Paraplegiker 1/2011
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Das silberne Spar-Schwein:<br />
„Rückwirkend<br />
geht nichts“<br />
Ein Lehrstück darüber, wie sich eine<br />
eigentlich gut gemeinte Gesetzesregelung<br />
in ihr Gegenteil verkehrte.<br />
Früher, vor Inkrafttreten des Sozialgesetzbuchs zu<br />
Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen<br />
(SGB IX) wurde die Teilnahme am Rehasport von den<br />
Krankenkassen bezuschusst – oder auch nicht. Denn<br />
das war Ermessenssache und ein dauernder Streitpunkt<br />
zwischen den Krankenkassen und ihren Versicherten.<br />
In das SGB IX wurde ein Rechtsanspruch auf<br />
Rehasport festgeschrieben. Das war 2004. Mit der<br />
Rahmenvereinbarung über den Rehasport, die das<br />
umsetzen sollte, wurde allerdings der Begriff „Hilfe<br />
zur Selbsthilfe“ nicht mehr vor allem als sinnvolle<br />
Unterstützung eigener rehasportlicher Aktivitäten<br />
definiert, sondern auf Drängen der Krankenkassen<br />
vornehmlich als Argument für eine zeitliche Anspruchsbegrenzung.<br />
Nach einer „Anlernzeit“ von 50<br />
Übungsstunden (bei wenigen besonders schweren<br />
Behinderungen 120 Stunden) sollte man in der Lage<br />
sein, den Rehasport „alleine und in eigener Verantwortung“<br />
(Zitat) durchzuführen. Nur wenn ein Facharzt<br />
mit der Zusatzqualifikation Psychotherapie<br />
bestätigte, dass man dazu „wegen geistiger oder<br />
psychischer Behinderung/Krankheit“ nicht in der<br />
Lage war, konnte der Zeitraum verlängert werden.<br />
Das konnte nicht gut gehen. Nach zähen Verhandlungen<br />
gab es 2007 eine neue Vereinbarung und<br />
auch die hatte nur kurze Zeit Bestand. 2008 erklärte<br />
das Bundessozialgericht die Passagen mit einer<br />
zeitlichen Begrenzung für rechtswidrig und unwirksam.<br />
Einzig und allein medizinische Gründe sind<br />
zu berücksichtigen. Deshalb gibt es jetzt wieder<br />
eine neue Rahmenvereinbarung ab 1. Januar <strong>2011</strong><br />
und außerdem ein weiteres BSG-Urteil (B 1 KR 8/10<br />
R vom 2. 11. 2010) in dem steht, dass Rehasport in<br />
Gruppen stattzufinden hat und nicht – wie so mancher<br />
MDK-Gutachter gemeint hatte – zu Hause im<br />
stillen Kämmerlein.<br />
Das alles scherte die AOK Rheinland-Pfalz in Koblenz<br />
überhaupt nicht. 2008 verweigerte sie mit Unterstützung<br />
des MDK und der üblichen Begründung gleich<br />
drei Antragstellern die Kostenübernahme, obwohl<br />
q – querschnitt spezial<br />
beim MDK über alle drei (zwei Tetraplegiker, einmal<br />
Cerebralparese) ausführliche medizinische Informationen<br />
u. a. wegen des Bezugs von Pflegegeld vorlagen.<br />
Trotz des inzwischen auch dort bekannten<br />
Urteils des BSG waren auch die eingelegten Widersprüche<br />
erfolglos und erst die Richter beim Sozialgericht<br />
rüffelten die AOK – zu Recht. Dann dauerte<br />
es noch bis Ende 2010, bis endlich die genehmigten<br />
und abgestempelten Verordnungsformulare vorlagen,<br />
die für die Abrechnungen benötigt werden<br />
– so dachte man. Denn schließlich hatten die drei<br />
weiterhin regelmäßig am Rehasport teilgenommen,<br />
wie es der MDK auch in einem Nebensatz seiner ablehnenden<br />
Stellungnahme empfohlen hatte. Doch<br />
genehmigt wurde nur die Kostenübernahme für die<br />
Zukunft. Für die vergangenen drei Jahre sollten die<br />
Teilnehmer die Kosten gefälligst selbst übernehmen.<br />
Auf Rückfrage erklärte die Sachbearbeiterin,<br />
es sei ihr nicht erlaubt – und auch vom Gesetz her<br />
verboten – rückwirkende Genehmigungen zu erteilen.<br />
Natürlich stimmt das so nicht. Denn dafür<br />
gibt es im SGB V extra den § 13. Und selbst bezahlen<br />
können das die EU-Rentner auch nicht. Ob man<br />
bei der AOK jetzt Einsicht zeigt oder ob erneut das<br />
Sozialgericht eingeschaltet werden muss ist zurzeit<br />
noch ungeklärt. Klar ist dagegen, dass bis heute bei<br />
der AOK schon mehr Büro- , Verwaltungskosten und<br />
Gebühren angefallen sind als die beantragten Kostenübernahmen<br />
insgesamt ausmachen.<br />
Text: Herbert Müller<br />
Kriterium für die „Ehrung“ ist<br />
die Kreativität der Begründung<br />
für eine Ablehnung. Je unsinniger,<br />
desto besser sind die Chancen.<br />
Ob man darüber eher schmunzelt<br />
oder sich mehr über die Ignoranz<br />
ärgert, bleibt jedem selbst überlassen.<br />
Vorschläge sind willkommen.<br />
Herbert Müller<br />
Rechtsbeistand im Sozialrecht<br />
der Fördergemeinschaft<br />
der Querschnittgelähmten<br />
in Deutschland e.V.<br />
Freiherr-vom-Stein-Str. 47<br />
56566 Neuwied-Engers<br />
tel 0 26 22-88 96-32; Fax: -36<br />
eMail: h.mueller@engers.de<br />
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