Inspiration – Mond und Sonne WENDEPUNKT ERREICHT? Nachhaltiges Denken zahlt sich aus Fritjof Capras «Wendezeit» war eines der einflussreichsten Bücher der letzten Jahrzehnte. Dreissig Jahre später ist es Zeit, zu fragen, was daraus geworden ist. Wie hat das Buch unseren Blick auf die Welt verändert, welche seiner Aussagen und Forderungen sind immer noch gültig? TEXT_Martin Rasper 8 Sarasin Nachhaltigkeitsbericht 2011
Sein Haar ist grau geworden, sein Gesicht durchzogen von eindrucksvollen Falten – aber was er zu sagen hat, ist aktueller denn je. Fritjof Capra spricht ruhig und druckreif, mit seiner leicht knarzigen Stimme und in einem Deutsch, dem man weder so recht anhört, dass er seit Jahrzehnten in Berkeley in Kalifornien lebt noch dass er ursprünglich aus Österreich stammt. So wie er dasitzt, auf der Luzerner Biennale für Wissenschaft, Technik und Ästhetik 2010, zu der er als Gast geladen ist, macht er den Eindruck eines gelassenen, altersmilden Mannes, der mit sich im Reinen ist. Aber der dennoch nicht aufhört, sich zu engagieren und seine Ideen zu verbreiten. 30 Jahre ist es jetzt her, dass Capra mit seinem Buch «Wendezeit» eine der einflussreichsten Wortmeldungen der Umweltbewegung zustande brachte. Er rief zu einer neuen, ganzheitlichen Denkweise auf – einem Paradigmenwechsel, der dringend stattfinden müsse, wenn unser Planet nicht völlig vor die Hunde gehen solle. Überholte Vorstellungswelt Was in dieser verkürzten Form vielleicht überzogen anmutet, war wohlbegründet und muss mit einer kurzen Vorgeschichte erzählt werden. Capra, 1939 geboren und in Wien aufgewachsen, hatte dort Physik studiert und nach der Promotion in verschiedenen Institutionen geforscht, unter anderem bei Werner Heisenberg. Die Teilchenphysik, bei der Capra an vorderster Front mitarbeitete, hatte in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts umstürzende Erkenntnisse verarbeiten müssen. Zuerst brach die Relativitätstheorie mit der klassischen Physik, bei der Zeit und Raum als absolute, unveränderliche Grössen betrachtet wurden. Und dann bewies die Quantenphysik, dass auf der Ebene des Allerkleinsten nicht einmal die einfachsten Begriffe unveränderlich sind: Teilchen verhalten sich unter bestimmten Bedingungen nicht mehr wie Materie, sondern wie Wellen, also wie Energie; und umgekehrt. Diese Welle-Teilchen-Dualität erinnerte Capra an das Yin-Yang-Prinzip. Und als er dem Gedanken weiter folgte, entdeckte er zahlreiche verblüffende Parallelen zwischen den Erkenntnissen der modernen Physik und der Weisheit der alten fernöstlichen Kulturen. Diese Gedanken flossen in sein erstes Buch «Das Tao der Physik» ein, das sofort ein Erfolg wurde und bis heute immer wieder neu aufgelegt wird. Danach begann Fritjof Capra, diese eher abstrakte, philosophische Sichtweise auf den Zustand der Welt anzuwenden. Die Krise der Gegenwart, so seine These, rühre vor allem daher, dass wir unser Tun immer noch nach den Maximen der klassischen Physik ausrichteten. Der alte Denkfehler eines Descartes, die Trennung der Welt in Subjekt und Objekt, also in ein handelndes Ich und eine von diesem getrennte Objektivität, führe dazu, dass wir die Welt nicht ganzheitlich wahrnähmen, son- Sarasin Nachhaltigkeitsbericht 2011 dern aufgesplittet in einzelne Bereiche – die Natur, die Rohstoffe, die Technik, die Menschenrechte, die Politik, die Emanzipation. «Wie schon bei der Krise der Physik in den zwanziger Jahren», stellt Capra fest, «ist die heutige gesamtgesellschaftliche Krise eine Folge der Tatsache, dass wir versuchen, die Begriffe einer längst überholten Weltanschauung auf eine Wirklichkeit anzuwenden, die sich mit den Begriffen dieser Vorstellungswelt nicht mehr begreifen lässt.» Ganzheitliche Sicht Dieser mechanistischen, rein rationalen Sichtweise mit ihren linearen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen stellt Capra eine ganzheitliche, systemische Sicht gegenüber, die statt der Einzelteile das Ganze und die Zusammenhänge in den Blick nimmt und auch Phänomene wie Selbstorganisation und nichtlineare Beziehungen beachtet. Er erläutert dies anhand unterschiedlicher Wirtschaftssysteme, zum Beispiel der Landwirtschaft und ihres Umgangs mit dem Boden. Statt den Boden als lebendiges, vernetztes Ökosystem zu begreifen, dessen natürliche Zusammenhänge man sich zunutze machen kann, behandelt die konventionelle Landwirtschaft den Boden mechanistisch: Wasser und Nährstoffe werden – teils unter grossem Energieaufwand – künstlich zugeführt, Krankheiten und Schädlinge werden – gleichfalls unter massivem Einsatz von Chemie und von auf Erdöl basierender Energie – als jeweils isolierte Phänomene bekämpft. Wenn eine Verhaltensweise nicht ganz zum erwünschten Erfolg führt, wird sie verstärkt angewandt. Es ist ein lineares, eindimensionales Denken: immer mehr, immer grösser, immer intensiver – ohne die Folgen für die Systeme zu bedenken, in die man eingreift. Die Folgen aber, so Capra, betreffen nicht nur den Boden, sondern die ganze Gesellschaft. «Die massive Anwendung chemischer Kunstdünger und Schädlingsbekämpfungsmittel hat die gesamte Struktur von Landwirtschaft und Ackerbau verändert», schreibt er. Indem die 9