26.08.2013 Aufrufe

EU-Recht und nationales Verfassungsrecht - Europawissenschaften ...

EU-Recht und nationales Verfassungsrecht - Europawissenschaften ...

EU-Recht und nationales Verfassungsrecht - Europawissenschaften ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

10<br />

Prof. Dr. Martin Nettesheim – FIDE-Bericht 2002 – www.nettesheim.org<br />

in einem konkreten Anwendungskontext zu verwenden. Bei dieser Entscheidung spielen<br />

Konvention 9 , darüber hinaus vor allem aber funktionale Erwägungen eine Rolle. 10<br />

aa) Verfassung <strong>und</strong> Staatlichkeit<br />

In der Verfassungsdiskussion der letzten Jahre 11 erfuhr die Frage, inwieweit der<br />

Verfassungsbegriff notwendig auf den Staat bezogen sei, besondere Aufmerksamkeit. Kaum<br />

einer anderen begrifflichen Frage wurde so viel Aufmerksamkeit geschenkt. Zurückzuführen<br />

dürfte dies vor allem auf den Umstand sein, dass es <strong>Verfassungsrecht</strong>swissenschaftler<br />

besonderer Prominenz waren, die die These vertraten, dass eine Verfassung begriffsnotwendig<br />

auf den Staat bezogen sei, dass also von Verfassung nur dort gesprochen werden könne, wo es<br />

um Zähmung oder Konstituierung staatlicher Herrschaft gehe. Der Staat ist danach<br />

vorfindlich, d.h. er ist der Verfassung begrifflich vorgelagert: Die gr<strong>und</strong>legende Behauptung<br />

der Anhänger dieses Verständnisses lautet: „Ohne Staat keine Verfassung“ 12 . Eine<br />

vergleichbare Festlegung treffen jene <strong>Verfassungsrecht</strong>ler, die in der Verfassung das<br />

Gr<strong>und</strong>statut des staatlichen Gemeinwesens reduzieren <strong>und</strong> damit den Begriff der Verfassung<br />

ebenfalls auf den der Staatsverfassung verengen 13 . Verfassung ist danach ihrerseits keine<br />

Voraussetzung von Staatlichkeit, sondern nurmehr von Stabilität 14 . Dieses auf die Hegel´sche<br />

Staatsphilosophie zurückgehende 15 staatszentrierte Verständnis von Verfassung läßt die<br />

Annahme, es existiere bereits eine europäische Verfassung, ebensowenig zu wie die<br />

9<br />

Es ist gr<strong>und</strong>sätzlich nicht sinnvoll, einem Begriff einen Bedeutungsgehalt zuzuschreiben, der so nicht in der<br />

Sprachgemeinschaft bekannt ist.<br />

10<br />

Vgl nur Hesse, Konrad, Gr<strong>und</strong>züge des <strong>Verfassungsrecht</strong>s der B<strong>und</strong>erpublik Deutschland, 19. Aufl.,, 1993, S.<br />

3: Zur Darstellung des <strong>Verfassungsrecht</strong>s kann nur „nach der heutigen, individuell-konkreten Verfassung gefragt<br />

werden“ . Stern, Klaus, Das Staatsrecht der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland, Bd. I: Gr<strong>und</strong>begriffe <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>lagen<br />

des Staatsrechts, Strukturprinzipien der Verfassung, 2. Aufl., 1984, S. 70: „Die Staatsrechtswissenschaft muss<br />

den Verfassungsbegriff in das Zentrum ihrer Betrachtungen stellen, der für die Bewältigung der ihr gestellten<br />

Aufgaben wesentlich ist.“.<br />

11<br />

Siehe vor allem: Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung?, 50 JZ 1995, S. 581; Pernice, Ingolf,<br />

Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Constitution-Making Revisited?, 36<br />

CMLRev. 1999, S. 703 ff.; Häberle, Peter, Gemeineuropäisches <strong>Verfassungsrecht</strong>, in: Ders., Europäische<br />

<strong>Recht</strong>skultur, 1994, S. 33 ff.; Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Welchen Weg geht Europa?, in: Ders., Staat,<br />

Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie <strong>und</strong> <strong>Recht</strong>sphilosophie, 1999, S. 68 ff.; Bruha,<br />

Thomas / Hesse, Joachim Jens / Nowak, Carsten (Hrsg.), Welche Verfassung für Europa? Erstes<br />

interdisziplinäres „Schwarzkopf-Kolloquium“ zur Verfassungsdebatte in der Europäischen Union, 2001;<br />

Habermas, Jürgen, Die postnationale Konstellation <strong>und</strong> die Zukunft der Demokratie, in: Ders., Die postnationale<br />

Konstellation. Politische Essays, 1998, S. 91 ff.; Habermas, Jürgen, Braucht Europa eine Verfassung? Eine<br />

Bemerkung zu Dieter Grimm, in: Ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, 1996,<br />

S. 185 ff.; Frankenberg, Günter, The Return of Contract: Problems and Pitfalls of European Constitutionalism, 6<br />

ELJ 2000, S. 257 ff.; Petersmann, Ernst-Ulrich, Proposals for a Constitutional Theory and Constitutional Law of<br />

the <strong>EU</strong>, 32 CMLRev. 1995, S. 1123 ff.<br />

12<br />

Kirchhof, Paul, Europäische Einigung <strong>und</strong> der Verfassungsstaat der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland, in: Isensee,<br />

Josef (Hrsg.), Europa als politische Idee <strong>und</strong> als rechtliche Form, 1993, S. 63, 82.<br />

13<br />

Wie es Grimm etwa tut, der zwar von Verfassung als Gr<strong>und</strong>ordnung eines Gemeinwesens ausgeht, dieses aber<br />

gleichwohl in Bezug auf die Vorfindlichkeit des Staatlichen reduziert, 50 JZ 1995, S. 581, 582.<br />

14<br />

Kirchhof, Paul, Europäische Einigung <strong>und</strong> der Verfassungsstaat der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland, in: Isensee,<br />

Josef (Hrsg.), Europa als politische Idee <strong>und</strong> als rechtliche Form, 1993, S. 63, 84.<br />

15<br />

Für Hegel ist der Staat als „die Wirklichkeit der Sittlichen Idee“ das „an <strong>und</strong> für sich Vernüftige“, vgl. Hegel.<br />

Georg Wilhelm Friedrich, Gr<strong>und</strong>linien der Philosophie des <strong>Recht</strong>s, 1821, S. 398 f (§§ 257 ff); Zum modernen<br />

sittlichen Staat vgl. Pauly, Walter, Hegel <strong>und</strong> die Frage nach dem Staat, 39 Der Staat 2000, S. 381, vor allem 392<br />

ff., Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Der Staat als sittlicher Staat, Berlin, 1978.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!