie aus der Liste gestrichen noch die eingefrorenen<br />

Mittel wieder frei gegeben oder die Sanktionen<br />

aufgehoben. Das heißt: Die Geheimgremien des EU-<br />

Ministerrats sind in ihrem nach wie vor undemokratischen<br />

Listungsverfahren stur bei ihren ursprünglichen<br />

Beurteilungen geblieben: Die Verfemten blieben also verfemt<br />

– mit allen freiheitsberaubenden Konsequenzen,<br />

unter Verstoß gegen die Unschulds¬vermutung und die<br />

Europäische Menschenrechtskonvention.<br />

-27-


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

3. Ich komme zum Fazit:<br />

Im kurdisch-türkischen Konflikt beschreiten die EU mit<br />

ihrer Terrorliste und die Bundesrepublik mit ihrem PKK-<br />

Verbot und den jeweils daraus resultierenden Sanktionen<br />

nach wie vor den Weg der Repression und Ausgrenzung.<br />

Doch die politische Situation in der Türkei und in Europa<br />

hat sich inzwischen derart geändert, dass dieser Weg<br />

rasch zur Sackgasse gerät.<br />

Deshalb fordern wir, die Internationale Liga für<br />

Menschenrechte, zusammen mit zahlreichen anderen<br />

Nichtregierungsorganisationen, <strong>von</strong> der neu zu bildenden<br />

Bundesregierung und der EU mit Nachdruck, diese Terror-<br />

Stigmati¬sie¬rung, Feindbildproduktion, Kriminalisierung<br />

und Ausgrenzung <strong>von</strong> Kurden, ihren Organisationen und<br />

Medien in der EU und in Deutschland endlich zu beenden.<br />

1.Die Betroffenen, die <strong>von</strong> Anfang an zu Unrecht auf die<br />

EU-Terrorliste gesetzt wurden, denen man das rechtliche<br />

Gehör und den Rechtsschutz verweigerte und die jahrelang<br />

unter den harten Sanktionen leiden mussten, müssen<br />

unverzüglich <strong>von</strong> der Liste gestrichen und für den ihnen<br />

zugefügten Schaden entschädigt werden. Nur so ließe sich<br />

der Rolle gerecht werden, die die PKK und ihre<br />

Folgeorganisationen bei der Lösung der kurdischen Frage<br />

in der Türkei und in der EU wohl spielen werden.<br />

2.Die Bundesrepublik mit ihrem hohen Anteil türkischer<br />

und kurdischer Bewohner ist aufzufordern, zur<br />

Aussöhnung und Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts<br />

in der Türkei endlich politische Initiativen zu ergreifen und<br />

den offenen und kritischen Dialog mit der kurdischen Seite<br />

auch hierzulande zu ermöglichen. Dazu müsste das PKK-<br />

Verbot – wegen fa¬taler Auswirkungen auf politische<br />

Betätigung und Meinungsfreiheit – aufgehoben werden;<br />

dies wäre ohne Verlust an Sicherheit möglich, zumal die<br />

PKK und ihre Folgeorganisationen eine friedliche Lösung<br />

suchen.<br />

3.Die neue Bundesregierung und EU sind aufgefordert, die<br />

Kurden- und Minder¬heitenfrage mit Nachdruck auf die<br />

Agenda der EU-Bei¬trittsver¬hand¬lungen zu setzen, um<br />

jetzt die positiven Ansätze nicht zu verpassen und eine<br />

friedliche, demokratische, menschenrechtskonforme und<br />

gerechte Lösung zu erzielen. Denn die kurdische Frage und<br />

die Menschenrechtsfrage sind und bleiben die<br />

Schlüsselfragen eines EU-Beitritts der Türkei. Solange<br />

diese gesamteuropäische Aufgabe nicht gelöst ist, darf es<br />

weder Asylwiderrufe noch Abschiebungen in die Türkei<br />

geben.<br />

-28-


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

Ich möchte euch herzlich begrüßen und freue mich, auf<br />

dieser Konferenz sprechen zu können.<br />

Viele Expertinnen und Experten haben wir bisher gehört:<br />

richtige und wichtige Analysen und konstruktive<br />

Vorschläge zur Lösung der zahlreichen Probleme, denen<br />

Kurdinnen und Kurden nicht nur in der Türkei, in Syrien, im<br />

Irak, Iran, sondern eben auch in Deutschland ausgesetzt<br />

sind.<br />

Ich will zu Beginn ganz kurz darlegen, wer Azadî ist und<br />

was unsere Arbeitsschwerpunkte sind. Der Verein hat sich<br />

vor dem Hintergrund des PKK-Verbots <strong>von</strong> 1993 im April<br />

1996 gegründet. Zwei Jahre zuvor hatten Anwalts- und<br />

Menschenrechtsvereinigungen sowie VertreterInnen insbesondere<br />

der damaligen PDS und der Grünen, aber auch<br />

der SPD, zur materiellen und politischen Unterstützung<br />

der Kurdinnen und Kurden aufgerufen. Seitdem leistet<br />

Azadî konkrete Solidaritätsarbeit mit und für diesen<br />

Betroffenenkreis, der wegen der Verbotspolitik in<br />

Deutschland auf vielerlei Art kriminalisiert wird. Wir unterstützen<br />

politische Gefangene, beteiligen uns an den teilweise<br />

immensen Kosten für Gerichtsverfahren oder<br />

anwaltliche Vertretung. Insbesondere versuchen wir, im<br />

Rahmen unserer Möglichkeiten die Öffentlichkeit über<br />

Prozesse und Verfahren gegen kurdische PolitikerInnen<br />

und AktivistInnen zu informieren.<br />

Ich arbeite seit zehn Jahren bei Azadî und habe in dieser<br />

Zeit an einer Reihe ähnlicher Konferenzen und<br />

Veranstaltungen teilgenommen oder dort geredet und<br />

muss heute feststellen, dass wir uns immer noch mit den<br />

teilweise gleichen Problemen herumschlagen, obwohl im<br />

Prinzip alles schon hundertfach gesagt, geschrieben und<br />

gefordert wurde. Sehr viel Neues ist mir nicht begegnet.<br />

Das näher zu beleuchten, fehlt heute leider die Zeit. Aber:<br />

Die Hintergründe des türkisch-kurdischen Konflikts und<br />

dessen Auswirkungen auf die Kurdinnen und Kurden in<br />

Deutschland sind hinlänglich bekannt. Das gilt insbesondere<br />

für die politische Klasse, deren Vorgehensweise<br />

gegen bestimmte kurdische Organisationen und deren<br />

Repräsentanten <strong>von</strong> einem klaren Interessensstandpunkt<br />

bestimmt wird. Das trifft auf den gesamten<br />

Strafverfolgungsapparat zu, der die Vorgaben praktisch<br />

umsetzt und sich hierbei der vollen Rückendeckung durch<br />

die Politik gewiss sein kann. Die Behörden arbeiten<br />

präzise, übereifrig, willkürlich, zielgerichtet auf die<br />

Marginalisierung der kurdischen Bewegung. Die gesamte<br />

Palette der Überwachungs- und<br />

Observationsinstrumentarien gegen kurdische<br />

Aktivistinnen und Aktivisten kommt zur Anwendung. So<br />

stehen jene, die sich in den Vorständen kurdischer Vereine<br />

Redebeitrag <strong>von</strong> Monika Morres<br />

Monika Morres, AZADÎ e.V., Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden in Deutschland<br />

engagieren, <strong>von</strong> Anbeginn an im Visier der polizeilichen<br />

Staatsschutzabteilungen; Besucherinnen und Besucher<br />

werden <strong>von</strong> Verfassungs“schutz“-Beamten und/oder V-<br />

Leuten registriert, angesprochen, unter <strong>Dr</strong>uck gesetzt. Es<br />

geht darum, die eigenständige und selbstbewusste<br />

Organisierung der Kurdinnen und Kurden im Keim zu<br />

ersticken oder zu zerschlagen, wo sie existiert.<br />

Neben der strafrechtlichen Verfolgung politischer<br />

Aktivitäten nach dem Vereinsgesetz (verbotenes<br />

Parolerufen, untersagte Symbole, Verbreitung verbotener<br />

Zeitschriften, Spenden und Spendenammeln), stehen kurdische<br />

Politiker ganz besonders im Fokus der<br />

Geheimdienste und Behörden. Sie gilt es, als anerkannte<br />

Mittler und Repräsentanten auszuschalten, um der<br />

Bewegung größtmöglichen Schaden zuzufügen. Hierfür<br />

können sich polizeiliche Staatsschutzabteilungen,<br />

Bundeskriminalamt und Bundesanwaltschaft des § 129/a<br />

StGB bedienen.<br />

Prozesse gegen kurdische PolitikerInnen, die wegen<br />

Mitgliedschaft in einer kriminellen oder terroristischen<br />

Vereinigung (§ 129/a StGB) angeklagt werden, gleichen<br />

Inszenierungen. Man kennt sich: die Richter der<br />

Staatsschutzsenate, die Vertreter der Bundesanwaltschaft,<br />

die Dolmetscher, das Wachpersonal und last but not least<br />

die Verteidiger. Nur die Angeklagten sind jeweils andere.<br />

Schon nach den ersten Verhandlungstagen kann man als<br />

BesucherIn spekulieren, ob das Gericht eine<br />

Freiheitsstrafe unter oder über 3 Jahre verhängt. In fast<br />

allen Verfahren werden stunden- und seitenlang Jahre<br />

zurückliegende Urteile verlesen, die mit dem aktuellen<br />

Prozess wenig bis nichts zu tun haben. Zentimeterhoch<br />

türmen sich auf den Gerichtstischen die Disketten mit<br />

abgehörten Telefongesprächen; verlesen werden banale<br />

Dialoge, häufig uminterpretiert in Aussagen, die den<br />

Anklägern in den Kram passen.<br />

Prägnant in all diesen Verfahren ist die rückwärtsgewandte<br />

Sichtweise der Ankläger auf die PKK. Nach<br />

Auffassung <strong>von</strong> Richtern und Bundesanwälten hat sich in<br />

den vergangenen Jahren außer einer Umbenennung in<br />

KADEK oder KONGRA-GEL oder KCK nichts geändert: keine<br />

Struktur, nicht die handelnden Personen, keine Strategie.<br />

Neue Programme, friedenspolitische Konzepte,<br />

Demokratisierung nach innen und außen, Fortentwicklung<br />

der frauen- und gesellschaftspolitischen <strong>Kom</strong>ponenten?<br />

Alles nichts. PKK = KADEK = KONGRA-GEL = KCK = PKK -<br />

alles ist und bleibt verboten. Das ist die Basta-Politik aller<br />

Bundesregierungen seit 16 Jahren !<br />

Wie gut erinnere ich mich noch an die großen Hoffnungen,<br />

die die Kurdinnen und Kurden in die damalige rot/grüne<br />

Bundesregierung gesetzt hatten. Die Enttäuschungen kon-<br />

-29-


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

nten größer nicht sein. Keine Claudia Roth mehr, die sich<br />

einst leidenschaftlich für die Aufhebung der Verbote<br />

engagierte und keine Angelika Beer mehr. Die befand sich<br />

plötzlich im bellizistischen Lager und machte den Kurden<br />

eine lange Nase. Still wurden auch einstige SPD-<br />

Mitstreiterinnen und –streitern. Dafür kam Otto Schily.<br />

Den Rest kennen wir.<br />

Ich frage: Warum sollte die deutsche Politik ihr<br />

Missverhältnis zu den Kurden eigentlich ändern? Den<br />

Verantwortlichen sind außen- und wirtschaftspolitische<br />

Rücksichtnahmen auf den NATO-Partner Türkei wichtiger<br />

und: bringt das Feindbild PKK/Kurden nicht auch innenpolitische<br />

Vorteile? Können an ihnen – neben den<br />

Islamisten – nicht hervorragend Antiterrorgesetze und<br />

asyl- und ausländerrechtliche Verschärfungen erprobt<br />

werden? Um ihnen den Weg zu Integration und<br />

Anerkennung zu versperren, werden sie zum innenpolitischen<br />

„Sicherheitsrisiko“ stigmatisiert und ausgegrenzt.<br />

Das funktioniert prima. Wie oft ist die Reaktion auf Kurden<br />

„Ach, die Terroristen“. Das ist das Feindbild, das politisch<br />

gewollt wird.<br />

Und schließlich: Profitiert nicht ein Heer <strong>von</strong> Polizei-,<br />

Geheimdienst- und Kriminalbeamten, Staatsanwälten<br />

und Richtern <strong>von</strong> dieser Ausgrenzungspolitik?<br />

Die Vielschichtigkeit der Kriminalisierung ist außerordentlich.<br />

Leider ist nicht die Zeit für viele Beispiele. Aber<br />

eines möchte ich etwas detaillierter schildern. Es geht um<br />

den kurdischen Politiker Muzaffer Ayata und die<br />

Chronologie seiner politischen Verfolgung auch in<br />

Deutschland. Ich will aufzeigen, wie respektlos und ignorant<br />

sich die deutschen Behörden und Gerichte gegenüber<br />

der Lebensleistung eines Kurden verhalten.<br />

Muzaffer Ayata war bereits in der Türkei wegen seines<br />

politischen Kampfes für die Rechte der Kurden nach dem<br />

Militär-Putsch vom 12. September 1980 in Haft und schwerster<br />

Folter ausgesetzt. Die ursprüngliche Todesstrafe<br />

wurde 1991 in eine 40-jährige Haft umgewandelt. Weil er<br />

nach der Freilassung im Jahre 2000 wegen seiner<br />

Aktivitäten bei den inzwischen verbotenen prokurdischen<br />

Parteien HADEP/DEHAP erneut verfolgt wurde, musste er<br />

flüchten. Anfang 2002 kam er nach Deutschland, wo er<br />

eine Anerkennung als politischer Flüchtling erhielt.<br />

Seine politisch-diplomatischen Aktivitäten für die kurdischen<br />

Parteien setzte er ebenso fort wie seine publizistische<br />

Arbeit für eine friedliche Lösung des türkisch-kurdischen<br />

Konflikts. Statt den Dialog mit Muzaffer Ayata zu<br />

suchen, zogen es die Strafverfolgungsbehörden vor, den<br />

Politiker mit den Mitteln des Polizei- und Strafrechts<br />

mundtot zu machen, ihn politisch ins Abseits zu katapultieren<br />

und die kurdische Bewegung zu schwächen. Sie<br />

beschuldigten ihn der „Rädelsführerschaft in einer kriminellen<br />

Vereinigung“ (gemeint sind hier PKK/ KONGRA-<br />

GEL).<br />

-30-<br />

Muzaffer Ayata hat während seines Verfahrens nicht so<br />

„funktioniert“ hat wie es sich die Ankläger vorgestellt<br />

haben. So erzeugte seine ausführliche Prozesserklärung<br />

gleich zu Beginn für großen Unmut und sein Beharren<br />

darauf , sich nicht <strong>von</strong> seinen politischen Vorstellungen zu<br />

distanzieren, verhärtete die Situation.<br />

8. August 2006,Muzaffer Ayata wird in Mannheim<br />

festgenommen<br />

24. Mai 2007, Vor dem Oberlandesgericht (OLG) in<br />

Frankfurt/M. wird der Prozess eröffnet.<br />

7. Dezember 2008,Die Tageszeitung Milliyet meldet, dass<br />

die Türkei die Auslieferung <strong>von</strong> Ayata beantragt hat<br />

18. März 2008,Es erfolgt die Verlesung der<br />

Auslieferungsanordnung<br />

10. April 2008,Das OLG verurteilt Muzaffer Ayata zu einer<br />

Freiheitsstrafe <strong>von</strong> 3 Jahren und 6 Monaten<br />

Wegen des außergewöhnlich hohen Strafmaßes wird<br />

Revision gegen das Urteil eingelegt.<br />

10.November 2008,Der 3. Strafsenat des Bundes gerichtshofs<br />

(BGH) beschließt die Aufhebung des OLG-Urteils „im<br />

Strafausspruch“ und verweist die Sache zur<br />

Neuverhandlung zurück an einen anderen Senat des OLG<br />

Frankfurt/M.<br />

11. Dezember 2008, Ayatas Verteidigung beantragt die<br />

Aufhebung des Haftbefehls.<br />

17. Dezember 2008,Die Bundesanwaltschaft weist den<br />

Antrag als „unbegründet“ zurück und beantragt die<br />

Fortdauer der U-Haft.<br />

29. Dezember 2008,Der 4. Strafsenat des OLG<br />

Frankfurt/M. weist den Antrag auf Aufhebung des<br />

Haftbefehls ebenfalls zurück und ordnet die Fortdauer der<br />

U-Haft an. Begründung in der Hauptsache: Fluchtgefahr<br />

und fehlende Distanzierung zur PKK/Länge der<br />

Prozesserklärung Ayatas „zur kurdischen Frage“ über<br />

mehrere Sitzungstage.<br />

2. März 2009,Beginn der Neuverhandlung nach<br />

Revisionsentscheidung vor dem 4. Strafsenat des OLG<br />

Frankfurt/M.<br />

9. März 2009,Neues Urteil: 3 Jahre und 2 Monate (4<br />

Monate weniger)<br />

Auch gegen dieses Urteil legt die Verteidigung Revision<br />

ein.<br />

12. Mai 2009,Ayatas Verteidiger beantragt erneut die<br />

Aufhebung des Haftbefehls insbesondere vor dem<br />

Hintergrund einer Reststrafe <strong>von</strong> weniger als 5 Monaten


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

27. Mai 2009,OLG Frankfurt/M. entscheidet gegen eine<br />

Auslieferung des Politikers an die Türkei<br />

19. Mai 2009,Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs<br />

(BGH) verwirft die Beschwerde des Angeklagten und<br />

beschließt die Fortdauer der U-Haft. Begründung:<br />

Fluchtgefahr und Verweis auf Äußerungen Ayatas, er wolle<br />

nach der Haft weiterhin politisch für die Rechte des kurdischen<br />

Volkes arbeiten und ziehe auch einen Aufenthalt<br />

im westeuropäischen Ausland in Betracht.<br />

14. August 2009,Das Regierungspräsidium Stuttgart verfügt<br />

in Anbetracht der nahenden Verbüßung der Endstrafe<br />

im Oktober die Ausweisung. Nach der Haftentlassung<br />

habe sich Muzaffer Ayata täglich bei der Polizei zu melden<br />

und dürfe das Stadtgebiet <strong>von</strong> Stuttgart nicht verlassen.<br />

Der Kurde wurde so wieder auf den Duldungsstatus katapultiert.<br />

Hiergegen wurde selbstverständlich Beschwerde eingelegt.<br />

Der Kampf geht also weiter.<br />

Politisch motivierte Prozesse dieser Art müssen endlich<br />

aufhören!<br />

Ihnen muss der Boden entzogen werden und der heißt:<br />

Betätigungsverbot der PKK.<br />

Die Verantwortlichen dürfen sich nicht weiter hinter<br />

Verboten verschanzen, um politischen<br />

Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen. Lasst uns<br />

gemeinsam für bessere Perspektiven kämpfen.<br />

Nachtrag:<br />

Am 7. Oktober 2009 ist Muzaffer Ayata aus der JVA<br />

Weiterstadt entlassen worden<br />

-31-


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

Mehmet Ataç, Dipl.-Sozialarbeiter, Familientherapeut<br />

Der erste Teil meines Betrages gibt einen Überblick über<br />

die Folgen des Verbotes der kurdischen Organisationen in<br />

Deutschland. Im zweiten Teil beschreibe ich die Situation<br />

der Kurden in Deutschland. Ich werde versuchen, die<br />

Benachteiligungen der Kurden in der deutschen<br />

Gesellschaft aufzuzeigen.<br />

Abschließend möchte ich zur politischen, sozialen und kulturellen<br />

Integration der Kurden in Deutschland einige<br />

Empfehlungen geben.<br />

I.Die Folgen des PKK- Verbotes und sein Auswirkungen<br />

auf die Kurden<br />

Nach der Verbotsverfügung gegen die kurdischen<br />

Organisationen durch Innenminister Manfred Kanther im<br />

Jahr 1993, wurde besonders durch die Gerichtsverfahren<br />

und Berichterstattungen ein negatives Bild über die kurdische<br />

Identität geschaffen. Das Verbot bildet eine<br />

rechtliche Grundlage für die Kriminalisierung und<br />

Verfolgung der Kurden in Deutschland.<br />

Das sogenannte „PKK-Verbot“ zog eine harte<br />

Kriminalisierungswelle gegen die Kurden in Deutschland<br />

nach sich. Tausende Kurden wurden wegen ihrer<br />

Unterstützung der PKK und anderer kurdischer<br />

Organisationen angezeigt oder angeklagt. Hunderte <strong>von</strong><br />

ihnen verbüßten in Gefängnissen Haftstrafen. Es liefen<br />

Tausende <strong>von</strong> Strafverfahren wegen des Zeigens verbotener<br />

kurdischer Symbole, Bilder des Vorsitzenden der<br />

PKK, Öcalan, wegen der Teilnahme an Demonstrationen,<br />

Kundgebungen und Veranstaltungen.<br />

Durch das „PKK-Verbot“ entstanden ungezählte materielle<br />

und andere Schäden auf beiden Seiten; das betraf Kurden<br />

und deutsche Behörden. Wegen der Verurteilungen der<br />

politischen Kurden zu hohen Geld- und Gefängnisstrafen<br />

durch Justizbehörden, sind die Familien auseinandergebrochen,<br />

Existenzen <strong>von</strong> Menschen vernichtet worden.<br />

Dem Verbot zufolge sind in Deutschland über 40 Vereine,<br />

die erste kurdische Presse-Agentur und der AGRI-<br />

Buchverlag in Köln sowie die wöchentliche Zeitung<br />

Berxwedan geschlossen und über 100 Tonnen Bücher<br />

beschlagnahmt worden. 1995 wurden 2 LKW-Ladungen<br />

voller Bücher des Kurdistan-Information-Zentrums in<br />

Frankfurt/M. beschlagnahmt, darunter über 40<br />

Publikationen <strong>von</strong> Abdullah Öcalan, dessen Bücher fast<br />

jeder Kurde zu Hause hat.<br />

Kurdische Asylbewerber und Dolmetscher wurden unter<br />

<strong>Dr</strong>uck gesetzt, als Polizeispitzel zu arbeiten und die politisch<br />

aktiven Kurden mit Abschiebung in die Türkei bedroht. <br />

-32-<br />

Redebeitrag <strong>von</strong> Mehmet Ataç<br />

Auch mit den Kurden sympathisierende Deutsche sind <strong>von</strong><br />

dem Verbot nicht verschont geblieben. Die kurdischen<br />

Demonstrationen, Newroz-Feste (Neujahrfeste) und<br />

Hungerstreiks, mit denen die Kurden ihre Proteste gegen<br />

den Krieg in Kurdistan und zuletzt wegen der<br />

Verschleppung <strong>von</strong> Öcalan in die Türkei zum Ausdruck<br />

bringen wollten, verliefen in der Folge des PKK-Verbots mit<br />

Konfrontationen zwischen der Polizei und den Kurden.<br />

Durch die starre Haltung der Bundesregierung und infolge<br />

des PKK-Verbotes entstanden und entstehen Kosten in<br />

großer Höhe für Mitarbeiter, Dolmetscher, V- Leute etc.<br />

Seitens der Regierung entstanden finanzielle<br />

Aufwendungen im Zusammenhang mit der europäischen<br />

und internationalen Zusammenarbeit zur Durchsetzung<br />

des PKK- Verbotes; bei Bundeskriminalamt (BKA),<br />

Bundesgrenzschutz (BGS), Bundesnachrichtendienst<br />

(BND) und anderen Stellen des Bundes im Zusammenhang<br />

mit Observierungen, Übersetzungen und Auswertungen<br />

kurdischer Presseorgane wie Fernsehsender MEDYA-TV,<br />

Roj-TV, Zeitungen wie Özgür Politika durch<br />

Ermittlungsverfahren, Prozesskosten,<br />

Hausdurchsuchungen und Abhörmaßnahmen.<br />

Auf Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke und der<br />

Fraktion der PDS hat die Bundesregierung am 28. Oktober<br />

1999 erklärt, dass allein dem Bund Kosten durch<br />

Unterstützungseinsätze des Bundesgrenzschutzes in Höhe<br />

<strong>von</strong> 1.635.875,42 DM im Jahr 1999 entstanden sind.<br />

II.Situation der Kurden in Deutschland und ihre<br />

Benachteiligungen<br />

Seit der Immigrationsgeschichte sind vier Generationen<br />

herangewachsen, aber immer noch fehlt eine offizielle<br />

deutsche Kurdenpolitik, aus der Verantwortung<br />

gegenüber 900.000 Kurden entwickelt werden sollte. Sie<br />

werden bei Behörden, Statistiken nicht erkannt und<br />

existieren daher politisch nicht, da man sie als Bürger der<br />

Länder, aus denen sie kommen, behandelt. Das heißt, sie<br />

sind in Deutschland eben einfach nur Türken, Araber und<br />

Perser.<br />

Der in Bonn ansässige Verein „Kurdisches Informationsund<br />

Dokumentationszentrum e.V.“ hat beim Arbeitsamt<br />

Bonn einen Antrag auf Förderung eines<br />

Integrationskonzeptes für kurdische Jugendliche in<br />

Deutschland gestellt. Er wurde am 22. Mai 1995 abgelehnt<br />

und wie folgt begründet:<br />

„... Durch eine Förderung der oben genannten<br />

Arbeitsbeschaffungsmaßnahme werden außenpolitisches<br />

mit Schwerpunkt auf Jugendarbeit Auswirkungen auf das


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

deutsch- türkische Verhältnis hätte, da die türkische<br />

Regierung eine Förderung als Versuch der Einmischung in<br />

innertürkische Angelegenheiten und als Förderung separatistischer<br />

Tendenzen betrachten würde. Hinzu kommt,<br />

dass nicht auszuschließen ist, dass das Ergebnis der<br />

Maßnahme eher integrationshemmend als integrationsfördernd<br />

ist, da die bestehenden Spannungen zwischen<br />

türkischen Mitbürgern und Mitbürgern kurdischer<br />

Abstammung verstärkt werden könnten und somit der<br />

soziale Frieden zwischen den in Deutschland lebenden<br />

Ausländergruppen beeinträchtigt würde.“<br />

Die Kurden werden <strong>von</strong> der Förderung sozial-kultureller<br />

Rechte ausgeschlossen. Sie erhalten auf Bundesebene<br />

keine staatliche Unterstützung, wodurch die sozial- kulturellen<br />

Aktivitäten der Kurden erschwert werden. Dass<br />

diese und andere Integrationsarbeiten verschiedener kurdischer<br />

Vereine <strong>von</strong> kommunalen und staatlichen Stellen<br />

nicht gefördert werden, beruht auf einem Beschluss bzw.<br />

einer Empfehlung des Auswärtigen Amtes vom 13.6.1990:<br />

„... Aus politischen Gründen hält das Auswärtige Amt an<br />

seiner Auffassung fest, dass Aktivitäten kurdischer<br />

Gruppen im Bundesgebiet nicht mit Bundesmitteln<br />

gefördert werden sollten. ... Jede Förderung auch angeblich<br />

rein kultureller Aktivitäten durch die<br />

Bundesregierung würde in der großen türkischen Kolonie<br />

in der Bundesrepublik Deutschland Zwietracht und<br />

interkommunitäre Streitigkeiten auslösen. Sie würde<br />

außerdem <strong>von</strong> der türkischen Regierung als Versuch einer<br />

Einmischung in innertürkische Angelegenheiten und als<br />

Förderung separatistischer Tendenzen betrachtet werden.“25<br />

Es hat viele Konsequenzen, dass die Kurden seit vielen<br />

Jahren dem <strong>Dr</strong>uck und der starren Haltung deutscher<br />

Politik ausgesetzt werden. Es gibt kein spezifische<br />

Sozialarbeit und keine sozial- pädagogischen Angebote für<br />

Kurden. „Die Forderung nach einem Sozialdienst für<br />

Kurden wurde <strong>von</strong> der Bundesregierung als Zumutung<br />

empfunden, nur geeignet, die deutsch- türkische<br />

Freundschaft zu belasten.“<br />

Wegen dieser unnachgiebigen Haltung - sowohl politisch<br />

als auch gesellschaftlich -, haben die Kurden keine<br />

Möglichkeit, sich in ihren sozialen Angelegenheiten beraten<br />

zu lassen. Damit wird die Integration der Kurden in das<br />

gesellschaftliche System Deutschlands erschwert.<br />

Die Kurden benötigen wie andere Migrantengruppen auch<br />

Familien-, Asyl- und Sozialberatung sowie psychologische<br />

Anlaufstellen.<br />

Es gibt zwar Einrichtungen, die sich mit sozialen, kulturellen,<br />

rechtlichen, asylrechtlichen und psychologischen<br />

Problemen <strong>von</strong> Migranten beschäftigen, aber die<br />

notwendige Sozialberatung und –betreuung, sie berücksichtigt<br />

aber nicht die Bedürfnisse der Kurden.<br />

In den Beratungsstellen werden sie mehr als „türkisches,<br />

arabisches, persisches Klientel“ betrachtet.<br />

Ein erfolgreiches Beratungsgespräch setzt Vertrauen und<br />

in der Muttersprache sprechen zu können, voraus.<br />

Kurdische Dolmetscher sind in den Beratungsstellen nicht<br />

vorhanden bzw. werden nicht finanziert.<br />

Es ist zu hören, dass Kurden immer wieder mit ihren<br />

Problemen zu türkischen Beratern geschickt werden. Doch<br />

Vertrauen haben die kurdischen Klienten bei den<br />

türkischen Beratern nicht, eher große Ängste. Die meisten<br />

<strong>von</strong> türkischer Politik geprägten Berater oder Therapeuten<br />

haben auch kein Verständnis für die Probleme der kurdischen<br />

Klienten. Erschwerend kommt hinzu, dass die meisten<br />

therapiesuchenden Kurden <strong>von</strong> der türkischen<br />

Staatspolitik Betroffene sind.<br />

Alle Versuche hinsichtlich der Einrichtung sozialer<br />

Versorgungsstellen für Kurden schlugen bis jetzt fehl,<br />

obwohl diese Menschen verstärkt wegen ihrer spezifischen<br />

Probleme dringend darauf angewiesen sind. „<br />

Obwohl die Zahl der kurdischen Flüchtlinge seit zwei<br />

Jahrzehnten zu den höchsten überhaupt zählt, findet keine<br />

Beratung und Betreuung speziell für kurdische Flüchtlinge<br />

statt.“<br />

Offiziell wird in Deutschland die kurdische Identität nicht<br />

anerkannt; eine Unterstützung der Integrationsarbeit der<br />

kurdischen Verbände und Vereine findet nicht statt.<br />

Allgemein übernehmen die kurdischen Vereine ehrenamtlich,<br />

unregelmäßig und nach ihren Möglichkeiten die<br />

psycho-soziale Versorgung für ihre Landsleute.<br />

Häufig akzeptieren Standesämter keine kurdischen Namen<br />

und kurdischen Kindern wird kein muttersprachlicher<br />

Unterricht in den Schulen erteilt. Es gibt keine kurdischsprachige<br />

Sendungen in Fernsehen und Rundfunk.<br />

Zur Festigung der Persönlichkeit und zur positiven<br />

Entwicklung des Lebens für Kurden ist es eine menschliche<br />

und rechtliche Aufgabe, diese mit anderen Gruppen gleichzustellen.<br />

III.Empfehlungen zur Integration der Kurden<br />

Zur Normalisierung des Verhältnisses zwischen Deutschen<br />

und Kurden, des friedlichen Zusammenlebens und der<br />

Integration der Kurden sind folgende Maßnahmen<br />

erforderlich:<br />

1.Die Gleichstellung der Kurden mit anderen<br />

Migrantengruppen ist möglich, wenn die Kurden als eigenständige<br />

Volksgruppe anerkannt werden.<br />

2.Die Bundesregierung muss sich für eine politische<br />

Lösung des Kurdenproblems einsetzen und eine offizielle,<br />

gerechte Haltung gegenüber den Kurden einnehmen<br />

3.Die politischen kurdischen Parteien, Organisationen und<br />

Vereine müssen als Vertreter der Kurden seitens der<br />

Regierung anerkannt werden<br />

-33-


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

4.Die Kurden müssen als eigenständige Volksgruppe<br />

anerkannt werden, damit sie nicht mehr als Türken,<br />

Araber und Perser gelten<br />

5.Das Betätigungsverbot <strong>von</strong> PKK/Kongra-Gel sowie das<br />

Verbot kurdischer Symbole und Fahnen muss aufgehoben<br />

werden<br />

6.Die Verfolgung der Kurden muss beendet werden und<br />

strafrechtliche Registrierung im Zusammenhang mit dem<br />

PKK/ERNK- Verbot müssen vernichtet werden<br />

7.Kurdische Flüchtlinge müssen als Kriegsflüchtlinge<br />

anerkannt werden und dürfen nicht abgeschoben werden,<br />

solange sich die Situation in ihrer Heimat nicht langfristig<br />

verbessert<br />

8.Die sozialen und kulturellen Projekte der Kurden müssen<br />

<strong>von</strong> Bund und den Ländern finanziert werden<br />

9.Der muttersprachliche Unterricht in den Schulen muss<br />

auch für kurdische Kinder eingeführt werden<br />

10.Es muss den Kurden ermöglicht werden, kurdischsprachige<br />

Radio- und Fernsehsendungen hören und<br />

sehen zu können<br />

11.Die kurdischen Namen müssen bei Standesämtern<br />

grundsätzlich anerkannt werden<br />

12.Die psycho-sozialen Beratungsstellen müssen nach den<br />

Bedürfnissen der kurdischen Klientel eingerichtet werden<br />

und die Beratung muss in kurdischer Sprache durchgeführt<br />

werden<br />

13.Kurdischsprachige Publikationen müssen zum<br />

Bestandteil <strong>von</strong> öffentlichen Bibliotheken gehören.<br />

Fußnoten:<br />

1 - BT- <strong>Dr</strong>ucksache 14/1740 am 28. Oktober 1999<br />

20- aus: Kleine Anfrage der Abgeordneten Angelika Beer und Fraktion<br />

BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN- <strong>Dr</strong>ucksache 13/ 1951- Behinderung der<br />

kommunalen Integrationsarbeit kurdischer Vereine. 4.7.1995<br />

21- Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der Abgeordneten<br />

Angelika Beer und Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN- <strong>Dr</strong>ucksache 13/<br />

2066. 25.1995<br />

Sahin, Mehmet: Türkei- Kurdistan. Eine Reise durch die Jüngste<br />

Vergangenheit. Köln. 1999, S. 123<br />

-34-


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

Eckpfeiler für eine Integrationspolitik für Kurden in Deutschland<br />

Schriftliche Adresse <strong>von</strong><br />

Professor <strong>Dr</strong>. Andreas<br />

Buro, Koordinator des<br />

Dialog-Kreises "Die Zeit ist<br />

reif für eine politische<br />

Lösung im Konflikt zwischen<br />

Türken und Kurden"<br />

Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Konferenz,<br />

aus gesundheitlichen Gründen kann ich nicht persönlich bei<br />

Ihrer wichtigen Konferenz in Berlin dabei sein, möchte<br />

jedoch die folgende schriftliche Adresse ihnen übermitteln.<br />

Ich gehe da<strong>von</strong> aus, dass- Ihr zentrales Konferenzthema, die<br />

Verbesserung der Integrationsmöglichkeiten der Kurden in<br />

Deutschland, weitgehend da<strong>von</strong> abhängt, ob es endlich<br />

gelingt, den türkisch-kurdischen kriegerischen Konflikt zu<br />

beenden und die sogenannte „Kurdische Frage“ auf einen<br />

sicheren Weg zu einer allseits akzeptablen Lösung zu bringen.<br />

Ich stelle meine Adresse unter das Motto:<br />

Den Krieg beenden! Um Aussöhnung und Gerechtigkeit<br />

kämpfen!<br />

Ein großer Erfolg ist errungen worden. Die Lösung der<br />

Kurdenfrage ist endgültig und unwiderrufbar auf die<br />

türkische Tagesordnung gesetzt worden. Sie ist damit allerdings<br />

noch nicht gelöst. Viele Kräfte haben daran mitgearbeitet:<br />

Bemühungen <strong>von</strong> kurdischer Seite mit ihren ständigen<br />

Angeboten für eine friedliche, demokratische und politische<br />

Lösung und ihren einseitigen Waffenstillständen.<br />

Aber auch der Schritt des türkischen Staatspräsidenten<br />

Abdullah Gül, die Lösung der Kurdenfrage zur Hauptaufgabe<br />

der Türkei zu erklären, war und ist <strong>von</strong> größter Bedeutung,<br />

wie auch die Bereitschaft des Ministerpräsidenten, mit dem<br />

Vorsitzenden der kurdischen DTP zu sprechen. Alle diese<br />

Bemühungen sind hoch anzuerkennen, haben sie doch auf<br />

beiden Seiten unter schwierigsten Bedingungen stattgefunden.<br />

Jetzt und wohl auch noch auf längere Zeit wird über das<br />

„Wie“ gestritten. Das ist angesichts des langen historischen<br />

Kampfes mit seinen tiefen politischen, sozial-psychologischen<br />

und ideologisch-nationalistischen Auswirkungen auf<br />

die Gesellschaft, aber vor allem auch auf die führenden<br />

Gruppierungen nicht anders zu erwarten.<br />

Es besteht, auch wenn die Uhr nicht zurück gedreht werden<br />

kann, immer noch die Gefahr, dass „der Berg kreißt und nur<br />

eine Maus geboren wird“. Geschieht dies, so wird eine<br />

„bleierne Zeit“ folgen, die Elend und Gräuel wieder aufleben<br />

lassen wird. Keiner kann voraussehen, welche internationalen<br />

Bedingungen sich dann auf den so notwendigen<br />

Lösungsprozess auswirken werden. Deshalb ist jetzt aus<br />

meiner Sicht eine große und kühne Initiative der kurdischen<br />

Seite erforderlich, durch die die ganze Konstellation des<br />

Konflikts grundlegend verändert wird. Ankara ist dazu nicht<br />

in der Lage, nur die kurdische Seite kann dies vollbringen.<br />

Der Krieg muß den türkischen Nationalisten und<br />

Militaristen, die unbedingt daran festhalten wollen,<br />

weggenommen werden; aber auch den NATO-Staaten einschließlich<br />

Deutschland, die sich bislang kaum für eine<br />

Lösung eingesetzt und sich hinter dem unsinnigen<br />

Terrorismus-Vorwurf gegenüber der kurdischen Seite verschanzt<br />

haben. Dies ist nur möglich, indem die kurdische<br />

Seite – und ich wende mich damit ausdrücklich an die PKK,<br />

die KCK - Gemeinschaft der <strong>Kom</strong>munen Kurdistans - und an<br />

den Vorsitzenden des Exekutivrates, Murat Karayilan – aus<br />

weitsichtigen strategischen Überlegungen erklärt, sie sei<br />

bereit, endgültig auf die Fortführung des militärischen<br />

Kampfes zu verzichten und ihre Waffen unter internationaler<br />

Kontrolle zu übergeben. Auf jede militärische<br />

<strong>Dr</strong>ohung werde verzichtet, denn wer nach dem Motto droht<br />

„ und bist Du nicht willig, so brauch ich Gewalt“ (v. Goethe,<br />

„Der Erlkönig“), kehrt damit zurück zur militärischen<br />

Kriegslogik und in die bisherigen so tragischen<br />

Konstellationen.<br />

Mit einem solchen kühnen Schritt würde die kurdische Seite<br />

konsequent ihrer bisher immer wieder vorgetragenen<br />

Überzeugung folgen, die auch der Vorsitzende Abdullah<br />

Öcalan teilt, dass die kurdische Frage nur politisch,<br />

demokratisch und friedlich gelöst werden könne. Sie zöge<br />

damit die grundsätzliche Schlußfolgerung aus ihren bisherigen<br />

Forderungen und wälzte damit gleichzeitig die gesamte<br />

aktuelle Konstellation um. Dann würden wieder Ziele und<br />

Mittel übereinstimmen. Damit würde der Weg frei für eine<br />

neue Politik der Aussöhnung und des Kampfes um die<br />

Herstellung <strong>von</strong> Gerechtigkeit gegenüber der kurdischen<br />

Bevölkerung im Rahmen der Türkei. Die ganze kurdische<br />

Bevölkerung – und mit ihr hoffentlich viele türkisch-stämmige<br />

Bürgerinnen und Bürger – könnten sich an tausend<br />

Stellen der Gesellschaft an diesen Bemühungen beteiligen.<br />

Der auf Imrali gefangene Abdullah Öcalan, sagte jüngst zu<br />

seinen Verteidigern: „ Alle, die Jugendlichen, die Frauen,<br />

jeder muß seine eigenen Entscheidungen treffen. Wer auf<br />

bestellte Lösungen wartet, kommt nicht zum Erfolg oder zu<br />

einer Lösung. . Diese Art <strong>von</strong> Lösungslogik war früher in<br />

theokratischen Strukturen vorherrschend und später im<br />

Positivismus, im Nationalstaat ist sie immer noch<br />

vorherrschend. Sie sollen sich dort entscheiden, ich<br />

entscheide mich hier, die anderen woanders, auf diese<br />

Weise regeln wir die Angelegenheit gemeinsam.“<br />

(Kurdistan-Report, Nr. 145, 2009, S.6)<br />

Klingt dies nicht geradezu wie ein Aufruf, um die<br />

berechtigten und international geforderten Rechte der<br />

Kurden zivilgesellschaftlich zu kämpfen?!<br />

-35-


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

Wer sollte da noch glaubhaft die Maske des Terrorismus als<br />

Legitimation für Widerstand gegen die Lösung der kurdischen<br />

Frage weiter tragen können? Weitreichende Impulse<br />

zur Demokratisierung der Gesellschaft der Türkei würden<br />

möglich, die der ganzen Gesellschaft zugute kämen.<br />

Freilich sollte sich niemand Illusionen über die<br />

Schwierigkeiten und Dauer eines solchen zivilgesellschaftlichen<br />

und demokratischen Prozesses <strong>von</strong><br />

Aussöhnungspolitik machen. Nach wie vor gibt es starke<br />

Kräfte, die eine Politik der Aussöhnung verhindern möchten.<br />

Nicht nur die türkische Generalität, nicht nur die alten<br />

nationalistischen Kräfte, die in vielen Institutionen noch<br />

immer eine wichtige Rolle spielen, Terroristen in vielen<br />

Lagern, die ihre je spezielle bisherige Legitimationsbasis<br />

bedroht sehen – diese vielfältige Gesellschaft enthält eine<br />

Fülle sektiererischer Ansätze, die möglicherweise ihre je<br />

besonderen Ziele gewaltsam anstreben und das Ruder<br />

zurück reißen wollen.<br />

Für das Durchhalten selbst bei schwerwiegenden<br />

Provokationen gibt es eine wesentliche, doch ungewohnte<br />

Konstellation. Die USA, die Führungsmacht der NATO, sind<br />

aus Gründen, die mit ihrer Irak-Politik zusammen hängen,<br />

an einer Lösung der Kurdenfrage interessiert. Das setzt dem<br />

türkischen Militär Grenzen und auch den anderen NATO-<br />

Mitgliedern, die bisher meist friedenspolitisch eine negative<br />

Rolle in der Türkei gespielt haben. Die deutsche<br />

Verfolgungspolitik mit ihrem unqualifizierten<br />

Terrorismusvorwurf gegenüber der kurdischen Seite darf da<br />

nicht verschwiegen werden.<br />

Eine Politik der Aussöhnung ist grundsätzlich in die Zukunft<br />

gerichtet. Sie darf sich nicht in gegenseitiger Aufrechnung<br />

vergangener Verbrechen fest fahren. Wie verbissen würden<br />

dann die Schuldvorwürfe, Verleumdungen und Leugnungen<br />

gegeneinander getürmt werden? Man erinnere sich an die<br />

Armenier-Genozid-Auseinandersetzung! Steigerung der<br />

Feindseligkeit und sektiererische Ausschreitungen wären<br />

die Folge! Das blockierte Vertrauensbildung und<br />

Kooperationsbereitschaft. Insofern können auch nicht<br />

Tribunale aus anderen Ländern und anderen historischen<br />

Zusammenhängen als Vorbilder übernommen werden.<br />

Sehr gefährlich wäre auch, wenn nun Lösungsschritte zu<br />

kleinlich und zu zögerlich ausfallen, wenn faule<br />

<strong>Kom</strong>promisse an Stelle einer Politik der Aussöhnung und<br />

des Neuanfangs treten. Gefährlich ist aber auch, wenn die<br />

Forderungen <strong>von</strong> kurdischer Seite so weit gehen, daß in der<br />

Mehrheitsgesellschaft mit ihrer bald 100 Jahre alten nationalistisch-türkischen<br />

Sozialisation wieder Ängste vor<br />

Separatismus aufkommen, so dass sie nicht bereit ist, über<br />

sie den Dialog aufzunehmen. Nach dieser Vergangenheit<br />

wird Umdenken ohnehin schwer genug sein. Augenmaß ist<br />

gefragt!<br />

Es müssen eigenständige Wege erprobt und gegangen werden.<br />

Ihre wichtigsten Zielmarken sind die Bildung <strong>von</strong><br />

Vertrauen und vor allem die gemeinsame Herstellung <strong>von</strong><br />

-36-<br />

Gerechtigkeit. Dies ist auf allen Ebenen der Gesellschaft,<br />

also <strong>von</strong> Dorf , Stadt, Region bis zum Gesamtstaat, breit zu<br />

erörtern. Was ist Gerechtigkeit?<br />

Angesichts des autoritären Überhangs und der demokratischen<br />

Defizite der Türkei werden dadurch auch viele<br />

Interessen und Fragen berührt werden, die nicht unmittelbar<br />

mit der kurdischen Frage zusammenhängen und das ist<br />

gut so! Wird doch dadurch die gesamte Gesellschaft in<br />

einen großen Dialog über ihre Zukunft gezogen. Dieser<br />

„große gesellschaftliche Dialog“ muß nicht auf die offensichtlich<br />

mühsamen Entscheidungen der türkischen<br />

Regierungsinstitutionen warten. Er kann gleich beginnen.<br />

Ich sehe wichtige Ansätze in der gegenwärtigen<br />

Mobilisierung auf vielen Demonstrationen, die sich in dieser<br />

neuen Richtung entwickeln könnten.<br />

Jenseits der Aspekte <strong>von</strong> Integrationspolitik <strong>von</strong> kurdischstämmigen<br />

Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland<br />

halte ich es für die kurdische Community in Deutschland für<br />

eine große Aufgabe, diesen hier vertretenen „Großen<br />

Dialog“ auch nach Deutschland zu übertragen, und zwar im<br />

zweifachen Sinne:<br />

Erstens, indem an die deutschen Institutionen bis hin zur<br />

Bundesregierung ein Katalog <strong>von</strong> Bitten und Vorschlägen<br />

herangetragen wird, wie diese denn den Prozess der Lösung<br />

der Kurdenfrage in der Türkei <strong>von</strong> außen friedenspolitisch<br />

unterstützen könnten. Der Katalog müsste öffentlich bekannt<br />

gemacht und erläutert werden. Viele Veranstaltungen<br />

könnten dazu dienen.<br />

Zweitens geht es darum, nun, da das Tabu der Kurdenfrage<br />

gefallen ist, auch die türkischstämmige Community in den<br />

„Großen Dialog“ einzubeziehen. Auch das könnte viele<br />

Basisaktivitäten bewirken, weil viele Dialoge lokal, auch in<br />

kleinen Gruppierungen erforderlich sein werden, ehe die<br />

größeren türkischstämmigen Gruppierungen erreichbar<br />

sein werden.<br />

Es scheint, als habe sich endlich das „Fenster der<br />

Möglichkeiten“ geöffnet, diesen fürchterlichen und<br />

sinnlosen Konflikt des türkischen Nationalstaates gegen<br />

seine kurdischen Mitbürger friedlich beizulegen und die<br />

nationalistische Politik der Zwangsassimilierung zu überwinden.<br />

Gelänge dies, so wäre dies eine ungeheure<br />

Bereicherung für alle Menschen in der Türkei, ob der<br />

Herkunft nach Türken, Kurden, Armenier, religiöse<br />

Minderheiten. Eine Win-Win-Situation für die ganze Türkei,<br />

die ihre reichen Möglichkeiten nun endlich entfalten könnte<br />

und sich nicht im Bruderkrieg um veraltete Ideologien zerfleddern<br />

müsste.<br />

Dieses „Fenster der Möglichkeiten“ darf nicht wieder<br />

zuschlagen und den Kurs auf die Lösung der Kurdenfrage<br />

erneut auf Jahre verstellen. In dieser Situation müssen alle<br />

auf eine friedliche, zivile und demokratische Lösung<br />

bedachten Kräfte über alle sonstigen Differenzen hinweg<br />

zusammenstehen. Ich wünsche uns allen, dies möge gelingen!


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

Murat Çakır, Rosa-Luxemburg-Stiftung<br />

Werte Gäste, liebe Freundinnen und Freunde,<br />

wir sind am Ende einer Konferenz angekommen, <strong>von</strong> der<br />

wir als Veranstalter hoffen, dass es nicht zu einer der<br />

zahlreichen Veranstaltungen wird, deren Ergebnisse all zu<br />

oft im Nichts verhallen. Unsere Hoffnung liegt auch darin,<br />

dass diese Konferenz ein neuer Beginn sein möge: ein<br />

Beginn <strong>von</strong> einer Reihe <strong>von</strong> Veranstaltungen, in denen die<br />

heutigen Einzelthemen eingehender debattiert werden<br />

und die für die Lösung der Probleme einen Beitrag leisten<br />

können.<br />

Uns war es bewusst, dass an einem einzigen Tag die<br />

vielfältigen Probleme der kurdischstämmigen<br />

MigrantInnen, der KurdInnen in Deutschland nicht in<br />

Gänze beleuchtet werden können. Wenn jedoch eben<br />

dieser eine Tag Sie zum »Weitermachen« motiviert haben<br />

sollte, dann hat diese Konferenz aus unserer Sicht eines<br />

ihrer wichtigsten Aufgaben erfüllt. Wir sind auf jedem Fall<br />

gewillt, weiter zu machen und für die Lösung der hier<br />

angesprochen Problemfelder tätig zu werden. Dabei hoffen<br />

wir, Sie und andere als MitstreiterInnen gewinnen zu<br />

können.<br />

Werte Gäste, liebe Freundinnen und Freunde,<br />

erlauben Sie mir, bevor wir auseinandergehen, Sie auf<br />

einige wenige Punkte kurz aufmerksam zu machen.<br />

Wir haben heute über die kurdische Migration in<br />

Deutschland und der daraus resultierenden Probleme<br />

gesprochen. Probleme, deren Lösung jeden Tag noch<br />

dringlicher wird. Die Redebeiträge haben uns vor die<br />

Augen geführt, wie wichtig es ist, dabei<br />

Problembewusstsein zu entwickeln.<br />

Mir persönlich hat dieser Tag nochmals deutlich gemacht,<br />

dass die kurdische Migration in Deutschland zugleich ein<br />

Teil eines seit Jahrzehnten währenden Konfliktes ist. Ein<br />

Konflikt, in der wir Europäer nicht den Luxus haben, wie<br />

der berühmte Geheimrat Goethe, »<strong>von</strong> Friedenszeiten zu<br />

Schlusswort<br />

sinnieren, wenn weit hinten in der Türkei die Völker auf<br />

ihre Köpfe einschlagen«. Selbst wenn wir es nicht<br />

wahrhaben wollen, ändert es nichts an der Tatsache, dass<br />

der Konflikt um das kurdische Volk längst auch unser<br />

Konflikt geworden ist. Sich dieser Tatsache bewusst zu<br />

werden, so glaube ich, liegt in der Verantwortung der<br />

Gesellschaften und der Politik in Europa.<br />

Es ist keineswegs so, dass die KurdInnen - sei es in<br />

Kurdistan oder in Europa - Almosen <strong>von</strong> uns Europäern<br />

erwarten. Sondern es geht schlicht und einfach um die<br />

Gewährung <strong>von</strong> Rechten, die einem jeden Menschen <strong>von</strong><br />

Geburt an zustehen: Selbstbestimmt zu leben; der eigenen<br />

Muttersprache, der Kultur und Geschichte bewusst zu<br />

werden und diese den nachfolgenden Generationen<br />

vererben zu können; sich frei und gleichberechtigt, fern<br />

<strong>von</strong> jeder Repression und jedem entmündigenden<br />

Paternalismus entfalten zu können; Presse- und<br />

Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit zu genießen; sich<br />

organisieren und ohne Beschränkungen frei bewegen zu<br />

können. Eben als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft<br />

am politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen<br />

Leben zu partizipieren.<br />

Es wäre keine Binsenweisheit zu behaupten, dass in<br />

Deutschland MigrantInnen im Allgemeinen und KurdInnen<br />

im Besonderen <strong>von</strong> all diesen Rechten und Freiheiten, die<br />

für uns StaatsbürgerInnen selbstverständlich sind, nicht<br />

partizipieren können. Dieser Umstand zeigt auf die fatalen<br />

Defizite unserer Demokratie. Die Zivilgesellschaft, die<br />

demokratischen Kräfte, aber auch die verantwortliche<br />

Politik dürfen diese Defizite nicht mehr hinnehmen. Nicht<br />

weil wir den KurdInnen oder den MigrantInnen etwas<br />

zugestehen sollen.<br />

Sondern weil wir es uns selber, weil wir es den Werten<br />

einer demokratischen Gesellschaft schuldig sind. Denn:<br />

wie können wir die Werte der Demokratie, die<br />

Gleichberechtigung und Freiheiten überhaupt verteidigen,<br />

für sie werben, wenn wir weiter zulassen, dass rund 10<br />

Prozent unserer Bevölkerung <strong>von</strong> jeglichen politischen<br />

Rechten ausgeschlossen sind, die KurdInnen stigmatisiert,<br />

kriminalisiert und ausgegrenzt, deren soziale Probleme<br />

weitgehend ignoriert und gleichzeitig mit<br />

Gesetzesverschärfungen, Verboten, Repressionsmaßnahmen<br />

die demokratischen Rechte aller ausgehöhlt werden?<br />

Daher sollten wir nicht vergessen, dass eine Gesellschaft,<br />

die Unfreiheit eines ihres Teils hinnimmt, niemals selbst<br />

richtig frei sein kann und so gesehen das Streiten um die<br />

Rechte <strong>von</strong> KurdInnen im Grunde genommen nichts<br />

anderes bedeutet, als für die eigenen Rechte und<br />

Freiheiten zu streiten.<br />

-37-


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

Hierbei müssen wir uns auch vor Augen führen, dass wir es<br />

dabei mit einer Tragödie der anatolisch-mesopotamischen<br />

Völker zu tun haben, an der Europa und Deutschland historisch<br />

wie gegenwärtig eine Mitverantwortung tragen.<br />

Wenn mit Waffen und Gerätschaften aus deutscher und<br />

europäischer Produktion das kurdische Volk unterdrückt<br />

wird; wenn die europäischen Regierungen aus politischen,<br />

wirtschaftlichen und geostrategischen Gründen<br />

undemokratische Regime unterstützen und vor die<br />

Flüchtlinge aus diesen Ländern undurchdringbare Mauern<br />

hochziehen; wenn politische AktivistInnen fernab jeglicher<br />

rechtsstaatlicher Prinzipien mitten in Europa inhaftiert<br />

und abgeschoben werden, wenn Völkerrecht zur<br />

Durchsetzung <strong>von</strong> Wirtschaftsinteressen mit<br />

Aggressionskriegen durchlöchert wird, dann ist<br />

Widerstand gegen eine solche Politik die erste staatsbürgerliche<br />

Pflicht.<br />

Dies machen uns die KurdInnen vor. In der eigenen<br />

Geographie, verteilt in vier Staaten, haben sie sich gegen<br />

die Tyrannei erhoben. In der Türkei ist die Kurdenfrage<br />

unwiderrufbar als das wichtigste Problem des Landes<br />

anerkannt worden. Auch wenn die türkische Regierung<br />

sich als unfähig erweisen sollte, die richtigen Schritte zu<br />

unternehmen, so steht das kurdische Volk mit seinen legitimen<br />

politischen Vertretungen als Garant für die<br />

Demokratisierung und für die friedliche Lösung des<br />

Konflikts bereit.<br />

Seinen politischen Willen dafür hat es mehrfach unter<br />

Beweis gestellt. Wenn in der nahen Zukunft die Republik<br />

Türkei demokratischer und friedlicher werden sollte, dann<br />

wird das kurdische Volk an dieser Entwicklung einen erheblichen<br />

Anteil haben. Auch diese Tatsache haben wir<br />

anzuerkennen.<br />

Wer bis heute die Anerkennung der Tatsachen und eine<br />

entsprechende Handlung <strong>von</strong> der verantwortlichen Politik<br />

erwartet hatte, wurde stets bitter enttäuscht. Anstatt die<br />

Migration als eine der wichtigsten Herausforderungen<br />

unserer Zeit zu begreifen, wurden Realitätsverweigerung,<br />

Abschottungsdenken und Nationalismus zum Stützpfeiler<br />

einer als uferlose Gefahrenabwehr verstandenen<br />

»Ausländer- und Asylpolitik«.<br />

Die Erfahrungen des Nationalsozialismus waren vergessen,<br />

als das Grundrecht auf Asyl de facto aufgehoben wurde.<br />

Im Rahmen <strong>von</strong> sogenannten Sicherheitsstrategien wurden<br />

und werden heute noch rechtsfreie Räume geschaffen,<br />

in denen kurdische AktivistInnen ihrer fundamentalen<br />

Rechte beraubt werden.<br />

Mit Organisationsverboten und Sonderregelungen wurden<br />

die Bundesregierungen parteiisch in dem kurdischtürkischen<br />

Konflikt. Nicht die kurdischen Organisationen<br />

sind es, die den »inneren Frieden« in Deutschland<br />

gefährden, sondern die unselige Haltung der verantwortlichen<br />

Politik, die <strong>von</strong> den imperialen Gelüsten herrührt.<br />

-38-<br />

Ich muss zugeben, dass sich die Politik seit langem für<br />

mich entzaubert hat. Die Politikverdrossenheit vieler<br />

Menschen in diesem Land kann ich gut nachvollziehen.<br />

Auch die Ohnmacht vor der Ignoranz der Macht. Doch<br />

Resignieren, sich zurückziehen? Nein, ich glaube das wäre<br />

der falsche Weg. Wer einen Politikwechsel will – der ist<br />

übrigens in diesem Land längst überfällig –, der muss auf<br />

die zivilgesellschaftlichen, demokratischen Kräfte setzen<br />

und den <strong>Dr</strong>uck auf die verantwortliche Politik erhöhen.<br />

Lösungsansätze aufzeigen, Alternativen erarbeiten, sich<br />

einmischen, versuchen, mitzugestalten.<br />

Wie am heutigen Tag. Dafür möchten wir Ihnen allen, die<br />

dieser Konferenz beigetragen haben, herzlich danken und<br />

laden Sie ein, die nachfolgenden Veranstaltungen mit uns<br />

gemeinsam zu gestalten.<br />

Zum Abschluss der Konferenz haben die TeilnehmerInnen<br />

die folgende 10-Punkte-Resolution verabschiedet:


Konferenz: Kurden in Deutschland<br />

Resolution: Berliner Erklärung<br />

FÜR DIE GLEICHSTELLUNG DER KURDINNEN UND KURDEN<br />

MIT ANDEREN MIGRANTENGRUPPEN<br />

„Nach über 45jähriger Migration lebt nun fast eine Million KurdInnen in Deutschland, die als ArbeitsmigrantInnen,<br />

Flüchtlinge oder AkademikerInnen aus der Türkei, dem Iran, Irak und Syrien gekommen oder geflohen sind. Etwa ein<br />

<strong>Dr</strong>ittel <strong>von</strong> ihnen besitzt inzwischen die Staatsbürgerschaft der Bundesrepublik. Die zweitgrößte MigrantInnengruppe ist<br />

bis heute nicht als eigenständige MigrantInnengruppe anerkannt, da sie i. d. R. entweder als türkische, iranische,<br />

irakische oder syrische Staatsangehörige gelten. Dadurch werden ihnen fundamentale Rechte wie muttersprachlicher<br />

Unterricht, Beratung und Betreuung in der eigenen Sprache, Teilhabe an spezifischen Integrationsmaßnahmen u. v. a.<br />

m. verwehrt. Es ist nun an der Zeit, dass diese Bevölkerungsgruppe anerkannt wird, um sie in der öffentlichen<br />

Unterstützung und Förderung der sozio-kulturellen Anliegen den anderen MigrantInnengruppen gleichzustellen.<br />

Die Tatsache, dass seit 1993 aufgrund politischer Erwägungen die Betätigung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verboten<br />

ist, führt dazu, dass kurdische MigrantInnen und insbesondere ihre Selbstorganisationen kriminalisiert, stigmatisiert<br />

und als Folge dessen, doppelter Ausgrenzung ausgesetzt werden. Die Organisationsverbote und zahlreichen<br />

Repressionsmaßnahmen stellen sich derzeit als große Integrationshindernisse dar. Die KurdInnen, die seit Jahrzehnten<br />

zu einem festen Bestandteil der bundesrepublikanischen Gesellschaft geworden sind, werden so an den Rand der<br />

Gesellschaft gedrängt. Diese Tatsachen zeugen <strong>von</strong> einem fatalen Defizit der Demokratie in Deutschland. Es ist dringlicher<br />

denn je, diesen Umstand zu ändern.<br />

Die TeilnehmerInnen sind der Auffassung, dass ein grundlegender Paradigmenwechsel notwendig ist. Um dies<br />

gewährleisten zu können, fordern sie Politik und Gesellschaft auf, Schritte zur Beseitigung der Folgen des bisherigen<br />

Umganges mit KurdInnen zu unternehmen. Dazu gehören insbesondere:<br />

1. Die Anerkennung der KurdInnen als eigenständige MigrantInnengruppe und Gleichstellung mit den anderen Gruppen;<br />

2. Aufhebung des seit 1993 bestehenden Betätigungsverbots der PKK und kurdischer Organisationen sowie Beendigung<br />

der Repressionsmaßnahmen;<br />

3. Beratungs- und Betreuungsmöglichkeiten auch für kurdische MigrantInnen und Flüchtlinge in ihrer Muttersprache<br />

und Herausgabe <strong>von</strong> Informationsmaterialien in kurdischer Sprache;<br />

4. Muttersprachlicher Ergänzungsunterricht für kurdische SchülerInnen;<br />

5. Das Zulassen <strong>von</strong> kurdischen Namen, auch wenn diese <strong>von</strong> den Behörden der Herkunftsländer nicht anerkannt werden;<br />

6. Gleichbehandlung der KurdInnen bei den fremdsprachigen Sendungen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten;<br />

7. Aufhebung der Betätigungsverbote für kurdische Medien wie ROJ-TV in Deutschland;<br />

8. Aufnahme der Selbstorganisationen der KurdInnen in den Integrationsgipfel und Förderung der Selbsthilfe sowie der<br />

Bestrebungen für muttersprachliche, politische und kulturelle Information und Bildung;<br />

9. Einstellung <strong>von</strong> Abschiebungen <strong>von</strong> politisch aktiven KurdInnen und der Widerrufsverfahren gegen anerkannte kur<br />

dische Flüchtlinge;<br />

10. Verstärkter Einsatz der Bundesregierung für die friedliche und demokratische Lösung der Kurdenfrage.<br />

Die TeilnehmerInnen der Konferenz sind der Auffassung, dass diese Forderungen einen wichtigen Schritt für die überfällige<br />

Integration eines nicht unwesentlichen Teiles unserer Bevölkerung bedeuten. Sie sind der Überzeugung, dass<br />

Zivilgesellschaft, die demokratischen Kräfte unseres Landes, die Selbstorganisationen der KurdInnen und die verantwortliche<br />

Politik große Anstrengungen unternehmen müssen, um eine friedliche, gleichberechtigte und demokratischere<br />

Zukunft gestalten zu können. Die aus der Migration der KurdInnen in Deutschland herauswachsenden Probleme<br />

sollten als eine Herausforderung für Gesellschaft und Politik verstanden werden. Daher erklären die TeilnehmerInnen<br />

der Konferenz ihren Willen, auch in der Zukunft sich gemeinsam für die Lösung der Probleme der kurdischen<br />

MigrantInnen einzusetzen. Sie erachten die heutige Konferenz als einen Beginn weiterer Aktivitäten.“<br />

-39-


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