EU-Recht und nationales Verfassungsrecht - Europawissenschaften ...
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Prof. Dr. Martin Nettesheim – FIDE-Bericht 2002 – www.nettesheim.org<br />
diese Organisation hat sich von ihren Wurzeln nicht gelöst. 52 Die Beziehungen zwischen der<br />
Organisation <strong>und</strong> ihren Mitgliedstaaten werden zwar gr<strong>und</strong>sätzlich vom Europarecht<br />
beherrscht; jenseits <strong>und</strong> hinter diesen Regeln steht aber das Völkerrecht, das insbesondere im<br />
Hinblick auf gr<strong>und</strong>legende konstitutionelle Fragen (etwa die Frage des Austrittsrechts) zur<br />
Anwendung kommt. Wird die Konzeption mit normativem Anspruch vertreten, 53 so mündet<br />
sie in die Schlußfolgerung, dass der Integrationsverband keinen legitimatorischen Selbststand<br />
erlangen kann. Er bleibt in seinem Wirken von der Zustimmung <strong>und</strong> Rückbindung seitens der<br />
Mitgliedstaaten abhängig; er hat die politische Letztverantwortung der Mitgliedstaaten zu<br />
respektieren <strong>und</strong> darf ihre Souveränität nicht antasten. Der Versuch, sich von der<br />
mitgliedschaftlichen Basis rechtlich, politisch oder legitimatorisch abzulösen, muß im Nichts<br />
enden, weil es der <strong>EU</strong> als internationaler Organisation schon strukturell nicht möglich ist,<br />
politisch-legitimatorische Wurzeln unmittelbar in der Bevölkerung Europas zu schlagen.<br />
Damit verbinden sich institutionelle Folgerungen: Eine weitere Parlamentarisierung der <strong>EU</strong><br />
würde jedenfalls dann, wenn sie mit einem Bedeutungsverlust der Mitgliedstaaten im Rat<br />
einherginge, strukturell delegitimierende Effekte mit sich bringen. Der natürliche Modus<br />
europäischer Integration ist danach die intergouvernementale Absprache – auch wenn sie im<br />
Rahmen europäischer Organe stattfindet. Diese Sichtweise steht nicht nur hinter der von Paul<br />
Kirchhof entwickelten Konzeption des „Staatenverb<strong>und</strong>s“ 54 , sondern findet auch im<br />
Maastricht-Urteil des BVerfG einen (wenn auch in seiner Reichweite unklaren) Niederschlag.<br />
Der Kampf des BVerfG um die Sicherung der mitgliedstaatlichen Kompetenz-Kompetenz<br />
findet hier seine Erklärung.<br />
Es liegt auf der Hand, dass dem Integrationsverband aus dieser Perspektive nicht mehr als eine<br />
funktional definierte, begrenzte Aufgabenstellung zugewiesen werden kann. Der<br />
Integrationsverband darf sich nicht der Gesamtverantwortung für die Angelegenheiten des<br />
Gemeinwesens annehmen – dies schon deshalb, weil er sonst in ein staatliches Wesen<br />
umschlagen könnte. Mehr als sachlich <strong>und</strong> gegenständlich klar definierte, in ihrer Teleologie<br />
inhaltlich festgelegte Zuständigkeiten dürfen ihm nicht überantwortet werden. Diese Position<br />
52 Wer die <strong>EU</strong> weiterhin als eine internationale Organisationen völkerrechtlichen Typs ansieht (vgl. z.B.<br />
Randelzhofer, Albrecht, Zum behaupteten Demokratiedefizit der Europäischen Gemeinschaft, in: Hommelhoff,<br />
Peter/Kirchhof, Paul (Hrsg.), Der Staatenverb<strong>und</strong> der Europäischen Union, 1994,S. 39, 40; Steinberger, Helmut,<br />
Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, 50 VVDStRL 1991, S. 16; Tomuschat,<br />
Christian, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, 4. Aufl. 1991, Art.<br />
210, Rdnr. 4; Dörr, Oliver, Zur <strong>Recht</strong>snatur der Europäischen Union, 30 EuR 1995, S. 334; Klein, in: Graf<br />
Vitzthum, Wolfgang (Hrsg.), Völkerrecht, 1997, S. 309 f.; Kimminich, Otto, Einführung in das Völkerrecht, 6.<br />
Aufl. 1997, 162; guter Überblick bei: Pechstein, Matthias/Koenig, Christian, Die Europäische Union, 3. Aufl.<br />
2000), wird immer zugleich einräumen, dass sich der Verband angesichts seiner Kompetenzbreite <strong>und</strong> –tiefe<br />
sowie seiner Befugnis, unmittelbar wirksame Hoheitsgewalt auszuüben, von den herkömmlichen internationalen<br />
Organisationen doch erheblich abhebt <strong>und</strong> als besondere Form des Staatenb<strong>und</strong>es anzusehen ist. Chr. Tomuschat<br />
beispielsweise hält diese Einordnung schon deshalb für zwingend, weil alles andere die <strong>EU</strong> auf die Ebene eines<br />
Staates höbe ( Tomuschat, Cristian, Das Endziel der Europäischen Integration, in: Nettesheim, Martin/Schiera<br />
Pierangelo (Hrsg.), Der integrierte Staat, 1999, S. 155, 159).<br />
53 Es ist natürlich möglich, diese Konzeption zur analystischen Beschreibung der Anfangsjahre der Integration zu<br />
verwenden, sodann aber einen Übergang zur etatistischen Konzeption zu konstatieren. Dazu z.B. Everling,<br />
Ulrich, Vom Zweckverband zur Europäischen Union: Überlegungen zur Struktur der Europäischen<br />
Gemeinschaft, FS Ipsen, 1977, S. 595.<br />
54 Kirchhof, Paul, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof<br />
(Hrsg.), HdBStR, Bd. VII, 1992, § 183, S. 855 ff., 876 ff., Rdnrn. 43 ff.; Ders., Das Maastricht-Urteil des<br />
B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts, in: Hommelhoff, Peter/Kirchhof, Paul, (Hrsg.), Der Staatenverb<strong>und</strong> der<br />
Europäischen Union, 1994, S. 11 ff.