EU-Recht und nationales Verfassungsrecht - Europawissenschaften ...

32
Prof. Dr. Martin Nettesheim – FIDE-Bericht 2002 – www.nettesheim.org
II 2. Nationale Vorschriften über die Schaffung einer „Verfassung“ der Europäischen
Union
Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat im Jahre 1992 eine Bestimmung in das
Grundgesetz eingefügt, die die Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland in der
Europäischen Union umfassend regelt und damit als Spezialregelung sowohl dem Art. 24 GG
als auch dem Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG vorgeht 86 . Die Regelung des Art. 23 GG 87 ist die
deutsche verfassungsrechtliche Reaktion auf den grundlegenden „Quantensprung“ 88 , den die
Integration mit dem Vertrag von Maastricht gemacht hat. Sie ist die zentrale Vorschrift des
Grundgesetzes, wenn es um die Schaffung formellen europagerichteten Verfassungsrechts
geht. Sie begründet in ihrem Abs. 1 S. 1 die verfassungsmäßige Pflicht der Bundesrepublik
Deutschland, der Europäischen Union anzugehören und an ihrer Entwicklung teilzunehmen
(Staatszielbestimmung „Europäisierung“, „Integrationsklausel“) 89 . Für die Teilnahme in der
Europäischen Union setzt die Vorschrift der Bundesrepublik Deutschland materielle
Bedingungen und Grenzen (a). Sie enthält zudem verfahrensmäßige Beteiligungsvorschriften,
mit denen die im Zuge der europäischen Integration erlittenen Zuständigkeitsverluste
kompensiert werden - sowohl der Länder gegenüber dem Bund als auch - auf Bundesebene -
des Bundestages und des Bundesrates gegenüber der Bundesregierung (b). Art. 23 GG enthält
jedoch keine Vorschriften darüber, wie die Rolle des Bürgers im europäischen
Verfassungsprozeß aussehen soll. Insoweit ist vor allem die Frage zu klären, ob schon wegen
der Idee eines europäischen Sozialkontraktes ein Mehr oder Anderes als die über den
Deutschen Bundestag höchst mittelbare Beteiligung des europäischen Bürgers durch
Regierungskonferenzen zu fordern ist (c).
II 2 a. Materielle verfassungsrechtliche Bedingungen und Grenzen für weitere
Integrationsschritte
Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG legt die verfassungsrechtlichen Grundsätze fest, denen die Gestalt der
Europäischen Union zu entsprechen hat, um der Bundesrepublik eine Beteiligung
Deutschlands zu erlauben („Struktursicherungsklausel“) 90 . Die Bestimmung verlangt nicht,
dass sich die EU eine der grundgesetzlichen Ordnung entsprechende Ordnung zulegt (kein
Gebot der Strukturgleichheit). Sie wendet auch nicht die Staatsstrukturnormen des
86
Jarrass, Hans D./Pieroth, Bodo, Grundgesetz, Art. 23, Rdn. 2; Geiger, Rudolf, Die Mitwirkung des deutschen
Gesetzgebers an der Entwicklung der Europäischen Union, Zur Auslegung des Art. 23 Ab. 1 Satz 2 und 3 GG, JZ
96, S. 1093; Pechstein, Matthias/Koenig, Christian, Die Europäische Union, 3. Aufl. 2000, Rdnr. 148: „Art. 23
GG [erfasst] nunmehr die Übertragung von Hoheitsrechten auf die gesamte Europäische Union, ohne zwischen
den einzelnen Unionssäulen zu unterscheiden“; Allerdings wollen Pechstein/Koenig trotzdem nicht alle Bereiche
des Unionsrechts anwendbar sein lassen (Rdnr. 147f); dazu unten I 2 b).
87
Zur Entstehungsgeschichte vertiefend Schmalenbach, Kirsten, Der neue Europaartikel 23 des Grundgesetzes
im Lichte der Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission, Motive einer Verfassungsänderung, 1996.
88
Scholz, Rupert, Europäische Union und Verfassungsreform, 46 NJW 1993, S. 1690 mit Hinweis auf die
Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat.
89
„Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der
Europäischen Union mit [...]“.
90
„ [...], die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der
Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz
gewährleistet.“