EU-Recht und nationales Verfassungsrecht - Europawissenschaften ...
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Prof. Dr. Martin Nettesheim – FIDE-Bericht 2002 – www.nettesheim.org<br />
Bürgerschaft, die ihre Interessen teils unmittelbar, teils vermittelt über nationalstaatliche<br />
Amtswalter äußert. Er erfüllt seine Aufgaben, indem er sich des Individuums in staatsgleicher<br />
Weise annimmt, ihm <strong>Recht</strong>e verleiht <strong>und</strong> Pflichten auferlegt sowie seine Lebenswelt ordnet.<br />
Gewiß, auch in ihrer normativen Version geht die Theorie europäischer Staatswerdung nicht<br />
davon aus, dass der Integrationsverband demnächst Souveränität gewinnen wird.<br />
Staatsqualität ist aber, wie die B<strong>und</strong>esstaatslehre zeigt, nicht notwendig von Souveränität<br />
abhängig. Staatsqualität setzt auch nicht notwendig allumfassende Kompetenz voraus;<br />
Verfassungsstaatlichkeit der Gegenwart zeigt, dass die den Trägern der Hoheitsgewalt<br />
zugewiesenen Kompetenzen immer begrenzt sind. Zwar wird im Regelfall die Kompetenz-<br />
Kompetenz in den Händen der Organe des Verbandes liegen, um dessen Kompetenzen es<br />
geht. Art. 79 Abs. 3 GG belegt aber, dass eine Verfassung auch hier Grenzen ziehen kann; <strong>und</strong><br />
ein Blick in die U.S.-amerikanische Verfassung beweist, dass in bündisch verfaßten<br />
Gemeinwesen ein Anteil der Kompetenz-Kompetenz bei den Gliedern liegen kann, ohne dass<br />
dies die Staatsqualität des B<strong>und</strong>es beeinträchtigen würde. Eine der wesentlichen Thesen dieser<br />
Theorie ist es, dass die Frage nach der Finalität der Integration mit der Staatswerdung obsolet<br />
wird (oder geworden ist); ein Verband, der sich der Rolle des Hüters des Allgemeinen<br />
angenommen hat, ist nicht mehr auf dem Weg, sondern hat sein Ziel erreicht.<br />
Zweifellos wird man zu den wichtigsten frühen Anhängern dieser Theorie Walter Hallstein<br />
zählen müssen, der in seiner Vision von Europa als B<strong>und</strong>esstaat im Werden Richtung <strong>und</strong> Ziel<br />
bereits klar formuliert hat. 58 Er war allerdings nicht allein. Unter den (politischen <strong>und</strong><br />
wissenschaftlichen) Wegbegleitern der frühen Integration gab es viele, die das<br />
Integrationsprojekt im Lichte der Theorie funktionaler Integration interpretierten <strong>und</strong> ihm<br />
normativ das Ziel der Staatswerdung einschrieben - an dieser Stelle sei lediglich Eberhard<br />
Grabitz erwähnt. 59 Schwierigkeiten bei der Verwirklichung der Integrationsziele, vor allem<br />
aber politische Überlegungen ließen diese Stimmen später verstummen; man war der<br />
Auffassung, dass man mit der Rede von europäischer Staatlichkeit dem Fortkommen der<br />
Integration eher schaden als nutzen würde. Zudem lassen sich funktionale <strong>und</strong> vor allem<br />
ideelle Einwände dagegen formulieren, dass die europäische Integration in einer Form enden<br />
solle, die im neunzehnten Jahrh<strong>und</strong>ert ihre vollendete Form gef<strong>und</strong>en hat <strong>und</strong> im zwanzigsten<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert Gr<strong>und</strong>lage von unvorstellbarem Unrecht werden konnte. Inzwischen aber hat sich<br />
das Bild wieder gewandelt. Zwar sind jene, die von der Staatswerdung Europas sprechen,<br />
immer noch in der (deutlichen) Minderheit. Die Zahl derer, die die <strong>EU</strong> als werdenden Staat<br />
behandeln <strong>und</strong> Fragen an sie herantragen, die nur an einen legitimatorisch in sich selbst<br />
ruhenden <strong>und</strong> für das Allgemein zuständigen Verband gerichtet werden können, nimmt aber<br />
deutlich zu. Die wohl deutlichste Stimme unter den Anhängern dieser Position in<br />
Deutschland 60 gehört gegenwärtig Ingolf Pernice, der dem Verband nicht nur<br />
Verfassungsfähigkeit attestiert, sondern auch darauf hinarbeitet, die Legitimationsbasis des<br />
Verbands von ihren bisherigen (völkerrechtlich-internationalen) Wurzeln zu lösen <strong>und</strong> in der<br />
Idee einer europäischen Gesellschaft neu zu errichten.<br />
58 Hallstein, Walter, Der unvollendete B<strong>und</strong>esstaat, Düsseldorf: Econ, 1969.<br />
59 Grabitz, Ebergard, Der Verfassungsstaat in der Gemeinschaft, 92 DVBl. 1977, S. 786.<br />
60 Vgl. etwa Mancini, Giuseppe Federico, Europe: The Case for Statehood, 4 ELJ 1998, S. 29 ff. (deutsch:<br />
Europa: Gründe für einen Gesamtstaat, KritV 1998, S. 386 ff.).