Bürgerschaftliches Engagement
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Armut und Demokratie<br />
in Europa – Chancen und<br />
Konflikte<br />
Dirk Berg-Schlosser<br />
Schwerpunkt<br />
Dieser Artikel 1 behandelt die facettenreiche Beziehung<br />
zwischen Armut und Demokratie im europäischen<br />
Kontext. Er weist auf die grundlegende Bedeutung von<br />
demokratischen Verfahren und von Rechten für die ärmeren<br />
Bevölkerungsschichten hin. Einige Aspekte der Globalisierung, wie<br />
z. B. die industrielle Standortverlagerung und Abwanderung, haben<br />
in diesem Zusammenhang zu vermehrten Spannungen geführt.<br />
Die „Stimmen“ der Armen sind folglich schwächer geworden<br />
und deren Rechte wurden in Frage gestellt. Im Gegensatz dazu<br />
haben unkonventionelle Formen der politischen Partizipation und<br />
„advokatorische“ Arten der Interessenvertretung an Bedeutung<br />
gewonnen. Die beobachteten Spannungen und bisweilen<br />
diskriminierenden Praktiken müssen innerhalb der bestehenden<br />
institutionellen und juristischen Strukturen einer Demokratie<br />
ausgetragen und verhandelt werden, soll der notwendige soziale<br />
Zusammenhalt nicht weiter gefährdet sein.<br />
1. Einführung: Grundlegende Beziehungen<br />
und Dilemmata<br />
Die Beziehungen zwischen Armut und Demokratie<br />
sind konfliktgeladen und zumindest<br />
dreischichtig. Auf der abstrakten („Makro“-)Ebene<br />
betrifft das den gesamten Bereich<br />
der sozialökonomischen Entwicklung sowie<br />
die Entstehung und Aussicht auf Konsolidierung<br />
von Demokratien in der heutigen Zeit.<br />
Viele Autor/innen, darunter Lipset (1959) als<br />
Bekanntester, betrachteten eine höhere Stufe<br />
der Entwicklung und Modernisierung als<br />
„Muss“ für einen Übergang zur Demokratie<br />
und die Nachhaltigkeit von zeitgenössischen<br />
Demokratien. In jüngster Zeit überwiegen<br />
differenziertere Sichtweisen, die verschiedene<br />
Muster und Wege der Demokratisierung<br />
aufzeigen (z. B. Przeworski et al. 2000; Acemoglu/Robinson:<br />
2006; siehe auch Berg-<br />
Schlosser: 2007, 2010).<br />
Auf einer konkreteren Ebene beziehen<br />
sich diese Verhältnisse auf innergesellschaftliche<br />
Konflikte, demokratische Repräsentati-<br />
onsmuster und Interessenvermittlung. Hier<br />
können drei Hauptformen unterschieden<br />
werden: eine pluralistische, eine korporatistische<br />
und eine klientelistische, von denen<br />
alle bestimmte Arten der Unterrepräsentation<br />
und des Ausschlusses von sozial schwächeren<br />
Gruppen aufweisen. In der – heutzutage<br />
in vielen Ländern vorherrschenden<br />
– pluralistischen Form der offenen, kompetitiven<br />
Interessenvertretung rangieren eher<br />
wirtschaftlich besser gestellte und mächtigere<br />
Gruppen an vorderster Stelle. Einer der<br />
frühen Kritiker formulierte es so: „The pluralist<br />
choir tends to sing with an upper-class<br />
accent” (Schattschneider: 1960, S. 30 f.). Die<br />
korporatistische oder neokorporatistische<br />
Form in Ländern mit gut organisiertem Arbeitsmarkt,<br />
wie wir sie in Skandinavien und<br />
Teilen Westeuropas vorfinden, ist dadurch<br />
gekennzeichnet, dass die dominierenden<br />
Interessengruppierungen des organisierten<br />
Kapital- und Arbeitsmarktes eng mit den<br />
Regierungen zusammenarbeiten. Sie ten-<br />
Schwerpunkt <strong>Bürgerschaftliches</strong> <strong>Engagement</strong><br />
dieren ebenfalls dazu, die weniger gut organisierten<br />
und sozial schwächeren Gruppen,<br />
wie z. B. Arbeitslose oder anderweitig sozial<br />
benachteiligte Menschen, zu ignorieren (siehe<br />
z. B. Schmitter/Lehmbruch: 1979 Crouch/<br />
Streeck: 2006). Die dritte, klientelistische<br />
Form begünstigt Gruppen, die leichten Zugang<br />
zu zentralen Machthaber/innen und<br />
„Gönner/innen“ haben – oft auf ethnischer,<br />
regionaler oder ähnlicher Grundlage auf<br />
Kosten anderer sozial und politisch ausgeschlossener<br />
Gruppen (Kitschelt/Wilkinson:<br />
2006).<br />
Eine dritte, indirektere Beziehung betrifft<br />
Situationen, in denen wahrgenommene<br />
Interessen einer Mehrheit gegen sozial<br />
schwache Minderheiten mobilisiert werden,<br />
oftmals wiederum auf ethnischer oder einwanderungsbedingter<br />
Grundlage oder auf<br />
anderweitig „gezielte“ Art und Weise. Dies<br />
geschieht oft in „populistischen“ oder nationalistischen<br />
Formen, in denen die grundlegenden<br />
Menschenrechte dieser Gruppen im<br />
Interesse der nominellen Mehrheit im Staat<br />
verletzt werden. Nicht selten war dies in erst<br />
kürzlich demokratisierten Ländern der Fall,<br />
in denen sich Mehrheiten gegen Minderheiten<br />
wendeten oder hohe Einwanderungsraten<br />
innerhalb kurzer Zeit auftraten. In diesem<br />
Beitrag, dessen Schwerpunkt auf dem<br />
europäischen Kontext mit mehr oder weniger<br />
etablierten und relativ prosperierenden<br />
Demokratien liegt, werden wir uns hauptsächlich<br />
mit den zweiten und dritten Beziehungsformen<br />
beschäftigen. Die erste Form,<br />
in der ein Großteil der Bevölkerung unter der<br />
Armutsgrenze lebt, betrifft hauptsächlich die<br />
am wenigsten entwickelten Länder im Sinne<br />
der Definition der Vereinten Nationen.<br />
Im Folgenden werde ich zunächst kurz<br />
Probleme der Definition von Demokratie<br />
und Armut skizzieren und diese auf den zeitgenössischen<br />
europäischen Kontext im weiteren<br />
Sinne beziehen. Danach gehe ich näher<br />
auf die möglichen „Stimmen“ und Handlungenoptionen<br />
armer Bevölkerungsgruppen<br />
und deren potenzielle Auswirkungen<br />
auf ihre Lebenssituation ein. Zusätzlich zu<br />
diesen konventionellen oder unkonventionellen<br />
partizipativen Formen werden rechtsbasierte<br />
Zugänge diskutiert. Der letzte Teil<br />
befasst sich damit, wie beide Arten der demokratischen<br />
Intervention mit gegnerischen<br />
1 Leicht gekürzte Fassung aus: Council of Europe (2012):<br />
Redefining and combating poverty. Human rights,<br />
democracy and common goods in today’s Europe. Trends<br />
in Social Cohesion, No. 25, S. 217-229. Im Original: Poverty<br />
and Democray – Chances and Conflicts.<br />
DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 02-2013 · NR. 248 — 5