EU-Recht und nationales Verfassungsrecht - Europawissenschaften ...
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I. Europäischer Konstitutionalismus in Deutschland *<br />
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Prof. Dr. Martin Nettesheim – FIDE-Bericht 2002 – www.nettesheim.org<br />
Die verfassungstheoretische Diskussion um Stand <strong>und</strong> Zukunft der europäischen Integration<br />
dreht sich gegenwärtig vor allem um zwei Fragen. Zum einen geht es um die Frage, wie sich<br />
der Verb<strong>und</strong> von <strong>EU</strong> <strong>und</strong> Mitgliedstaaten verfassungstheoretisch rekonstruieren <strong>und</strong> begreifen<br />
läßt. Ist die <strong>EU</strong> in ihrer gegenwärtigen Gestalt eine internationale Organisation, ein Staat oder<br />
etwas Drittes? Kann ihre Gr<strong>und</strong>ordnung als Verfassung bezeichnet werden? Wird diese<br />
Ordnung legitimatorisch von den Mitgliedstaaten getragen, oder kann man heute davon<br />
ausgehen, dass es (auch) die <strong>EU</strong>-Bürger sind, auf die die Ausübung europäischer<br />
Hoheitsgewalt zurückzuführen ist? In welchem Verhältnis stehen <strong>EU</strong>-Gr<strong>und</strong>ordnung <strong>und</strong><br />
nationale Verfassungsordnungen, wie wirken sie aufeinander ein? Die Beantwortung dieser<br />
Fragen verlangt zunächst dekriptiv-analytische Arbeit. Wer sich dieser Arbeit annimmt,<br />
kommt nicht umhin, als Handwerkszeug zunächst die überkommenen Begrifflichkeiten <strong>und</strong><br />
Kategorien von Staats- <strong>und</strong> <strong>Verfassungsrecht</strong> zu verwenden. Dies führt zu der<br />
Merkwürdigkeit, dass auf der einen Seite anerkannt wird, dass der Integrationsprozeß in ein<br />
Ergebnis münden wird, das nicht dem Modell des klassischen, unabhängigen Nationalstaats<br />
entsprechen wird, zugleich aber der Prozeß mit traditionellen Kategorien beschrieben <strong>und</strong><br />
erfaßt wird. 1 Inzwischen hat die Diskussion allerdings eine Tiefe <strong>und</strong> Schärfe gewonnen, die<br />
es möglich macht, auf einer Metaebene normativ darüber zu streiten, welche der<br />
überkommenen Begriffe <strong>und</strong> Kategorien revisionsbedürftig sind <strong>und</strong> durch neue, geeignetere<br />
Kategorien zur Erfassung der poststaatlichen Konstellation ersetzt werden müssen. Nicht alle<br />
Vorschläge erweisen sich als sinnvoll; manche finden keine Beachtung, weil sie begrifflich zu<br />
schwach <strong>und</strong> zu wenig anschaulich sind; wieder andere haben die Chance, in den allgemeinen<br />
Sprachgebrauch überzugehen <strong>und</strong> so zu einer Gr<strong>und</strong>kategorie einer neuen, auch die<br />
supranationalen Gegebenheiten in den Blick nehmenden Verfassungswissenschaft zu werden.<br />
Zum anderen beschäftigt sich der europäische Konstitutionalismus mit der normativen<br />
Problematik der Fortwicklung des Integrationsverbands. Dabei geht es zunächst um die<br />
Aufgabe der Bewertung des Stands der Integration: Wie sind die verfassungstheoretischen<br />
Anforderungen zu formulieren, die an die Gr<strong>und</strong>ordnung eines überstaatlichen Hoheitsträgers<br />
zu stellen sind? Hat die <strong>EU</strong> eine Gr<strong>und</strong>ordnung, die normativ defizitär ist <strong>und</strong> nicht den<br />
Anforderungen entspricht, die aus legitimatorischer Perspektive an die Ausübung<br />
europäischer Herrschaftsgewalt zu richten sind – insbesondere im Hinblick auf Demokratie?<br />
In welchen Punkten fällt die Gr<strong>und</strong>ordnung der <strong>EU</strong> hinter diesen Anforderungen zurück? Es<br />
schließen sich verfassungspolitische Folgefragen über das weitere Vorgehen an: Welche<br />
Schritte können unternommen werden, um etwaige Defizite zu beheben? Muß sich die <strong>EU</strong><br />
vielleicht gar erst noch eine Verfassung zulegen? Wie müßte diese dann aussehen?<br />
* Der Verfasser ist Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches <strong>Recht</strong>, Europarecht <strong>und</strong> Völkerrecht an der Universität<br />
Tübingen (mail@nettesheim.org). Ich danke Herrn Ass. jur. Johann Ludwig Duvigneau für wertvolle Hilfe bei<br />
der Erstellung dieses Berichts.<br />
1 „Ist es nicht unser altes Problem, dass wir die Gemeinschaftsentwicklung durch die Brille des nationalen<br />
<strong>Verfassungsrecht</strong>s betrachten <strong>und</strong> uns dann w<strong>und</strong>ern, dass wir in Schwierigkeiten geraten?“ So Frowein, Jochen<br />
Abr., Die rechtliche Bedeutung des Verfassungsprinzips der parlamentarischen Demokratie für den europäischen<br />
Integrationsprozess, 18 EuR 1983, S. 301.