EU-Recht und nationales Verfassungsrecht - Europawissenschaften ...
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18<br />
Prof. Dr. Martin Nettesheim – FIDE-Bericht 2002 – www.nettesheim.org<br />
Ziele <strong>und</strong> zur Erledigung der übertragenen Aufgaben notwendig ist (implied powers). 44 Den<br />
Kompetenznormen des Primärrechts hat der EuGH teilweise ausschließliche Qualität<br />
zugeschrieben, mit der Folge, dass den Mitgliedstaaten das Handeln in den betroffenen<br />
Sachbereichen selbst dann rechtlich versagt ist, wenn die <strong>EU</strong> ihrerseits noch keine<br />
Regelungen erlassen hat. Im übrigen entfaltet das erlassene Sek<strong>und</strong>ärrecht faktisch<br />
„Sperrwirkung“ <strong>und</strong> nimmt so den Mitgliedstaaten in weiten Bereichen ihrer Zuständigkeit<br />
die Handlungsmöglichkeit. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> kommt den Verträgen in kompetenzieller<br />
Hinsicht konstitutionelle Qualität zu. – Die Breite der Zuständigkeiten würde den Verträgen<br />
allein allerdings noch keine konstitutionelle Qualität verleihen, wenn nicht die <strong>EU</strong> aufgr<strong>und</strong><br />
dieser Zuständigkeiten befugt wäre, unmittelbar anwendbares <strong>Recht</strong> zu setzen <strong>und</strong> so die<br />
Verhältnisse in den Mitgliedstaaten zu regeln. Zwar sind nicht alle Bestimmungen des <strong>EU</strong>-<br />
<strong>Recht</strong>s unmittelbar anwendbar. Indem der EuGH diese Eignung den Gr<strong>und</strong>freiheiten <strong>und</strong><br />
anderen wesentlichen Bestimmungen des EGV, den Verordnungen, Entscheidungen sowie<br />
(im Ausnahmefall der fehlerhaften Umsetzung) den Richtlinien zugesprochen hat, hat das <strong>EU</strong>-<br />
<strong>Recht</strong> doch eine Durchschlagskraft <strong>und</strong> Wirkmächtigkeit erlangt, die es rechtfertigt, den diese<br />
<strong>Recht</strong>setzungsgewalt begründenden Vertragsnormen in der Breite Verfassungsqualität<br />
zuzuschreiben. Dabei ist selbstverständlich zu berücksichtigen, dass die Normen des <strong>EU</strong>-<br />
<strong>Recht</strong>s im Konfliktfall nationalem <strong>Recht</strong> vorgehen.<br />
Zu einer Konstitutionalisierung der Verträge hat auch beigetragen, dass Entscheidungen der<br />
<strong>EU</strong> heute in vielen Bereichen mit Mehrheit ergehen – mit der Folge, dass den Mitgliedstaaten<br />
kein Vetorecht mehr zusteht <strong>und</strong> sie mit der Pflicht zur Befolgung von <strong>Recht</strong> konfrontiert<br />
werden, dessen Setzung sie nicht zugestimmt haben.<br />
Konstitutionelle Qualität ist den Verträgen schließlich auch deshalb zuzuschreiben, weil sie<br />
sich dem Schutz <strong>und</strong> der Förderung von Freiheit <strong>und</strong> Interessen der Bürger in einer Weise<br />
angenommen hat, wie sie jener im Nationalstaat strukturell entspricht. In diesem<br />
Zusammenhang ist nicht nur der Wille der Unionsbürger zu berücksichtigen, eine<br />
gr<strong>und</strong>rechtlich geschützte Freiheitssphäre der Bürger zu respektieren. Auch der Umstand, dass<br />
den Bürgern durch Unionsrecht <strong>Recht</strong>e verliehen werden <strong>und</strong> ihnen die Möglichkeit gegeben<br />
wird, diese <strong>Recht</strong>e auch unmittelbar (Art. 230 EGV) oder mittelbar (Art. 234 EGV)<br />
gerichtlich durchzusetzen, spielt dabei eine Rolle. 45 Die bislang allerdings inhaltlich schwache<br />
Unionsbürgerschaft verleiht dem heute einen institutionellen Rahmen.<br />
Gewiß ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben, dass sich die Dichte der<br />
Konstitutionalisierung in den einzelnen Bereichen des Primärrechts noch deutlich<br />
unterscheidet; an die Seite von Sphären, in denen Verfassungsqualität klar <strong>und</strong> greifbar<br />
hervortritt, treten insbesondere im Bereich der zweiten <strong>und</strong> dritten Säule Sphären, in denen die<br />
Verdichtung noch gering ist. Auch hier ist aber ein Druck zur Konstitutionalisierung zu<br />
44<br />
EuGH, Rs. 22/70, Kommission/Rat, Slg. 1971, 263.<br />
45<br />
Hierzu z.B. Slaughter, Anne-Marie / Stone Sweet, Alec / Weiler, Joseph H.H. (Hrsg.), The European Courts<br />
and National Courts – Doctrine and Jurisprudence. Legal Change in Its Social Context, 1998, Part II, S. 227 ff.;<br />
Stone Sweet, Alec / Brunell, Thomas L., The European Court, National Judges, and Legal Integration: A<br />
Researcher’s Guide to the Data Set on Preliminary References in EC Law 1958-98, 6 ELJ 2000, S. 117 ff.; Mare,<br />
Thomas de la, Article 177 in Social and Political Context, in: Craig, Paul / Búrca, Gráinne de (Hrsg.), The<br />
Evolution of <strong>EU</strong> Law, 1999, S. 215 ff.