März 2010 (PDF) - an.schläge
März 2010 (PDF) - an.schläge
März 2010 (PDF) - an.schläge
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
outside olympia<br />
46,XX/46,XY<br />
Was eine Frau zur Frau macht, ist auch in sportlichen Wettbewerben nicht leicht zu be<strong>an</strong>tworten. Versucht wird es<br />
trotzdem. Von Bettina Enzenhofer<br />
1 Caster Semenya gew<strong>an</strong>n bei der<br />
Leichtathletik-Weltmeisterschaft<br />
2009 in Berlin die Goldmedaille im<br />
800-Meter-Lauf. Zweifel <strong>an</strong> ihrer<br />
Weiblichkeit aufgrund des guten<br />
Ergebnisses und ihrer maskulinen<br />
äußeren Erscheinung führten zur<br />
Anordnung eines „gender verification<br />
test“.<br />
2 S<strong>an</strong>thi Soundaraj<strong>an</strong> gew<strong>an</strong>n bei<br />
den Asienspielen 2006 in Doha die<br />
Silbermedaille für den 800-Meter-<br />
Lauf. Nach einem Geschlechtstest<br />
musste sie die Medaille wieder abgeben,<br />
weil sie „männliche“ Chromosomen<br />
hat. Soundaraj<strong>an</strong> versuchte daraufhin,<br />
sich das Leben zu nehmen.<br />
3 María José Martínez-Patiño durfte<br />
bei den Olympischen Spielen 1988<br />
nicht starten, als bek<strong>an</strong>nt wurde, dass<br />
sie XY-Chromosomen hat. Sie wurde<br />
außerdem vom sp<strong>an</strong>ischen Team ausgeschlossen,<br />
bereits errungene Titel<br />
wurden ihr entzogen. Martínez-<br />
Patiño wehrte sich gegen den IOC-<br />
Beschluss, zweieinhalb Jahre später<br />
wurde sie von der IAAF wieder eingesetzt.<br />
20 <strong>an</strong>.<strong>schläge</strong> februar <strong>2010</strong><br />
Caster Semenya 2009 1 . S<strong>an</strong>thi<br />
Soundaraj<strong>an</strong> 2006 2 . María José<br />
Martínez-Patiño 1988 3 : Sie alle<br />
fielen beim Geschlechtstest<br />
durch. Semenya, Soundaraj<strong>an</strong>,<br />
Martínez-Patiño und etliche <strong>an</strong>dere<br />
konnten nicht beweisen, dass sie Frauen<br />
sind. Mediziner_innen sprachen ihnen<br />
ihre weibliche Identität ab und<br />
schlossen sie von sportlichen Wettbewerben<br />
aus. Bis heute ist die Praxis der<br />
Geschlechtstests aktuell.<br />
Die verbreitete Meinung lautet:<br />
Das biologische Geschlecht ist klar erkennbar.<br />
Bei sportlichen Wettbewerben<br />
müssen Frauen und Männer getrennt<br />
werden, weil sie unterschiedliche Leistungen<br />
erbringen und Männer den<br />
Frauen gegenüber einen Vorteil haben.<br />
Es muss deshalb darauf geachtet werden,<br />
dass sich in die Gruppe der Frauen<br />
keine Männer schummeln.<br />
Die weniger verbreitete Meinung<br />
besagt: Das biologische Geschlecht ist<br />
nicht klar erkennbar. Frauen und Männer<br />
können gleiche Leistungen bringen.<br />
Und über „weiblich“ und „männlich“<br />
hinaus gibt es noch viele <strong>an</strong>dere Variationen<br />
von Geschlecht.<br />
Komplexität von Geschlecht. Biolog_innen<br />
und Mediziner_innen wissen heute,<br />
dass die Sache mit „Frau = XX = weibliche<br />
(innere und äußere) Genitalien =<br />
Östrogene“ (bzw. „M<strong>an</strong>n = XY = männliche<br />
Genitalien = Androgene“) so einfach<br />
nicht ist. Stattdessen gilt: Komplexität<br />
allerorten. Geschlecht ist heute<br />
keine simple biologische Tatsache mehr,<br />
die schnell bestimmt werden k<strong>an</strong>n. Die<br />
Biologie ist inzwischen auf derart viele<br />
für die Geschlechtsentwicklung relev<strong>an</strong>te<br />
Faktoren gestoßen, dass sie mit<br />
dieser Komplexität selbst kaum mehr<br />
zurechtkommt. Die Biolog_in Heinz-Jürgen<br />
Voß präzisiert:„Die Biologie weiß<br />
nicht, was Geschlecht ist und wie es<br />
ausgebildet wird.“ 4 Geschlecht in ein<br />
binäres M<strong>an</strong>n/Frau-Schema einordnen<br />
zu wollen, widerspricht mittlerweile<br />
den eigenen biologischen Erkenntnissen:<br />
Für die Entstehung von Geschlecht<br />
spielen viele Einflüsse zusammen, der<br />
derzeitige Wissensst<strong>an</strong>d kennt genetische,<br />
<strong>an</strong>atomische, hormonelle, psychische<br />
und soziale Faktoren. Falls nicht alle<br />
Faktoren in die gleiche Richtung weisen,<br />
k<strong>an</strong>n niem<strong>an</strong>d klare und sichere<br />
objektive Kriterien für eine geschlechtli-<br />
che Zuordnung geben. In einem solchen<br />
Fall k<strong>an</strong>n höchstens nach l<strong>an</strong>gen Untersuchungen<br />
– die nicht selten unter pathologisierenden<br />
Vorzeichen stattfinden<br />
– d<strong>an</strong>ach geforscht werden, welches<br />
Geschlecht überwiegt.<br />
M<strong>an</strong>che Menschen werden mit einem<br />
Körper geboren, der eine Zuordnung<br />
zu weiblich oder männlich unmöglich<br />
macht. 5 Ihnen wird eine<br />
„Störung der Geschlechtsentwicklung“<br />
(DSD, engl. disorder of sex development)<br />
diagnostiziert. 6 Diese k<strong>an</strong>n sich<br />
auf verschiedenste Arten bemerkbar<br />
machen: Menschen mit XY-Chromosomen<br />
können bspw. äußerlich weiblich<br />
sein, als Mädchen aufwachsen und erst<br />
bei Ausbleiben der Menstruation mit<br />
ihrem „untypischen“ Karyotyp 7 konfrontiert<br />
werden. DSD, so die Lehrmedizin,<br />
k<strong>an</strong>n sich aber auch durch XX-Chromosomen<br />
mit männlichen Genitalien<br />
äußern. Die jeweilige Geschlechtszuweisung<br />
hängt immer von der genauen<br />
Diagnose ab. Die Geschlechtschromosomen<br />
können zudem in „untypischer“<br />
Zahl vorliegen: 45,X (Turner-Syndrom),<br />
47,XXY (Klinefelter-Syndrom), 45,X/46,XY<br />
oder 46,XX/46,XY.