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Café40 - KPÖ Oberösterreich

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Seite 9<br />

Religiosität &<br />

Uniformität<br />

Gerlinde Grünn im Gespräch mit dem Historiker Michael John über die Misstände in<br />

Kinderheimen: „Das Eis der Zivilisation ist dünn“.<br />

Eine Frage beschäftigt mich: Wie<br />

kann es sein, dass die Aufklärung<br />

der seit den 70ern bekannten Missständen<br />

in Kinder- und Jugendheimen<br />

erst jetzt angegangen wird. Im<br />

März 2012 hat die Stadt Linz zwei<br />

Opfern von Übergriffen in Kinderund<br />

Erholungsheimen Entschädigungszahlungen<br />

für erlittene Qualen<br />

zuerkannt. Weitere Fälle stehen<br />

noch an. Die Suche nach Antworten<br />

führt mich an die Linzer Universität<br />

zu Dr. Michael John, seines Zeichens<br />

Historiker mit feinem Gespür<br />

für die ungeschriebenen Geschichten<br />

der Underdogs der Gesellschaft.<br />

Anfang 2003 trat der Heimleiter des<br />

Jugendwohnheims Wegscheid mit<br />

dem Ersuchen um die Aufarbeitung<br />

der Geschichte des Jugendheims an<br />

John heran. Der Heimleiter war seit<br />

den 90er Jahren immer wieder mit<br />

aufgebrachten ehemaligen Zöglingen<br />

konfrontiert, die angesichts der<br />

Entschädigungszahlungen an Opfer<br />

des NS-Regimes nun auch die Anerkennung<br />

ihres erlittenen Unrechts<br />

einforderten. John meint: „Es ist<br />

auch immer eine Frage der Artikulationsfähigkeit.<br />

Es gibt nach 1945<br />

eine chronologische Abfolge der<br />

Entschädigung von Opfergruppen.<br />

Je schwächer eine Gruppe, je weniger<br />

artikulationsfähig, wie etwa ehemalige<br />

Heimkinder, Fürsorgefälle,<br />

desto später kommt sie dran. Und<br />

natürlich lässt sich die NS-Geschichte<br />

nicht mit den Vorgängen in<br />

der Zweiten Republik vergleichen.“<br />

In Pionierarbeit machte sich John<br />

daran, die Geschichte des Jugendwohnheims<br />

Wegscheid wissenschaftlich<br />

aufzuarbeiten. Erst Mitte der<br />

50er Jahre trat das OÖ Landesfürsorgegesetz<br />

in Kraft, bis dahin galten<br />

die NS-Reichsgesetze. Nicht wenige<br />

Heimerzieher hatten eine einschlägige<br />

NS-Vergangenheit und agierten<br />

zwischen Überlastung und Überforderung.<br />

„Uniformität, vordergründige<br />

Religiosität, rigide Ordnung,<br />

strenge Regeln und strikte Sexualitätsfeindlichkeit<br />

charakterisierten<br />

die Heime. Das Eis der Zivilisation<br />

ist dünn“, so John.<br />

Kinderheim gestürmt<br />

Ob mir Spartakus was sage, fragt er<br />

mich. Ich spitze die Ohren. Die<br />

Gruppe Spartakus, hervorgegangen<br />

aus der <strong>KPÖ</strong>, Sektion 6, hatte An-<br />

fang der 1970er Jahre eine Kampagne<br />

„Öffnet die Heime“ gestartet. In<br />

Linz wurde die erste Kommune „Die<br />

rote Lokomotive“ gegründet, im heißen<br />

Sommer 1971 von den Spartakisten<br />

das Jugendheim Wegscheid gestürmt<br />

und entflohene Zöglinge<br />

versteckt. Als Folge dieser Turbulenzen<br />

wurde eine Anweisung erlassen,<br />

dass demütigende Strafen in Heimen<br />

zu unterlassen sind. 1973 wurde mit<br />

dem OÖ Sozialhilfegesetz der Arbeitszwang<br />

aufgehoben. Das gesellschaftliche<br />

Klima hatte sich gewandelt.<br />

Das Züchtigungsrecht von<br />

Eltern, Lehrern und Lehrherren<br />

wurde schrittweise abgeschafft. Erst<br />

1989 erfolgte der Quantensprung<br />

des generellen Verbots von körperlichen<br />

und seelischen Qualen zum<br />

Zwecke der Erziehung.<br />

2006 schloss Michael John seine Forschungsarbeit<br />

mit einer Wanderausstellung<br />

über Wegscheid ab. Diese<br />

wurde jedoch vom Land <strong>Oberösterreich</strong><br />

eingemottet. Warum, das müsse<br />

man die Verantwortlichen fragen, so<br />

John. 2010 war das Schicksal der<br />

Heimkinder jedoch nicht mehr ignorierbar,<br />

der Historiker wurde erneut<br />

mit der Aufarbeitung des Schicksals<br />

der Heimkinder beauftragt.<br />

Bundesweit wurden Opferschutzkommissionen<br />

eingesetzt. Das Land<br />

<strong>Oberösterreich</strong> zahlte 2011 als „finanzielle<br />

Geste“ an 51 ehemalige<br />

Opfer von physischer, psychischer<br />

und sexueller Gewalt in landeseigenen<br />

Einrichtungen 622.500 Euro aus<br />

und beauftragte eine historische<br />

Aufarbeitung der Geschehnisse. Was<br />

jetzt noch offen ist, frage ich Dr.<br />

John: „Die soziale Absicherung fehlt<br />

noch. Viele haben im Heim gearbeitet<br />

ohne versichert zu sein.“ Schätzungen<br />

gehen von bis zu 50.000 Betroffenen<br />

in Österreich aus, denen<br />

wichtige Pensionsversicherungszeiten<br />

fehlen. Sozialminister Hundstorfer<br />

klappt derzeit noch die Ohren<br />

runter.

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