Redebeitarg von Dr. Gisela Penteker - Yek Kom
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Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
INHALT<br />
2 Vorwort<br />
Veranstalter<br />
3 Das Programm<br />
4 Eröffnungsrede <strong>von</strong> Ahmet Çelik (YEK-KOM e.V. Vorsitzender)<br />
5 - 6 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> Osman Baydemir (Oberbürgermeister <strong>von</strong> Diyarbakir)<br />
6 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> Walter Momper, (Präsident de Abgeordnetenhaus <strong>von</strong> Berlin)<br />
7 - 9 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> Prof. dr. Birgit Ammann (Sozailwissenschaftlerin, Fachhochschule Postdam)<br />
10 - 12 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> Mehmet Şahin (Dialog Kreis)<br />
13 - 15 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> Prof. <strong>Dr</strong>. Norman Peach (MdB, Linksfraktion)<br />
16 - 18 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> <strong>Dr</strong>. Zaradachet Hajo (Vorsitzender des Kurdischen P.E.N.)<br />
19 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> Hamide Akbayir (CENI- Kurdisches Frauenbüro für Frieden)<br />
20 - 22 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> <strong>Dr</strong>. <strong>Gisela</strong> <strong>Penteker</strong> (Flüchtlingsrat Niedersachsen und IPPNW)<br />
23 - 25 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> Yüksel Koç (YEK-KOM e.V. Stellv. Vorsitzender)<br />
26 - 28 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> <strong>Dr</strong>. Rolf Gössner (Vizepräsident der Int. Liga für Menschenrechte)<br />
29 - 31 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> Monika Morres (AZADÎ e.V.,Rechtshilfefonds für KurdInnen in Deutschland)<br />
32 - 34 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> Mehmet Ataç (Dipl. Sozialarbeiter)<br />
35 - 36 <strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> Prof. <strong>Dr</strong>. Andreas Buro (Dialog-Kreis)<br />
37 - 38 Schlußwort, Murat Çakır (Rosa Luxemburg Stiftung)<br />
39 Resolution<br />
Herausgegeben <strong>von</strong><br />
YEK-KOM e.V., Föderation kurdischer Vereine in Deutschland<br />
Graf-Adolf-Str. 70a, 40210 Düsseldorf<br />
Redaktion: <strong>Yek</strong>-<strong>Kom</strong><br />
Layout: <strong>Yek</strong>-<strong>Kom</strong><br />
Titelbild: <strong>Yek</strong>-<strong>Kom</strong><br />
<strong>Dr</strong>uckerei: Steingass Offsetdruck,Köln<br />
November 2009<br />
-1-
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
-2-<br />
Kurden in Deutschland<br />
Geschichte, Gegenwart, Perspektiven für Gleichstellung<br />
VORWORT<br />
Nach fast 50-jähriger Migration lebt inzwischen etwa eine Million KurdInnen in<br />
Deutschland. Sie sind als Arbeitsimmigranten und Akademiker aus der Türkei, dem Iran,<br />
Irak und aus Syrien gekommen oder mussten ihre Heimat als Flüchtlinge verlassen. Etwa<br />
ein <strong>Dr</strong>ittel hat inzwischen die Staatsbürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland erworben.<br />
Die offizielle Politik in Deutschland sortiert die seit Jahrzehnten hier lebenden KurdInnen<br />
immer noch nach den Herkunftsstaaten und Farben ihrer Pässe. Die Kurden als zahlenmäßig<br />
zweitstärkste Migrantengruppe sind bis heute den anderen in Deutschland lebenden<br />
Migrantengruppen nicht gleichgestellt.<br />
Die politischen und sozialen Ereignisse in der Bundesrepublik Deutschland werden<br />
aufmerksam und mit großem Interesse verfolgt, denn viele der hier lebenden KurdInnen<br />
haben Deutschland zu ihrem zweiten Heimatland erklärt. Insbesondere begreifen sich kurdische<br />
Jugendliche in erster Linie als Deutsche.<br />
Dennoch möchten die KurdInnen ihre eigene Sprache und Kultur bewahren und sich in<br />
ihrer jetzigen Umgebung politisch, kulturell und gesellschaftlich artikulieren. Mit weit über<br />
100 Vereinen zählen sie in Deutschland zu den bestorganisierten Migrantengruppen. Der<br />
Radius kurdischer Selbsthilfeorganisationen erreicht weit über fünfzigtausend Menschen.<br />
Mit dieser Konferenz möchten wir die Situation der kurdischen MigrantInnen thematisieren,<br />
ihre Erwartungen erörtern und Perspektiven für die zukünftige Arbeit erarbeiten<br />
und darstellen.<br />
Veranstalter/innen:<br />
> Flüchtlingsrat Berlin<br />
> IPPNW, Flüchtlingsrat Niedersachsen<br />
> Europäischer Friedensrat Türkei/Kurdistan<br />
> <strong>Yek</strong>-<strong>Kom</strong>,Föderation der kurdischen Vereine in Deutschland e.V.<br />
> Giyasettin Sayan,Mitglied des Abgeordnetenhauses Berlin<br />
> Internationale Liga für Menschenrechte<br />
> Deutsch – Arabischer Dachverband in Deutschland- DAD- e.V.<br />
> Rosa-Luxemburg-Stifung
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
9.30 Eröffnung und Begrüßung durch die Veranstalter Grußworte <strong>von</strong><br />
- Walter Momper (Präsident des Abgeordnetenhauses <strong>von</strong> Berlin)<br />
- Osman Baydemir (Oberbürgermeister <strong>von</strong> Diyarbakir in der Türkei)<br />
10.15 Kurdische Migration in Deutschland: Geschichte und Gegenwart:<br />
- Mehmet Şahin (Dialog-Kreis)<br />
- Prof. <strong>Dr</strong>. Birgit Ammann (Sozialwissenschaftlerin, Fachhochschule Potsdam)<br />
Nachfragen und Diskussion<br />
11.00 Kaffeepause<br />
11.15 Problemfelder der Integration<br />
- Auswirkungen der Beziehungen zw. Deutschland und der Türkei auf d. Integration<br />
der Kurden in Deutschland:<br />
Prof. <strong>Dr</strong>. Norman (PaechMitglied der Linksfraktion im Deutschen Bundestag)<br />
11.45 Bestandsaufnahme und Vorschläge für die Gleichstellung der Kurden mit anderen Migrantengruppen<br />
- Muttersprachlicher Unterricht und kulturelle Entfaltung:<br />
<strong>Dr</strong>. Zaradachet Hajo (Vorsitzender des Kurdischen P.E.N.)<br />
- Beratung und Betreuung: Juline Nitsche (Sozialpädagogin, Potsdam)<br />
- Frauen- und Jugendarbeit: Hamide Akbayir (Vertreterin <strong>von</strong><br />
CENÎ- Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V. ,Düsseldorf)<br />
- Flüchtlinge: <strong>Dr</strong>. <strong>Gisela</strong> <strong>Penteker</strong> (Flüchtlingsrat Niedersachsen und IPPNW)<br />
- Selbsthilfeorganisationen: Yüksel Koç (Stellvertretender Vorsitzender der YEK-KOM)<br />
Nachfragen und Diskussion<br />
13.45 Mittagspause<br />
14.30 Das PKK-Verbot und seine Auswirkung auf die politische Integration der Kurden:<br />
<strong>Dr</strong>. Rolf Gössner (Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte),<br />
Monika Morres (AZADÎ e.V., Rechtshilfefonds für Kurd_innen in Deutschland, Düsseldorf),<br />
Mehmet Ataç (Dipl.-Sozialarbeiter)<br />
Moderation: Rechtsanwalt Dündar Kelloğlu (Hannover)<br />
Nachfragen und Diskussion<br />
16.00 Kaffeepause<br />
16.15 Eckpfeiler für eine Integrationspolitik für Kurden in Deutschland / Zusammenfassung und Perspektiven:<br />
Prof. <strong>Dr</strong>. Andreas Buro (Dialog-Kreis e.V.)<br />
Prof. <strong>Dr</strong>. Wolfgang <strong>Dr</strong>eßen (Politikwissenschaftler, Fachhochschule Düsseldorf)<br />
Moderation: Murat Çakır (Sprecher des Europäischen Friedensrates Türkei/Kurdistan)<br />
18.00 Ende der Konferenz<br />
Kurden in Deutschland<br />
Geschichte, Gegenwart, Perspektiven für Gleichstellung<br />
9. September 2009<br />
Abgeordnetenhaus Berlin, Raum 376<br />
Niederkirchnerstr. 5, 10111 Berlin<br />
Veranstalter/innen:<br />
Flüchtlingsrat Berlin, IPPNW, Flüchtlingsrat Niedersachsen, Europäischer Friedensrat Türkei/Kurdistan, <strong>Yek</strong>-<strong>Kom</strong><br />
(Föderation der kurdischen Vereine in Deutschland e.V.), Giyasettin Sayan (Mitglied des Abgeordnetenhauses Berlin), Int.<br />
Liga für Menschenrechte, Deutsch – Arabischer Dachverband in Deutschland- DAD- e.V., Rosa-Luxemburg-Stifung<br />
-3-
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
Sehr geehrter Präsident, sehr geehrter<br />
Oberbürgermeister,<br />
ich begrüße Sie recht herzlich und heiße Sie willkommen!<br />
Vielen Dank, dass Sie sich für diese Konferenz Zeit genommen<br />
haben.<br />
Wir bedanken uns bei allen Veranstaltern, die diese<br />
Konferenz gemeinsam mit uns organisiert haben, bei den<br />
Unterstützern und bei allen Freundinnen und Freunden,<br />
die sich aktiv an den Vorbereitungen beteiligt haben. Wir<br />
sind den RednerInnen Prof. <strong>Dr</strong>. Norman Paech, Prof. <strong>Dr</strong>.<br />
Birgit Ammann, <strong>Dr</strong>. Zaradachet Hajo, <strong>Dr</strong>. Rolf Gössner,<br />
Monika Morres, Hamide Akbayir für Ihre Beiträge und<br />
Reden sowie allen Gästen zu Dank verpflichtet.<br />
Meine Damen und Herren, wir freuen uns<br />
sehr über das breite Spektrum der<br />
TeilnehmerInnen aus über 40 verschiedenen<br />
Organisationen, darunter<br />
VertreterInnen aus dem kirchlichen<br />
Bereich, den Gewerkschaften sowie<br />
Integrations- und MigrantInneneinrichtungen.<br />
Erfreulich, unter den Gästen auch<br />
Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft<br />
und Kunst, aus allen Teilen Kurdistans und<br />
so zahlreich Frauen und Studierende aus<br />
Kurdistan zu sehen.<br />
Wir sind sicher, dass alle Vorträge,<br />
Vorschläge, Diskussionen und Kritiken<br />
geeignete Perspektiven für die<br />
Kurdenfrage aufzeigen werden. Wir verste-<br />
hen sie als außerordentliche Unterstützung unserer politischen<br />
und kulturellen Arbeit.<br />
Bevor wir zu den einzelnen Vorträgen kommen, möchte<br />
ich mit Ihrer Erlaubnis kurz einige Worte über YEK-KOM<br />
sagen: YEK-KOM wurde 1994 gegründet und beherbergt<br />
als eine der größten MigrantInnenorganisationen, 67<br />
Vereine in Deutschland. Zu unseren Mitgliedern und<br />
Unterstützern zählen über 25.000 Selbstständige,<br />
Tausende ArbeitnehmerInnen, SchülerInnen,<br />
AkademikerInnen und kurdische MigrantInnen aus den<br />
verschiedensten Berufsfeldern. In den vergangenen 15<br />
Jahren hat sich YEK-KOM unter dem Großteil der in<br />
Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden, die sich aus<br />
allen vier Teilen <strong>von</strong> Kurdistan zusammengefunden haben,<br />
als wichtige Vertreterin und Sprecherin ihrer Interessen<br />
etabliert.<br />
Seit ihrer Gründung hat sich YEK-KOM unter anderem das<br />
Ziel gesetzt, die Lebensphilosophie der kurdischen<br />
Gesellschaft in Einklang mit der der deutschen<br />
Gesellschaft zu bringen. Auf der einen Seite gilt es dabei,<br />
ihr die sozio-kulturelle und politische Situation der Kurden<br />
näher zu bringen und auf der anderen Seite die<br />
<strong>Kom</strong>munikation zwischen den Völkern zu fördern und eine<br />
kulturelle Brücke zu schaffen.<br />
Die Realität zeigt, dass uns in der Erfüllung dieser Mission<br />
noch ein weiter Weg bevorsteht und wir bis heute nur<br />
-4-<br />
Eröffnungsredebeitrag / Begrüßung <strong>von</strong> Ahmet CELIK<br />
Ahmet Celik,<br />
Vorsitzender der YEK-KOM e.V.<br />
bedingt erfolgreich waren. Die Ursache für die bestehenden<br />
Probleme ist in erster Linie bei den kurdischen<br />
Organisationen zu suchen, doch liegen gravierende Fehler<br />
auch bei den regierungsbildenden Parteien, die eine kriminalisierende<br />
und eher negative Haltung gegenüber den<br />
KurdInnen und ihren Institutionen einnehmen. Experten<br />
und verschiedene Organisationen sind sich einig: Statt einseitig<br />
Integration zu fordern, muss Deutschland eine<br />
solche auch fördern. Wir Kurdinnen und Kurden sind uns<br />
durchaus bestehender Schwierigkeiten bewusst und<br />
möchten den heutigen Tag als einen Neuanfang betrachten<br />
für eine aktive Bekämpfung dieser Probleme und um<br />
die Schließung vorhandener Lücken bemüht sein.<br />
Während wir in Deutschland über die<br />
herrschende Diskriminierung diskutieren,<br />
sind bis heute Kurdinnen und Kurden in<br />
ihrem eigenen Land, auf ihrem Boden, den<br />
sie seit Jahrhunderten bewohnen, einer<br />
unbarmherzigen Unterdrückung und<br />
Verfolgung ausgesetzt. Das ist die Ursache,<br />
weshalb wir zu Hunderttausenden nach<br />
Deutschland bzw. Europa flüchten mussten.<br />
Doch unsere Sehnsucht nach Demokratie<br />
und Frieden hat sich auch hier nicht erfüllt.<br />
Die Benachteiligungen, die uns in unserem<br />
eigenen Land widerfahren sind, finden wir<br />
auch in den Ländern, in denen wir Schutz<br />
gesucht haben.<br />
Wir benötigen sowohl die Hilfe <strong>von</strong> Euch,<br />
liebe Freundinnen und Freunde, als auch die Hilfe aller<br />
demokratischen Kräfte und Organisationen in Europa, um<br />
diese Hürden zu überwinden. Genauso wie wir uns mit<br />
allen unterdrückten Völkern dieser Welt solidarisieren,<br />
erachten wir es als die menschliche und demokratische<br />
Pflicht eines Jeden, diese Bestrebungen zu unterstützen.<br />
In der gleichen Weise, wie wir die Gesetze und die freiheitlich<br />
demokratische Grundordnung in diesem Land<br />
achten, streben wir nach den gleichen Rechten, die<br />
anderen Migrantengruppen zuerkannt werden. Danach ist<br />
die Akzeptanz der kurdischen Identität für eine erfolgreiche<br />
Integration <strong>von</strong> essenzieller Bedeutung.<br />
Es ist unabdingbar, dass das Recht auf freie<br />
Meinungsäußerung, welches sowohl durch das<br />
Grundgesetz als auch durch die Europäische<br />
Menschenrechtskonvention geschützt ist, auch den kurdischen<br />
Politikern bei ihrer Arbeit zugestanden wird. Sie<br />
müssen im Vergleich zu anderen Politikern über die gleichen<br />
Chancen und Rechte verfügen, um ihr Volk auf gleicher<br />
Augenhöhe vertreten zu können. Das wiederum ist<br />
nur möglich, wenn die bestehenden Verbote gegen politische<br />
Einrichtungen der Kurdinnen und Kurden aufgehoben<br />
werden.<br />
In diesem Sinne, danke ich Ihnen vielmals für Ihre Geduld<br />
und Aufmerksamkeit und wünsche uns allen eine erfolgreiche<br />
Konferenz. Vielen Dank.
Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Intellektuelle,<br />
Wissenschaftler und Gäste,<br />
ich möchte mich heute sehr bedanken, dass ich heute hier<br />
sein kann und zur kurdischen Identität, zu den Kurden und<br />
zu unserer Thematik sprechen kann. Ich freue mich sehr,<br />
dass ich auch über meine Arbeit berichten kann und<br />
erläutern, was die Kurden auch hier beschäftigt.<br />
Herr Präsident, ich möchte mich sehr<br />
für ihre freundlichen Worte und Ihre<br />
Gastfreundschaft besonders<br />
bedanken. Die Stadt, aus der ich<br />
komme, hat eine 7000 Jahre alte<br />
Vergangenheit. Sie ist eine wunderbare<br />
Stadt mit einem hohen kulturellen<br />
Wert. Die Mauer, die die Stadt<br />
umzingelt, wurde vor 1000 Jahren <strong>von</strong><br />
Juden, Moslems, Christen und Jeziden<br />
gebaut. Ich finde, dass eine kulturelle<br />
und sprachliche Vielfalt den<br />
Grundstein bilden für jede fortschrittliche<br />
Entwicklung. Leider ist es so,<br />
dass in dieser größten Stadt im Nahen<br />
Osten mit dieser einstigen großen<br />
Vielfalt in Bezug auf Sprache, Ethnien,<br />
Religionen und Identitäten, Menschen<br />
gezwungen wurden, diese Heimat zu<br />
verlassen. Verwurzelung ist leider das<br />
Osman Baydemir<br />
Ergebnis einer Politik, die dort das Land beherrscht. Es ist<br />
nicht lange her, da lebten vor 100 Jahren in Amed Juden,<br />
Süryanis, Kerdanis und Christen. Heute sind große Teile<br />
dieser Bevölkerung dort nicht mehr sesshaft, weil man sie<br />
vertrieben hat.<br />
Wenn wir heute die Frage stellen, wer vor diesem<br />
Hintergrund verloren hat, kann ich einfach nur sagen: Wir,<br />
die dort geblieben sind, wir haben verloren. Weil Vielfalt,<br />
Frieden und Fortschritt in dem Staat verschwunden sind<br />
und wir allein geblieben sind. Eines der ältesten Völker im<br />
Nahen Osten sind Kurden. Leider ist es so, dass aufgrund<br />
<strong>von</strong> Verleugnung und Vernichtung der kurdischen Identität<br />
das Volk seit Jahrhunderten Massakern und<br />
Unterdrückung ausgesetzt wurde. Und trotzdem:<br />
Das Volk lebt immer noch dort und ist ein Teil der Türkei.<br />
Sehr geehrter Herr Präsident, ich bin sehr glücklich, dass<br />
ich in Kreuzberg und Neu-Kölln unterwegs sein konnte und<br />
Menschen aus Kamislo, Avsin, Mahabad und Amed getroffen<br />
habe und dass die Grenzen, die dort befestigt wurden,<br />
hier in Europa aufgehoben sind. Hier gibt es keine Verbote<br />
und das macht mich wirklich sehr glücklich. Wir haben<br />
nicht so viel Erfahrung wie sie hier, aber ich stelle fest, dass<br />
Redebeitrag <strong>von</strong> Osman Baydemir<br />
Oberbürgermeister <strong>von</strong> Diyarbakir<br />
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
die Kurden auch in Europa ein Problem haben, nämlich,<br />
dass sie nicht mit ihrer eigenen Identität anerkannt werden,<br />
sondern je nach Staatsangehörigkeit als Araber,<br />
Perser oder Türken. Das bedeutet, dass auch hier ein<br />
Kurde nicht als Kurde existiert.<br />
Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Ich glaube an<br />
die Geschwisterlichkeit der Völker. Aber das darf nicht<br />
bedeuten, dass Kurden mit ihrer Sprache und Kultur in<br />
Vergessenheit geraten. Ich möchte,<br />
dass alle Völker friedlich zusammen<br />
leben.<br />
Wenn die Identität der Kurden<br />
anerkannt wird, dann wird auch eine<br />
psychische und physische Mauer<br />
gesprengt. Für eine friedliche Lösung<br />
soll das ein riesiger Schritt sein. Wenn<br />
diese Mauer gefallen ist, wird es<br />
Frieden geben, so wie beim Mauerfall<br />
<strong>von</strong> Berlin. Für die Psyche eines jeden<br />
Kurden, gleichgültig aus welchen<br />
Teilen Kurdistans er kommt, ist die<br />
Anerkennung der Identität<br />
lebenswichtig. Das sollte Europa wissen.<br />
Diese Hürde gar nicht erst<br />
aufzubauen, wäre die beste und wünschenswerte<br />
Methode.<br />
Ich glaube <strong>von</strong> Herzen, wenn in Deutschland, in Berlin die<br />
Kurden ihre Muttersprache sprechen können und kurdisch<br />
als Bildungssprache anerkannt wird, dass es<br />
Radiosendungen in kurdischer Sprache gibt,i dass bei<br />
Ämtern Leute eingestellt werden, die die kurdische<br />
Sprache beherrschen, dann kann ich mir vorstellen, dass<br />
sich die Kurden als Teil <strong>von</strong> Berlin oder Deutschland fühlen<br />
und dass sie sich integrieren werden. Ich glaube, dass<br />
eines der großen Probleme im 21. Jahrhundert die<br />
Migration ist.<br />
Wir müssen als Realität ins Auge fassen, dass emigrierende<br />
Menschen keine Rückkehr vorsehen, dass vielleicht<br />
ein Prozent <strong>von</strong> ihnen in ihre Länder zurückkehren<br />
oder vielleicht ein Tausendstel da<strong>von</strong>, und wenn das so ist,<br />
muss sich um das Problem grundsätzlich gekümmert werden.<br />
Bei uns in Amed haben wir in dieser Hinsicht reichliche<br />
Erfahrung. 60 <strong>von</strong> 100 Personen sind Binnenmigranten,<br />
d.h. wir haben ein Problem in der Stadt und das muss<br />
gelöst werden. Wir müssen dafür sorgen, dass diese<br />
Menschen ein Teil <strong>von</strong> Amed werden und das müssen wir<br />
schaffen. Wir haben eine Grundlage dafür geschaffen,<br />
dass diejenigen, die dort in der Migration sind, vor Ort<br />
-5-
einen Verein gründen und sich an der Arbeit im Stadtrat<br />
beteiligen können und dass sie sich selbst organisieren.<br />
Ihnen wird die Möglichkeit gegeben, sich zu artikulieren,<br />
um einen Standpunkt zu erreichen. Sie sollen einen Teil<br />
unserer Stadt darstellen, Verantwortung übernehmen<br />
statt sich als Fremde zu empfinden.<br />
Mit Zufriedenheit kann ich sagen, dass man vor dieser<br />
Organisierung der Migranten keine Angst haben soll. Im<br />
Gegenteil: Diese Menschen tragen dazu bei, dass sich die<br />
Stadt stabilisiert und sie ein Teil unseres Lebens werden.<br />
Ich möchte den Blick noch auf ein anderes Thema lenken.<br />
Nachdem ich Oberbürgermeister geworden bin, pflege ich<br />
bei allen Feierlichkeiten und wichtigen Festtagen auch<br />
Einladungen an alle anderen Bürgermeister und<br />
<strong>Kom</strong>munalvertretungen in der Türkei zu verschicken.<br />
2006 und 2007 habe ich auf Kurdisch und Englisch "Ein<br />
frohes neues Jahr" gewünscht. Nach einer Weile<br />
reagierten viele Abgeordnete und Governeure. Sie<br />
schrieben, weil Sie ihre Grußbotschaft in Kurdisch<br />
geschickt haben, akzeptieren wir sie nicht. Meine<br />
Berater waren dann aufgeregt, und sagten, wir sollten<br />
künftig keine Botschaften dieser Art mehr verschicken.<br />
Ich widersprach und wir versandten weiter<br />
unsere Briefe. Irgendwann haben Staatsanwälte und<br />
andere Persönlichkeiten, auch offizielle Stellen,<br />
meine Grußbotschaften erwidert. Ich habe gesagt,<br />
das ist eine Veränderung in der Gerechtigkeit. Aber<br />
leider war es so, dass die Staatsanwaltschaft in<br />
Diyarbakir nach einem Monat ein<br />
Ermittlungsverfahren gegen mich eingeleitet hat und<br />
ich zur Rechenschaft gezogen wurde.<br />
Ich habe dann bei der Staatsanwaltschaft gesagt: Wie<br />
kann es sein, dass im 21. Jahrhundert eine Sprache<br />
verboten wird? Dann sagte er, die Sprache ist doch<br />
nicht verboten, aber Sie haben ja auf Kurdisch<br />
geschrieben "Frohes Neues Jahr" ; deswegen haben<br />
wir das Verfahren eröffnet.<br />
Ich erwiderte: Letztes Jahr habe ich Ihnen die<br />
Grußbotschaft auf Englisch geschickt, da haben Sie<br />
kein Verfahren eingeleitet. Dann sagte er: Naja, das<br />
war ja auch englisch. Nachdem ich meine Aussage<br />
beendet hatte, habe ich ihn gefragt, ob er sich die<br />
Internetseite des Justizministeriums manchmal<br />
anschaut. Er bejahte und meinte, dass es dort auch<br />
eine Kolumne <strong>von</strong> ihm gebe. Ich fragte ihn nach der<br />
Adresse dieser Internetseite. Er erwiderte:<br />
www.adaletbakanligi.org.<br />
Ich sagte: Sie schreiben dort jeden Tag dreimal, was<br />
ich geschrieben habe. Ich hab das aber nur einmal<br />
geschrieben. Was also ist die Gerechtigkeit?<br />
-6-<br />
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
Er reagierte: Also, Herr Oberbürgermeister, ich kann<br />
gegen Sie nichts machen, gegen Sie komme ich nicht<br />
an. Doch, antwortete ich, gegen mich kommen Sie an,<br />
nicht aber gegen die Gerechtigkeit.<br />
Wegen der Verleugnungspolitik müssen heute etwa 1<br />
Million Kurden in Europa leben. Sie wollen ihre<br />
Rechte wie alle anderen Menschen und setzen auf die<br />
Philosophie eines Rechtssystem, das auf<br />
Gleichberechtigung und Gerechtigkeit basiert. Wird<br />
die Identität der Kurdinnen und Kurden anerkannt,<br />
wird das eine Gewähr dafür bieten, dass wir dafür<br />
Sorge tragen werden, dass die Verbindung zwischen<br />
Nahem Osten und Deutschland bzw. Europa so<br />
hergestellt wird, dass vielfältige Handlungs- und<br />
<strong>Kom</strong>munikationswege eingeschlagen und die kulturelle<br />
Ebene belebt werden können. Ich denke,<br />
Voraussetzung hierfür wäre die Anerkennung der kurdischen<br />
Identität.<br />
Ich bedanke mich bei allen Organisationen, bei dem<br />
Vorbereitungskomitee und bedanke mich für die<br />
Gastfreundschaft, die mir entgegengebracht worden<br />
ist und danke für die Einladung und die Möglichkeit,<br />
hier zu sprechen. Zu allerletzt möchte ich sagen:<br />
Roj Bas, Guten Tag Europa.<br />
----o----<br />
Redebeitrag <strong>von</strong> Walter Momper, Präsident<br />
des Abgeordnetenhauses <strong>von</strong> Berlin<br />
Herzlich willkommen. Ich<br />
habe die bunte Liste der<br />
verschiedenen<br />
Organisationen gesehen,<br />
die im kurdischen Bereich<br />
tätig sind oder kurdische<br />
Menschen hier im Lande<br />
organisieren, und finde das<br />
hoch anerkennenswert. Ich<br />
möchte Ihnen sagen, dass<br />
sie hier zusammengekommen<br />
sind, um eine so ambitionierte<br />
und <strong>von</strong> den<br />
Themen her breit<br />
gefächerte Konferenz zu machen. Ich wünsche Ihnen<br />
allen viel Erfolg und möchte mich auch noch einmal beim<br />
Bürgermeister <strong>von</strong> Diyarbakir dafür bedanken, dass er<br />
heute hier im Hause zu Gast ist. Also: viel Erfolg, gute<br />
Beratung, einen guten Tag und gute Ergebnisse bei der<br />
politischen und kulturellen Arbeit, die sie sich vorgenommen<br />
haben.<br />
Dankeschön!
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
Kurdische Migration in Deutschland: Geschichte und Gegenwart<br />
Redebeitrag <strong>von</strong> Prof. <strong>Dr</strong>. Birgit Ammann,Sozialwissenschaftlerin, Fachhochschule Potsdam<br />
Ich darf Sie auch noch mal ganz herzlich begrüßen. Ich<br />
habe jetzt die nicht ganz leichte Aufgabe, nach der Rede<br />
<strong>von</strong> Oberbürgermeister Baydemir, die mir sehr aus der<br />
Seele gesprochen hat, etwas zu sagen, was eher informatorisch<br />
sein wird.<br />
Ich möchte mich in Anbetracht des vor uns liegenden langen<br />
Tages und der vielen interessanten und wichtigen<br />
Details beschränken auf eine möglichst kurze Erläuterung.<br />
Was ich versuchen möchte darzustellen, ist lediglich<br />
gedacht als Grundinformation für diejenigen <strong>von</strong> Ihnen,<br />
die vielleicht nicht ganz hundertprozentig vertraut sind mit<br />
den Hintergründen der kurdischen Zuwanderung. Sie<br />
haben ja gehört, gelesen, mehrfach vernommen,<br />
dass in Deutschland <strong>von</strong> einer kurdischen<br />
Bevölkerung <strong>von</strong> bis zu einer Million<br />
ausgegangen wird. Zu Zahlen äußere ich mich<br />
sehr ungern, weil - wie wir alle wissen -, die<br />
Ermittlung der Außengren-zen des<br />
Kurdischseins manchmal ziemlich schwierig<br />
ist. Das hat Gründe. Ich muss auch ganz<br />
ehrlich sagen: mir erscheint es häufig so, dass<br />
mit der Konstruktion einer möglichst großen<br />
Anzahl kurdischer Zuwanderinnen und<br />
Zuwanderer die Hoffnung verbunden ist,<br />
anerkannt zu werden. Ich stehe da auf dem<br />
Standpunkt: man muss nicht eine große Gruppe sein, um<br />
respektvoll und unter Wahrung der Menschenrechte<br />
anständig und gut behandelt zu werden. Also: Auch wenn<br />
nur 8.000 Kurden hier leben würden, wäre es<br />
angemessen, sie und ihre Identität anzuerkennen und sie<br />
respektvoll zu behandeln.<br />
Prof. <strong>Dr</strong>. Birgit Ammann<br />
Jetzt ist die Frage: wie ist es denn überhaupt dazu gekommen,<br />
dass sich Kurden hier angesiedelt haben? Es begann<br />
bereits vor 100 Jahren; da gab es eine sehr kleine, aber<br />
interessante Gruppe <strong>von</strong> kurdischen Männern, die in<br />
Europa, also auch in Deutschland, lebten. Sie sind insofern<br />
so interessant, weil sie sich gegen die damalige Norm,<br />
nicht über ihre unterschiedlichen Staatsangehörigkeiten,<br />
sondern über ihr Kurdischsein definierten. Das war<br />
ungewöhnlich. Sie hatten Stimmen, ihre Spuren sind zu<br />
finden, wenn man genau recherchiert:<br />
z.B. in Zeitungen und in verschiedenen Publikationen.<br />
Dieses sich, über das Kurdischsein definieren und äußern<br />
hat sich später sehr entscheidend verändert, in dem es zu<br />
Zeiten verschwand. Sie haben das in den Vorreden schon<br />
gehört.<br />
In den fünfziger Jahren wurde es zunächst deutlicher. Wir<br />
haben es da mit einer etwas größeren Gruppe kurdischer<br />
Studenten zu tun. Sie waren immer noch erst wenige hundert,<br />
aber die haben sich ethnopolitisch nicht nur<br />
artikuliert, sondern auch organisiert. Sie haben die erste<br />
große Vereinigung gebildet, aus der sich mit der Zeit verschiedene<br />
parallel existierende Gruppen ergaben. Wir hatten<br />
inzwischen also einen politischen Ausdruck auf einer<br />
ethnischen, nämlich der kurdischen Basis. Das war im<br />
Vergleich zur späteren Situation wirklich bemerkenswert,<br />
weil es doch viele Hindernisse gab - aufseiten der<br />
Herkunftsstaaten ebenso wie in Europa, der Zielregion<br />
selbst. Diese Bewegung war damals sehr stark bestimmt<br />
durch die Nationalbewegung im kurdischen Teil des Irak.<br />
Nun sind wir uns aber alle darüber im Klaren, dass über 80<br />
Prozent der deutschen Kurden aus der Türkei stammt. Wie<br />
kam es also zu dieser Situation?<br />
Ab Mitte der fünfziger Jahre hat die<br />
Bundesrepublik - ich würde fast schon sagen,<br />
verzweifelt – versucht, Arbeitskräfte anzuwerben<br />
und es hat sich so ergeben, dass ein sehr großer<br />
Teil dieser Arbeitskräfte, die man einlud und bat<br />
hierher zu kommen, aus der Türkei zuwanderte.<br />
Um das etwas salopp zu formulieren, ist es<br />
passiert, dass sozusagen unbemerkt auch sehr<br />
viele Kurden zuwanderten. Unbemerkt deshalb,<br />
weil - das muss man einfach sehen -es damals<br />
nicht eine kurdische Identität in dem Sinne wie<br />
heute gab, und zwar weder in der Türkei noch in<br />
Deutschland. Ethnische Unterschiede wurden kaum thematisiert<br />
und kamen kaum an die Oberfläche. Man muss<br />
erwähnen, dass viele Kurdinnen und Kurden sich damals,<br />
zumindest nach außen hin nicht, öffentlich und dezidiert<br />
als Kurden bezeichnet haben. Bevor jetzt großer Protest<br />
kommt, möchte ich gerne erklären wie das kam, warum<br />
das so passiert ist. Es ist gerade für die junge kurdische<br />
Generation wichtig zu verstehen, um nachvollziehen zu<br />
können, was sich da in den letzten Jahren und Jahrzehnten<br />
Enormes entwickelt hat.<br />
Die Zuwanderer kamen damals aus einem Land, in dem<br />
ihre Sprache verboten war. Wir haben das alle oft gehört.<br />
Was es aber wirklich heißt, die Muttersprache, häufig die<br />
einzige Sprache, die jemand beherrscht, unter Androhung<br />
und Einsatz <strong>von</strong> Gewalt verboten zu bekommen, das ist<br />
für die Entwicklung jedes einzelnen Menschen sehr sehr<br />
bedeutsam. Wir haben <strong>von</strong> Herrn Baydemir gerade sehr<br />
eindringlich gehört, wie die Sprachproblematik sich heute<br />
noch darstellt. Ich möchte ein Detail noch einmal herausstellen:<br />
selbst heute, wo sich die Dinge öffnen und<br />
lockern, wird in der Türkei über drei Buchstaben diskutiert,<br />
über drei Konsonanten, die die kurdische Sprache verwendet,<br />
die türkische jedoch nicht und die daher als verboten<br />
gelten. Es wird tatsächlich diskutiert über das „W“, das „X“<br />
und das „Q“. Herr Baydemir hat uns die Geschichte<br />
erläutert, deren Details im Zuge der Übersetzung ein<br />
-7-
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
wenig untergingen. Er argumentierte dort, dass ja das<br />
Internet, das bekanntlich weltweite Netz (worldwide web)<br />
mit den Buchstaben www bezeichnet wird – auch in der<br />
Türkei. Es ist für mich unfasslich, dass bezüglich der<br />
Verwendung <strong>von</strong> drei Buchstaben Gerichtsverfahren<br />
anhängig sind – ähnlich wie bezüglich der Verwendung<br />
<strong>von</strong> drei Farben, die auf der ganzen Welt für<br />
Verkehrsampelanlagen verwendet werden. Aber das ist<br />
eine andere Geschichte.<br />
Dies nur noch einmal, um zu untermauern, was es heißt,<br />
aus einem Land zu stammen, in dem meine Sprache verboten<br />
ist. Wir haben gehört, dass die Kurden – ebenso wie<br />
andere Gruppen - gute Gründe hatten, bezüglich ihrer historischen<br />
Vergangenheit und ihrer kulturellen Traditionen<br />
ein gutes Selbstbewusstsein zu entwickeln.<br />
Dieses Selbstbewusstsein war in der Türkei jedoch weitgehend<br />
zerstört worden. Wir haben schon, bevor das<br />
Osmanische Reich zusammenbrach, beobachten können,<br />
dass sich eine Form <strong>von</strong> ganz besonders rigidem<br />
Nationalismus entwickelte. Mit Gründung der türkischen<br />
Republik wurde diese Form - der so genannte Kemalismus<br />
– zur Staatsdoktrin erhoben. Kemalismus bezeichnet die<br />
Gesamtheit der Ideen und Prinzipien Mustafa Kemal<br />
Atatürks, der sich den Namen Atatürk (Vater der Türken)<br />
übrigens selbst gegeben hat. Dass das liebende Volk ihn<br />
Atatürk getauft habe, wurde im Zuge der<br />
Geschichtsklitterung bewusst in die Welt gesetzt. Der<br />
Kemalismus ist die Gründungsideologie der Türkei; der<br />
Fairness halber möchte ich sagen, dass ich hier und heute<br />
die Darstellung reduziere und nur auf die negativen<br />
Aspekte fokussiere. Kemalismus zielte und zielt im Prinzip<br />
bis heute auf die Formung eines ausschließlich<br />
türkischsprachigen (sunnitischen) Volkes ab und schreckte<br />
selbst vor der Planung und Umsetzung des Völkermordes<br />
nicht zurück. Die am meisten betroffenen Opfer waren<br />
zweifelsohne die Armenier, jedoch waren auch andere<br />
eingesessene Minderheiten wie Griechen, Juden, Assyrer<br />
und eben vor allem Kurden <strong>von</strong> Vertreibungen,<br />
Deportationen und physischer Vernichtung im großen Stil<br />
nicht verschont.<br />
Die Kurden haben sich natürlich gewehrt dagegen, es hat<br />
Aufstände gegeben. Die letzten Aufstände, die wir vor der<br />
Auswanderung erlebt haben, fanden 1938 in Dersim statt,<br />
heute türkisch Tunceli genannt. Die Leute, die angeworben<br />
wurden nach Deutschland, haben diese Aufstände<br />
höchstens noch als Kinder erlebt. In der Erinnerung der<br />
Älteren waren diese Geschehnisse präsent, aber die<br />
Älteren sind nicht nach Deutschland gegangen, weil eben<br />
nur junge Leute angeworben wurden. Die Aufstände sind<br />
sehr gewaltsam niedergeschlagen worden, die Leute<br />
waren traumatisiert.<br />
So wurde das Selbstbewusstsein, auch die ethnische<br />
Selbstwahrnehmung, praktisch ausgelöscht<br />
beziehungsweise verdrängt in die unmittelbare<br />
-8-<br />
Kleinfamilie. Das bedeutet, es herrschte ein Klima der<br />
Verängstigung, der Mutlosigkeit und der Passivität. Die<br />
jungen Leute, die zuwanderten, hatten das Trauma ihrer<br />
Eltern und ihrer Großeltern zum Teil verinnerlicht, aber sie<br />
hatten nicht mehr die Möglichkeit, auf ein positives kurdisches<br />
Selbstbewusstsein zurückzugreifen. In der Zeit<br />
wurde Schulpflicht eingeführt, was ja sicherlich nicht<br />
schlecht ist, aber in der Schulerziehung herrschte ein sehr<br />
türkisch-nationales, nationalistisches Regime, welches<br />
jeden Versuch, ethnische oder auch nur sprachliche<br />
Unterschiede zu thematisieren, durch schwere körperliche<br />
Züchtigung und andere gewaltsame Mittel unterband. Das<br />
Sprechen der einzigen erlernten Sprache wurde aus den<br />
Kindern herausgeprügelt – ein Schock nicht nur für Fünf-,<br />
Sechs- oder Siebenjährige.<br />
Sie können sich auch vorstellen, dass Überlebende der<br />
Aufstände versucht haben, ihre Kinder vor den Folgen zu<br />
schützen, indem sie natürlich nicht gesagt haben „geh’ in<br />
die Schule und sprich kurdisch, sag’ dass du kurdisch und<br />
nicht türkisch bist“. Lehrer haben die Kinder zur<br />
Denunzierung angehaltem und <strong>von</strong> ihnen erwartet, dass<br />
sie der Schule melden, wenn zu Hause kurdisch<br />
gesprochen wurde oder sich anderweitig kurdisch<br />
geäußert wurde.<br />
Also, Sie können sich vorstellen, dass die Generation, die<br />
als Erste zuwanderte - und das ist der größte Teil, der jetzt<br />
hier lebenden kurdischen Bevölkerung - eigentlich nicht<br />
die Möglichkeit hatte, ein kurdisches Selbstbewusstsein zu<br />
haben und zu entwickeln.<br />
Vielleicht ein kleiner Abschweif:<br />
Der Wunsch nach Deutschland und auch in andere<br />
europäische Länder zu wandern, die ja alle intensiv anwarben,<br />
ist zu verstehen. Dass es einfach um die Verbesserung<br />
schwieriger Lebensbedingungen ging, muss, glaube ich,<br />
nicht ausgeführt werden. Das Motiv ist sehr leicht nachvollziehbar.<br />
Wir haben vorhin gehört, dass schlechte<br />
Lebensbedingungen teilweise in direktem Zusammenhang<br />
mit Kurdischsein standen. Mit anderen Worten: Es war<br />
kein Zufall, dass in den kurdischen Regionen die<br />
Lebensbedingungen besonders schlecht waren. In Varto<br />
und Bingöl z.B. gab es zu der Zeit schwere Erdbeben, die zu<br />
Bedingungen geführt haben, <strong>von</strong> denen ich heute sagen<br />
würde: wäre dort eine türkisch-sprachige sunnitische<br />
Bevölkerung ansässig gewesen, wäre es ihr wahrscheinlich<br />
besser gegangen. Man hätte sie mehr und besser unterstützt<br />
nach der Katastrophe. So wurde teilweise gesagt:<br />
„geht doch nach Deutschland“ – mit dem Hintergedanken<br />
„dann sind wir euch los“. Aus diesem Gebiet kamen also<br />
ganz besonders viele Zuwanderer, insbesondere nach<br />
Berlin. Aus Varto und Bingöl haben wir hier sehr viele kurdische<br />
Familien.<br />
Vielleicht ganz kurz weiter in der Geschichte der<br />
Arbeitsmigration: Zu Beginn der 70er Jahre begann man<br />
die Anwerbung zu stoppen, so dass die Möglichkeit des<br />
relativ einfachen Zuzugs nicht mehr gegeben war. Seither
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
gibt es im Grunde genommen nur noch zwei<br />
Möglichkeiten: die eine ist das, was Familiennachzug<br />
genannt wird und meist Heiratsmigration bedeutet (junge<br />
Männer und junge Frauen ziehen als Brautleute nach<br />
Deutschland) oder eben die Asylantragstellung. Beides<br />
wird umfänglich wahrgenommen, das ist nachvollziehbar.<br />
Man muss sagen, dass die Auswanderungsmotive überlappen;<br />
es kommen wirtschaftliche Not, politische<br />
Verfolgung, Familienbande und anderes mehr zusammen.<br />
Es gibt also viele Gründe, die die Wanderung ausmachten<br />
und ausmachen. Die Militärputsche <strong>von</strong> 1960, 1970 und<br />
1980 haben sich sehr stark ausgewirkt:<br />
Die Asylbewerberzahlen sind in die Höhe geschossen und<br />
Kurden, die überlegt haben, eventuell noch einmal zurückzuwandern,<br />
haben diese Absichten dann aufgegeben und<br />
im Gegenteil versucht, ihre Familien nachzuholen und sie<br />
praktisch vor den Gegebenheiten zu retten.<br />
Wichtig ist noch, dass das Zusammenkommen <strong>von</strong> Kurden<br />
aus der Türkei und Kurden aus anderen Staaten, wo die<br />
Bedingungen etwas anders waren, wo zum Teil die<br />
Möglichkeit, das ethnische Selbstbewusstsein und die<br />
Sprache zu erhalten besser war, dass dieses<br />
Zusammenkommen natürlich sehr fruchtbar war und ist.<br />
Auch das hat Bürgermeister Baydemir angesprochen. Was<br />
ihn fasziniert, fasziniert auch mich bis heute genauso wie<br />
vor 25 Jahren, als ich Kurden kennen gelernt habe:<br />
Menschen aus verschiedenen Staaten, die sich in ihrer<br />
zum Teil verbotenen Sprache austauschten und sowohl<br />
diese Sprache als auch ihr Selbstbewusstsein wieder<br />
belebt haben; die <strong>von</strong> den Gemeinsamkeiten und<br />
Unterschieden kolossal profitiert haben und in der<br />
Diaspora, also in Deutschland und den anderen Ländern,<br />
eine eigene, neue und sehr facettenreiche Identität<br />
gebildet haben. Dieses Zusammenspiel hat natürlich dazu<br />
geführt, und war einer <strong>von</strong> vielen Impulsen dafür, dass die<br />
Zuwanderer aus Türkisch-Kurdistan ihre Identität schnell<br />
verändert haben. Ich spreche in erster Linie <strong>von</strong> diesem<br />
einen Impuls - die anderen wichtigen Faktoren überlasse<br />
ich meinen Nachrednern.<br />
Ich möchte diese Entwicklung eine beispielhafte<br />
Ethnisierung im positiven Sinne nennen. Es gibt keine<br />
Gruppe unter den Zuwanderern, die in den wenigen<br />
Jahrzehnten einen derartigen Wandel ihrer ethnischen<br />
Identität und ihres Bewusstseins, ihrer<br />
Selbstwahrnehmung durchlaufen haben, die mit der kurdischen<br />
Entwicklung vergleichbar wäre. Das macht das<br />
Ganze so spannend und eben auch diese sehr interessante<br />
Grundlage aus, auf der wir heute auf dieser Konferenz<br />
arbeiten und diskutieren können. Auf die gesamtgesellschaftliche<br />
Integration muss sich eine solche<br />
Entwicklung übrigens keinesfalls bremsend auswirken.<br />
Wie es aber aussieht mit der Möglichkeit teilzuhaben an<br />
dieser Gesellschaft, anerkannt zu werden und sich selbst<br />
mit der ganz individuellen Identität einzubringen, das ist<br />
ein ungeklärter Punkt.<br />
Ich möchte zum Ende noch sagen, das ich nicht in allen<br />
Punkten einverstanden bin, was die Ausgangsargumente<br />
der Veranstaltenden sind, deshalb bin ich besonders interessiert<br />
an der Diskussion, was die Details der Anerkennung<br />
anbelangt. Ich finde die Frage wichtig, was Kurdinnen und<br />
Kurden selbst tun sollten, neben dem, was die Politik und<br />
was die Gesellschaft tun sollte. Ich bedanke mich sehr für<br />
Ihre Aufmerksamkeit und bitte Memo Şahin zu<br />
übernehmen.<br />
-9-
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
Wann die ersten Kurden nach<br />
Europa gekommen sind, ist nicht<br />
geklärt. Man weiß auch nicht, wie<br />
viele Kurden mit den Osmanen<br />
vor den Toren Wiens standen und<br />
wie viele <strong>von</strong> ihnen wiederum<br />
sich wo niedergelassen haben.<br />
Aber es geht auch nicht darum,<br />
die "Spuren" der ersten Kurden zu<br />
finden. Die Auswanderung der<br />
Memo Şahin/Dialog Kreis<br />
Kurden in Richtung Deutschland<br />
begann vor etwa 50 Jahren und<br />
geht auch heute noch weiter.<br />
Bis zum Jahr 1973 kamen Frauen und Männer als<br />
Arbeitnehmer nach Deutschland. Sie ließen Familie,<br />
Kinder und alles, was sie besaßen, in der Heimat zurück<br />
und stiegen mit einem Koffer in der Hand in Berlin,<br />
München und Frankfurt aus.<br />
Die Menschen, die bis dahin außer ihren Dörfern und<br />
kleinen Städten nichts kannten, haben in Großstädten eine<br />
neue Welt betreten. In der ersten Periode der<br />
Einwanderung waren es mehrheitlich alewitische Kurden.<br />
Das lag daran, dass der türkische Staat, der sein<br />
Fundament auf das Türkentum und den Islam gesetzt<br />
hatte, diese Menschen als Tumoren ansah, die weggehörten.<br />
Denn sie waren sowohl Kurden als auch Alewiten.<br />
Wie wir wissen, hat Deutschland seine Tore für ausländische<br />
Arbeitnehmer im Jahr 1973 geschlossen. Danach konnten<br />
die Kurden nicht mehr als Arbeitnehmer nach<br />
Deutschland kommen. Aber der Weg für die<br />
Familienzusammenführung war offen. Nunmehr hatten<br />
die Kurden, die „ein paar Jahre arbeiten und danach in ihre<br />
Heimat zurückkehren wollten“, ihre Koffer in Deutschland<br />
richtig ausgepackt und ihren Traum, in ihre Heimat zurückzukehren,<br />
aufgegeben. Frauen und Männer holten ihre<br />
Familien nach. Man kann diese Zeit als die 2. Periode der<br />
Auswanderung der Kurden betrachten.<br />
Die 3. Periode der Auswanderung hat Ende der 1970er<br />
Jahre angefangen und mit der faschistischen Militärjunta<br />
in der Türkei im Jahre 1980 eine neue Dimension erreicht.<br />
Nachdem die Dörfer in Nord-Kurdistan in den Jahren 1980<br />
bis Mitte 1990 <strong>von</strong> Menschen entvölkert und zerstört wurden,<br />
haben sich jedes Jahr ca. 20-30 Tausend Kurden aus<br />
den Provinzen Amed/ Diyarbakir, Riha/Urfa,<br />
Mêrdin/Mardin und anderen Provinzen auf den Weg nach<br />
Deutschland gemacht. Von 1980 bis 2009 sind über<br />
350.000 Kurden wegen des geführten schmutzigen Krieges<br />
des türkischen Staates geflüchtet und nach Deutschland<br />
gekommen.<br />
Mit der Zunahme der Repressionen in Syrien, Irak und Iran<br />
kamen auch in den 80er und 90er Jahren Zehntausende<br />
Kurden nach Deutschland und leben hier als Flüchtlinge.<br />
Heutzutage sind sie in Deutschland nicht nur<br />
-10-<br />
Redebeitrag <strong>von</strong> Memo Şahin<br />
Arbeitnehmer und Flüchtlinge. Gleichzeitig haben<br />
Zehntausende junge KurdInnen die Hochschulen<br />
absolviert und sind Ärzte, Ökonomen oder Ingenieure<br />
geworden.<br />
Als die Kurden nach Deutschland kamen, waren sie nicht<br />
nur ohne Kinder und Sprache, sie waren auch ohne<br />
Fürsorge. Sie hatten weder eine Organisation, noch einen<br />
Ort, wo sie hingehen, sich begegnen und ihre Sehnsucht<br />
austauschen konnten. Dann haben sie in den 1970er<br />
Jahren angefangen, sich zusammenzuschließen.<br />
Arbeitervereine hat es in der Bundesrepublik Deutschland<br />
seit 1970 gegeben. Bis Ende der 70er Jahre waren es etwa<br />
10 Vereine der Kurden im ganzen Bundesgebiet. In den<br />
80er Jahren hat sich die Zahl der Vereine jeder politischen<br />
Couleur auf etwa 50 erhöht. Und die 90er Jahren waren<br />
auch bei der Organisierung der Kurden eine Blütezeit: Zur<br />
Jahrtausendwende gab es über 100 kurdische Vereine in<br />
der Bundesrepublik Deutschland.<br />
„KOMKAR - Verband der Vereine aus Kurdistan" war die<br />
erste kurdische Föderation in Deutschland. Sie wurde <strong>von</strong><br />
acht kurdischen Vereinen am 13. Januar 1979 in Frankfurt<br />
gegründet. KOMKAR hat bis vor 10 Jahren eine große Rolle<br />
sowohl bei der Organisierung der kurdischen<br />
MigrantInnen, als auch bei den Solidaritätsaktionen zur<br />
Unterstützung der kurdischen Bewegung in Kurdistan<br />
gespielt. Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit, Förderung der<br />
kurdischen Kultur und Sprache sowie die Herausgabe <strong>von</strong><br />
Publikationen waren seine Stärken.<br />
Mit der Zunahme der Aktivitäten der PKK in der Heimat<br />
nahm auch ihre Anhängerschaft in Europa zu. Bis Anfang<br />
der 80er Jahre gab es vereinzelte Vereine im gesamten<br />
Bundesgebiet ohne nennenswertes Gewicht. Heute zählt<br />
"YEK-KOM - Föderation kurdischer Vereine in<br />
Deutschland" mit Sitz in Düsseldorf über 60<br />
Mitgliedsvereine. Sie wurde, nachdem der Vorgänger<br />
FEYKA Kurdistan im November 1993 vom<br />
Bundesinnenministerium verboten worden war, am 27.<br />
März 1994 als neuer Dachverband gegründet.<br />
Außer diesen beiden Verbänden wurde eine Reihe anderer<br />
Vereine aus unterschiedlichen politischen Strömungen<br />
gegründet, zum Beispiel KKDK und KOC-KAR. In der jüngeren<br />
Vergangenheit haben auch<br />
Studierendenorganisationen wie der KSSE (Verein<br />
Kurdischer Studenten in Europa) und die AKSA<br />
(Vereinigung der Studenten Kurdistans im Ausland)<br />
existiert.<br />
Der türkische Nationale Sicherheitsrat (MGK) gab im<br />
Sommer 2000 die Zahl der in Europa tätigen "separatistischen<br />
Vereine und Institutionen" mit 441 an. (Hürriyet,<br />
24.08.2000)<br />
Die genannten kurdischen Verbände und Vereine haben in<br />
den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts eine
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
erfolgreiche Arbeit geleistet. Einerseits organisierten sie<br />
die kurdischen Arbeiter und Studenten in ihren Reihen,<br />
führten Protestmärsche gegen die Unterdrückungspolitik<br />
der die Kurden verleugnenden Staaten Türkei, Iran, Irak<br />
und Syrien durch, andererseits leisteten sie eine effektive<br />
Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit in der Bundesrepublik<br />
Deutschland.<br />
Dank dieser Arbeit konnten z.B. Waffenlieferungen in die<br />
Türkei zeitweise gestoppt, Tourismusboykotts organisiert,<br />
Abschiebestopps durchgesetzt werden. Außer der FDP<br />
mussten die Bundestagsfraktionen <strong>von</strong> SPD, Grünen und<br />
CDU/CSU Arbeitsgruppen zu Kurden einrichten.<br />
Interfraktionelle Bundestagsdelegationen besuchten die<br />
Türkei und Kurdistan, um Menschenrechtsverletzungen an<br />
Ort und Stelle zu untersuchen. Interfraktionelle<br />
Bundestagentschließungen zu unterschiedlichen Themen<br />
und Problemfeldern wurden verabschiedet. Anfang der<br />
80er Jahren wurde sogar die Mitgliedschaft der Türkei im<br />
Europarat eingefroren.<br />
An jedem Ort, an dem die Türkei offiziell erschien, haben<br />
Kurden Protestkundgebungen und Mahnwachen organisiert.<br />
Nachdem aber die Anhänger der PKK im Juni und<br />
Oktober 1993 im Bundesgebiet gewaltsame Aktionen<br />
durchgeführt und Autobahnen blockiert haben, folgte eine<br />
Abkehr der Unterstützung durch die bundesrepublikanische<br />
Öffentlichkeit.<br />
Obwohl sich der Vorsitzende der PKK, Abdullah Öcalan,<br />
wegen der begangenen Fehler bei dem Gesandten der<br />
Bundesregierung, Heinrich Lummer, im Oktober 1995 und<br />
im März 1996 öffentlich entschuldigt hat, verfolgt die<br />
Bundesrepublik die Funktionäre und Anhänger der PKK im<br />
Bundesgebiet ununterbrochen - auch im Jahre 2009 - und<br />
bricht somit die getroffene Vereinbarung.<br />
Da fast alle kurdischen Verbände und Vereine parteipolitisch<br />
gebunden waren, d.h. als legale Arme der im<br />
Untergrund tätigen politischen Parteien agierten, gerieten<br />
viele <strong>von</strong> ihnen mit der Zunahme der Anhängerschaft der<br />
PKK in die Bedeutungslosigkeit. Viele aktive Kader und<br />
Mitglieder haben sich <strong>von</strong> ihren Organisationen getrennt<br />
und sich zurückgezogen.<br />
Da der Kampf des kurdischen Volkes für Frieden und<br />
Freiheit noch andauert und die Probleme der kurdischen<br />
Migranten in Deutschland noch nicht gelöst sind, müssen<br />
andere Formen der Organisierung gefunden und die<br />
bestehenden Kräfte gebündelt werden. Die unterschiedlichen<br />
Strömungen müssen zumindest im Ausland<br />
versuchen, eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame<br />
Linie zu finden, um mit einer Stimme zu agieren und<br />
produktiv zu arbeiten.<br />
Da Kurden seit einem halben Jahrhundert hier leben und<br />
mehrheitlich auch in Zukunft hier bleiben werden, muss<br />
ein Dachverband oder eine Interessenvertretung für<br />
Kurden entstehen, um der Aufgaben der Zeit Herr zu wer-<br />
den. Als Modelle könnten der griechische Dachverband<br />
OEK, die spanischen Elternvereine, der Zentralrat der<br />
Armenier in Deutschland, der Zentralrat der Juden usw.<br />
dienen, wo Menschen unterschiedlicher politischer<br />
Strömungen Platz finden, um sich zu artikulieren.<br />
Außerdem ist es an der Zeit, gesamtkurdisch zu denken,<br />
über die teilenden nationalen Grenzen hinweg. In den<br />
neuen kurdischen Selbsthilfevereinen müssen Kurden aus<br />
allen vier Teilen Kurdistans Möglichkeiten finden, sich zu<br />
organisieren und mit einer Stimme für die Lösung ihrer<br />
Probleme einzutreten.<br />
Aufgeklärte Kurden sollten sich folgende Fragen stellen,<br />
um daraus Aufgaben und Ziele für die Zukunft zu<br />
entwickeln:<br />
Obwohl in Deutschland seit Jahrzehnten etwa 1 Million<br />
Kurden leben und ein beachtlicher Teil eingebürgert ist,<br />
warum<br />
•sind Kurden immer noch nicht mit den anderen<br />
Migrantengruppen gleichgestellt?<br />
•werden sie immer noch nach ihren Passfarben dividiert<br />
und zu den Türken, Persern und Arabern gezählt?<br />
•können sie keine Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit leisten<br />
und haben kein Gewicht in der Bundes-, Landes- und<br />
<strong>Kom</strong>munalpolitik?<br />
•können sie keine effektive Solidaritätsarbeit Richtung<br />
Heimat organisieren?<br />
Man könnte die Auflistung detailliert fortführen. Aus all<br />
den oben aufgeführten Gründen ergibt sich<br />
Handlungsbedarf, über neue Organisationsformen<br />
nachzudenken und dementsprechend zu handeln. Die Zeit<br />
ist überreif für eine gesamtkurdische<br />
Interessenvertretung, für eine bessere Integration der<br />
Kurden und für eine mit Taten erfüllte Solidaritätsarbeit<br />
<strong>von</strong> Deutschland aus.<br />
Über die Form der Zusammenarbeit und Bündelung der<br />
vorhandenen Kräfte und Möglichkeiten können unabhängig<br />
<strong>von</strong>einander unterschiedliche Modelle gefunden<br />
werden. Ich werde mich hier auf zwei Möglichkeiten der<br />
Zusammenarbeit konzentrieren.<br />
Zum Ersten:<br />
Ein Pilotprojekt auf kommunaler Ebene<br />
Mittlerweile leben in vielen Großstädten wie Berlin,<br />
Hamburg, Köln und München Zehntausende Kurden aus<br />
vier Teilen Kurdistans.<br />
Nehmen wir als Beispiel die Metropole Köln: In Köln leben<br />
nach Angaben der Stadtverwaltung etwa 65.000<br />
Menschen aus der Türkei. Hinzu kommen die in den vergangenen<br />
Jahren eingebürgerten ca. 30.000 Kurden und<br />
Türken. Die Kurden aus dem Iran, Irak und Syrien dürfen<br />
nicht vergessen und müssen dazu gezählt werden.<br />
Deswegen ist es nicht übertrieben, <strong>von</strong> etwa 40.000 bis<br />
50.000 Kurden in Köln zu sprechen.<br />
In den 80er und 90er Jahren hatten Kurden in Köln<br />
mehrere parteipolitisch gebundene Vereine gehabt. Sie<br />
-11-
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
organisierten kurdische MigrantInnen und Flüchtlinge in<br />
ihren Reihen, feierten Feste wie „Newroz“ mit Tausenden<br />
<strong>von</strong> Menschen, führten Protestveranstaltungen gegen die<br />
Gewaltherrschaften im Orient durch, brachten Publikationen<br />
heraus und leisteten Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit.<br />
Zusammengefasst kann man sagen, dass sie eine gute, nützliche<br />
und wichtige Arbeit geleistet haben.<br />
Heute aber haben wir eine große Leere, deren Gründe oben<br />
kurz aufgeführt worden sind. Zurzeit gibt es lediglich einen<br />
Mitgliedsverein <strong>von</strong> <strong>Yek</strong>-<strong>Kom</strong>, der sich weder mit den hiesigen<br />
noch mit den Problemen bezüglich der Heimat<br />
beschäftigt.<br />
Hunderte und Tausende <strong>von</strong> kurdischen ehemaligen<br />
Aktivisten haben heute in dem Sinne keine polische Heimat<br />
mehr. Sie haben sich <strong>von</strong> ihren Organisationen getrennt und<br />
suchen nach neuen Wegen. Durch eine neue Organisation,<br />
die parteipolitisch unabhängig und offen ist, breite Teile der<br />
kurdischen Migranten und Flüchtlinge in ihren Reihen zu<br />
organisieren, könnten neue Horizonte für Kurden entwickelt<br />
werden.<br />
Um diesen zustand zu überwinden muss als erstes eine<br />
Initiativgruppe entstehen, die mit allen politischen<br />
Strömungen aus den vier Teilen Kurdistans Kontakt aufnimmt,<br />
um sie <strong>von</strong> der Notwendigkeit einer gesamtkurdischen<br />
Interessenvertretung in Köln zu überzeugen. Dies ist eine<br />
schwierige Arbeit, die viel Geduld und Geschicklichkeit<br />
erfordert.<br />
Als zweites muss diese Initiativgruppe Gespräche mit ehemaligen<br />
Akteuren, die sich <strong>von</strong> ihren politischen Organisationen<br />
getrennt haben, mit Akademikern, Unternehmern, Arbeitern,<br />
Studenten usw. führen, um die Bereitschaft dieser Kreise<br />
auszuloten.<br />
Wenn in den ersten zwei Punkten ein Konsens gefunden<br />
wird, kann man mit Formalien zur Gründung eines neuen<br />
Vereins oder einer Begegnungsstätte beginnen. Er kann z.B.<br />
„Nûwar-Begegnungsstätte für Kurden in Köln“ heißen. Nûwar<br />
bedeutet „Neue Heimat“.<br />
Diese neuen Begegnungsstätten sollen wie ein städtisch<br />
gefördertes Bürgerzentrum arbeiten und dessen Aufgaben<br />
wahrnehmen. Hierzu zählen u.a.: Sozialberatung,<br />
Hausaufgabenhilfe, Erziehungskurse für Eltern, Jugend- und<br />
Kinderarbeit, Aktivitäten für Frauen, Motivation der<br />
Jugendlichen zur Schule und Ausbildung, Öffentlichkeits- und<br />
Lobbyarbeit, Alphabetisierungs- und Deutschkurse sowie<br />
Integrationsarbeit. Dazu kommen kulturelle Veranstaltungen,<br />
Seminare und politische Aufklärungsarbeit.<br />
Längerfristige Ziele können die Errichtung zweisprachiger -<br />
Deutsch und Kurdisch- Kindergärten wie z.B. bei den<br />
Italienern, Altenheimen, Dokumentationszentren und lokaler<br />
Archive sein. Studienreisen nach Kurdistan, die Beschaffung<br />
<strong>von</strong> Stipendien für kurdische Studenten, die Etablierung<br />
eines Deutsch-Kurdischen Freundschafts-preises für<br />
deutsche Unterstützer der kurdischen Sache, die Einrichtung<br />
eines Sozialfonds für die kurdischen Binnenflüchtlinge und<br />
Armen in Kurdistan müssen auch zu den langfristigen Zielen<br />
der Begegnungsstätte zählen.<br />
-12-<br />
Dieses Pilotprojekt könnte auch für andere Metropolen<br />
Deutschlands als Modell dienen.<br />
Zum Zweiten:<br />
Eine bundesweite Interessenvertretung der Kurden -<br />
Rat der Kurden in Deutschland<br />
Wünschenswert wäre es, wenn alle kurdischen Verbände und<br />
Vereine in Deutschland zusammenkommen könnten.<br />
Unabhängig da<strong>von</strong> können aber andere Formen der<br />
Zusammenarbeit gefunden werden.<br />
Es könnte z.B. ein Rat der Kurden in Deutschland gegründet<br />
werden. In diesem Rat, dessen Ziele und Vorhaben vorher<br />
klar definiert werden müssen, kann <strong>von</strong> allen eingetragenen<br />
lokalen Vereinen jeweils ein/e Vertreter/in Platz finden.<br />
Zusätzlich sollten auch nach einer festgelegten Quote, z.B.<br />
Eindrittel (1/3) Akademiker, Künstler und Intellektuelle die<br />
Möglichkeit haben, mitzuwirken.<br />
Dieser Rat der Kurden mit 99 Mitgliedern oder mehr kann die<br />
Interessen der Kurden in Deutschland nach Außen vertreten<br />
und Öffentlichkeits- sowie Lobbyarbeit betreiben.<br />
Ein Gremium bestehend z.B. aus 11 oder 15 Personen kann<br />
als Geschäftsführung dienen und ein gut funktionierendes<br />
Sekretariat, das professionell und fachlich besetzt ist, die<br />
tägliche Arbeit in enger Zusammenarbeit mit der<br />
Geschäftsführung durchführen.<br />
Die kurdischen politischen Strömungen, die in der Türkei und<br />
Kurdistan in Menschenrechtsvereinen (IHD), in<br />
Gewerkschaften wie KESK und Egitim-Sen mit türkischen<br />
Gruppen zusammenarbeiten, müssen dies auch hier in<br />
Deutschland versuchen, zu verwirklichen.<br />
Um vom Leben nicht bestraft zu werden, müssen wir heute<br />
beginnen, ein solches Projekt in die Tat umzusetzen.<br />
Außerdem dürfen wir nicht vergessen: Auch wenn Kurdistan<br />
befreit wird, werden nur wenige für immer zurückkehren. Die<br />
überwiegende Mehrheit der Kurden wird hier in Deutschland<br />
bleiben. Auch wenn 500 Jahre vergehen, wird es in<br />
Deutschland Spuren der kurdischen Kultur geben.<br />
Auch die Suche und die Diskussionen unter den politisch<br />
heimatlos gewordenen KurdInnen ist als Chance zu betrachten,<br />
um ein solches Vorhaben zu verwirklichen.<br />
Nur durch hartnäckige Arbeit und die Vision einer gesamtkurdischen<br />
Interessenvertretung der Kurden für Politik und<br />
gesellschaftliches Leben in Deutschland, wird das<br />
Engagement der Kurden erhöht und Mitmachinteresse bei<br />
ihnen geweckt.<br />
Wenn die Kurden Menschen aus allen Teilen Kurdistans unter<br />
einem Dach zusammenbringen, in unseren Vereinen und<br />
Organisationen in allen kurdischen Dialekten, wie Kurmanci,<br />
Zazaki und Sorani gesprochen werden und Alte, Frauen,<br />
Männer, Jugendliche und Kinder sich zusammenfinden würden,<br />
könnte eine starke Lobby für die Kurden und Kurdistan<br />
entstehen. Sie könnten Erfolge verbuchen und für die neuen<br />
Generationen eine gute Arbeit hinterlassen. In diesem<br />
Zusammenhang würden alle deutschen Organisationen die<br />
Kurden nicht außer Acht lassen und in jedem ihrer Schritte<br />
die kurdische Lobby beachten.
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
Auswirkungender Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei<br />
auf die Integration der Kurden in Deutschland<br />
Professor <strong>Dr</strong>. Norman Paech, Mitglied des Bundestages – Linksfraktion<br />
Meine Damen und Herren, herzlichen Dank, dass Sie mich<br />
eingeladen haben, heute hier zu sein. Ich freue mich ganz<br />
besonders, Osman Baydemir hier zu sehen, <strong>von</strong> dem ich in<br />
den letzten Wochen und Monaten immer Zweifel hatte,<br />
ob er noch im Bürgermeisteramt oder schon im Gefängnis<br />
sitzt. Ich bin froh darüber, dass dieser Mann, der eine so<br />
große Bedeutung für die kurdische Bevölkerung und für<br />
die kurdische Identität hat, hier unter uns ist. Herzlich<br />
willkommen, ich freue mich sehr.<br />
Ich werde Ihnen nicht viel Neues erzählen<br />
können. Alles was ich zu sagen habe, das<br />
werden Sie schon wissen. Das einzige,<br />
was vielleicht für Sie interessant sein könnte,<br />
ist, eine Stimme aus dem Bundestag<br />
über die Probleme der Integration und<br />
das Zusammenleben mit der kurdischen<br />
Bevölkerung hier zu hören. Aber wie Sie<br />
wissen, auch dies ist nur eine Stimme,<br />
und es ist nicht die Stimme der Mehrheit.<br />
Wenn Sie mich bitten, in einem Satz<br />
zusammenzufassen, wie der Stand der<br />
Integration der Kurden ist, so würde ich<br />
sagen: Die Situation der kurdischen<br />
Bevölkerung in Deutschland pendelt nach<br />
wie vor zwischen Integration und Diskriminierung, auch<br />
nach Jahrzehnten. Hier leben fast 1 Million Kurden, ein<br />
<strong>Dr</strong>ittel dieser Kurdinnen und Kurden haben die deutsche<br />
Staatsangehörigkeit - gegenüber Türken und anderen<br />
Migrantengruppen eine sehr hohe Prozentzahl. Das hängt<br />
wohl auch mit ihrer unglücklichen Geschichte in der Türkei<br />
und den anderen Ländern, aus denen sie zum Teil<br />
geflüchtet und dann hierher gekommen sind, zusammen.<br />
Vielen hier lebenden Kurdinnen und Kurden ist die<br />
Einbürgerung trotz der vielfältigen Hürden gelungen.<br />
Darüber will ich nicht weiter reden.<br />
Ich möchte jedoch etwas zur Diskriminierung sagen, die im<br />
Wesentlichen ein Problem der Selbstbestimmung des kurdischen<br />
Volkes ist, wie es Osman Baydemir auch angesprochen<br />
hat. Es geht um die Anerkennung der kurdischen<br />
Identität; die so heftig erkämpft werden musste und<br />
immer noch erkämpft werden muss, vor allem in der<br />
Türkei. Dieses Problem reicht jedoch herüber bis in unsere<br />
Gesellschaft und ist sehr aktuell. Ich möchte das an zwei<br />
Hauptproblemen verdeutlichen.<br />
Die Kurdinnen und Kurden sind als eigenständige ethnische<br />
Gruppe in Deutschland immer noch nicht anerkannt.<br />
Sie werden entweder als Türken, als Syrer oder Perser<br />
angesehen, aber nicht als Kurdinnen und Kurden. Daraus<br />
Prof. <strong>Dr</strong>. Norman Paech<br />
folgen sehr praktische Grenzen der Integration. Es gibt<br />
keine Beratungs- und Betreuungsmöglichkeiten in kurdischer<br />
Sprache, es gibt keine Möglichkeiten des ergänzenden<br />
Unterrichts an den Schulen in kurdischer Sprache, weil<br />
auch in Deutschland die kurdische Sprache nicht gelehrt<br />
wird. Und das bedeutet, dass das, was in der Türkei nicht<br />
möglich ist, nämlich die kurdische Identität zu leben, die<br />
kurdische Sprache in allen Bereichen, auch politisch und<br />
nicht nur privat, in den Schulen, an den<br />
Universitäten sprechen zu können, auch in<br />
Deutschland nicht möglich ist - bis hin zu<br />
den kurdischen Namen, die bis heute nur<br />
mit viel Mühe durchgesetzt werden können.<br />
Das hängt mit einem zweiten Problem<br />
zusammen, welches ich gerade in meiner<br />
engeren Umgebung ausgesprochen<br />
störend empfinde. Wenn bei uns das<br />
Problem der Kurden angesprochen wird,<br />
kommt sofort die Assoziation mit der PKK<br />
und dann ist die Assoziation mit Terror<br />
nicht weit. Dieses ist leider ein Faktum<br />
unserer Geschichte, welches in weite<br />
Bereiche unserer Gesellschaft, auch unter den<br />
Intellektuellen, hineinreicht. Seit 1993 ist die PKK verboten,<br />
die politische Betätigung eines großen Teils der<br />
kurdischen Bevölkerung ist damit auch in Deutschland<br />
sehr eingeschränkt worden. Es war die Zeit, in der ich zum<br />
ersten Mal mit dem Problem der Kurdinnen und Kurden in<br />
Kontakt gekommen bin.<br />
Ich war damals beim Bundesverwaltungsgericht juristischer<br />
Gutachter der kurdischen Beschwerdeführer gegen das<br />
Betätigungsverbot der PKK. Leider ist das<br />
Bundesverwaltungsgericht meinen Argumenten nicht<br />
gefolgt, sondern hat das Verbot bestätigt, welches bis<br />
heute weiterbesteht. Dieser permanente Terrorverdacht<br />
hat zu einer weit gehenden Kriminalisierung aller hier<br />
lebenden Kurdinnen und Kurden geführt, zu einer Vielzahl<br />
<strong>von</strong> Gerichtsverfahren, und er hat die<br />
Einbürgerungsverfahren sehr viel schwieriger gemacht als<br />
bei anderen Migrantengruppen. Zudem gab es z.B. im<br />
Jahre 2007/2008 insgesamt über 4.500 Widerrufsfälle in<br />
Asylverfahren, bei denen es eine 75 %ige Erfolgsquote<br />
gab, d.h. die Widerrufe der Asylverfahren haben in 75 %<br />
damit geendet, dass Kurdinnen und Kurden in die Türkei<br />
zurück mussten. Zur Begründung wurde auf die<br />
Ausweitung der Minderheitenrechte in der Türkei verwiesen,<br />
insbesondere auf jenes sogenannte Reformpaket<br />
-13-
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
aus dem Jahre 2002, jene Gesetzesreform, die Null-<br />
Toleranz gegen Folter versprach und die Abschaffung der<br />
Staatssicherheitsgerichte verfügte.<br />
In Deutschland werden diese vermeintlichen Reformen als<br />
Erfolge im Kampf um die Gleichberechtigung und das<br />
Selbstbestimmungsrecht der Kurdinnen und Kurden<br />
gefeiert, aber es sind eben doch nur Gesetze, und die zentrale<br />
Frage ist, wie weit sie bisher verwirklicht wurden.<br />
Wenn man sich die Berichte <strong>von</strong> Amnesty International,<br />
<strong>von</strong> Human Rights Watch, vom IHD und <strong>von</strong> anderen<br />
unabhängigen Organisationen ansieht, dann weiß man,<br />
wie es um die Durchsetzung dieser Reformen in der Türkei<br />
tatsächlich steht.<br />
Eine Erklärung dafür, dass auch in Deutschland die<br />
Integration noch mit soviel Diskriminierung der Kurdinnen<br />
und Kurden verbunden ist, sind zweifellos die engen<br />
Beziehungen, die die deutschen Regierungen und die<br />
deutsche Wirtschaft immer mit der Türkei gehabt haben.<br />
Die deutsche Politik folgt weitgehend der türkischen<br />
offiziellen Politik, und hat in der Kurdenfrage nur sehr<br />
wenig eigene Positionen entwickelt und der türkischen<br />
Politik Widerstand entgegengesetzt. Das Verhältnis ist<br />
allerdings sehr ambivalent; es ist bekannt, dass sich seit<br />
den Diskussionen um den Beitritt zur EU die Haltung auch<br />
innerhalb Deutschlands außerordentlich differenziert hat.<br />
Es gibt zwar keine klare Absage an den EU-Beitritt, es gibt<br />
aber auch keine eindeutige Befürwortung. Wir wissen,<br />
dass die CDU/CSU sehr starke Ablehnungsreflexe hat. Nur<br />
nebenbei bemerkt: deutsche Regierungen hatten nie<br />
Schwierigkeiten, wenn es um die Kooperation mit den<br />
Militärdiktaturen in der Türkei ging und auch die Nato<br />
hatte keine Probleme, die Türkei in ihren Rahmen zu integrieren.<br />
Die Menschenrechte spielten keine Rolle, es<br />
spielte auch die kurdische Frage nie eine Rolle. Das einzig<br />
Relevante war die strategische Option, die man seinerzeit<br />
mit der Türkei gegenüber der Sowjetunion und dem ölreichen<br />
Mittleren Osten verfolgte. Und das ist wohl auch<br />
heute noch so.<br />
Gerade heute hat Cem Özdemir, der Parteivorsitzende der<br />
Grünen, laut einem Zeitungsbericht gesagt, dass die Türkei<br />
aufgrund der schlechten Menschenrechtslage noch nicht<br />
reif für die EU sei. Das ist wahrscheinlich richtig, da es<br />
noch eines längeren Prozesses zur Verbesserung der<br />
Menschenrechte bedarf. Doch darum geht es der<br />
offiziellen Politik in Europa gar nicht in erster Linie. Wenn<br />
man sich die Diskussion genauer ansieht, so ist die Frage<br />
des EU- Beitritts schon länger eine strittige Frage, bei der<br />
es um andere, sehr viel wichtigere Fragen geht: um die<br />
geostrategische Position, die die Türkei für uns nicht nur<br />
im Rahmen der NATO, sondern auch in der EU einnimmt.<br />
Ich möchte das mit drei Zitaten deutlich machen. Schon<br />
2004 hat der Sozialdemokrat Michel Rochard, der im<br />
Auswärtigen Ausschuss des Europaparlaments sitzt, sehr<br />
deutlich das Problem in einem kurzen Satz auf den Punkt<br />
gebracht: „Lassen Sie uns nicht soviel <strong>von</strong><br />
Menschenrechten reden, lassen Sie uns über das reden,<br />
-14-<br />
um was es geht, um Geopolitik“; und auch Günter<br />
Verheugen [SPD; Vizepräsident der Europäischen<br />
<strong>Kom</strong>mission], hat es sehr deutlich gesagt: „Der Beitritt der<br />
Türkei würde Europa, ob Europa das will oder nicht, zu<br />
einem weltpolitischen Akteur ersten Ranges machen, wir<br />
müssten bis dahin in der Lage sein, eine gemeinsame<br />
Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln, die diesen<br />
Namen auch verdient.“ Von Menschenrechten ist da nicht<br />
die Rede. Auch die EU-<strong>Kom</strong>mission hat sehr deutlich<br />
gesagt, worum es bei der Frage des Beitritts und des<br />
Verhältnisses der europäischen Staaten, nicht nur<br />
Deutschlands, zur Türkei geht. Um den EU-Beitritt der<br />
Türkei plausibel zu machen, hat die <strong>Kom</strong>mission ein<br />
Arbeitspapier entwickelt, in dem zu lesen ist: „Die Türkei<br />
ist ein strategisch wichtiges Land. Der Beitritt der Türkei<br />
würde der EU helfen, die Energieversorgungsrouten besser<br />
zu sichern. Im Hinblick auf Zentralasien könnte die<br />
Türkei den politischen Einfluss in dieser Region kanalisieren<br />
helfen. Die Türkei hätte bei der Sicherung der<br />
Energieversorgung einer erweiterten EU eine wichtige<br />
Rolle zu spielen, da vor ihren Grenzen die energiereichsten<br />
Regionen der Erde liegen.<br />
Der türkische Beitritt könnte helfen, den Zugang zu diesen<br />
Ressourcen und ihre sichere Verbringung in den EU<br />
Binnenmarkt zu gewährleisten.“ Und dann kommt auch<br />
noch das, was historisch seit langem eine zentrale Rolle in<br />
dem Verhältnis Deutschlands zur Türkei spielt - nämlich<br />
die militärpolitische Option. Dazu heißt es weiter in dem<br />
Arbeitspapier: „Dank ihrer hohen Militärausgaben und<br />
ihres großen Streitkräftekontingents ist die Türkei in der<br />
Lage, einen bedeutenden Beitrag zur Sicherheit und<br />
Verteidigung der EU zu leisten.“<br />
Darum geht es! Die Beziehungen zur Türkei sind alt und<br />
lang und sehr erfolgreich; und sie begannen im<br />
Wesentlichen mit einer militärpolitischen Kooperation.<br />
Nur ganz kurz zur Erinnerung: Schon 1882 kam eine<br />
Anfrage aus dem Osmanischen Reich, <strong>von</strong> Sultan<br />
Abdulhamid II, nach militärischer Beratung. Darauf wurde<br />
der deutsche General Otto Kehler vom preußischen<br />
Offizier Graf <strong>von</strong> Moltke in den Stab des türkischen<br />
Militärs als Berater entsandt. Damit begann auch der erste<br />
Kontakt meiner Familie - dieses nur nebenbei - mit dem<br />
Osmanischen Reich. Ein Vorfahre meiner Familie war zur<br />
osmanischen Zeit als Arzt in Istanbul tätig. Als er<br />
schließlich nach Berlin zurückkehrte, bekam er zum<br />
Abschied einen Orden, dessen Inschrift er in Berlin entziffern<br />
ließ. Auf dem Orden stand: „Tod allen Christen-<br />
Hunden“.<br />
Seitdem hat sich die Situation zweifellos verändert, nur<br />
eines nicht: Die militärpolitischen und auch die<br />
Rüstungsbeziehung sind nach wie vor der Kern der<br />
Beziehung zwischen Deutschland und der Türkei. Das sind<br />
- ich habe das einmal durchgesehen - Beträge zwischen<br />
100 Millionen und über 350 Millionen Euro pro Jahr. Es<br />
geht um Kampfhaubitzen, Logistik und das sind 298
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
Exemplare des Leopard II. Das heißt. Es gibt eine ausgesprochen<br />
erfolgreiche militärische Kooperation, die<br />
sowohl den Ausbildungsbereich wie den Bereich der<br />
Panzer und der technischen Ausrüstung umfasst. Das ist<br />
das Erste.<br />
Das Zweite ist die wirtschaftliche Kooperation, dazu<br />
brauche ich ihnen nicht viel zu sagen. Auch sie ist außerordentlich<br />
erfolgreich. Deutschland ist der größte<br />
Handelspartner der Türkei; und zwar nicht nur im klassischen<br />
Bereich <strong>von</strong> Maschinen, der Zulieferindustrien,<br />
Dienstleistung oder des Tourismus, sondern bis hinein in<br />
die Textilindustrie, und vor allem jetzt die Logistik-,<br />
Transport- und Umwelttechnik. Weit über 2.000<br />
Unternehmen produzieren in der Türkei, haben dort ihre<br />
Standorte, dort werden die Produkte hergestellt und das<br />
ist eine ungeheuer enge Klammer. Wie lange hat es<br />
gedauert, bis endlich auch die deutsche Regierung Distanz<br />
zum Ilisu-Staudamm gezeigt hat! Das war ein langer<br />
Kampf, bei dem erst eine außerordentlich gute<br />
Zusammenarbeit zwischen den<br />
Nichtregierungsorganisationen in Hasankeyf und<br />
deutschen Nichtregierungsorganisationen dazu geführt<br />
hat, dass dieses Projekt nun, zumindest vorläufig, scheitern<br />
musste.<br />
Mit einem Satz: Wir haben militärpolitisch und wirtschaftspolitisch<br />
die engsten Verbindungen zur Türkei und darin<br />
liegt begründet, dass wir auch politisch mit den<br />
Problemen in der Türkei konfrontiert werden. Das ist zwar<br />
auch die unzureichende Menschenrechtslage, im<br />
Wesentlichen ist das aber die kurdische Frage, mit der wir<br />
uns auseinanderzusetzen haben. Unsere Regierungen<br />
haben immer nur sehr vorsichtige Kritik an der Türkei im<br />
Rahmen der EU geübt, z.B. zu Folter usw., die es ja leider<br />
immer noch gibt. Sie müssen das mit den Reaktionen vergleichen,<br />
wenn hier zu den Uiguren oder zu den<br />
Tschetschenen Stellung genommen wird. Da ist die Kritik<br />
sehr viel deutlicher als im Fall der Türkei, und das, obwohl<br />
die Türkei regelmäßig vom Europäischen Gerichtshof für<br />
Menschenrechte wegen grober Verstöße gegen die<br />
Europäische Menschenrechtscharta verurteilt wird. Es gibt<br />
zudem eine enge deutsch-türkische Zusammenarbeit im<br />
Bereich der inneren Sicherheit. Ich erinnere sie nur an das<br />
Jahr 2003/2004, als der damalige Innenminister Otto<br />
Schily mit der Türkei ein Abkommen über die<br />
Zusammenarbeit zur Bekämpfung <strong>von</strong> Straftaten <strong>von</strong><br />
erheblicher Bedeutung, insbesondere Terrorismus und<br />
organisierte Kriminalität, abschloss. Im selben Jahr wurde<br />
dann einerseits Metin Kaplan abgeschoben, andererseits<br />
stufte der Bundesgerichtshof – bis in die obersten Gerichte<br />
reichte diese Politik – die Führungsebene der PKK als kriminelle<br />
Vereinigung ein. Sie bilden bis heute die Grundlage<br />
für die Diskriminierung politischer Tätigkeiten und politischer<br />
Organisationen in diesem Land.<br />
Bevor ich schließe will ich doch kurz fragen, was daraus<br />
folgt, vor allem für unsere politische Arbeit. Es gibt eine<br />
große türkische national gesinnte Lobby. Es gibt einen sehr<br />
starken Einfluss türkischer Kräfte auf die deutsche<br />
Regierung, um insbesondere die kurdische Frage nicht<br />
anders zu behandeln, als sie in der Türkei aktuell behandelt<br />
wird. Demgegenüber bin ich der Überzeugung, dass<br />
wir diese Politik ändern müssen - und das ist es auch, was<br />
wir immer wieder fordern. Ich will sie auf zwei zentrale<br />
Forderungen begrenzen.<br />
Die erste ist, dass Kurdinnen und Kurden als eine eigenständige<br />
Migrantengruppe anerkannt werden müssen.<br />
Wenn es möglich ist, dass die kurdische Identität voll<br />
anerkannt wird, dann werden viele Folgeprojekte entstehen<br />
können, viele Diskriminierungen aufgehoben werden<br />
und eine Gleichstellung mit anderen Migrantengruppen<br />
möglich werden. Das, was Herr Momper als Ziel vollständiger<br />
Integration angesprochen hat, hat zur<br />
Voraussetzung, dass die Kurdinnen und Kurden als selbstständige<br />
Migrantengruppe anerkannt werden. Aber nicht<br />
nur das. Eine zweite Forderung möchte ich anfügen. Ich<br />
bin der Überzeugung, dass das Betätigungsverbot der PKK<br />
aufgehoben werden muss.<br />
Ich weiß, dass es auch in diesem Kreis sehr viele unterschiedliche<br />
Positionen zur PKK gibt. Man darf aber ihre<br />
Bedeutung bei der Identitätsfindung des kurdischen<br />
Volkes und bei den vergangenen Kämpfen nicht vernachlässigen<br />
und unterschätzen. Sie ist ein politischer Faktor,<br />
der nicht hinter Gefängnismauern abgeschlossen und<br />
nicht illegalisiert werden darf. Und dann will ich eine dritte<br />
Forderung hinzufügen:<br />
Es ist eine Unmöglichkeit, einen Mann wie Öcalan hinter<br />
Gitter zu bringen, zu isolieren und <strong>von</strong> einem Prozess<br />
auszuschließen, zu dem er soviel beigetragen hat - nämlich<br />
die Demokratisierung der Türkei mit voranzubringen. Er<br />
ist nach wie vor eine wichtige und zentrale Person, die für<br />
die Lösung der kurdischen Frage <strong>von</strong> großer Bedeutung ist,<br />
zur Lösung einer Frage, in der es um das demokratische<br />
und friedliche Zusammenleben des türkischen Volkes und<br />
des kurdischen Volkes und aller anderen ethnischen und<br />
kulturellen Gruppen in der Türkei und auch hier in<br />
Deutschland geht.<br />
-15-
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
Bestandsaufnahme und Vorschläge für die Gleichstellung<br />
der Kurden mit anderen Migrantengruppen<br />
<strong>Dr</strong>. Zaradachet Hajo, Vorsitzender des Kurdischen P.E.N<br />
Ich freue mich sehr über das Zustandekommen dieser<br />
Konferenz, sie ist in ihrer Zielsetzung längst überfällig. Im<br />
Interesse <strong>von</strong> einer Million hier in Deutschland lebenden<br />
Kurden würde ich es sehr begrüßen, wenn die hier diskutierten<br />
Themen und Ergebnisse auch endlich in die<br />
deutsche Politik einfließen und umgesetzt werden würden.<br />
Das Kurdische PEN-Zentrum, dessen Vorsitzender ich seit<br />
einigen Jahren bin, ist ein wichtiges Rad im kurdischen<br />
Kulturbetrieb, zumal es auch international tätig ist. Es<br />
sieht sich sowohl als Diskussionsforum für die in der<br />
Heimat lebenden Kurden als auch für diejenigen, die im<br />
Exil leben. Da viele unserer Mitglieder in<br />
Deutschland zu Hause sind, so wie ich selbst<br />
auch seit langer Zeit, ist uns die<br />
Verbindung zur deutschen Kultur und<br />
Literatur besonders wichtig. So pflegen wir<br />
ausgezeichnete Verbindungen zu<br />
deutschen Literaten, die diesen<br />
Kulturaustausch ebenfalls sehr schätzen.<br />
Ein solches Verhältnis wünsche ich mir auch<br />
für meine Landsleute, die hier teilweise seit<br />
sehr langer Zeit leben, aber immer noch<br />
nicht hier angekommen sind. Und das nicht<br />
nur zu ihrem Schaden, sondern auch insbesondere<br />
zum Schaden dieses Landes. Das<br />
liegt nicht nur an den sehr spät erfolgten<br />
Integrationsmaßnahmen der deutschen<br />
Regierung, sondern auch insbesondere<br />
daran, dass man speziell die kurdische<br />
Minderheit in Deutschland in ihren kulturellen<br />
Bedürfnissen nicht anerkennt. Es ist sehr wichtig,<br />
dass seit 2005 Integrationskurse zur Erlernung der<br />
deutschen Sprache und andere integrative Maßnahmen<br />
mit großem Erfolg durchgeführt werden, aber mindestens<br />
genau so wichtig ist es, dass man die <strong>Kom</strong>petenzen, die<br />
Einwanderer mitbringen, zu schätzen lernt. Diese<br />
<strong>Kom</strong>petenzen sind natürlich die erlernten Berufe und<br />
Fähigkeiten, aber auch Sprache und Kultur des<br />
Herkunftslandes.<br />
Sprache ist nicht nur Ausdruck <strong>von</strong> Kultur und Heimat, sie<br />
ist das entscheidende Merkmal für die Definition der eigenen<br />
Identität, denn sie ist der Schlüssel zu all dem, was wir<br />
unter Kultur verstehen. Sie ist der wichtigste Teil der individuellen,<br />
regionalen, ethnischen und nationalen Identität<br />
und als solche nicht nur maßgeblich für das Überleben<br />
eines Volkes, sondern prägend für die persönliche<br />
Entwicklung eines Menschen. Ohne sprachliche<br />
<strong>Kom</strong>petenz in der Muttersprache ist man <strong>von</strong> der<br />
Erfahrung seiner eigenen Kultur abgeschlossen und in<br />
seiner persönlichen Entwicklung massiv behindert.<br />
-16-<br />
Insofern dient der muttersprachliche Unterricht der emotionalen,<br />
gesellschaftlichen und kognitiven Entwicklung<br />
eines Kindes, kurz gesagt, dem Kindwohl, das in dieser<br />
Gesellschaft ein wichtiger Wert ist bzw. sein sollte.<br />
Im Vergleich zu anderen in Deutschland lebenden<br />
Migrantengruppen kommt bei den Kurden erschwerend<br />
hinzu, dass sie auch in den Staaten, aus denen sie nach<br />
Deutschland immigrierten, ihrer kulturellen Rechte<br />
beraubt waren. Viele Kurden und Kurdinnen können<br />
weder in der Heimat noch im Exil <strong>von</strong> ihrer Sprache<br />
Gebrauch machen, ohne dabei massiven Repressalien<br />
oder einer politischen Ignoranz ihrer sprachlichen<br />
Bedürfnisse ausgesetzt zu sein. Die meisten<br />
der etwa 40 Millionen Kurden,<br />
aufgeteilt auf die 4 Staaten, die Kurdistan<br />
besetzt halten, Türkei, Iran, Irak und<br />
Syrien, im europäischen Exil oder in einigen<br />
Staaten der ehemaligen<br />
Sowjetunion lebend, haben nicht die<br />
Möglichkeit, in ihrer Muttersprache<br />
Lesen und Schreiben zu lernen. Es gibt<br />
keinen kurdischen Schulunterricht in der<br />
Türkei, Syrien oder im Iran – nur im Irak<br />
in der föderalen Region Kurdistan.<br />
Jeder <strong>von</strong> Ihnen kann sich vorstellen,<br />
dass es extrem demotivierend ist, wenn<br />
man im Aufnahme- bzw. Schutzland<br />
Deutschland dieselbe Situation vorfindet:<br />
Auch hier wird die eigene<br />
Muttersprache und damit auch die<br />
Kultur, der man angehört, nicht wertgeschätzt, sondern<br />
wenn überhaupt die Sprache des (Unterdrücker)Staates,<br />
beispielsweise Türkisch, Persisch oder Arabisch. Lassen<br />
Sie mich in Bezug auf die kulturelle Entfaltung und den<br />
muttersprachlichen Unterricht der kurdischen Minderheit<br />
in Deutschland eine kurze Bestandsaufnahme machen.<br />
<strong>Dr</strong>. Zaradachet Hajo<br />
Zunächst einmal zum Thema der Entwicklung und Pflege<br />
der kurdischen Kultur in Deutschland:<br />
Es ist festzustellen, dass sie weder in der Vergangenheit<br />
noch aktuell eine wesentliche staatliche Unterstützung<br />
erfahren hat, nicht durch den deutschen Staat und schon<br />
gar nicht durch die Staaten, aus denen Kurden stammen.<br />
Alles, was hier an kulturellen Aktivitäten stattfindet,<br />
geschieht durch die zahlreichen in Deutschland vertretenen<br />
kurdischen Vereine und genießt zum überwiegenden<br />
Teil keine staatliche Unterstützung. Orientiert man sich an<br />
Kultursubventionen für Theater, Literatur, Musik etc. in<br />
Deutschland bzw. für deutsche Sprache und Kultur im<br />
Ausland, müsste das kulturelle Erbe der hier lebenden
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
Kurden schon unrettbar verloren sein.<br />
Dass es das bisher nicht ist, liegt zum einen an der großen<br />
Wertschätzung, die insbesondere Literatur und Musik in<br />
der kurdischen Gesellschaft genießt und die in vielen<br />
Familien durch Feste und Feierlichkeiten mit mündlich<br />
überlieferten Geschichten, Gedichten und Lieder gelebt<br />
wird, und zum anderen am großen Engagement der hier in<br />
Deutschland tätigen kurdischen Kulturvereine. Die Rolle<br />
der Staaten, aus denen die Kurden stammen, die in<br />
Deutschland leben, ist hinsichtlich der Kulturförderung<br />
eher negativ zu sehen als dass sie in irgendeiner Weise<br />
unterstützend wirken würden.<br />
Die meisten hier lebenden Kurden stammen aus der<br />
Türkei. Zwar gibt es zahlreiche türkische Kulturvereine in<br />
Deutschland, die aber absolut kein Interesse an der kurdischen<br />
Kultur und Sprache haben. Im Gegenteil: Viele<br />
dieser türkischen Organisationen sind entweder religiös<br />
oder extrem nationalistisch ausgerichtet wie beispielsweise<br />
der Türkische Kulturverein in Köln, der <strong>von</strong> den<br />
ultra-rechten „Grauen Wölfen“ dominiert wird. Diese<br />
Vereine behindern kurdische Kulturaktivitäten in<br />
Deutschland massiv. Das geht <strong>von</strong> Störungen der Internet-<br />
Seiten kurdischer Vereine über Beschimpfungen und<br />
Schmähungen bis zu Handgreiflichkeiten und politische<br />
Interventionen. Das haben wir als Kurdisches PEN-<br />
Zentrum bereits mehrfach erlebt, zuletzt auf der<br />
Frankfurter Buchmesse gegen unseren dort vertretenen<br />
Stand, als türkische Nationalisten versuchten, handgreiflich<br />
gegen unsere Mitglieder vorzugehen.<br />
Auch türkische Konsulate versuchen regelmäßig, kurdische<br />
Aktivitäten in Schule und Gesellschaft zu verhindern<br />
und in vielen Fällen gelingt es ihnen auch, weil sie über<br />
weitreichende Verbindungen in der deutschen<br />
Gesellschaft verfügen.<br />
Selbst wenn es für die Kurden in der Türkei künftig erhebliche<br />
Verbesserungen hinsichtlich Sprache und Kultur<br />
geben sollte, sehe ich ein türkisches Kulturinstitut, das<br />
allen Ethnien, Sprachen und Kulturen gerecht wird, die in<br />
der Türkei beheimatet sind, noch in weiter Ferne. Die<br />
Tendenz ist eher so, dass der türkische Staat sich offiziell<br />
in Sachen Kultur in Deutschland zurückhält und die<br />
zumeist sehr einseitig nationalistisch ausgerichteten<br />
Kulturvereine gewähren lässt bzw. unterstützt: Eine insgesamt<br />
nicht sehr hoffnungsfrohe Perspektive.<br />
Nun zum muttersprachlichen Unterricht Kurdisch:<br />
Wie Sie vielleicht wissen werden, war ich selbst aktiv an<br />
der Entwicklung des muttersprachlichen Unterrichts<br />
Kurdisch in Bremen beteiligt, dem ersten Bundesland, das<br />
diesen Unterricht 1993 zugelassen hat. Zuvor gab es in<br />
Deutschland überwiegend eine Haltung, die auf die<br />
Beschlüsse der Kultusministerkonferenz aus dem Jahre<br />
1976 zurückzuführen war: Ausländische Kinder sollten in<br />
den Schulen sowohl in Deutsch als auch in der Sprache des<br />
Herkunftsstaates unterrichtet werden. Teilweise wurden<br />
zu diesem Zweck auch bilaterale Abkommen mit den jeweiligen<br />
Konsulaten geschlossen.<br />
Ausschlaggebend für diesen Beschluss waren ausschließlich<br />
staatliche Interessen: Einerseits die<br />
Eingliederung der Kinder in die deutsche Gesellschaft<br />
durch Deutschunterricht, andererseits die Unterrichtung<br />
der Sprache des Herkunftsstaates, um die<br />
„Rückkehrfähigkeit“ der Kinder beizubehalten. Die<br />
Interessen der Migranten wurden dabei nicht berücksichtigt.<br />
Insbesondere bei kurdischen Kindern kam es zu<br />
Fehleinschätzungen mit fatalen Folgen. Die kurdische<br />
Muttersprache der Kinder spielte keine Rolle, sie war, da<br />
keine Staatssprache, eine sogenannte „Nichtsprache“.<br />
Für die kurdischen Kinder, die mit der neuen Situation in<br />
Deutschland ohnehin überfordert waren, bedeutete das,<br />
dass sie noch eine völlig fremde Sprache, Türkisch lernen<br />
sollten, die sie bisher nur ansatzweise oder gar nicht<br />
beherrschten und die auch nicht ihr Lebensgefühl und ihr<br />
Kulturverständnis ausdrückte. Die Leistungen im Türkisch-<br />
Unterricht waren dann auch oft entsprechend schlecht<br />
und es wurde eine negative Schulprognose abgegeben.<br />
Das Ergebnis war, dass selbst sehr intelligente Kinder in die<br />
Förderschule bzw. Hauptschule empfohlen wurden. Da die<br />
Eltern meistens nicht in der Lage waren, Widerstand zu<br />
leisten, war der schulische Misserfolg programmiert.<br />
Auch die Inhalte des Unterrichts wurden nicht <strong>von</strong> den<br />
deutschen Schulbehörden, sondern <strong>von</strong> den Konsulaten<br />
vorgegeben. Dass die damals getroffene Auswahl der<br />
türkischen Konsulate für kurdische Kinder eher nicht<br />
förderlich war, muss ich nicht näher ausführen. Viele<br />
Familien, die vor der Unterdrückung staatlicher türkischer<br />
Stellen geflohen, ja möglicherweise durch staatliche Übergriffe<br />
traumatisiert waren, sahen sich in ihrem Schutzland<br />
wieder <strong>von</strong> der türkischen Staatsmacht in der schulischen<br />
Förderung ihrer Kinder bestimmt. Eine wirklich fatale<br />
Situation und ein politischer Zynismus, wenn man<br />
bedenkt, dass die Praxis ihrer Unterdrücker - die ausschließliche<br />
Geltung und Unterrichtung der türkischen<br />
Sprache - im Exil fortgesetzt wird. Vertrauen in die<br />
Aufnahmegesellschaft wird so nicht gefördert.<br />
Diese Situation führte dazu, dass ab 1980 <strong>von</strong> zahlreichen<br />
kurdischen Vereinen ein muttersprachlicher Unterricht<br />
Kurdisch gefordert wurde. Allerdings fand erst in den 90er<br />
Jahren ein Umdenken in dieser Sache statt:<br />
Man stellte fest, dass sich die Kinder trotz der erhofften<br />
„Rückkehrfähigkeit“ <strong>von</strong> den Werten und Normen des<br />
Herkunftsstaates entfernt hatten und gleichwohl nicht in<br />
dem Wertesystem der Bundesrepublik Deutschland<br />
angekommen waren. Viele Migrantenkinder hatten massive<br />
Lern- und Sozialisationsprobleme. Erst durch ein<br />
Memorandum, in dem sich alle Migrantengruppen unter<br />
dem Dach der Bundesarbeitsgemeinschaft der<br />
-17-
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
Immigrantenverbände (BAGIV) zu Wort gemeldet hatten,<br />
entstand zumindest in einigen Bundesländern ein<br />
Umdenken.<br />
Durch das besondere Engagement <strong>von</strong> Frau Y<strong>von</strong>ne Müller<br />
begann in Bremen als erstem Bundesland im Februar 1993<br />
an zwei Schulen der muttersprachliche Unterricht<br />
Kurdisch-MU. Es folgten 1994 Hamburg, 1995<br />
Niedersachsen und 1996 NRW. Zurzeit sieht die Situation<br />
so aus:<br />
In Bremen sind nach wie vor zwei Lehrer beschäftigt, die<br />
insgesamt ca. 200 Schüler unterrichten. In Hamburg ist die<br />
personelle Situation etwas besser, Auf vier Lehrer kommen<br />
etwa 130 Schüler. In den Flächenländern NRW sind acht<br />
Lehrer für ca. 490 kurdische Schüler angestellt und in<br />
Niedersachsen unterrichtet die gleiche Anzahl an Lehrern,<br />
ebenfalls acht, 560 Schüler. Erwähnen möchte ich noch,<br />
dass in Hessen ein Lehrer an einer einzigen Schule 20<br />
Schüler unterrichtet. In allen anderen Bundesländern gibt<br />
es keinen muttersprachlichen Unterricht für kurdische<br />
Kinder.<br />
Das ist, da werden Sie mir Recht geben, im Hinblick auf die<br />
Zahl an schulpflichtigen Kindern mit kurdischem<br />
Migrationshintergrund nur der Tropfen auf den bekannten<br />
heißen Stein.<br />
Ziel des MUK war und ist, die Schüler zur <strong>Kom</strong>munikation<br />
innerhalb der eigenen ethnischen Gruppe zu befähigen,<br />
ihnen, was aus meiner Sicht noch wichtiger ist, den Zugang<br />
zur eigenen Kultur und auch zur weiteren Entwicklung im<br />
Heimatland zu ermöglichen und sie die ihre nationalen<br />
Eigenschaften im Vergleich zur deutschen Kultur und<br />
Gesellschaft verstehen zu lassen.<br />
Der muttersprachliche Unterricht Kurdisch ist dort, wo er<br />
praktiziert wird, erfolgreich, trotz der Tatsache, dass er nur<br />
in den regional unterschiedlichen kurdischen Dialekten<br />
erfolgen kann, gleichwohl leider, wie die genannten<br />
Zahlen belegen, in Deutschland kein Erfolgsmodell.<br />
Bedenkt man, dass vom Beginn des MUK in Bremen 1993<br />
jetzt 16 Jahre liegen, kann die Umsetzung nicht zufriedenstellen.<br />
In manchen Bundesländern fehlt der politische<br />
Wille, obwohl immer deutlicher wird, dass Jugendliche mit<br />
Migrationshintergrund generell und kurdische Jugendliche<br />
nicht nur in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt - im<br />
Vergleich zu deutschen Jugendlichen - die klaren Verlierer<br />
sind, sondern sich auch zunehmend <strong>von</strong> den Werten und<br />
Grundsätzen der deutschen Gesellschaft abwenden. Es ist<br />
ein politisches Zeichen der Nichtachtung <strong>von</strong> Sprache und<br />
Kultur einer Million kurdischstämmiger Bürger in<br />
Deutschland, wenn nicht weitergehende Maßnahmen zur<br />
Förderung <strong>von</strong> Sprache und Kultur der Kurden getroffen<br />
werden.<br />
Meinen Vortrag beenden möchte ich mit der Feststellung,<br />
dass auch für die Erforschung der kurdischen Sprache bish-<br />
-18-<br />
er nicht viel getan wurde: Nach wie vor gibt es in<br />
Deutschland keinen Lehrstuhl für Kurdologie, obwohl die<br />
Kurden nach den Arabern, Türken und Persern das viertgrößte<br />
Volk im Nahen Osten sind und die kurdische<br />
Sprache <strong>von</strong> der zweitgrößten Minderheit in Deutschland<br />
gesprochen wird. Auch das ist eine Fortsetzung dessen,<br />
was in den Besatzerstaaten Kurdistans an der<br />
Tagesordnung ist. Es wird keine wissenschaftliche<br />
Erforschung der kurdischen Sprache zugelassen, weder an<br />
Universitäten noch an Instituten.<br />
Traurige Tatsache ist, dass es zu Ende des 19.<br />
Jahrhunderts, als vielen Kurden Europa fast völlig<br />
unbekannt war, man sich in Europa weit intensiver mit der<br />
kurdischen Sprache auseinander gesetzt hat als heutzutage.<br />
Ich möchte auf den Beginn meiner Ausführungen zurückkommen:<br />
Diese Konferenz ist sehr wichtig und ich hoffe<br />
sehr, dass im Zeichen eines endlich begonnenen interkulturellen<br />
Dialoges der kurdischen Kultur und Sprache, die<br />
auch in Deutschland zu Hause ist, endlich mehr<br />
Aufmerksamkeit geschenkt wird.<br />
Ich bedanke mich bei den Veranstaltern für die geleistete<br />
Arbeit als auch bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
Die Diskussionen über die<br />
Migrationspolitik in<br />
Bundesrepublik Deutschland<br />
haben heute eine andere<br />
Dimension als vor 20 Jahren. Sie<br />
bewegt sich zwischen Öffnung und<br />
Abwehr. Erst Mitte 70er Jahre<br />
begann die Auseinandersetzung<br />
um die soziale Integration der hier<br />
lebenden Migrantinnen und<br />
Hamide Akbayir<br />
Migranten. Die Politik hat endlich<br />
verstanden, dass Deutschland ein<br />
Einwanderungsland ist und Integration ein langfristiger<br />
Prozess ist. Staat und Parteien haben sogar die Pflicht,<br />
diesen Prozess aus dem Alltagshandeln ins öffentliche<br />
Bewusstsein zu tragen. Die Integration erfordert nämlich<br />
eine Interaktion zwischen der Aufnahmegesellschaft und<br />
den MigrantInnen.<br />
Obwohl für die meisten MigrantInnen Deutschland zum<br />
realen Mittelpunkt geworden ist, lässt die Frage der<br />
sozialen Partizipation noch zu wünschen übrig. Mit der<br />
Debatte um das Staatsangehörigkeitsrecht bekam die<br />
Integrationspolitik einen neuen Aspekt. Sie führte zum<br />
Anstieg der Einbürgerungszahlen, vor allem der Kurdinnen<br />
und Kurden.<br />
Wie bekannt, stellen Kurdinnen und Kurden mit ca<br />
800.000 Menschen die zweitgrößte Zuwanderungsgruppe<br />
in Deutschland dar. Anders als die anderen<br />
MigrantInnengruppen, haben sie mehrfache<br />
Migrationsgründe - Krieg, Unterdrückung und Zerstörung<br />
<strong>von</strong> Dörfern und Umwelt sind einige da<strong>von</strong>. Vor allem<br />
Frauen und Kinder sind hier<strong>von</strong> betroffen. Die spezifischen<br />
Fluchtursachen der Frauen werden immer noch nicht<br />
anerkannt.<br />
Die Integration der kurdischen Frauen kann im<br />
Zusammenhang mit der aktuellen Migrations- und<br />
Integrationpolitik behandelt werden. Integration ist ein<br />
komplexes Zusammenspiel politischer, sozialer und kultureller<br />
<strong>Kom</strong>ponenten. Häufig aber ist die Debatte<br />
hierüber einseitig ausgerichtet. Der Fokus liegt zu sehr auf<br />
der Religion – dem Islam - und der besonderen Stellung<br />
der Frauen im Kontext des Integrationsprozesses. Dies<br />
beeinflusst auch die Situation der kurdischen Frauen. Ihre<br />
Migrationsgründe, Lebenssituation und ihre Perspektiven<br />
sind vielfältig. Sie werden in der Öffentlichkeit häufig nicht<br />
wahrgenommen oder pauschal Kategorien wie “Islam,<br />
Ehrenmorde, Zwangsverheiratung“ zugeordnet.<br />
Es ist ein schwieriges Kapitel, über die Integration <strong>von</strong><br />
Menschen mit Migrationshintergrund, insbesondere die<br />
<strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> Hamide Akbayir<br />
Hamide Akbayir, CENÎ - Kurdisches Frauenbüro für Frieden, Düsseldorf<br />
der kurdischen Frauen zu diskutieren. Es bedarf einer<br />
intensiven Auseinandersetzung mit der Lebensweise kurdischer<br />
Frauen, um ihre Integrationsprobleme zu verstehen.<br />
Die patriarchalischen Systeme haben stark dazu<br />
beigetragen, dass sich die Kurdinnen in allen<br />
Lebensbereichen nicht entwickeln konnten. Ein großer Teil<br />
dieser Frauen lebt auch in Deutschland. Deshalb müssen<br />
wir ihren Lebensalltag näher beleuchten und ihrer<br />
Positionierung in Bezug auf Tradition, Emanzipation und<br />
Integration nachgehen. Gibt man ihnen ausreichend<br />
Gelegenheit, sich mit ihrer Identätit darzustellen und<br />
bringt ihnen Interesse und Verständnis entgegen, können<br />
sie sich öffnen und integrieren.<br />
Kurdinnen und Kurden sind seit Jahrhunderten Opfer <strong>von</strong><br />
Kriegen, nationalistischen und rückständigen Systemen<br />
gewesen. Ihre Identität wird bis heute geleugnet. Auch in<br />
Deutschland muss diese Frage auf breiter Ebene diskutiert<br />
werden. Die herrschende Politik in Deutschland<br />
gegenüber den Kurdinnen und Kurden erschwert auch die<br />
Integration der kurdischen Frauen, weil sie sich als ein Teil<br />
dieser Politik verstehen. Aus diesem Grund muss das auch<br />
im Zusammenhang mit den Repressionen gegen die<br />
Kurdinnen und Kurden insgesamt behandelt werden. Die<br />
Frau sieht nämlich ihre eigene Integration in der Lösung<br />
der kurdischen Frage, auch in Deutschland. Integration<br />
beginnt mit Anerkennung, Chancengleichheit und<br />
Dialogbereitschaft. Solange die Möglichkeiten der<br />
Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben<br />
nicht gewährleistet sind, können wir nicht <strong>von</strong> einer echten<br />
Integration der MigrantInnen, der Kurdinnen,<br />
sprechen.<br />
Der Begriff Integration ist kein fester Begriff, er muss je<br />
nach den Lebensumständen insbesondere für die kurdischen<br />
Frauen immer wieder neu definiert werden.<br />
-19-
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
Guten Tag. Ich bin <strong>Gisela</strong> <strong>Penteker</strong>,<br />
Landärztin in Niedersachsen. Ich<br />
engagiere mich bei der IPPNW, den<br />
„Internationalen Ärzten zur<br />
Verhütung des Atomkrieges, Ärzte<br />
in sozialer Verantwortung“ und bin<br />
dort verantwortlich für die<br />
Arbeitsgruppe Deutschland-Türkei-<br />
Kurdistan. Außerdem gehöre ich<br />
zum Vorstand des<br />
Niedersächsischen Flüchtlingsrats.<br />
Seit 1995 fahre ich jedes Jahr mit einer Delegation <strong>von</strong><br />
Ärztinnen und Ärzten und Flüchtlingsunterstützern in den<br />
Südosten der Türkei, wo wir kontinuierliche Kontakte zu<br />
Kollegen, zu Menschenrechtlern, Gewerkschaftern,<br />
Anwälten und <strong>Kom</strong>munalpolitikern aufgebaut haben. Ich<br />
habe in den vergangenen Jahren viele kurdische<br />
Flüchtlinge aus der Türkei und einige aus Syrien und dem<br />
Irak kennen gelernt. Sie kommen in meine Praxis, oft ohne<br />
Anmeldung und <strong>von</strong> weit her, weil sie wissen, dass ich in<br />
ihrer Heimat war, weil sie glauben, dass sie mir nicht alles<br />
noch mal erklären müssen Sie breiten ihre<br />
Leidensgeschichte vor mir aus und es berührt mich immer<br />
wieder sehr, wie es sie erleichtert, mit jemandem zu<br />
sprechen, der weiß, wo<strong>von</strong> sie reden, der ihre Geschichte<br />
nicht in Zweifel zieht. Wegen dieser Erfahrung ist es mir<br />
auch wichtig, jedes Jahr wieder Menschen nach Kurdistan<br />
mitzunehmen, die hier mit Flüchtlingen arbeiten.<br />
Als ich 1982 an der Niederelbe meine Praxis eröffnete,<br />
kamen manchmal junge türkische Erntehelfer mit kleinen<br />
Verletzungen, die offensichtlich nicht gemeldet und nicht<br />
versichert waren. Später lernte ich, dass es Kurden waren,<br />
deren Familien ihre jungen Männer seit Jahren auf die<br />
Obsthöfe schickten. Dort konnten sie Geld verdienen, entgingen<br />
dem Militärdienst in der Türkei und auch dem<br />
Freiheitskampf in den Bergen. Sie gingen und kamen, je<br />
nach Arbeitsanfall. Als die Grenzen immer mehr<br />
abgeschottet wurden, mussten sie sich verschulden, um<br />
nach Deutschland zu kommen, und dann viele Jahre<br />
bleiben, ohne ihre Familien zu sehen. Später stellten<br />
einige einen Asylantrag in Hamburg oder Bremen, arbeiteten<br />
aber weiter illegal auf den Höfen. Es gab viele Razzien<br />
und Abschiebungen. Wenn sie jetzt in die Praxis kamen,<br />
standen oft Stresserkrankungen wie Magenbeschwerden<br />
und Kopfschmerzen im Vordergrund.<br />
Nach unseren Reisen habe ich immer versucht, den Leuten<br />
in meiner Gemeinde <strong>von</strong> unseren Erfahrungen zu berichten.<br />
Nachdrücklich in Erinnerung geblieben ist mir ein<br />
<strong>Redebeitarg</strong> <strong>von</strong> <strong>Dr</strong>. <strong>Gisela</strong> <strong>Penteker</strong><br />
<strong>Dr</strong>. <strong>Gisela</strong> <strong>Penteker</strong>, Flüchtlingsrat Niedersachen und IPPNW<br />
<strong>Dr</strong>. G. <strong>Penteker</strong><br />
-20-<br />
Abend bei unserem Frauenkreis: Das Stichwort Kurden<br />
war bei ihnen fest verbunden mit Terror und <strong>Dr</strong>ogen und<br />
dass wir unsere Kinder vor diesen Leuten schützen<br />
müssten. Die höflichen und bescheidenen türkischen<br />
Jungs auf den Obsthöfen brachten sie damit nicht in<br />
Zusammenhang.<br />
Die Türkei ist länger in der NATO als die Bundesrepublik,<br />
die Türkei ist eines unserer beliebtesten Urlaubsländer, die<br />
Türkei strebt in die EU. Trotzdem waren auch in den ersten<br />
vier Monaten dieses Jahres Flüchtlinge aus der Türkei die<br />
viertstärkste Gruppe hinter Irak, Afghanistan und Vietnam.<br />
Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und<br />
Flüchtlinge haben <strong>von</strong> Januar bis April dieses Jahres 482<br />
Flüchtlinge aus der Türkei einen Asylantrag gestellt. Die<br />
Zahlen steigen in diesem Jahr wieder. Die Statistik zeigt<br />
nicht, ob es sich um Türken oder Kurden handelt. Man<br />
kann aber da<strong>von</strong> ausgehen, dass es in der Mehrzahl<br />
Kurden sind, die vor der wieder zunehmenden Repression<br />
im Südosten fliehen Es sind junge Kurden, die keine<br />
Möglichkeit haben, den Militärdienst zu verweigern, es<br />
sind Familien, die in der Türkei keine Zukunft für sich und<br />
ihre Kinder sehen.<br />
Ihre Aussichten, hier als Flüchtlinge anerkannt zu werden,<br />
sind schlecht. Sie werden in Lager eingewiesen, in denen<br />
sie oft jahrelang bleiben. Sie bekommen keine<br />
Aufenthaltserlaubnis, sie sind lediglich geduldet, weil sie<br />
aus irgendeinem Grund nicht abgeschoben werden können.<br />
Duldung heißt:<br />
Leben im Lager auf engem Raum mit verzweifelten<br />
Menschen aus vielen verschiedenen Ländern, heißt<br />
Arbeitsverbot, Residenzpflicht, eingeschränkte Leistungen<br />
mit Gutscheinen statt Bargeld und Gesundheitsversorgung<br />
nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, heißt Ausschluss<br />
<strong>von</strong> Sprachkursen und anderen Integrationsleistungen.<br />
Von den vielen traurigen Schicksalen, die mir begegnet<br />
sind, erzähle ich Ihnen zwei, die m.E. besonders typisch<br />
sind.<br />
Vor etwa sieben Jahren kam eine 18jährige kurdische Frau<br />
in unsere Praxis.<br />
Sie suchte Hilfe bei meiner Kollegin, die als<br />
Psychotherapeutin arbeitet. Sie erzählte, dass sie vor 10<br />
Jahren mit ihrer Mutter und vier jüngeren Geschwistern<br />
aus der Gegend <strong>von</strong> Mardin mit einem Schlepper nach<br />
Deutschland gekommen seien. Er hätte sie in<br />
Bremerhaven auf dem Bahnhof ohne Pässe und ohne Geld<br />
verlassen, wo sie dann bald <strong>von</strong> der Polizei aufgegriffen<br />
worden seien. Die Polizei hätte sie verhört und dazu einen<br />
türkischen Dolmetscher zugezogen, der sie erst
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
beschimpft und dann ihre Angaben zum Teil verfälscht<br />
weitergegeben hätte. Das hätten sie zu diesem Zeitpunkt<br />
natürlich nicht bemerkt. Bei ihrer Anhörung vor dem<br />
Bundesamt und im weiteren Verfahren seien ihnen aber<br />
diese falschen Angaben immer wieder vorgehalten worden<br />
als Beweis für ihre mangelnde Glaubwürdigkeit. Der<br />
Vater sei erst später wieder zur Familie gestoßen.<br />
Die Mutter war schon in der Türkei psychisch erkrankt,<br />
hatte bereits einen Selbstmordversuch hinter sich. Sie<br />
könne die Familie und die Kinder nicht versorgen, inzwischen<br />
seien noch drei Kinder geboren worden. Der Vater sei<br />
selten zu Hause. Alle Last läge auf ihren Schultern als<br />
ältester Tochter. Sie begleite die Mutter zu den Ärzten als<br />
Übersetzerin, sie erledige die Behördengänge, sie habe<br />
eine Arbeit in der Fischfabrik angenommen, um die<br />
Familie <strong>von</strong> öffentlichen Geldern unabhängig zu machen.<br />
Trotzdem versuche sie, ihre Schule zu schaffen. Sie sei jetzt<br />
auf dem Gymnasium kurz vor dem Abitur und am Ende<br />
ihrer Kräfte.<br />
Die Mutter habe auch in Deutschland öfter versucht, sich<br />
das Leben zu nehmen. Zweimal sei sie in einer Klinik gewesen.<br />
Dort habe aber niemand mit ihr gesprochen. Man<br />
habe sie nur mit Medikamenten ruhig gestellt. Auch die<br />
Behandlung beim Nervenarzt sei sehr unbefriedigend. Die<br />
Mutter sei in so einem schlechten Zustand und gehe nicht<br />
aus dem Haus, so dass sie auch nach 10 Jahren noch kaum<br />
Deutsch gelernt hätte. Eine Dolmetscherin für kurdisch<br />
zahle die Krankenkasse nicht. Ständig kämen Briefe <strong>von</strong><br />
der Ausländerbehörde, die der Familie die Abschiebung<br />
androhten. Die älteren Brüder seien völlig entmutigt, hätten<br />
die Schule aufgegeben und lungerten auf der Strasse<br />
herum.<br />
Es gelang uns dann, die Mutter zu „Refugio“ in Bremen zu<br />
vermitteln, wo sie auch weiter in Behandlung ist. Ihre<br />
schwere psychische Erkrankung wurde als<br />
Abschiebehindernis anerkannt und verschaffte der Familie<br />
eine Aufenthaltserlaubnis. Die Tochter hat inzwischen ihr<br />
Studium abgeschlossen. Bei ihr ist es immer noch nicht<br />
sicher, ob sie bleiben kann. Die anderen Kinder gehen in<br />
die Schule, die beiden älteren Brüder machen eine<br />
Ausbildung. Die Mutter besucht einen Integrationskurs<br />
und die Lehrerin erzählte mir vor ein paar Tagen, dass sie<br />
gute Fortschritte macht und schon einfache eigene Texte<br />
lesen und schreiben kann.<br />
Mein zweites Beispiel ist die Geschichte eines jetzt<br />
vierzigjährigen Mannes aus Bitlis, der in einem sehr desolaten<br />
Zustand, paranoid psychotisch, vor meiner Tür stand.<br />
Nach und nach erfuhr ich seine Geschichte. Er war wegen<br />
politischer Tätigkeit in Bitlis ins Visier der Sicherheitskräfte<br />
geraten, setzte sich nach Istanbul ab, wo er unter einem<br />
anderen Namen ein Geschäft eröffnete und sich eine<br />
Existenz aufbaute. Eines Nachts wurde das Geschäft überfallen<br />
und zerstört. Er floh nach Rumänien, wo er<br />
wiederum eine Existenz aufbaute, bis der türkische<br />
Geheimdienst ihn anwerben wollte, seine kurdischen<br />
Freunde in Rumänien auszuspähen. Seine Weigerung<br />
führte dazu, dass er unter Betrugsverdacht inhaftiert und,<br />
weil er bei der rumänischen Polizei Freunde hatte, in die<br />
Türkei abgeschoben wurde. Dort lebte er wieder unter<br />
falschem Namen, bis sich die Gelegenheit bot, nach<br />
Deutschland zu fliehen.<br />
Sein Asylantrag wurde abgelehnt. Wegen seiner psychischen<br />
Erkrankung war er bei „Accept“ in Hamburg in<br />
Behandlung, bis das Zentrum <strong>von</strong> der Stadt geschlossen<br />
wurde. Die vorliegenden Gutachten reichten aus, ihm aufgrund<br />
des krankheitsbedingten Abschiebungshindernisses<br />
eine Aufenthaltserlaubnis zu verschaffen. Er musste dazu<br />
allerdings seinen türkischen Pass beim Konsulat beantragen.<br />
Das kränkte ihn sehr. Er war nur mühsam dazu zu<br />
überreden und auch nur, als ich versprach, ihn zu begleiten.<br />
Kaum hatte er seine Aufenthaltserlaubnis, drängte er<br />
darauf, seine alten Eltern in Bitlis zu besuchen. Jetzt<br />
träumt er da<strong>von</strong>, doch noch eine Familie zu gründen und<br />
sucht nach einem Weg, eine passende Frau nach<br />
Deutschland zu holen. Eine junge Frau zu heiraten, die in<br />
Deutschland aufgewachsen ist, kann er sich nicht<br />
vorstellen.<br />
Bei unserer Arbeit mit Flüchtlingen haben wir uns viel mit<br />
Psychotrauma beschäftigt. Flüchtlinge erleiden viele<br />
Traumata durch Verfolgung in der Heimat, durch die<br />
Erlebnisse auf der Flucht und weiter im Asylverfahren.<br />
Viele überstehen das erstaunlich gut, andere (etwa 30%)<br />
werden psychisch krank. Sie leiden unter PTSD, der posttraumatischen<br />
Belastungsstörung, werden depressiv, psychotisch,<br />
entwickeln psychosomatische Krankheiten oder<br />
Suchterkrankungen. Sie sind gestört in ihren sozialen<br />
Beziehungen, Partner und Kinder leiden. Traumatisierte<br />
Flüchtlinge können im Asylverfahren ihr<br />
Verfolgungsschicksal oft nicht widerspruchsfrei vortragen.<br />
Die Verdrängung der schmerzhaften Erlebnisse gehört<br />
zum Krankheitsbild und ist überlebenswichtig.<br />
Die psychische Erkrankung wird als Makel empfunden und<br />
häufig erst angesprochen, wenn die Abschiebung unmittelbar<br />
droht und die Krankheit als Abschiebungshindernis<br />
geltend gemacht wird. Dabei sollte eine Behandlung<br />
möglichst früh beginnen, um Folgeschäden für die<br />
Patienten und ihre Familien zu vermeiden. Wichtige<br />
Voraussetzung für die Therapie ist Sicherheit, ist eine gute<br />
soziale Einbindung und ist vor allem die Anerkennung des<br />
erlittenen Unrechts. Menschen, die in der Türkei wegen<br />
ihrer kurdischen Identität verfolgt wurden, werden auch<br />
hier als Türken behandelt oder als Terroristen. Ihre<br />
Verfolgungsgeschichte wird nicht anerkannt. Der Status<br />
der Duldung lässt ihnen keine eigenen Entscheidungen,<br />
keine Spielräume.<br />
Zusammenfassend möchte ich ein paar Punkte herausgreifen,<br />
die natürlich nicht nur für kurdische Flüchtlinge<br />
aus der Türkei gelten, sondern z.B. auch für Tibeter und<br />
-21-
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
Uiguren aus China oder Tschetschenen aus Russland:<br />
Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen, weil sie unterdrückt<br />
werden, weil sie sich dem Assimilierungsdruck<br />
nicht beugen wollen, sollten als politisch Verfolgte nach<br />
unserem Grundgesetz Asyl bekommen. Sie sollten in ihrer<br />
kulturellen und ethnischen Eigenständigkeit anerkannt<br />
und entsprechend behandelt werden. Sie sollten entscheiden<br />
können, ob und ggf. wann sie in die Heimat zurückkehren<br />
können. Dazu gehört aber auch, dass sie die<br />
Verbindung in die Heimat aufrechterhalten können, dass<br />
man ihnen Reisen mit garantiertem Rückkehrrecht<br />
ermöglicht, dass man ihnen z.B. ermöglicht, alte, gebrechliche<br />
Eltern zu versorgen oder auch nach Deutschland zu<br />
holen.<br />
Es gibt viele Flüchtlinge, die ihre Kinder bei den Großeltern<br />
zurück lassen, weil die Flucht zu gefährlich ist. Wenn sie in<br />
Deutschland bleiben, müssen sie diese Kinder nachholen<br />
können. Vor der Asylanerkennung und während der jahrelangen<br />
Duldung sind Flüchtlinge aus unserer Gesellschaft<br />
ausgeschlossen. Integration kann man aber nicht nach<br />
Belieben an- und ausschalten. Sie beginnt am ersten Tag<br />
und sie besteht aus dem Wissen um die eigene Kultur und<br />
der Neugier auf die Kultur des Gastlandes. Flüchtlinge, die<br />
nur Ablehnung und Ausgrenzung erleben, schotten sich<br />
ab, bleiben unter sich.<br />
Flüchtlinge kommen oft als junge Menschen, als junge<br />
Familien. Sie sollten nicht gezwungen werden, ihre besten<br />
Jahre mit bürokratischen, ordnungspolitischen<br />
Auseinandersetzungen zu vertun. Alles, was sie hier lernen,<br />
was sie hier erreichen, hilft ihnen auch dann, wenn<br />
sie im Endeffekt nicht bleiben können und es entlastet<br />
unsere Gesellschaft <strong>von</strong> unnötigen sozialen Leistungen.<br />
Wenn wir uns in unseren Gemeinden umschauen, gibt es<br />
ganz viele kurdische Menschen, die gut integriert sind.<br />
Selbst in unseren Dörfern gibt es kaum einen<br />
Fußballverein ohne kurdische Spitzenspieler. Wir wissen es<br />
nur oft gar nicht.<br />
Was mich immer wieder fasziniert und auch motiviert,<br />
diese Arbeit weiter zu machen, ist die große Kraft und das<br />
Durchhaltevermögen vieler kurdischer Flüchtlinge und<br />
auch der kurdischen Freunde in der Türkei. Wir können es<br />
uns gar nicht leisten, auf diese Kraft zu verzichten. Wir sollten<br />
ihre Eigenständigkeit respektieren und sie mit offenen<br />
Herzen aufnehmen in unsere Gesellschaft.<br />
-22-
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
Yüksel Koç, Stellv. Vorsitzender der YEK-KOM<br />
Liebe Freundinnen und Freunde,<br />
Verehrte Damen und Herren,<br />
sehr geehrte Gäste,<br />
mit dieser Konferenz möchten wir die Situation der kurdischen<br />
MigrantInnen thematisieren, ihre Erwartungen<br />
erörtern und Perspektiven für die Zukunft erarbeiten und<br />
darstellen. Bevor ich auf die Situation der kurdischen<br />
Vereine und Organisationen komme, möchte ich kurz<br />
einige Anmerkungen machen:<br />
In Deutschland existiert seit 1965 ein Ausländergesetz,<br />
welches für alle Menschen gilt, die in Deutschland leben<br />
und nicht deutsche Staatsbürger sind. Seit dem 1. Januar<br />
2005 heißt die Neuregelung des Ausländerrechts<br />
Zuwanderungsgesetz. Durch diese Neubenennung hat sich<br />
die Bundesrepublik Deutschland erstmals als<br />
Zuwanderungsland bezeichnet. Ziel dabei war unter<br />
anderem, eine vereinfachte Anpassung der Zuwanderer zu<br />
ermöglichen und die Integration zu erleichtern. Das ist die<br />
offizielle Erklärung. In Wirklichkeit wurde das<br />
Ausländergesetz verschärft und der Aufenthalt für<br />
Flüchtlinge - ungeachtet dessen, ob sie als solche anerkannt<br />
sind oder nicht - erschwert. Was bedeutet das für über<br />
eine Million KurdInnen in Deutschland? Die Antwort, so<br />
tragisch sie auch ist: Es gibt schlichtweg kein<br />
Zuwanderungsgesetz für diese Menschen, stattdessen gibt<br />
es eine Politik der Kriminalisierung und Ausgrenzung.<br />
Die Menschen haben <strong>von</strong> Natur aus individuelle<br />
Fähigkeiten und Fertigkeiten. Man kann <strong>von</strong> einer<br />
Regierung natürlich nicht erwarten, dass sie für jeden<br />
Einzelnen ein eigenes Zuwanderungsgesetz gestaltet.<br />
Doch sollte man dies durchaus für die verschiedenen<br />
Ethnien und die verschiedenen Völker erwarten können.<br />
Denn jede einzelne Volksgruppe hat unterschiedliche<br />
Erwartungen und Bedürfnisse, die beachtet werden<br />
müssen. Wenn man diese Menschen erfolgreich integrieren<br />
möchte, ist es eine selbstverständliche<br />
Grundvoraussetzung, dass dabei Unterschiede<br />
Redebeitrag <strong>von</strong> Yüksel Koç<br />
einkalkuliert und Gemeinsamkeiten verbunden werden.<br />
Bei genauerer Betrachtung erkennen wir, dass genauso<br />
wie die KurdInnen auch zum Beispiel TamilInnen und<br />
andere staatenlose Völker, die ihre wahre Identität nicht<br />
nachweisen können, im Vergleich zu anderen<br />
Zuwanderern mit tiefgreifenderen Problemen zu kämpfen<br />
haben.<br />
Die KurdInnen zählen zu den ältesten Völkern der Welt. Sie<br />
sind mit ihrer reichen Geschichte und Kultur nach<br />
Deutschland gekommen und haben im Vergleich zu<br />
anderen Migrantengruppen tiefgreifendere, kompliziertere<br />
Probleme, die heute immer noch einer Lösung harren.<br />
Eines der grundlegenden Probleme der kurdischen<br />
Bevölkerung liegt darin, dass sie sich nicht richtig<br />
artikulieren können, sie daher <strong>von</strong> der Öffentlichkeit<br />
missverstanden werden und dieses<br />
<strong>Kom</strong>munikationsproblem die Basis für alle weiteren<br />
Probleme bildet.<br />
Die wirtschaftlichen, politischen und militärischen<br />
Interessen der Bundesrepublik und der Länder, die das<br />
kurdische Volk unterdrücken, sind neben den zusammen<br />
entwickelten strategischen und taktischen Beziehungen<br />
die Hauptgründe für die Probleme der Kurdinnen und<br />
Kurden in Deutschland. Für die Bundesrepublik wurde die<br />
kurdische Frage schon immer auf die eigenen Interessen<br />
begrenzt und als innenpolitisches bzw. Sicherheitsproblem<br />
betrachtet und der Öffentlichkeit als solches vermittelt.<br />
Die Folge da<strong>von</strong> ist eine Kriminalisierung, die dem kurdischen<br />
Volk weder eine Möglichkeit zur Selbstdarstellung,<br />
noch eine Artikulation auf politischer oder ziviler Ebene<br />
bietet. Die Bundesrepublik hat hier vieles nachzuholen<br />
und muss die Kurden mit ihrer Vielfalt, Kultur und Sprache,<br />
ihren Werten und Normen, die schlussendlich ihre<br />
Identität ausmachen, anerkennen.<br />
Zur Bildungssituation möchte ich folgendes sagen:<br />
Die kurdischen Schülerinnen und Schüler sind neben den<br />
generellen Migrantenproblemen zusätzlich mit speziellen<br />
Schwierigkeiten konfrontiert. So bekam ein Schüler der 10.<br />
Klasse wegen des Zeichnens <strong>von</strong> kurdischen Symbolen<br />
Probleme mit seinem Lehrer. Der zeigte ihn bei der Polizei<br />
an, woraufhin die Familie des Jungen eine Anzeige bekam<br />
und der Schüler die Schule verlassen musste. Kurdische<br />
Kinder sind durch solche und ähnliche Vorfälle in Schulen<br />
einer Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt. Das<br />
Bildungssystem in den einzelnen Bundesländern ist sehr<br />
unterschiedlich und stellt für kurdische Familien eine<br />
besondere Herausforderung dar. Anstatt ihre positiven<br />
Fähigkeiten, wie ihre multikulturelle Eigenschaft oder ihre<br />
Mehrsprachigkeit zu fördern, werden die Kinder in sogenannte<br />
Förderschulen geschickt. Dieser Umstand wird teilweise<br />
auch noch <strong>von</strong> ausländerfeindlich geprägten<br />
-23-
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
Lehrkräften negativ beeinflusst. Da keine Beratung auf<br />
Kurdisch angeboten wird, akzeptieren die Eltern<br />
unwissentlich diese Ausgrenzung und unterschreiben die<br />
Formulare für die Förderschulen. Die gravierenden Folgen<br />
für die einzelnen Bildungswege werden ihnen erst<br />
bewusst, wenn es schon zu spät ist. Eine erfolgreiche<br />
Schülerin der fünften Klasse mit einem Notendurchschnitt<br />
<strong>von</strong> 2 wurde regelrecht in die Förderschule abgeschoben.<br />
Dem Vater des Kindes wird erklärt, dass sein Kind in der<br />
jetzigen Schule nicht erfolgreich sein würde und eine<br />
Förderschule für das Kind besser wäre. Der Vater unterschrieb<br />
den Antrag. Es gibt unzählige solcher Beispiele,<br />
wie kurdische Kinder im Bildungssystem benachteiligt<br />
werden.<br />
Zum Thema Ausbildung will ich folgendes bemerken:<br />
Meine Damen und Herren, es gibt Länder auf dieser Welt,<br />
die ihren Akademikern und Fachleuten keine Arbeit in<br />
ihrer Branche bieten können. Solche Menschen werden<br />
gezwungen, alle möglichen Arbeiten anzunehmen und<br />
damit auszukommen. Man möchte annehmen, dass das in<br />
Deutschland nicht der Fall ist. Ein großer Irrtum! Kurdische<br />
Akademiker und Personen, die eine abgeschlossene<br />
Ausbildung nachweisen können, werden durch falsche<br />
oder ungenügende Beratung ausgegrenzt und<br />
benachteiligt. So kann ein Zahnmediziner aus Dersim<br />
seinen Beruf aus diesem Grund nicht ausüben und er<br />
fährt seine Patienten im Taxi, statt sie zu behandeln.<br />
Bevor ich zur Situation der kurdischen Vereine in<br />
Deutschland komme, möchte ich kurz YEK-KOM vorstellen:<br />
YEK-KOM gehört als Föderation kurdischer Vereine in<br />
Deutschland über 60 Mitgliedsvereinen zu den bestorganisierten<br />
Föderationen und vertritt einen maßgeblichen Teil<br />
der kurdischen Bevölkerung in der Bundesrepublik.<br />
KurdInnen organisieren sich in den Vereinen und versuchen<br />
mit kulturellen Veranstaltungen,<br />
Frauenberatungen und Jugendarbeit einerseits ihre<br />
eigene Identität zu bewahren und andererseits sich mit<br />
den aufgezeigten Problemen auseinanderzusetzen. In<br />
diesen Vereinen werden unterschiedliche Seminare und<br />
Kurse für muttersprachlichen Unterricht, Nachhilfe und<br />
Deutschunterricht angeboten. Obwohl die meisten dieser<br />
eingetragenen Vereine einen gemeinnützigen Status<br />
besitzen, bekommen sie in sehr begrenztem Rahmen<br />
staatliche Unterstützung. Während andere<br />
Migrantenvereine entweder durch den deutschen Staat<br />
oder <strong>von</strong> ihren eigenen Herkunftsländern unterstützt werden,<br />
finanzieren sich kurdische Vereine durch<br />
Mitgliedsbeiträge beziehungsweise deren ehrenamtliche<br />
Arbeit. Anstatt dass diese wichtige ehrenamtliche Arbeit<br />
durch den Staat belohnt wird, sind die Vereinsvorstände<br />
und Mitglieder zusätzlicher Kriminalisierung und<br />
Repression ausgesetzt.<br />
-24-<br />
Wie die Kurdinnen und Kurden in Deutschland organisiert<br />
sind:<br />
Das Versammlungs- und Organisationsrecht ist in Artikel 5<br />
und Artikel 8 des deutschen Grundgesetzes und in Artikel<br />
11 des Europäischen Menschenrechtsabkommens verankert.<br />
Jeder hat das Recht, seine Gedanken frei zu äußern<br />
und zu veröffentlichen beziehungsweise zu verbreiten. Die<br />
KurdInnen nutzen diese elementaren Rechte als Basis für<br />
ihre Demonstrationen und öffentlichen Arbeiten. Dennoch<br />
werden Strafverfahren gegen sie eröffnet und ihr Handeln<br />
verurteilt. So werden bei Protestveranstaltungen gegen<br />
die Bedingungen der Isolationshaft <strong>von</strong> Herrn Abdullah<br />
Öcalan die Informationsblätter, welche aus den<br />
Veröffentlichungen seiner Anwälte bestehen, mit der<br />
Begründung beschlagnahmt, dass sie Propaganda beinhalten<br />
würden. Außerdem wird einem Kurden, der eine<br />
Demonstration angemeldet hat, kein politischer Schutz<br />
gewährt. Damit werden der Artikel 16a, welcher Schutz<br />
vor politischer Verfolgung gewährt, und der Artikel 5 verletzt.<br />
Weiter werden unsere Mitglieder aufgrund <strong>von</strong><br />
Symbolen, die sie tragen oder zeigen, und der Slogans, die<br />
sie rufen, zu hohen Geldstrafen verurteilt. So wurde ein<br />
6jähriger kurdischer Junge zur Polizei zitiert, weil er eine<br />
KCK-Fahne in der Hand gehalten hatte. Eine 63jährige Frau<br />
wurde zu vier Monaten Haft verurteilt und der Ausruf “Bijî<br />
Serok Apo“ (Es lebe der Vorsitzende Apo) wird mit einer<br />
Geldstrafe <strong>von</strong> 1.500 Euro belegt.<br />
Die Erfüllung der Voraussetzungen für die<br />
Staatsbürgerschaft, die Gesetze, welche im Jahre 1986 im<br />
Europarat anerkannt und in Deutschland am 28. Juli 1986<br />
ins Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen wurden, werden<br />
den KurdInnen, welche Mitglieder oder Leiter der<br />
kurdischen Vereine sind, verweigert. Obwohl die Vereine<br />
doch nach dem deutschen Vereinsgesetz gegründet wurden.<br />
Diese Vereine sind diejenigen, die die Einwanderer in<br />
ihren sozialen, kulturellen, Integrations-, Bildungs-,<br />
Sprach- und weiteren Fragen ehrenamtlich unterstützen.<br />
Die Vereine sind es, die ohne Fördermittel durch ihre<br />
Arbeit den Einwanderern die Integration erleichtern.<br />
Zugleich erhalten die Arbeiterwohlfahrt oder<br />
Volkshochschulen Millionen an Fördermitteln für solche<br />
Zwecke.<br />
Die Mehrheit der KurdInnen ist aufgrund <strong>von</strong> Krieg und<br />
Verfolgung nach Deutschland geflüchtet. Aber auch hier<br />
werden sie nicht als KurdInnen anerkannt. Auch hier gelten<br />
sie als TürkInnen, AraberInnen oder als PerserInnen.<br />
Wie all die anderen Minderheiten wollen auch die<br />
KurdInnen mit ihrer eigenen Identität anerkannt werden.<br />
Die Vereine erhalten ihre Kraft durch ihre Mitglieder und<br />
die Menschen, die sie ansprechen. Deren Ziele sind unter<br />
anderem die Erhöhung ihrer Mitgliederzahlen und die<br />
Gewinnung <strong>von</strong> fähigen und kompetenten Personen für<br />
ihre Vorstände. Doch müssen wir erleben, dass die<br />
Vorstände und Vereinsmitglieder geheimdienstlich
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
beobachtet oder ihre Einbürgerung wegen der Arbeit verweigert<br />
werden. Wie in der Türkei versuchen deutsche<br />
Behörden, die Menschen zum Unterzeichnen <strong>von</strong> "Reue-<br />
Erklärungen" zu zwingen. Oft wird den Menschen eine<br />
Einbürgerung nur unter der Bedingung zugesagt, wenn sie<br />
das Vereinshaus nicht wieder betreten. Oder man verlangt<br />
<strong>von</strong> den Leuten eine schriftliche Kündigung des<br />
Vereinshauses, um die Staatsangehörigkeit zu bekommen.<br />
Und weiter: Polizisten stehen vor den Vereinen,<br />
fotografieren die Besucher, um sie zu registrieren.<br />
Die deutschen Behörden stellen den meisten ausländischen<br />
Vereinen Fördergelder zur Verfügung, damit diese<br />
die Migranten bei ihren sozialen, Bildungs- und sprachlichen<br />
Fragen unterstützen können. In den<br />
Integrationsräten <strong>von</strong> Städten oder <strong>Kom</strong>munen werden<br />
Vereine mit nur 10 oder 15 Mitgliedern aufgenommen,<br />
während unsere Vereine, obwohl sie teilweise hunderte<br />
Mitglieder haben, nicht akzeptiert werden. In Löhne gab<br />
es beispielsweise den Fall, dass das kurdische Vereinshaus<br />
den Bürgermeister eingeladen hat. Aber nachdem der<br />
Bürgermeister den Innenminister des Landes über den<br />
Verein befragt hat, wurde ihm empfohlen, das kurdische<br />
Vereinshaus nicht zu besuchen.<br />
Obwohl wir Kurden die Migrationsgruppe sind, die sich am<br />
besten integriert hat, werden unsere Veranstaltungen<br />
trotz wiederholter Einladungen <strong>von</strong> Behörden und<br />
Politikern nicht besucht.<br />
So haben wir unter anderem Bundeskanzlerin Merkel, die<br />
Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, Bundes- und<br />
Landtagsmitglieder sowie verschiedene MinisterInnen eingeladen.<br />
Sie alle haben unsere Einladungen mit der<br />
Begründung, terminlich verhindert zu sein, abgelehnt.<br />
Dabei hätten wir trotz unserer unserer Sorgen gerne über<br />
Lösungswege mit ihnen diskutiert.<br />
Wir in Deutschland lebenden KurdInnen werden dennoch<br />
unser Streben nach der eigenen Identität fortführen. Wir<br />
glauben fest daran, dass wir vor allem mit den anderen<br />
Migrantenvereinen und den deutschen Organisationen<br />
erfolgreich sein werden.<br />
Als YEK-KOM appellieren wir an alle Behörden und an die<br />
Bundesregierung:<br />
„Wir sind bereit, alle Aufgaben, die uns auf diesem Weg<br />
erwarten und die in unserer Verantwortung liegen, zu<br />
erfüllen.“<br />
Wir erwarten aber auch, dass uns die Politik bei den<br />
Fragen der kurdischen MigrantInnen (Integration,<br />
Bildung, Ausbildung, Sprache etc.) unterstützt und<br />
informiert, damit wir gemeinsam wirken können. Die<br />
Probleme der MigrantInnen lassen sich nicht einseitig bzw.<br />
alleine lösen, die Behörden aber auch nicht. Das kann nur<br />
durch Zusammenarbeit geschehen. Durch gemeinsame<br />
Projekte können diese komplexen Probleme überwunden<br />
werden.<br />
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!<br />
-25-
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
Zur Lösung der kurdischen Frage in der Türkei sind auch<br />
EU und Bundesrepublik gefordert.<br />
In die verhärteten Fronten rund um die kurdische Frage ist<br />
in letzter Zeit endlich Bewegung gekommen – und zwar<br />
sowohl <strong>von</strong> Seiten des türkischen Staates als auch <strong>von</strong><br />
Seiten kurdischer Organisationen und Parteien. Bei aller<br />
Widersprüchlichkeit der Entwicklung in der Türkei lassen<br />
die aktuellen Zeichen auf eine Lösung des größten<br />
gesellschaftlichen Problems der Türkei hoffen –<br />
Rückschlagsrisiko natürlich inbegriffen.<br />
Noch ist keineswegs klar, wie eine stabile Lösung aussehen<br />
könnte, die gerecht und demokratisch legitimiert ist. Doch<br />
angesichts der Tatsache, dass sich hier<br />
Gestaltungsspielräume eröffnen, muss alle Befürworter<br />
eines EU-Beitritts der Türkei die merkwürdige<br />
Zurückhaltung und Untätigkeit der Europäischen Union<br />
erstaunen. Schließlich sind und bleiben die kurdische<br />
Frage, überhaupt die Stellung der Minderheiten sowie die<br />
Menschenrechtsentwicklung in der Türkei die<br />
Schlüsselprobleme eines EU-Bei¬tritts.<br />
Vordringliche Aufgabe der EU sollte sein, die Kurdische<br />
Arbeiterpartei PKK und ihre Folgeorganisationen aus der<br />
rechtsstaatswidrigen EU-Terrorliste zu streichen, um den<br />
Weg für eine friedliche Lösung freizumachen. Denn an den<br />
Verhandlungen in der Türkei und mit der EU müssen auch<br />
kurdische Organisationen und Parteien beteiligt werden,<br />
wenn eine ernsthafte demokratische Lösung gefunden<br />
werden soll. Neben der prokurdischen DTP, die im<br />
türkischen Parlament vertreten ist, muss unter anderem<br />
auch die noch verbotene PKK eingebunden werden, denn<br />
ohne sie wird es kaum Frieden geben.<br />
Dies gilt umso mehr, als die PKK noch nie so deutliche<br />
Signale ausgesendet hat, wie kürzlich, als ihr amtierender<br />
Chef angekündigt hat, im Zuge eines ernsthaften<br />
-26-<br />
Das PKK- Betätigungsverbot<br />
und seine Auswirkungen auf die politische Integration der Kurden<br />
<strong>Dr</strong>. Rolf Gössner, Vizepräsident der<br />
Internationalen Liga für Menschenrechte<br />
Friedensprozesses die Waffen niederzulegen und die<br />
Türkei nicht spalten zu wollen. Die inzwischen vorgelegten<br />
Vorschläge <strong>von</strong> Abdullah Öcalan sollten insoweit noch ausgewertet<br />
werden.<br />
Und auch die Bundesrepublik trägt in diesem Prozess eine<br />
besondere Verantwortung:<br />
Mit ihrem hohen Anteil sowohl türkischer Bewohner als<br />
auch kurdischer Migranten ist gerade Deutschland<br />
gefordert, zur Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts<br />
politische Initiativen zu ergreifen und den offenen und kritischen<br />
Dialog mit der kurdischen Seite zu fördern – und<br />
zwar ohne Stigmatisierung, Kriminalisierung und<br />
Ausgrenzung, wie sie sich in zahlreichen<br />
Repressionsmaßnahmen manifestieren, die die<br />
Integration vieler Kurden be- und verhindern. Dazu müsste<br />
auch das Verbot der PKK hierzulande gekippt werden –<br />
weil dieses letztlich auch die (gewalt-)freie politische<br />
Betätigung <strong>von</strong> Kurden kriminalisiert.<br />
1. Bundesrepublik: Aufhebung des PKK-Verbots<br />
Das 1993 erlassene Betätigungsverbot für die PKK und<br />
auch für andere kurdische (Nachfolge- und Umfeld-<br />
)Organisationen hat viel Unheil gestiftet. Es besteht bis<br />
heute fort, ohne zeitliche Limitierung - trotz Auflösung der<br />
PKK 2002 und Gründung des Kongresses für Frieden und<br />
Demokratie in Kurdistan (Kadek), trotz Weiterentwicklung<br />
des friedenspolitischen Kurses durch Kongra-gel. Dieses<br />
Verbot hat zu Kri¬minalisierung und Diskriminierung <strong>von</strong><br />
Tausenden <strong>von</strong> Kurdinnen und Kurden geführt, die<br />
pauschal zu Gewalttätern und „Terroristen“ gestempelt,<br />
als Sicherheitsrisiken stigmatisiert und damit letztlich zu<br />
innenpolitischen Feinden erklärt wurden.<br />
Die Kriminalisierung der hier lebenden kurdischen<br />
Bevölkerung hatte zeitweise eine dramatische Dimension<br />
erreicht: Für Kurden, die aus der Türkei vor Verfolgung und<br />
Folter hierher geflohen waren, war es besonders in den<br />
1990er Jahren fast unmöglich, <strong>von</strong> ihren elementaren<br />
Menschenrechten ohne Angst Gebrauch zu machen.<br />
Durch das Betätigungsverbot werden die Grundrechte der<br />
Organisations- und Versammlungsfreiheit, der Meinungsund<br />
Pressefreiheit massiv einge¬schränkt.<br />
Demonstrationsverbote und Razzien, Durchsuchungen<br />
<strong>von</strong> Privatwohnungen und Vereinen, Beschlagnahmen und<br />
Festnahmen waren und sind immer wieder an der<br />
Tagesordnung. Unzählige Ermittlungsverfahren wurden<br />
eingeleitet und werden immer noch geführt - früher nach<br />
dem Terrorismusparagraphen 129a Strafgesetzbuch, seit<br />
1998 nach § 129 (kriminelle Vereinigung). Zahlreiche<br />
Kurden sind nicht etwa nur wegen gewalttätiger Aktionen,<br />
– das auch -, sondern wegen bloßer Mitgliedschaft,
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
Unterstützung oder Werbung für eine solche Vereinigung<br />
verurteilt worden und damit auch wegen friedlicher<br />
Proteste und gewaltfreier politischer Betätigung.<br />
Wie immer man zur PKK, ihren Folgeorganisationen und<br />
ihren früher zeitweise gewalttätigen Aktivitäten stehen<br />
mag: Mit solchen Verboten werden jedenfalls keine<br />
Probleme gelöst, sondern weitere produziert. Längst ist<br />
das Betätigungsverbot zum Anachronismus geworden und<br />
muss schon deshalb schnellstmöglich aufgehoben werden,<br />
zumal sich die PKK und Folgeorganisationen zu einer<br />
friedlichen Lösung der Kurden-Frage bekannt haben und<br />
im anstehenden Friedensprozess eine nicht zu unterschätzende<br />
Rolle spielen können.<br />
2. EU: Streichung <strong>von</strong> der Terrorliste<br />
Auf dieser EU-Terrorliste sind Einzelpersonen und<br />
Organisationen aufgeführt, die als „terroristisch“ gelten.<br />
Seit 2002 finden sich darauf u.a. die linksgerichtete<br />
türkische DHKP-C, die kurdische PKK und ihre<br />
Nachfolgeorganisationen Kadek und Kongra-gel wie auch<br />
die iranische Widerstandsgruppe der Volksmujahedin –<br />
obwohl letztgenannte Organisationen seit Jahren keine<br />
Gewalttaten in Europa verüben. Mit den<br />
Folgeorganisationen der PKK sind auch Organisationen auf<br />
die Liste geraten, die zumindest in Europa für eine<br />
friedliche Lösung der kurdischen Frage streiten.<br />
Die EU scheint mit der Aufnahme der PKK in die Terrorliste<br />
dem <strong>Dr</strong>ängen des EU-Beitrittskandidaten und NATO-<br />
Partners Türkei nachgegeben zu haben, der sich nach wie<br />
vor gravierender Menschenrechtsverletzungen schuldig<br />
macht.<br />
Gerade durch diese Listung fühlte sich der türkische Staat<br />
lange Zeit legitimiert, mit militärischen Operationen gegen<br />
Kurden und ihre Organisationen vorzugehen und die zivile<br />
Lösung der Kurdenfrage zu torpedieren. Damit ließ sich die<br />
EU für diese Art <strong>von</strong> Kurdenpolitik instrumentalisieren, mit<br />
der Folge, dass Abertausende <strong>von</strong> Kurden in Europa zu<br />
„Terrorhelfern“ wurden.<br />
Die Listung in der Terrorliste hat für die betroffenen<br />
Gruppen und Personen existentielle Folgen: Sie sind quasi<br />
vogelfrei, werden politisch geächtet, wirtschaftlich ruiniert<br />
und sozial isoliert. Das gesamte Vermögen wird eingefroren,<br />
alle Konten und Kreditkarten werden gesperrt,<br />
Barmittel beschlagnahmt, Arbeits- und Geschäftsverträge<br />
faktisch aufgehoben; weder Arbeitsentgelt noch staatliche<br />
Sozialleistungen dürfen ausbezahlt werden; hinzu kommen<br />
Passentzug und Ausreisesperre sowie<br />
Überwachungs- und Fahndungsmaßnahmen.<br />
Alle EU-Staaten, alle Banken, Geschäftspartner und<br />
Arbeitgeber, letztlich alle EU-Bürger sind rechtlich<br />
verpflichtet, die drastischen Sanktionen gegen die<br />
Betroffenen durchzusetzen, anderenfalls machen sie sich<br />
strafbar. Mit Verweis auf die Terrorliste werden<br />
Wohnungsdurchsuchungen, Beschlagnahmen oder<br />
Festnahmen begründet. Zu den Fernwirkungen zählen die<br />
Verweigerung <strong>von</strong> Einbürgerungen und<br />
Asyl¬anerkennungen sowie der Widerruf des Asylstatus.<br />
Die Terrorliste wird <strong>von</strong> einem geheim tagenden Gremium<br />
des Ministerrates erstellt. Die Entscheidungen erfolgen im<br />
Konsens, wobei die für eine Listung vorgebrachten<br />
Verdachtsmomente zumeist auf dubiosen<br />
Geheimdienstinformationen einzelner Mitglieds¬staaten<br />
beruhen. Eine unabhängige Beurteilung der Fälle auf<br />
Grundlage gesicherter Beweise findet nicht statt. Diese<br />
Datensammlung ist weder demokratisch legitimiert noch<br />
unterliegt sie einer demokratischen Kontrolle. Rechtliches<br />
Gehör gegen das amtliche Terrorstigma ist den<br />
Betroffenen lange Zeit nicht gewährt worden.<br />
Die EU greift mit ihrer Terrorliste im „Kampf gegen den<br />
Terror“ gewissermaßen selbst zu einem Terrorinstrument<br />
aus dem Arsenal des sogenannten Feindstrafrechts – eines<br />
menschenrechtswidrigen Sonderrechts gegen angebliche<br />
„Staatsfeinde“, die praktisch rechtlos gestellt und<br />
gesellschaftlich ausgegrenzt werden. Ihre drakonische<br />
Bestrafung erfolgt vorsorglich und wird im rechtsfreien<br />
Raum exekutiert – ohne Gesetz, ohne fairen Prozess, ohne<br />
Beweise, ohne Urteil und ohne Rechtsschutz.<br />
Trotz der systematischen Entrechtung der Gelisteten sind<br />
beim Gericht der Europäischen Gemeinschaft Klagen <strong>von</strong><br />
Betroffenen eingegangen.<br />
Und es gibt inzwischen Urteile, mit denen die Aufnahme<br />
bestimmter Personen und Organisationen auf die<br />
Terrorliste und das Einfrieren ihrer Gelder für rechtswidrig<br />
und nichtig erklärt wurden. Ihr Anspruch auf rechtliches<br />
Gehör und effektive Verteidigung, so die Richter, sei grob<br />
missachtet worden.<br />
So ist mittlerweile die Aufnahme der iranischen<br />
Volksmodjahedin, der kurdischen PKK/Kadek und der<br />
niederländischen Stiftung Al-Aqsa in die EU-Terrorliste<br />
ebenso für rechtswidrig und nichtig erklärt worden wie die<br />
des philippinischen Professors Jose Maria Sison. Zwar sind<br />
die Betroffenen inzwischen pro forma benachrichtigt und<br />
angehört worden, doch konkrete Abhilfe geschaffen<br />
wurde – mit Ausnahme der Volksmodjahedin (Anfang<br />
2009 aus der Liste gestrichen) - nicht:<br />
Weder wurden sie aus der Liste gestrichen noch die eingefrorenen<br />
Mittel wieder frei gegeben oder die Sanktionen<br />
aufgehoben. Das heißt: Die Geheimgremien des EU-<br />
Ministerrats sind in ihrem nach wie vor undemokratischen<br />
Listungsverfahren stur bei ihren ursprünglichen<br />
Beurteilungen geblieben: Die Verfemten blieben also verfemt<br />
– mit allen freiheitsberaubenden Konsequenzen,<br />
unter Verstoß gegen die Unschulds¬vermutung und die<br />
Europäische Menschenrechtskonvention.<br />
-27-
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
3. Ich komme zum Fazit:<br />
Im kurdisch-türkischen Konflikt beschreiten die EU mit<br />
ihrer Terrorliste und die Bundesrepublik mit ihrem PKK-<br />
Verbot und den jeweils daraus resultierenden Sanktionen<br />
nach wie vor den Weg der Repression und Ausgrenzung.<br />
Doch die politische Situation in der Türkei und in Europa<br />
hat sich inzwischen derart geändert, dass dieser Weg<br />
rasch zur Sackgasse gerät.<br />
Deshalb fordern wir, die Internationale Liga für<br />
Menschenrechte, zusammen mit zahlreichen anderen<br />
Nichtregierungsorganisationen, <strong>von</strong> der neu zu bildenden<br />
Bundesregierung und der EU mit Nachdruck, diese Terror-<br />
Stigmati¬sie¬rung, Feindbildproduktion, Kriminalisierung<br />
und Ausgrenzung <strong>von</strong> Kurden, ihren Organisationen und<br />
Medien in der EU und in Deutschland endlich zu beenden.<br />
1.Die Betroffenen, die <strong>von</strong> Anfang an zu Unrecht auf die<br />
EU-Terrorliste gesetzt wurden, denen man das rechtliche<br />
Gehör und den Rechtsschutz verweigerte und die jahrelang<br />
unter den harten Sanktionen leiden mussten, müssen<br />
unverzüglich <strong>von</strong> der Liste gestrichen und für den ihnen<br />
zugefügten Schaden entschädigt werden. Nur so ließe sich<br />
der Rolle gerecht werden, die die PKK und ihre<br />
Folgeorganisationen bei der Lösung der kurdischen Frage<br />
in der Türkei und in der EU wohl spielen werden.<br />
2.Die Bundesrepublik mit ihrem hohen Anteil türkischer<br />
und kurdischer Bewohner ist aufzufordern, zur<br />
Aussöhnung und Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts<br />
in der Türkei endlich politische Initiativen zu ergreifen und<br />
den offenen und kritischen Dialog mit der kurdischen Seite<br />
auch hierzulande zu ermöglichen. Dazu müsste das PKK-<br />
Verbot – wegen fa¬taler Auswirkungen auf politische<br />
Betätigung und Meinungsfreiheit – aufgehoben werden;<br />
dies wäre ohne Verlust an Sicherheit möglich, zumal die<br />
PKK und ihre Folgeorganisationen eine friedliche Lösung<br />
suchen.<br />
3.Die neue Bundesregierung und EU sind aufgefordert, die<br />
Kurden- und Minder¬heitenfrage mit Nachdruck auf die<br />
Agenda der EU-Bei¬trittsver¬hand¬lungen zu setzen, um<br />
jetzt die positiven Ansätze nicht zu verpassen und eine<br />
friedliche, demokratische, menschenrechtskonforme und<br />
gerechte Lösung zu erzielen. Denn die kurdische Frage und<br />
die Menschenrechtsfrage sind und bleiben die<br />
Schlüsselfragen eines EU-Beitritts der Türkei. Solange<br />
diese gesamteuropäische Aufgabe nicht gelöst ist, darf es<br />
weder Asylwiderrufe noch Abschiebungen in die Türkei<br />
geben.<br />
-28-
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
Ich möchte euch herzlich begrüßen und freue mich, auf<br />
dieser Konferenz sprechen zu können.<br />
Viele Expertinnen und Experten haben wir bisher gehört:<br />
richtige und wichtige Analysen und konstruktive<br />
Vorschläge zur Lösung der zahlreichen Probleme, denen<br />
Kurdinnen und Kurden nicht nur in der Türkei, in Syrien, im<br />
Irak, Iran, sondern eben auch in Deutschland ausgesetzt<br />
sind.<br />
Ich will zu Beginn ganz kurz darlegen, wer Azadî ist und<br />
was unsere Arbeitsschwerpunkte sind. Der Verein hat sich<br />
vor dem Hintergrund des PKK-Verbots <strong>von</strong> 1993 im April<br />
1996 gegründet. Zwei Jahre zuvor hatten Anwalts- und<br />
Menschenrechtsvereinigungen sowie VertreterInnen insbesondere<br />
der damaligen PDS und der Grünen, aber auch<br />
der SPD, zur materiellen und politischen Unterstützung<br />
der Kurdinnen und Kurden aufgerufen. Seitdem leistet<br />
Azadî konkrete Solidaritätsarbeit mit und für diesen<br />
Betroffenenkreis, der wegen der Verbotspolitik in<br />
Deutschland auf vielerlei Art kriminalisiert wird. Wir unterstützen<br />
politische Gefangene, beteiligen uns an den teilweise<br />
immensen Kosten für Gerichtsverfahren oder<br />
anwaltliche Vertretung. Insbesondere versuchen wir, im<br />
Rahmen unserer Möglichkeiten die Öffentlichkeit über<br />
Prozesse und Verfahren gegen kurdische PolitikerInnen<br />
und AktivistInnen zu informieren.<br />
Ich arbeite seit zehn Jahren bei Azadî und habe in dieser<br />
Zeit an einer Reihe ähnlicher Konferenzen und<br />
Veranstaltungen teilgenommen oder dort geredet und<br />
muss heute feststellen, dass wir uns immer noch mit den<br />
teilweise gleichen Problemen herumschlagen, obwohl im<br />
Prinzip alles schon hundertfach gesagt, geschrieben und<br />
gefordert wurde. Sehr viel Neues ist mir nicht begegnet.<br />
Das näher zu beleuchten, fehlt heute leider die Zeit. Aber:<br />
Die Hintergründe des türkisch-kurdischen Konflikts und<br />
dessen Auswirkungen auf die Kurdinnen und Kurden in<br />
Deutschland sind hinlänglich bekannt. Das gilt insbesondere<br />
für die politische Klasse, deren Vorgehensweise<br />
gegen bestimmte kurdische Organisationen und deren<br />
Repräsentanten <strong>von</strong> einem klaren Interessensstandpunkt<br />
bestimmt wird. Das trifft auf den gesamten<br />
Strafverfolgungsapparat zu, der die Vorgaben praktisch<br />
umsetzt und sich hierbei der vollen Rückendeckung durch<br />
die Politik gewiss sein kann. Die Behörden arbeiten<br />
präzise, übereifrig, willkürlich, zielgerichtet auf die<br />
Marginalisierung der kurdischen Bewegung. Die gesamte<br />
Palette der Überwachungs- und<br />
Observationsinstrumentarien gegen kurdische<br />
Aktivistinnen und Aktivisten kommt zur Anwendung. So<br />
stehen jene, die sich in den Vorständen kurdischer Vereine<br />
Redebeitrag <strong>von</strong> Monika Morres<br />
Monika Morres, AZADÎ e.V., Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden in Deutschland<br />
engagieren, <strong>von</strong> Anbeginn an im Visier der polizeilichen<br />
Staatsschutzabteilungen; Besucherinnen und Besucher<br />
werden <strong>von</strong> Verfassungs“schutz“-Beamten und/oder V-<br />
Leuten registriert, angesprochen, unter <strong>Dr</strong>uck gesetzt. Es<br />
geht darum, die eigenständige und selbstbewusste<br />
Organisierung der Kurdinnen und Kurden im Keim zu<br />
ersticken oder zu zerschlagen, wo sie existiert.<br />
Neben der strafrechtlichen Verfolgung politischer<br />
Aktivitäten nach dem Vereinsgesetz (verbotenes<br />
Parolerufen, untersagte Symbole, Verbreitung verbotener<br />
Zeitschriften, Spenden und Spendenammeln), stehen kurdische<br />
Politiker ganz besonders im Fokus der<br />
Geheimdienste und Behörden. Sie gilt es, als anerkannte<br />
Mittler und Repräsentanten auszuschalten, um der<br />
Bewegung größtmöglichen Schaden zuzufügen. Hierfür<br />
können sich polizeiliche Staatsschutzabteilungen,<br />
Bundeskriminalamt und Bundesanwaltschaft des § 129/a<br />
StGB bedienen.<br />
Prozesse gegen kurdische PolitikerInnen, die wegen<br />
Mitgliedschaft in einer kriminellen oder terroristischen<br />
Vereinigung (§ 129/a StGB) angeklagt werden, gleichen<br />
Inszenierungen. Man kennt sich: die Richter der<br />
Staatsschutzsenate, die Vertreter der Bundesanwaltschaft,<br />
die Dolmetscher, das Wachpersonal und last but not least<br />
die Verteidiger. Nur die Angeklagten sind jeweils andere.<br />
Schon nach den ersten Verhandlungstagen kann man als<br />
BesucherIn spekulieren, ob das Gericht eine<br />
Freiheitsstrafe unter oder über 3 Jahre verhängt. In fast<br />
allen Verfahren werden stunden- und seitenlang Jahre<br />
zurückliegende Urteile verlesen, die mit dem aktuellen<br />
Prozess wenig bis nichts zu tun haben. Zentimeterhoch<br />
türmen sich auf den Gerichtstischen die Disketten mit<br />
abgehörten Telefongesprächen; verlesen werden banale<br />
Dialoge, häufig uminterpretiert in Aussagen, die den<br />
Anklägern in den Kram passen.<br />
Prägnant in all diesen Verfahren ist die rückwärtsgewandte<br />
Sichtweise der Ankläger auf die PKK. Nach<br />
Auffassung <strong>von</strong> Richtern und Bundesanwälten hat sich in<br />
den vergangenen Jahren außer einer Umbenennung in<br />
KADEK oder KONGRA-GEL oder KCK nichts geändert: keine<br />
Struktur, nicht die handelnden Personen, keine Strategie.<br />
Neue Programme, friedenspolitische Konzepte,<br />
Demokratisierung nach innen und außen, Fortentwicklung<br />
der frauen- und gesellschaftspolitischen <strong>Kom</strong>ponenten?<br />
Alles nichts. PKK = KADEK = KONGRA-GEL = KCK = PKK -<br />
alles ist und bleibt verboten. Das ist die Basta-Politik aller<br />
Bundesregierungen seit 16 Jahren !<br />
Wie gut erinnere ich mich noch an die großen Hoffnungen,<br />
die die Kurdinnen und Kurden in die damalige rot/grüne<br />
Bundesregierung gesetzt hatten. Die Enttäuschungen kon-<br />
-29-
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
nten größer nicht sein. Keine Claudia Roth mehr, die sich<br />
einst leidenschaftlich für die Aufhebung der Verbote<br />
engagierte und keine Angelika Beer mehr. Die befand sich<br />
plötzlich im bellizistischen Lager und machte den Kurden<br />
eine lange Nase. Still wurden auch einstige SPD-<br />
Mitstreiterinnen und –streitern. Dafür kam Otto Schily.<br />
Den Rest kennen wir.<br />
Ich frage: Warum sollte die deutsche Politik ihr<br />
Missverhältnis zu den Kurden eigentlich ändern? Den<br />
Verantwortlichen sind außen- und wirtschaftspolitische<br />
Rücksichtnahmen auf den NATO-Partner Türkei wichtiger<br />
und: bringt das Feindbild PKK/Kurden nicht auch innenpolitische<br />
Vorteile? Können an ihnen – neben den<br />
Islamisten – nicht hervorragend Antiterrorgesetze und<br />
asyl- und ausländerrechtliche Verschärfungen erprobt<br />
werden? Um ihnen den Weg zu Integration und<br />
Anerkennung zu versperren, werden sie zum innenpolitischen<br />
„Sicherheitsrisiko“ stigmatisiert und ausgegrenzt.<br />
Das funktioniert prima. Wie oft ist die Reaktion auf Kurden<br />
„Ach, die Terroristen“. Das ist das Feindbild, das politisch<br />
gewollt wird.<br />
Und schließlich: Profitiert nicht ein Heer <strong>von</strong> Polizei-,<br />
Geheimdienst- und Kriminalbeamten, Staatsanwälten<br />
und Richtern <strong>von</strong> dieser Ausgrenzungspolitik?<br />
Die Vielschichtigkeit der Kriminalisierung ist außerordentlich.<br />
Leider ist nicht die Zeit für viele Beispiele. Aber<br />
eines möchte ich etwas detaillierter schildern. Es geht um<br />
den kurdischen Politiker Muzaffer Ayata und die<br />
Chronologie seiner politischen Verfolgung auch in<br />
Deutschland. Ich will aufzeigen, wie respektlos und ignorant<br />
sich die deutschen Behörden und Gerichte gegenüber<br />
der Lebensleistung eines Kurden verhalten.<br />
Muzaffer Ayata war bereits in der Türkei wegen seines<br />
politischen Kampfes für die Rechte der Kurden nach dem<br />
Militär-Putsch vom 12. September 1980 in Haft und schwerster<br />
Folter ausgesetzt. Die ursprüngliche Todesstrafe<br />
wurde 1991 in eine 40-jährige Haft umgewandelt. Weil er<br />
nach der Freilassung im Jahre 2000 wegen seiner<br />
Aktivitäten bei den inzwischen verbotenen prokurdischen<br />
Parteien HADEP/DEHAP erneut verfolgt wurde, musste er<br />
flüchten. Anfang 2002 kam er nach Deutschland, wo er<br />
eine Anerkennung als politischer Flüchtling erhielt.<br />
Seine politisch-diplomatischen Aktivitäten für die kurdischen<br />
Parteien setzte er ebenso fort wie seine publizistische<br />
Arbeit für eine friedliche Lösung des türkisch-kurdischen<br />
Konflikts. Statt den Dialog mit Muzaffer Ayata zu<br />
suchen, zogen es die Strafverfolgungsbehörden vor, den<br />
Politiker mit den Mitteln des Polizei- und Strafrechts<br />
mundtot zu machen, ihn politisch ins Abseits zu katapultieren<br />
und die kurdische Bewegung zu schwächen. Sie<br />
beschuldigten ihn der „Rädelsführerschaft in einer kriminellen<br />
Vereinigung“ (gemeint sind hier PKK/ KONGRA-<br />
GEL).<br />
-30-<br />
Muzaffer Ayata hat während seines Verfahrens nicht so<br />
„funktioniert“ hat wie es sich die Ankläger vorgestellt<br />
haben. So erzeugte seine ausführliche Prozesserklärung<br />
gleich zu Beginn für großen Unmut und sein Beharren<br />
darauf , sich nicht <strong>von</strong> seinen politischen Vorstellungen zu<br />
distanzieren, verhärtete die Situation.<br />
8. August 2006,Muzaffer Ayata wird in Mannheim<br />
festgenommen<br />
24. Mai 2007, Vor dem Oberlandesgericht (OLG) in<br />
Frankfurt/M. wird der Prozess eröffnet.<br />
7. Dezember 2008,Die Tageszeitung Milliyet meldet, dass<br />
die Türkei die Auslieferung <strong>von</strong> Ayata beantragt hat<br />
18. März 2008,Es erfolgt die Verlesung der<br />
Auslieferungsanordnung<br />
10. April 2008,Das OLG verurteilt Muzaffer Ayata zu einer<br />
Freiheitsstrafe <strong>von</strong> 3 Jahren und 6 Monaten<br />
Wegen des außergewöhnlich hohen Strafmaßes wird<br />
Revision gegen das Urteil eingelegt.<br />
10.November 2008,Der 3. Strafsenat des Bundes gerichtshofs<br />
(BGH) beschließt die Aufhebung des OLG-Urteils „im<br />
Strafausspruch“ und verweist die Sache zur<br />
Neuverhandlung zurück an einen anderen Senat des OLG<br />
Frankfurt/M.<br />
11. Dezember 2008, Ayatas Verteidigung beantragt die<br />
Aufhebung des Haftbefehls.<br />
17. Dezember 2008,Die Bundesanwaltschaft weist den<br />
Antrag als „unbegründet“ zurück und beantragt die<br />
Fortdauer der U-Haft.<br />
29. Dezember 2008,Der 4. Strafsenat des OLG<br />
Frankfurt/M. weist den Antrag auf Aufhebung des<br />
Haftbefehls ebenfalls zurück und ordnet die Fortdauer der<br />
U-Haft an. Begründung in der Hauptsache: Fluchtgefahr<br />
und fehlende Distanzierung zur PKK/Länge der<br />
Prozesserklärung Ayatas „zur kurdischen Frage“ über<br />
mehrere Sitzungstage.<br />
2. März 2009,Beginn der Neuverhandlung nach<br />
Revisionsentscheidung vor dem 4. Strafsenat des OLG<br />
Frankfurt/M.<br />
9. März 2009,Neues Urteil: 3 Jahre und 2 Monate (4<br />
Monate weniger)<br />
Auch gegen dieses Urteil legt die Verteidigung Revision<br />
ein.<br />
12. Mai 2009,Ayatas Verteidiger beantragt erneut die<br />
Aufhebung des Haftbefehls insbesondere vor dem<br />
Hintergrund einer Reststrafe <strong>von</strong> weniger als 5 Monaten
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
27. Mai 2009,OLG Frankfurt/M. entscheidet gegen eine<br />
Auslieferung des Politikers an die Türkei<br />
19. Mai 2009,Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs<br />
(BGH) verwirft die Beschwerde des Angeklagten und<br />
beschließt die Fortdauer der U-Haft. Begründung:<br />
Fluchtgefahr und Verweis auf Äußerungen Ayatas, er wolle<br />
nach der Haft weiterhin politisch für die Rechte des kurdischen<br />
Volkes arbeiten und ziehe auch einen Aufenthalt<br />
im westeuropäischen Ausland in Betracht.<br />
14. August 2009,Das Regierungspräsidium Stuttgart verfügt<br />
in Anbetracht der nahenden Verbüßung der Endstrafe<br />
im Oktober die Ausweisung. Nach der Haftentlassung<br />
habe sich Muzaffer Ayata täglich bei der Polizei zu melden<br />
und dürfe das Stadtgebiet <strong>von</strong> Stuttgart nicht verlassen.<br />
Der Kurde wurde so wieder auf den Duldungsstatus katapultiert.<br />
Hiergegen wurde selbstverständlich Beschwerde eingelegt.<br />
Der Kampf geht also weiter.<br />
Politisch motivierte Prozesse dieser Art müssen endlich<br />
aufhören!<br />
Ihnen muss der Boden entzogen werden und der heißt:<br />
Betätigungsverbot der PKK.<br />
Die Verantwortlichen dürfen sich nicht weiter hinter<br />
Verboten verschanzen, um politischen<br />
Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen. Lasst uns<br />
gemeinsam für bessere Perspektiven kämpfen.<br />
Nachtrag:<br />
Am 7. Oktober 2009 ist Muzaffer Ayata aus der JVA<br />
Weiterstadt entlassen worden<br />
-31-
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
Mehmet Ataç, Dipl.-Sozialarbeiter, Familientherapeut<br />
Der erste Teil meines Betrages gibt einen Überblick über<br />
die Folgen des Verbotes der kurdischen Organisationen in<br />
Deutschland. Im zweiten Teil beschreibe ich die Situation<br />
der Kurden in Deutschland. Ich werde versuchen, die<br />
Benachteiligungen der Kurden in der deutschen<br />
Gesellschaft aufzuzeigen.<br />
Abschließend möchte ich zur politischen, sozialen und kulturellen<br />
Integration der Kurden in Deutschland einige<br />
Empfehlungen geben.<br />
I.Die Folgen des PKK- Verbotes und sein Auswirkungen<br />
auf die Kurden<br />
Nach der Verbotsverfügung gegen die kurdischen<br />
Organisationen durch Innenminister Manfred Kanther im<br />
Jahr 1993, wurde besonders durch die Gerichtsverfahren<br />
und Berichterstattungen ein negatives Bild über die kurdische<br />
Identität geschaffen. Das Verbot bildet eine<br />
rechtliche Grundlage für die Kriminalisierung und<br />
Verfolgung der Kurden in Deutschland.<br />
Das sogenannte „PKK-Verbot“ zog eine harte<br />
Kriminalisierungswelle gegen die Kurden in Deutschland<br />
nach sich. Tausende Kurden wurden wegen ihrer<br />
Unterstützung der PKK und anderer kurdischer<br />
Organisationen angezeigt oder angeklagt. Hunderte <strong>von</strong><br />
ihnen verbüßten in Gefängnissen Haftstrafen. Es liefen<br />
Tausende <strong>von</strong> Strafverfahren wegen des Zeigens verbotener<br />
kurdischer Symbole, Bilder des Vorsitzenden der<br />
PKK, Öcalan, wegen der Teilnahme an Demonstrationen,<br />
Kundgebungen und Veranstaltungen.<br />
Durch das „PKK-Verbot“ entstanden ungezählte materielle<br />
und andere Schäden auf beiden Seiten; das betraf Kurden<br />
und deutsche Behörden. Wegen der Verurteilungen der<br />
politischen Kurden zu hohen Geld- und Gefängnisstrafen<br />
durch Justizbehörden, sind die Familien auseinandergebrochen,<br />
Existenzen <strong>von</strong> Menschen vernichtet worden.<br />
Dem Verbot zufolge sind in Deutschland über 40 Vereine,<br />
die erste kurdische Presse-Agentur und der AGRI-<br />
Buchverlag in Köln sowie die wöchentliche Zeitung<br />
Berxwedan geschlossen und über 100 Tonnen Bücher<br />
beschlagnahmt worden. 1995 wurden 2 LKW-Ladungen<br />
voller Bücher des Kurdistan-Information-Zentrums in<br />
Frankfurt/M. beschlagnahmt, darunter über 40<br />
Publikationen <strong>von</strong> Abdullah Öcalan, dessen Bücher fast<br />
jeder Kurde zu Hause hat.<br />
Kurdische Asylbewerber und Dolmetscher wurden unter<br />
<strong>Dr</strong>uck gesetzt, als Polizeispitzel zu arbeiten und die politisch<br />
aktiven Kurden mit Abschiebung in die Türkei bedroht. <br />
-32-<br />
Redebeitrag <strong>von</strong> Mehmet Ataç<br />
Auch mit den Kurden sympathisierende Deutsche sind <strong>von</strong><br />
dem Verbot nicht verschont geblieben. Die kurdischen<br />
Demonstrationen, Newroz-Feste (Neujahrfeste) und<br />
Hungerstreiks, mit denen die Kurden ihre Proteste gegen<br />
den Krieg in Kurdistan und zuletzt wegen der<br />
Verschleppung <strong>von</strong> Öcalan in die Türkei zum Ausdruck<br />
bringen wollten, verliefen in der Folge des PKK-Verbots mit<br />
Konfrontationen zwischen der Polizei und den Kurden.<br />
Durch die starre Haltung der Bundesregierung und infolge<br />
des PKK-Verbotes entstanden und entstehen Kosten in<br />
großer Höhe für Mitarbeiter, Dolmetscher, V- Leute etc.<br />
Seitens der Regierung entstanden finanzielle<br />
Aufwendungen im Zusammenhang mit der europäischen<br />
und internationalen Zusammenarbeit zur Durchsetzung<br />
des PKK- Verbotes; bei Bundeskriminalamt (BKA),<br />
Bundesgrenzschutz (BGS), Bundesnachrichtendienst<br />
(BND) und anderen Stellen des Bundes im Zusammenhang<br />
mit Observierungen, Übersetzungen und Auswertungen<br />
kurdischer Presseorgane wie Fernsehsender MEDYA-TV,<br />
Roj-TV, Zeitungen wie Özgür Politika durch<br />
Ermittlungsverfahren, Prozesskosten,<br />
Hausdurchsuchungen und Abhörmaßnahmen.<br />
Auf Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke und der<br />
Fraktion der PDS hat die Bundesregierung am 28. Oktober<br />
1999 erklärt, dass allein dem Bund Kosten durch<br />
Unterstützungseinsätze des Bundesgrenzschutzes in Höhe<br />
<strong>von</strong> 1.635.875,42 DM im Jahr 1999 entstanden sind.<br />
II.Situation der Kurden in Deutschland und ihre<br />
Benachteiligungen<br />
Seit der Immigrationsgeschichte sind vier Generationen<br />
herangewachsen, aber immer noch fehlt eine offizielle<br />
deutsche Kurdenpolitik, aus der Verantwortung<br />
gegenüber 900.000 Kurden entwickelt werden sollte. Sie<br />
werden bei Behörden, Statistiken nicht erkannt und<br />
existieren daher politisch nicht, da man sie als Bürger der<br />
Länder, aus denen sie kommen, behandelt. Das heißt, sie<br />
sind in Deutschland eben einfach nur Türken, Araber und<br />
Perser.<br />
Der in Bonn ansässige Verein „Kurdisches Informationsund<br />
Dokumentationszentrum e.V.“ hat beim Arbeitsamt<br />
Bonn einen Antrag auf Förderung eines<br />
Integrationskonzeptes für kurdische Jugendliche in<br />
Deutschland gestellt. Er wurde am 22. Mai 1995 abgelehnt<br />
und wie folgt begründet:<br />
„... Durch eine Förderung der oben genannten<br />
Arbeitsbeschaffungsmaßnahme werden außenpolitisches<br />
mit Schwerpunkt auf Jugendarbeit Auswirkungen auf das
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
deutsch- türkische Verhältnis hätte, da die türkische<br />
Regierung eine Förderung als Versuch der Einmischung in<br />
innertürkische Angelegenheiten und als Förderung separatistischer<br />
Tendenzen betrachten würde. Hinzu kommt,<br />
dass nicht auszuschließen ist, dass das Ergebnis der<br />
Maßnahme eher integrationshemmend als integrationsfördernd<br />
ist, da die bestehenden Spannungen zwischen<br />
türkischen Mitbürgern und Mitbürgern kurdischer<br />
Abstammung verstärkt werden könnten und somit der<br />
soziale Frieden zwischen den in Deutschland lebenden<br />
Ausländergruppen beeinträchtigt würde.“<br />
Die Kurden werden <strong>von</strong> der Förderung sozial-kultureller<br />
Rechte ausgeschlossen. Sie erhalten auf Bundesebene<br />
keine staatliche Unterstützung, wodurch die sozial- kulturellen<br />
Aktivitäten der Kurden erschwert werden. Dass<br />
diese und andere Integrationsarbeiten verschiedener kurdischer<br />
Vereine <strong>von</strong> kommunalen und staatlichen Stellen<br />
nicht gefördert werden, beruht auf einem Beschluss bzw.<br />
einer Empfehlung des Auswärtigen Amtes vom 13.6.1990:<br />
„... Aus politischen Gründen hält das Auswärtige Amt an<br />
seiner Auffassung fest, dass Aktivitäten kurdischer<br />
Gruppen im Bundesgebiet nicht mit Bundesmitteln<br />
gefördert werden sollten. ... Jede Förderung auch angeblich<br />
rein kultureller Aktivitäten durch die<br />
Bundesregierung würde in der großen türkischen Kolonie<br />
in der Bundesrepublik Deutschland Zwietracht und<br />
interkommunitäre Streitigkeiten auslösen. Sie würde<br />
außerdem <strong>von</strong> der türkischen Regierung als Versuch einer<br />
Einmischung in innertürkische Angelegenheiten und als<br />
Förderung separatistischer Tendenzen betrachtet werden.“25<br />
Es hat viele Konsequenzen, dass die Kurden seit vielen<br />
Jahren dem <strong>Dr</strong>uck und der starren Haltung deutscher<br />
Politik ausgesetzt werden. Es gibt kein spezifische<br />
Sozialarbeit und keine sozial- pädagogischen Angebote für<br />
Kurden. „Die Forderung nach einem Sozialdienst für<br />
Kurden wurde <strong>von</strong> der Bundesregierung als Zumutung<br />
empfunden, nur geeignet, die deutsch- türkische<br />
Freundschaft zu belasten.“<br />
Wegen dieser unnachgiebigen Haltung - sowohl politisch<br />
als auch gesellschaftlich -, haben die Kurden keine<br />
Möglichkeit, sich in ihren sozialen Angelegenheiten beraten<br />
zu lassen. Damit wird die Integration der Kurden in das<br />
gesellschaftliche System Deutschlands erschwert.<br />
Die Kurden benötigen wie andere Migrantengruppen auch<br />
Familien-, Asyl- und Sozialberatung sowie psychologische<br />
Anlaufstellen.<br />
Es gibt zwar Einrichtungen, die sich mit sozialen, kulturellen,<br />
rechtlichen, asylrechtlichen und psychologischen<br />
Problemen <strong>von</strong> Migranten beschäftigen, aber die<br />
notwendige Sozialberatung und –betreuung, sie berücksichtigt<br />
aber nicht die Bedürfnisse der Kurden.<br />
In den Beratungsstellen werden sie mehr als „türkisches,<br />
arabisches, persisches Klientel“ betrachtet.<br />
Ein erfolgreiches Beratungsgespräch setzt Vertrauen und<br />
in der Muttersprache sprechen zu können, voraus.<br />
Kurdische Dolmetscher sind in den Beratungsstellen nicht<br />
vorhanden bzw. werden nicht finanziert.<br />
Es ist zu hören, dass Kurden immer wieder mit ihren<br />
Problemen zu türkischen Beratern geschickt werden. Doch<br />
Vertrauen haben die kurdischen Klienten bei den<br />
türkischen Beratern nicht, eher große Ängste. Die meisten<br />
<strong>von</strong> türkischer Politik geprägten Berater oder Therapeuten<br />
haben auch kein Verständnis für die Probleme der kurdischen<br />
Klienten. Erschwerend kommt hinzu, dass die meisten<br />
therapiesuchenden Kurden <strong>von</strong> der türkischen<br />
Staatspolitik Betroffene sind.<br />
Alle Versuche hinsichtlich der Einrichtung sozialer<br />
Versorgungsstellen für Kurden schlugen bis jetzt fehl,<br />
obwohl diese Menschen verstärkt wegen ihrer spezifischen<br />
Probleme dringend darauf angewiesen sind. „<br />
Obwohl die Zahl der kurdischen Flüchtlinge seit zwei<br />
Jahrzehnten zu den höchsten überhaupt zählt, findet keine<br />
Beratung und Betreuung speziell für kurdische Flüchtlinge<br />
statt.“<br />
Offiziell wird in Deutschland die kurdische Identität nicht<br />
anerkannt; eine Unterstützung der Integrationsarbeit der<br />
kurdischen Verbände und Vereine findet nicht statt.<br />
Allgemein übernehmen die kurdischen Vereine ehrenamtlich,<br />
unregelmäßig und nach ihren Möglichkeiten die<br />
psycho-soziale Versorgung für ihre Landsleute.<br />
Häufig akzeptieren Standesämter keine kurdischen Namen<br />
und kurdischen Kindern wird kein muttersprachlicher<br />
Unterricht in den Schulen erteilt. Es gibt keine kurdischsprachige<br />
Sendungen in Fernsehen und Rundfunk.<br />
Zur Festigung der Persönlichkeit und zur positiven<br />
Entwicklung des Lebens für Kurden ist es eine menschliche<br />
und rechtliche Aufgabe, diese mit anderen Gruppen gleichzustellen.<br />
III.Empfehlungen zur Integration der Kurden<br />
Zur Normalisierung des Verhältnisses zwischen Deutschen<br />
und Kurden, des friedlichen Zusammenlebens und der<br />
Integration der Kurden sind folgende Maßnahmen<br />
erforderlich:<br />
1.Die Gleichstellung der Kurden mit anderen<br />
Migrantengruppen ist möglich, wenn die Kurden als eigenständige<br />
Volksgruppe anerkannt werden.<br />
2.Die Bundesregierung muss sich für eine politische<br />
Lösung des Kurdenproblems einsetzen und eine offizielle,<br />
gerechte Haltung gegenüber den Kurden einnehmen<br />
3.Die politischen kurdischen Parteien, Organisationen und<br />
Vereine müssen als Vertreter der Kurden seitens der<br />
Regierung anerkannt werden<br />
-33-
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
4.Die Kurden müssen als eigenständige Volksgruppe<br />
anerkannt werden, damit sie nicht mehr als Türken,<br />
Araber und Perser gelten<br />
5.Das Betätigungsverbot <strong>von</strong> PKK/Kongra-Gel sowie das<br />
Verbot kurdischer Symbole und Fahnen muss aufgehoben<br />
werden<br />
6.Die Verfolgung der Kurden muss beendet werden und<br />
strafrechtliche Registrierung im Zusammenhang mit dem<br />
PKK/ERNK- Verbot müssen vernichtet werden<br />
7.Kurdische Flüchtlinge müssen als Kriegsflüchtlinge<br />
anerkannt werden und dürfen nicht abgeschoben werden,<br />
solange sich die Situation in ihrer Heimat nicht langfristig<br />
verbessert<br />
8.Die sozialen und kulturellen Projekte der Kurden müssen<br />
<strong>von</strong> Bund und den Ländern finanziert werden<br />
9.Der muttersprachliche Unterricht in den Schulen muss<br />
auch für kurdische Kinder eingeführt werden<br />
10.Es muss den Kurden ermöglicht werden, kurdischsprachige<br />
Radio- und Fernsehsendungen hören und<br />
sehen zu können<br />
11.Die kurdischen Namen müssen bei Standesämtern<br />
grundsätzlich anerkannt werden<br />
12.Die psycho-sozialen Beratungsstellen müssen nach den<br />
Bedürfnissen der kurdischen Klientel eingerichtet werden<br />
und die Beratung muss in kurdischer Sprache durchgeführt<br />
werden<br />
13.Kurdischsprachige Publikationen müssen zum<br />
Bestandteil <strong>von</strong> öffentlichen Bibliotheken gehören.<br />
Fußnoten:<br />
1 - BT- <strong>Dr</strong>ucksache 14/1740 am 28. Oktober 1999<br />
20- aus: Kleine Anfrage der Abgeordneten Angelika Beer und Fraktion<br />
BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN- <strong>Dr</strong>ucksache 13/ 1951- Behinderung der<br />
kommunalen Integrationsarbeit kurdischer Vereine. 4.7.1995<br />
21- Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der Abgeordneten<br />
Angelika Beer und Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN- <strong>Dr</strong>ucksache 13/<br />
2066. 25.1995<br />
Sahin, Mehmet: Türkei- Kurdistan. Eine Reise durch die Jüngste<br />
Vergangenheit. Köln. 1999, S. 123<br />
-34-
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
Eckpfeiler für eine Integrationspolitik für Kurden in Deutschland<br />
Schriftliche Adresse <strong>von</strong><br />
Professor <strong>Dr</strong>. Andreas<br />
Buro, Koordinator des<br />
Dialog-Kreises "Die Zeit ist<br />
reif für eine politische<br />
Lösung im Konflikt zwischen<br />
Türken und Kurden"<br />
Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Konferenz,<br />
aus gesundheitlichen Gründen kann ich nicht persönlich bei<br />
Ihrer wichtigen Konferenz in Berlin dabei sein, möchte<br />
jedoch die folgende schriftliche Adresse ihnen übermitteln.<br />
Ich gehe da<strong>von</strong> aus, dass- Ihr zentrales Konferenzthema, die<br />
Verbesserung der Integrationsmöglichkeiten der Kurden in<br />
Deutschland, weitgehend da<strong>von</strong> abhängt, ob es endlich<br />
gelingt, den türkisch-kurdischen kriegerischen Konflikt zu<br />
beenden und die sogenannte „Kurdische Frage“ auf einen<br />
sicheren Weg zu einer allseits akzeptablen Lösung zu bringen.<br />
Ich stelle meine Adresse unter das Motto:<br />
Den Krieg beenden! Um Aussöhnung und Gerechtigkeit<br />
kämpfen!<br />
Ein großer Erfolg ist errungen worden. Die Lösung der<br />
Kurdenfrage ist endgültig und unwiderrufbar auf die<br />
türkische Tagesordnung gesetzt worden. Sie ist damit allerdings<br />
noch nicht gelöst. Viele Kräfte haben daran mitgearbeitet:<br />
Bemühungen <strong>von</strong> kurdischer Seite mit ihren ständigen<br />
Angeboten für eine friedliche, demokratische und politische<br />
Lösung und ihren einseitigen Waffenstillständen.<br />
Aber auch der Schritt des türkischen Staatspräsidenten<br />
Abdullah Gül, die Lösung der Kurdenfrage zur Hauptaufgabe<br />
der Türkei zu erklären, war und ist <strong>von</strong> größter Bedeutung,<br />
wie auch die Bereitschaft des Ministerpräsidenten, mit dem<br />
Vorsitzenden der kurdischen DTP zu sprechen. Alle diese<br />
Bemühungen sind hoch anzuerkennen, haben sie doch auf<br />
beiden Seiten unter schwierigsten Bedingungen stattgefunden.<br />
Jetzt und wohl auch noch auf längere Zeit wird über das<br />
„Wie“ gestritten. Das ist angesichts des langen historischen<br />
Kampfes mit seinen tiefen politischen, sozial-psychologischen<br />
und ideologisch-nationalistischen Auswirkungen auf<br />
die Gesellschaft, aber vor allem auch auf die führenden<br />
Gruppierungen nicht anders zu erwarten.<br />
Es besteht, auch wenn die Uhr nicht zurück gedreht werden<br />
kann, immer noch die Gefahr, dass „der Berg kreißt und nur<br />
eine Maus geboren wird“. Geschieht dies, so wird eine<br />
„bleierne Zeit“ folgen, die Elend und Gräuel wieder aufleben<br />
lassen wird. Keiner kann voraussehen, welche internationalen<br />
Bedingungen sich dann auf den so notwendigen<br />
Lösungsprozess auswirken werden. Deshalb ist jetzt aus<br />
meiner Sicht eine große und kühne Initiative der kurdischen<br />
Seite erforderlich, durch die die ganze Konstellation des<br />
Konflikts grundlegend verändert wird. Ankara ist dazu nicht<br />
in der Lage, nur die kurdische Seite kann dies vollbringen.<br />
Der Krieg muß den türkischen Nationalisten und<br />
Militaristen, die unbedingt daran festhalten wollen,<br />
weggenommen werden; aber auch den NATO-Staaten einschließlich<br />
Deutschland, die sich bislang kaum für eine<br />
Lösung eingesetzt und sich hinter dem unsinnigen<br />
Terrorismus-Vorwurf gegenüber der kurdischen Seite verschanzt<br />
haben. Dies ist nur möglich, indem die kurdische<br />
Seite – und ich wende mich damit ausdrücklich an die PKK,<br />
die KCK - Gemeinschaft der <strong>Kom</strong>munen Kurdistans - und an<br />
den Vorsitzenden des Exekutivrates, Murat Karayilan – aus<br />
weitsichtigen strategischen Überlegungen erklärt, sie sei<br />
bereit, endgültig auf die Fortführung des militärischen<br />
Kampfes zu verzichten und ihre Waffen unter internationaler<br />
Kontrolle zu übergeben. Auf jede militärische<br />
<strong>Dr</strong>ohung werde verzichtet, denn wer nach dem Motto droht<br />
„ und bist Du nicht willig, so brauch ich Gewalt“ (v. Goethe,<br />
„Der Erlkönig“), kehrt damit zurück zur militärischen<br />
Kriegslogik und in die bisherigen so tragischen<br />
Konstellationen.<br />
Mit einem solchen kühnen Schritt würde die kurdische Seite<br />
konsequent ihrer bisher immer wieder vorgetragenen<br />
Überzeugung folgen, die auch der Vorsitzende Abdullah<br />
Öcalan teilt, dass die kurdische Frage nur politisch,<br />
demokratisch und friedlich gelöst werden könne. Sie zöge<br />
damit die grundsätzliche Schlußfolgerung aus ihren bisherigen<br />
Forderungen und wälzte damit gleichzeitig die gesamte<br />
aktuelle Konstellation um. Dann würden wieder Ziele und<br />
Mittel übereinstimmen. Damit würde der Weg frei für eine<br />
neue Politik der Aussöhnung und des Kampfes um die<br />
Herstellung <strong>von</strong> Gerechtigkeit gegenüber der kurdischen<br />
Bevölkerung im Rahmen der Türkei. Die ganze kurdische<br />
Bevölkerung – und mit ihr hoffentlich viele türkisch-stämmige<br />
Bürgerinnen und Bürger – könnten sich an tausend<br />
Stellen der Gesellschaft an diesen Bemühungen beteiligen.<br />
Der auf Imrali gefangene Abdullah Öcalan, sagte jüngst zu<br />
seinen Verteidigern: „ Alle, die Jugendlichen, die Frauen,<br />
jeder muß seine eigenen Entscheidungen treffen. Wer auf<br />
bestellte Lösungen wartet, kommt nicht zum Erfolg oder zu<br />
einer Lösung. . Diese Art <strong>von</strong> Lösungslogik war früher in<br />
theokratischen Strukturen vorherrschend und später im<br />
Positivismus, im Nationalstaat ist sie immer noch<br />
vorherrschend. Sie sollen sich dort entscheiden, ich<br />
entscheide mich hier, die anderen woanders, auf diese<br />
Weise regeln wir die Angelegenheit gemeinsam.“<br />
(Kurdistan-Report, Nr. 145, 2009, S.6)<br />
Klingt dies nicht geradezu wie ein Aufruf, um die<br />
berechtigten und international geforderten Rechte der<br />
Kurden zivilgesellschaftlich zu kämpfen?!<br />
-35-
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
Wer sollte da noch glaubhaft die Maske des Terrorismus als<br />
Legitimation für Widerstand gegen die Lösung der kurdischen<br />
Frage weiter tragen können? Weitreichende Impulse<br />
zur Demokratisierung der Gesellschaft der Türkei würden<br />
möglich, die der ganzen Gesellschaft zugute kämen.<br />
Freilich sollte sich niemand Illusionen über die<br />
Schwierigkeiten und Dauer eines solchen zivilgesellschaftlichen<br />
und demokratischen Prozesses <strong>von</strong><br />
Aussöhnungspolitik machen. Nach wie vor gibt es starke<br />
Kräfte, die eine Politik der Aussöhnung verhindern möchten.<br />
Nicht nur die türkische Generalität, nicht nur die alten<br />
nationalistischen Kräfte, die in vielen Institutionen noch<br />
immer eine wichtige Rolle spielen, Terroristen in vielen<br />
Lagern, die ihre je spezielle bisherige Legitimationsbasis<br />
bedroht sehen – diese vielfältige Gesellschaft enthält eine<br />
Fülle sektiererischer Ansätze, die möglicherweise ihre je<br />
besonderen Ziele gewaltsam anstreben und das Ruder<br />
zurück reißen wollen.<br />
Für das Durchhalten selbst bei schwerwiegenden<br />
Provokationen gibt es eine wesentliche, doch ungewohnte<br />
Konstellation. Die USA, die Führungsmacht der NATO, sind<br />
aus Gründen, die mit ihrer Irak-Politik zusammen hängen,<br />
an einer Lösung der Kurdenfrage interessiert. Das setzt dem<br />
türkischen Militär Grenzen und auch den anderen NATO-<br />
Mitgliedern, die bisher meist friedenspolitisch eine negative<br />
Rolle in der Türkei gespielt haben. Die deutsche<br />
Verfolgungspolitik mit ihrem unqualifizierten<br />
Terrorismusvorwurf gegenüber der kurdischen Seite darf da<br />
nicht verschwiegen werden.<br />
Eine Politik der Aussöhnung ist grundsätzlich in die Zukunft<br />
gerichtet. Sie darf sich nicht in gegenseitiger Aufrechnung<br />
vergangener Verbrechen fest fahren. Wie verbissen würden<br />
dann die Schuldvorwürfe, Verleumdungen und Leugnungen<br />
gegeneinander getürmt werden? Man erinnere sich an die<br />
Armenier-Genozid-Auseinandersetzung! Steigerung der<br />
Feindseligkeit und sektiererische Ausschreitungen wären<br />
die Folge! Das blockierte Vertrauensbildung und<br />
Kooperationsbereitschaft. Insofern können auch nicht<br />
Tribunale aus anderen Ländern und anderen historischen<br />
Zusammenhängen als Vorbilder übernommen werden.<br />
Sehr gefährlich wäre auch, wenn nun Lösungsschritte zu<br />
kleinlich und zu zögerlich ausfallen, wenn faule<br />
<strong>Kom</strong>promisse an Stelle einer Politik der Aussöhnung und<br />
des Neuanfangs treten. Gefährlich ist aber auch, wenn die<br />
Forderungen <strong>von</strong> kurdischer Seite so weit gehen, daß in der<br />
Mehrheitsgesellschaft mit ihrer bald 100 Jahre alten nationalistisch-türkischen<br />
Sozialisation wieder Ängste vor<br />
Separatismus aufkommen, so dass sie nicht bereit ist, über<br />
sie den Dialog aufzunehmen. Nach dieser Vergangenheit<br />
wird Umdenken ohnehin schwer genug sein. Augenmaß ist<br />
gefragt!<br />
Es müssen eigenständige Wege erprobt und gegangen werden.<br />
Ihre wichtigsten Zielmarken sind die Bildung <strong>von</strong><br />
Vertrauen und vor allem die gemeinsame Herstellung <strong>von</strong><br />
-36-<br />
Gerechtigkeit. Dies ist auf allen Ebenen der Gesellschaft,<br />
also <strong>von</strong> Dorf , Stadt, Region bis zum Gesamtstaat, breit zu<br />
erörtern. Was ist Gerechtigkeit?<br />
Angesichts des autoritären Überhangs und der demokratischen<br />
Defizite der Türkei werden dadurch auch viele<br />
Interessen und Fragen berührt werden, die nicht unmittelbar<br />
mit der kurdischen Frage zusammenhängen und das ist<br />
gut so! Wird doch dadurch die gesamte Gesellschaft in<br />
einen großen Dialog über ihre Zukunft gezogen. Dieser<br />
„große gesellschaftliche Dialog“ muß nicht auf die offensichtlich<br />
mühsamen Entscheidungen der türkischen<br />
Regierungsinstitutionen warten. Er kann gleich beginnen.<br />
Ich sehe wichtige Ansätze in der gegenwärtigen<br />
Mobilisierung auf vielen Demonstrationen, die sich in dieser<br />
neuen Richtung entwickeln könnten.<br />
Jenseits der Aspekte <strong>von</strong> Integrationspolitik <strong>von</strong> kurdischstämmigen<br />
Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland<br />
halte ich es für die kurdische Community in Deutschland für<br />
eine große Aufgabe, diesen hier vertretenen „Großen<br />
Dialog“ auch nach Deutschland zu übertragen, und zwar im<br />
zweifachen Sinne:<br />
Erstens, indem an die deutschen Institutionen bis hin zur<br />
Bundesregierung ein Katalog <strong>von</strong> Bitten und Vorschlägen<br />
herangetragen wird, wie diese denn den Prozess der Lösung<br />
der Kurdenfrage in der Türkei <strong>von</strong> außen friedenspolitisch<br />
unterstützen könnten. Der Katalog müsste öffentlich bekannt<br />
gemacht und erläutert werden. Viele Veranstaltungen<br />
könnten dazu dienen.<br />
Zweitens geht es darum, nun, da das Tabu der Kurdenfrage<br />
gefallen ist, auch die türkischstämmige Community in den<br />
„Großen Dialog“ einzubeziehen. Auch das könnte viele<br />
Basisaktivitäten bewirken, weil viele Dialoge lokal, auch in<br />
kleinen Gruppierungen erforderlich sein werden, ehe die<br />
größeren türkischstämmigen Gruppierungen erreichbar<br />
sein werden.<br />
Es scheint, als habe sich endlich das „Fenster der<br />
Möglichkeiten“ geöffnet, diesen fürchterlichen und<br />
sinnlosen Konflikt des türkischen Nationalstaates gegen<br />
seine kurdischen Mitbürger friedlich beizulegen und die<br />
nationalistische Politik der Zwangsassimilierung zu überwinden.<br />
Gelänge dies, so wäre dies eine ungeheure<br />
Bereicherung für alle Menschen in der Türkei, ob der<br />
Herkunft nach Türken, Kurden, Armenier, religiöse<br />
Minderheiten. Eine Win-Win-Situation für die ganze Türkei,<br />
die ihre reichen Möglichkeiten nun endlich entfalten könnte<br />
und sich nicht im Bruderkrieg um veraltete Ideologien zerfleddern<br />
müsste.<br />
Dieses „Fenster der Möglichkeiten“ darf nicht wieder<br />
zuschlagen und den Kurs auf die Lösung der Kurdenfrage<br />
erneut auf Jahre verstellen. In dieser Situation müssen alle<br />
auf eine friedliche, zivile und demokratische Lösung<br />
bedachten Kräfte über alle sonstigen Differenzen hinweg<br />
zusammenstehen. Ich wünsche uns allen, dies möge gelingen!
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
Murat Çakır, Rosa-Luxemburg-Stiftung<br />
Werte Gäste, liebe Freundinnen und Freunde,<br />
wir sind am Ende einer Konferenz angekommen, <strong>von</strong> der<br />
wir als Veranstalter hoffen, dass es nicht zu einer der<br />
zahlreichen Veranstaltungen wird, deren Ergebnisse all zu<br />
oft im Nichts verhallen. Unsere Hoffnung liegt auch darin,<br />
dass diese Konferenz ein neuer Beginn sein möge: ein<br />
Beginn <strong>von</strong> einer Reihe <strong>von</strong> Veranstaltungen, in denen die<br />
heutigen Einzelthemen eingehender debattiert werden<br />
und die für die Lösung der Probleme einen Beitrag leisten<br />
können.<br />
Uns war es bewusst, dass an einem einzigen Tag die<br />
vielfältigen Probleme der kurdischstämmigen<br />
MigrantInnen, der KurdInnen in Deutschland nicht in<br />
Gänze beleuchtet werden können. Wenn jedoch eben<br />
dieser eine Tag Sie zum »Weitermachen« motiviert haben<br />
sollte, dann hat diese Konferenz aus unserer Sicht eines<br />
ihrer wichtigsten Aufgaben erfüllt. Wir sind auf jedem Fall<br />
gewillt, weiter zu machen und für die Lösung der hier<br />
angesprochen Problemfelder tätig zu werden. Dabei hoffen<br />
wir, Sie und andere als MitstreiterInnen gewinnen zu<br />
können.<br />
Werte Gäste, liebe Freundinnen und Freunde,<br />
erlauben Sie mir, bevor wir auseinandergehen, Sie auf<br />
einige wenige Punkte kurz aufmerksam zu machen.<br />
Wir haben heute über die kurdische Migration in<br />
Deutschland und der daraus resultierenden Probleme<br />
gesprochen. Probleme, deren Lösung jeden Tag noch<br />
dringlicher wird. Die Redebeiträge haben uns vor die<br />
Augen geführt, wie wichtig es ist, dabei<br />
Problembewusstsein zu entwickeln.<br />
Mir persönlich hat dieser Tag nochmals deutlich gemacht,<br />
dass die kurdische Migration in Deutschland zugleich ein<br />
Teil eines seit Jahrzehnten währenden Konfliktes ist. Ein<br />
Konflikt, in der wir Europäer nicht den Luxus haben, wie<br />
der berühmte Geheimrat Goethe, »<strong>von</strong> Friedenszeiten zu<br />
Schlusswort<br />
sinnieren, wenn weit hinten in der Türkei die Völker auf<br />
ihre Köpfe einschlagen«. Selbst wenn wir es nicht<br />
wahrhaben wollen, ändert es nichts an der Tatsache, dass<br />
der Konflikt um das kurdische Volk längst auch unser<br />
Konflikt geworden ist. Sich dieser Tatsache bewusst zu<br />
werden, so glaube ich, liegt in der Verantwortung der<br />
Gesellschaften und der Politik in Europa.<br />
Es ist keineswegs so, dass die KurdInnen - sei es in<br />
Kurdistan oder in Europa - Almosen <strong>von</strong> uns Europäern<br />
erwarten. Sondern es geht schlicht und einfach um die<br />
Gewährung <strong>von</strong> Rechten, die einem jeden Menschen <strong>von</strong><br />
Geburt an zustehen: Selbstbestimmt zu leben; der eigenen<br />
Muttersprache, der Kultur und Geschichte bewusst zu<br />
werden und diese den nachfolgenden Generationen<br />
vererben zu können; sich frei und gleichberechtigt, fern<br />
<strong>von</strong> jeder Repression und jedem entmündigenden<br />
Paternalismus entfalten zu können; Presse- und<br />
Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit zu genießen; sich<br />
organisieren und ohne Beschränkungen frei bewegen zu<br />
können. Eben als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft<br />
am politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen<br />
Leben zu partizipieren.<br />
Es wäre keine Binsenweisheit zu behaupten, dass in<br />
Deutschland MigrantInnen im Allgemeinen und KurdInnen<br />
im Besonderen <strong>von</strong> all diesen Rechten und Freiheiten, die<br />
für uns StaatsbürgerInnen selbstverständlich sind, nicht<br />
partizipieren können. Dieser Umstand zeigt auf die fatalen<br />
Defizite unserer Demokratie. Die Zivilgesellschaft, die<br />
demokratischen Kräfte, aber auch die verantwortliche<br />
Politik dürfen diese Defizite nicht mehr hinnehmen. Nicht<br />
weil wir den KurdInnen oder den MigrantInnen etwas<br />
zugestehen sollen.<br />
Sondern weil wir es uns selber, weil wir es den Werten<br />
einer demokratischen Gesellschaft schuldig sind. Denn:<br />
wie können wir die Werte der Demokratie, die<br />
Gleichberechtigung und Freiheiten überhaupt verteidigen,<br />
für sie werben, wenn wir weiter zulassen, dass rund 10<br />
Prozent unserer Bevölkerung <strong>von</strong> jeglichen politischen<br />
Rechten ausgeschlossen sind, die KurdInnen stigmatisiert,<br />
kriminalisiert und ausgegrenzt, deren soziale Probleme<br />
weitgehend ignoriert und gleichzeitig mit<br />
Gesetzesverschärfungen, Verboten, Repressionsmaßnahmen<br />
die demokratischen Rechte aller ausgehöhlt werden?<br />
Daher sollten wir nicht vergessen, dass eine Gesellschaft,<br />
die Unfreiheit eines ihres Teils hinnimmt, niemals selbst<br />
richtig frei sein kann und so gesehen das Streiten um die<br />
Rechte <strong>von</strong> KurdInnen im Grunde genommen nichts<br />
anderes bedeutet, als für die eigenen Rechte und<br />
Freiheiten zu streiten.<br />
-37-
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
Hierbei müssen wir uns auch vor Augen führen, dass wir es<br />
dabei mit einer Tragödie der anatolisch-mesopotamischen<br />
Völker zu tun haben, an der Europa und Deutschland historisch<br />
wie gegenwärtig eine Mitverantwortung tragen.<br />
Wenn mit Waffen und Gerätschaften aus deutscher und<br />
europäischer Produktion das kurdische Volk unterdrückt<br />
wird; wenn die europäischen Regierungen aus politischen,<br />
wirtschaftlichen und geostrategischen Gründen<br />
undemokratische Regime unterstützen und vor die<br />
Flüchtlinge aus diesen Ländern undurchdringbare Mauern<br />
hochziehen; wenn politische AktivistInnen fernab jeglicher<br />
rechtsstaatlicher Prinzipien mitten in Europa inhaftiert<br />
und abgeschoben werden, wenn Völkerrecht zur<br />
Durchsetzung <strong>von</strong> Wirtschaftsinteressen mit<br />
Aggressionskriegen durchlöchert wird, dann ist<br />
Widerstand gegen eine solche Politik die erste staatsbürgerliche<br />
Pflicht.<br />
Dies machen uns die KurdInnen vor. In der eigenen<br />
Geographie, verteilt in vier Staaten, haben sie sich gegen<br />
die Tyrannei erhoben. In der Türkei ist die Kurdenfrage<br />
unwiderrufbar als das wichtigste Problem des Landes<br />
anerkannt worden. Auch wenn die türkische Regierung<br />
sich als unfähig erweisen sollte, die richtigen Schritte zu<br />
unternehmen, so steht das kurdische Volk mit seinen legitimen<br />
politischen Vertretungen als Garant für die<br />
Demokratisierung und für die friedliche Lösung des<br />
Konflikts bereit.<br />
Seinen politischen Willen dafür hat es mehrfach unter<br />
Beweis gestellt. Wenn in der nahen Zukunft die Republik<br />
Türkei demokratischer und friedlicher werden sollte, dann<br />
wird das kurdische Volk an dieser Entwicklung einen erheblichen<br />
Anteil haben. Auch diese Tatsache haben wir<br />
anzuerkennen.<br />
Wer bis heute die Anerkennung der Tatsachen und eine<br />
entsprechende Handlung <strong>von</strong> der verantwortlichen Politik<br />
erwartet hatte, wurde stets bitter enttäuscht. Anstatt die<br />
Migration als eine der wichtigsten Herausforderungen<br />
unserer Zeit zu begreifen, wurden Realitätsverweigerung,<br />
Abschottungsdenken und Nationalismus zum Stützpfeiler<br />
einer als uferlose Gefahrenabwehr verstandenen<br />
»Ausländer- und Asylpolitik«.<br />
Die Erfahrungen des Nationalsozialismus waren vergessen,<br />
als das Grundrecht auf Asyl de facto aufgehoben wurde.<br />
Im Rahmen <strong>von</strong> sogenannten Sicherheitsstrategien wurden<br />
und werden heute noch rechtsfreie Räume geschaffen,<br />
in denen kurdische AktivistInnen ihrer fundamentalen<br />
Rechte beraubt werden.<br />
Mit Organisationsverboten und Sonderregelungen wurden<br />
die Bundesregierungen parteiisch in dem kurdischtürkischen<br />
Konflikt. Nicht die kurdischen Organisationen<br />
sind es, die den »inneren Frieden« in Deutschland<br />
gefährden, sondern die unselige Haltung der verantwortlichen<br />
Politik, die <strong>von</strong> den imperialen Gelüsten herrührt.<br />
-38-<br />
Ich muss zugeben, dass sich die Politik seit langem für<br />
mich entzaubert hat. Die Politikverdrossenheit vieler<br />
Menschen in diesem Land kann ich gut nachvollziehen.<br />
Auch die Ohnmacht vor der Ignoranz der Macht. Doch<br />
Resignieren, sich zurückziehen? Nein, ich glaube das wäre<br />
der falsche Weg. Wer einen Politikwechsel will – der ist<br />
übrigens in diesem Land längst überfällig –, der muss auf<br />
die zivilgesellschaftlichen, demokratischen Kräfte setzen<br />
und den <strong>Dr</strong>uck auf die verantwortliche Politik erhöhen.<br />
Lösungsansätze aufzeigen, Alternativen erarbeiten, sich<br />
einmischen, versuchen, mitzugestalten.<br />
Wie am heutigen Tag. Dafür möchten wir Ihnen allen, die<br />
dieser Konferenz beigetragen haben, herzlich danken und<br />
laden Sie ein, die nachfolgenden Veranstaltungen mit uns<br />
gemeinsam zu gestalten.<br />
Zum Abschluss der Konferenz haben die TeilnehmerInnen<br />
die folgende 10-Punkte-Resolution verabschiedet:
Konferenz: Kurden in Deutschland<br />
Resolution: Berliner Erklärung<br />
FÜR DIE GLEICHSTELLUNG DER KURDINNEN UND KURDEN<br />
MIT ANDEREN MIGRANTENGRUPPEN<br />
„Nach über 45jähriger Migration lebt nun fast eine Million KurdInnen in Deutschland, die als ArbeitsmigrantInnen,<br />
Flüchtlinge oder AkademikerInnen aus der Türkei, dem Iran, Irak und Syrien gekommen oder geflohen sind. Etwa ein<br />
<strong>Dr</strong>ittel <strong>von</strong> ihnen besitzt inzwischen die Staatsbürgerschaft der Bundesrepublik. Die zweitgrößte MigrantInnengruppe ist<br />
bis heute nicht als eigenständige MigrantInnengruppe anerkannt, da sie i. d. R. entweder als türkische, iranische,<br />
irakische oder syrische Staatsangehörige gelten. Dadurch werden ihnen fundamentale Rechte wie muttersprachlicher<br />
Unterricht, Beratung und Betreuung in der eigenen Sprache, Teilhabe an spezifischen Integrationsmaßnahmen u. v. a.<br />
m. verwehrt. Es ist nun an der Zeit, dass diese Bevölkerungsgruppe anerkannt wird, um sie in der öffentlichen<br />
Unterstützung und Förderung der sozio-kulturellen Anliegen den anderen MigrantInnengruppen gleichzustellen.<br />
Die Tatsache, dass seit 1993 aufgrund politischer Erwägungen die Betätigung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verboten<br />
ist, führt dazu, dass kurdische MigrantInnen und insbesondere ihre Selbstorganisationen kriminalisiert, stigmatisiert<br />
und als Folge dessen, doppelter Ausgrenzung ausgesetzt werden. Die Organisationsverbote und zahlreichen<br />
Repressionsmaßnahmen stellen sich derzeit als große Integrationshindernisse dar. Die KurdInnen, die seit Jahrzehnten<br />
zu einem festen Bestandteil der bundesrepublikanischen Gesellschaft geworden sind, werden so an den Rand der<br />
Gesellschaft gedrängt. Diese Tatsachen zeugen <strong>von</strong> einem fatalen Defizit der Demokratie in Deutschland. Es ist dringlicher<br />
denn je, diesen Umstand zu ändern.<br />
Die TeilnehmerInnen sind der Auffassung, dass ein grundlegender Paradigmenwechsel notwendig ist. Um dies<br />
gewährleisten zu können, fordern sie Politik und Gesellschaft auf, Schritte zur Beseitigung der Folgen des bisherigen<br />
Umganges mit KurdInnen zu unternehmen. Dazu gehören insbesondere:<br />
1. Die Anerkennung der KurdInnen als eigenständige MigrantInnengruppe und Gleichstellung mit den anderen Gruppen;<br />
2. Aufhebung des seit 1993 bestehenden Betätigungsverbots der PKK und kurdischer Organisationen sowie Beendigung<br />
der Repressionsmaßnahmen;<br />
3. Beratungs- und Betreuungsmöglichkeiten auch für kurdische MigrantInnen und Flüchtlinge in ihrer Muttersprache<br />
und Herausgabe <strong>von</strong> Informationsmaterialien in kurdischer Sprache;<br />
4. Muttersprachlicher Ergänzungsunterricht für kurdische SchülerInnen;<br />
5. Das Zulassen <strong>von</strong> kurdischen Namen, auch wenn diese <strong>von</strong> den Behörden der Herkunftsländer nicht anerkannt werden;<br />
6. Gleichbehandlung der KurdInnen bei den fremdsprachigen Sendungen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten;<br />
7. Aufhebung der Betätigungsverbote für kurdische Medien wie ROJ-TV in Deutschland;<br />
8. Aufnahme der Selbstorganisationen der KurdInnen in den Integrationsgipfel und Förderung der Selbsthilfe sowie der<br />
Bestrebungen für muttersprachliche, politische und kulturelle Information und Bildung;<br />
9. Einstellung <strong>von</strong> Abschiebungen <strong>von</strong> politisch aktiven KurdInnen und der Widerrufsverfahren gegen anerkannte kur<br />
dische Flüchtlinge;<br />
10. Verstärkter Einsatz der Bundesregierung für die friedliche und demokratische Lösung der Kurdenfrage.<br />
Die TeilnehmerInnen der Konferenz sind der Auffassung, dass diese Forderungen einen wichtigen Schritt für die überfällige<br />
Integration eines nicht unwesentlichen Teiles unserer Bevölkerung bedeuten. Sie sind der Überzeugung, dass<br />
Zivilgesellschaft, die demokratischen Kräfte unseres Landes, die Selbstorganisationen der KurdInnen und die verantwortliche<br />
Politik große Anstrengungen unternehmen müssen, um eine friedliche, gleichberechtigte und demokratischere<br />
Zukunft gestalten zu können. Die aus der Migration der KurdInnen in Deutschland herauswachsenden Probleme<br />
sollten als eine Herausforderung für Gesellschaft und Politik verstanden werden. Daher erklären die TeilnehmerInnen<br />
der Konferenz ihren Willen, auch in der Zukunft sich gemeinsam für die Lösung der Probleme der kurdischen<br />
MigrantInnen einzusetzen. Sie erachten die heutige Konferenz als einen Beginn weiterer Aktivitäten.“<br />
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